Urs Schoettli
Aufbruch aus Europa
Die Schweiz im asiatischen Zeitalter
Verlag Neue Zürcher Zeitung
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ISBN 978-3-03810-081-2
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Vorbemerkung
Dieses Buch möchte im Rahmen der Debatte über die Zukunft der Schweiz in einer zunehmend komplexen Welt Argumente dafür liefern, den Blick nach Asien zu richten. Ein eingehenderes Verständnis der asiatischen Zivilisationen und ihrer Werte kann eine nützliche Hilfe sein, die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Das Buch liefert keine Rezepte dafür, wie man in Asien Geschäfte macht, und will auch keine Ratschläge geben, ob man sich nun in Asien engagieren soll oder nicht. Vielmehr geht es darum, das allgemeine Bewusstsein für die Risiken und Chancen zu wecken, die sich für Europa, für die westlichen Industriestaaten und insbesondere für die Schweiz im asiatischen Zeitalter, in das wir zu Beginn des dritten Millenniums eingetreten sind, ergeben.
Die Orientierungslosigkeit, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften um sich gegriffen und die die breite Bevölkerung wie die Eliten erfasst hat, ist auch ein Ergebnis dessen, dass man es in eurozentrischer Überheblichkeit verpasst hat, sich mit fremden, insbesondere asiatischen Kulturen mit einem Schuss Lernwillen zu befassen. Dieselben Europäer, die recht schnell zur Stelle sind, wenn es darum geht, andere Völker und Kulturen zu ermahnen, die Werte zu respektieren und zu teilen, die man in der eigenen Tradition für richtig befunden hat, tun sich ausserordentlich schwer, sich gegenüber fremden Werten zu öffnen. Es fällt ihnen sogar schwer, auch nur anzuerkennen, dass es andere Wertehierarchien als die in der westlichen Welt geben kann, die ebenfalls beanspruchen, ethisch wertvoll und in ihrer Eigenständigkeit anerkennenswert zu sein.
Der traditionelle Internationalismus, welcher politischer Orientierung er auch zugehören mag, hat bisher kaum zu einem intrakulturellen Austausch zwischen Orient und Okzident auf gleicher Augenhöhe beigetragen. Man ist vielfach bemüht, in den europäisch geprägten politischen Kriterien von liberal, sozialdemokratisch, konservativ und progressiv zu verharren, Kriterien, die letztlich selbst im Westen eine Geschichte aufweisen, die kaum über die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Dies ist ein schwerwiegendes Manko. Das vorliegende Buch möchte einen Beitrag leisten, dieses Manko zu überwinden. Dabei geht es keineswegs um einen Aufruf zur ethischen Gleichgültigkeit oder gar zur Selbstaufgabe der eigenen, bewährten Werte und auch nicht um eine Anleitung zu einem selbstlosen Kosmopolitismus. Aus dem häufig tragischen und schrecklichen Verlauf der Geschichte wissen wir, dass, wer keinen klaren eigenen Wertekatalog besitzt, sondern sich in Nihilismus oder gar Selbstverleugnung ergeht, keine Chance hat, zu bestehen. Deshalb wird hier die Meinung vertreten, dass aus einem gleichberechtigen euro-asiatischen Austausch den westlichen Gesellschaften durchaus konkrete Vorteile für die Bewältigung der eigenen Schwierigkeiten und Defizite erwachsen können.
Standortbestimmungen
Die Welt befindet sich im ständigen Wandel. Scheinbar zementierte Machtgefüge können plötzlich und dramatisch über den Haufen geworfen werden, wie wir beim Fall der Berliner Mauer und der Beseitigung des Eisernen Vorhanges haben erleben können. Andere Entwicklungen kündigen sich über einen längeren Zeitraum hinweg an, wie dies für das asiatische Zeitalter gilt, das mit der Jahrtausendwende angebrochen ist. Erfolgreiche Staaten und Gesellschaften stellen sich diesem Wandel und sind bestrebt, möglichst viel Gestaltungskraft zu wahren und nicht einfach von der Macht des Faktischen getrieben zu werden.
Ohne Zweifel stehen Europa und damit selbstverständlich auch die Schweiz an einer Wegscheide, da es gilt, von bequemen Gewohnheiten und einer lieb gewordenen Weltsicht Abschied zu nehmen. Im Vordergrund muss dabei die Abkehr vom Eurozentrismus stehen, der während der vergangenen zwei Jahrhunderte das europäische Weltbild massgeblich geprägt hat. Dies erfordert auf der einen Seite die Überwindung eines traditionellen Negativismus und Chauvinismus, der sich in Schlagworten wie «orientalische Dekadenz», «asiatischer Despotismus» oder «gelbe Gefahr» manifestiert. Die Meinung, dass der Westen ein für alle Mal das Mass aller Dinge und Werte gefunden habe, hält sich hartnäckig. Nicht zuletzt wohnt ihr die Überzeugung inne, dass vor allem in Sachen Menschen- und Bürgerrechte die Asiaten noch viel vom Westen zu lernen hätten. Auch zwei Jahrzehnte, nachdem unter anderem der frühere malaysische Ministerpräsident Mahathir Mohamad sein wortmächtiges Plädoyer für die «asiatischen Werte» abgegeben hat, herrscht noch immer die Ansicht vor, dass der Westen auf der «richtigen Seite» stehe und die Austausch- und Lernprozesse beim Verständnis sowohl von Rechten als auch von Pflichten nur in eine Richtung, nämlich von Westen nach Osten, zu verlaufen hätten.
Auf der andern Seite ist auch vom «Orientalismus» Abschied zu nehmen. Hier hat sich traditionell eine paternalistische Haltung, von oben herab die Kulturen und Zivilisationen im Sinne der «noblen Wilden» in Asien zu begutachten und zu «verstehen», eingenistet. Willkommen geheissen wurden unter diesem Aspekt jene Asiaten, die sich westliche, will heissen europäische Verhaltens- und Wertekategorien angeeignet hatten. Die klare Dominanz des Westens im 19. und 20. Jahrhundert, die von einer gleichzeitigen asiatischen Dekadenz, vornehmlich in Indien und China, begleitet wurde, hatte die Meinung gestärkt, dass Asien nur durch eine Verwestlichung aus seiner Misere herauskommen könne. Wichtig ist, dass diese Einstellung nicht nur von Imperialisten und Protagonisten der Herrschaft des «weissen Mannes» vertreten wurde. Sie prägte auch die wohlwollenden Menschen, die, sei es als Missionare, sei es als Techniker oder Lehrer, nach Asien aufbrachen, um dort die Segnungen der westlichen Zivilisation und Kultur einzubringen. Viele dieser Gutmeinenden würden sich strikt gegen die Vermutung verwahren, sie hegten rassistische Vorurteile.
Die Abkehr vom Eurozentrismus ist heute, bald zwei Jahrzehnte nach dem Beginn des asiatischen Zeitalters, umso wichtiger, als wir uns mitten in einem Transitionsprozess von erheblicher Tragweite befinden. Als sich China unter Deng Xiaoping auf den Weg in die Moderne machte, war offenkundig, dass das Reich der Mitte nur mit westlicher Technologie, westlichem Management und westlichem Kapital sowie mit einer auf die Märkte der westlichen Industrienationen fokussierten Exportwirtschaft aus dem Steinzeitalter, in das es unter dem Maoismus abgestürzt war, herauskommen konnte. Insofern hätten Orientalisten am chinesischen Aufbruch grosses Wohlgefallen gefunden. Doch inzwischen stehen wir vor einer Zäsur, da sich China und demnächst auch Indien sowie mehrere südost- und ostasiatische Staaten in einem Entwicklungsstadium befinden, da sie auch bei technologischen und sozioökonomischen Innovationen der übrigen Welt den Weg weisen werden. China ist längst nicht mehr das Land, in dem der meiste Fortschritt auf Kopieren beruht. In den vergangenen Jahrzehnten wurde viel in Forschung und Entwicklung investiert, an führenden Universitäten ebenso wie in Spitzenunternehmen. Der Countdown für die Epoche, da der Westen wieder vom Osten lernen kann, wie dies über weite Strecken der Weltgeschichte der Fall gewesen ist, hat bereits begonnen. Unter diesen Vorzeichen wird in den folgenden Kapiteln sowohl eine Standortbestimmung der Beziehungen der Schweiz mit Asien vorgenommen als auch ein Blick auf die bereits erkennbaren neuen Optionen und Chancen geworfen.
Zwischen Sonderfalldenken und Verzagtheit
Jedes Land beansprucht für sich, ein Sonderfall zu sein. In der gewaltigen Herausforderung des europäischen Einigungsprozesses zeigt sich dies beinahe täglich. Zahllos sind die bis in die frühen Morgenstunden dauernden EU-Gipfel, in denen oft mühsam nur um den kleinsten gemeinsamen Nenner gerungen wird. Es scheint geradezu ein Gesetz zu sein, dass, wenn die Situation eigentlich dringlich der Gemeinsamkeit bedürfte, die Partikularitäten besonders akut in den Vordergrund treten. Wir alle wissen aus der nicht allzu fernen Geschichte, welch streitbarer und zur totalen Selbstzerstörung neigender Schlag Mensch die Europäer sind. Wir alle wissen, wie wichtig deshalb die Europäische Union ist, um den Frieden auf diesem traditionell kriegslüsternen Kontinent zu bewahren. Und dennoch scheinen die Europäer nichts mehr zu geniessen, als sich zu streiten und damit auch häufig zu blockieren. Im innereuropäischen Kontext mag dies als nicht allzu dramatisch gesehen werden nach dem Motto, was sich liebt, das streitet sich. Unverkennbar ist jedoch, dass Europa durch diese aus häufig marginalen Partikularitäten erwachsende Zerstrittenheit auf der Weltbühne seinen Einfluss verspielt hat. Dies ist im Zusammenhang mit dem asiatischen Jahrhundert von Relevanz, haben doch aus der Perspektive von Peking, Delhi und Tokio selbst die mächtigsten unter den europäischen Nationen nicht das geopolitische und wirtschaftliche Gewicht, um als gleichberechtigt wahrgenommen zu werden.
In diesem Kontext sei ein Einschub gestattet, der für das gegenseitige euro-asiatische Verständnis von grosser Bedeutung ist. Der Südkoreaner David C. Kang hat mit dem 2010 bei Columbia University Press erschienenen Buch East Asia Before the West. Five Centuries of Trade and Tribute ein ausserordentlich wichtiges Werk geschrieben, das in Europa leider nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat, für unser Verständnis von Asien, insbesondere von der stark konfuzianisch geprägten ostasiatischen Welt aber eine wichtige Hilfe sein kann. Kang verfolgt Ostasiens Geschichte vom Beginn der Ming-Dynastie im Jahre 1368 bis zum Ersten Opiumkrieg im Jahre 1841 und stellt fest, dass innerhalb dieser fünf Jahrhunderte China mit seinen Nachbarn Japan, Korea und Vietnam nur in zwei grössere Konflikte involviert war. Man denke an die Hunderte von Kriegen und Konflikten, die in Europa in diesem Zeitraum geführt wurden. Nicht von ungefähr empfanden wir deshalb im eurozentrisch ausgerichteten Geschichtsunterricht, dass Geschichte im Wesentlichen Kriegsgeschichte ist. Zahllos sind die Schlachten, deren Daten wir auswendig lernen mussten. Würde man hingegen in Ostasien nach denselben Kriterien der Geschichtsschreibung vorgehen, so wäre man schon nach wenigen Seiten mit dem Stoff am Ende. Gerade jetzt, da wir uns mit der Rückkehr des Hegemonen China zur Weltmacht und zur asiatischen Vormacht zu befassen haben, ist es wichtig, diese Besonderheit der ostasiatischen Geschichte präsent zu haben. Dadurch lassen sich von vornherein gefährliche Fehlurteile vermeiden, ob diese nun dazu führen, dass China als Herausforderung für die Weltordnung überschätzt oder unterbewertet wird.
Zwischen den Ländern und Völkern gibt es grosse Unterschiede hinsichtlich ihrer Besonderheit oder gar Ausgefallenheit, die auf Klima, Geografie, Kultur und Geschichte zurückzuführen sind. Wie Menschen so können auch Völker und Staaten ein vom Glück beziehungsweise Unglück geprägtes Schicksal haben. Denken wir an das Reich der Mitte im 19. Jahrhundert und vor allem in den ersten sieben Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, so ist unübersehbar, dass die Chinesen von sehr viel fremd und selbst verursachtem Unglück heimgesucht wurden. Demgegenüber hat die Schweiz sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert ein sehr hohes Mass an Glück gehabt. Mit Ausnahme des kurzzeitigen napoleonischen Einfalls sind die Eidgenossen von den Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts, die ganze Völker in den Abgrund gerissen haben, verschont geblieben. China ist aufgrund seines tragischen Schicksals ein Volk mit verletzter Seele geworden, im Falle der Schweiz entwickelte sich ein Bewusstsein des Sonderfalls, mit dem nur allzu selbstgerecht die Verschonung durch die Widrigkeiten der Geschichte erklärt und begründet wurde und das bis in jüngste Zeiten hinein kaum zu erschüttern war.
Im Folgenden wird der Blick auf dieses Bewusstsein, ein Sonderfall zu sein, gerichtet, da es für das Plädoyer, die gegenseitige Integration der Schweiz und Asiens zu stärken, von zentraler Bedeutung ist. Nur in genauer Kenntnis des Sonderfalls Schweiz und der damit verbundenen Implikationen können für eine Realisierung der Idee einer Schweizer Asienfokussierung überhaupt die nötigen Ressourcen gefunden und gebunden werden.
Waren das 19. und 20. Jahrhundert der Schweiz sehr gnädig gesinnt, finden wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Volk, ein Land vor, das von enormen Selbstzweifeln, gar Existenzängsten geplagt wird. Aus asiatischer Perspektive, wo die Menschen von Pakistan bis Nordkorea mit so vielen Unwägbarkeiten, Gefahren und Existenznöten konfrontiert sind, erscheinen die Schweizer gar als ein pathologisch verunsichertes Volk. Sicher ist Selbstzufriedenheit kein Wunschzustand, da sie rasch in Faulheit und reines Besitzstandsdenken degenerieren kann. Selbstzweifel sind ein Antrieb für Innovation und unkonventionelles Denken, ohne die sich ein Kleinstaat im harten globalen Überlebenskampf nicht erfolgreich zu behaupten und seinen Wohlstand zu mehren vermag. Doch Selbstzweifel können, wenn sie in eine Endzeitstimmung der Hilfs- und Ausweglosigkeit münden, den Behauptungswillen so nachhaltig unterminieren, dass Reformen, eine Erholung und ein Neubeginn von vornherein unterbunden werden.
Diese fatale Grundstimmung ist derzeit vor allem beim Verhalten der Schweiz gegenüber der Europäischen Union zu sehen und, vielleicht etwas weniger ausgeprägt, beim Auftreten gegenüber den USA. Hier sind in den vergangenen drei Jahrzehnten offensichtlich tiefe Wunden geschlagen worden, für deren Heilung die eidgenössische Politik noch keine Remedur gefunden hat. Die Polarisierung zwischen jenen, die einen Alleingang der Schweiz um jeden ökonomischen und politischen Preis fordern, und denjenigen, die nicht schnell genug in der EU sein können, verdrängt andere Optionen. Ein neuer Populismus, der das Heil in der Selbstabschottung sieht, feiert Urständ. Selbstverständlich sind solche Reaktionen und Gefühle nichts spezifisch Schweizerisches. Fremdenfeindlichkeit ist ein weltweites Phänomen. Doch aufgrund der besonderen Staatsordnung der Eidgenossenschaft, namentlich ihrer direkten Demokratie, können solche Populismen rascher in den politischen Betrieb einfliessen und damit zu gefährlichen Beschädigungen im heiklen internationalen Beziehungsnetz führen. Dabei geht leicht verloren, dass gerade die Schweiz es sich nicht leisten kann, der Selbstabschottung und Xenophobie zu verfallen.
Vor diesem Hintergrund ist es eine Pflicht der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungsträger in der Schweiz, bei schicksalsschweren Entscheidungen insbesondere auf dem internationalen Parkett alle auch noch so fernen Optionen in Erwägung zu ziehen und den Bürgern im Land bewusst zu machen. Hier darf es keine selbst auferlegten Denkverbote, keine Tabus geben. Als die Schweizer noch viel, viel ärmer waren als im 20. Jahrhundert, pflegten sie die Maxime der «ouverture tous azimuts», der Offenheit gegenüber allen Optionen zu befolgen. Sie schwärmten in alle Weltenteile aus, von Südamerika bis Indonesien, von den USA bis nach Japan. In all diesen mehr oder weniger entfernten Ländern und Erdteilen genossen sie dabei nicht den Schutz einer Kolonialmacht wie die Engländer, Holländer, Spanier, Portugiesen und Franzosen, sondern mussten sich völlig auf sich selbst gestellt durchsetzen. Selbst Kleinststaaten wie Dänemark und Bel-gien hatten da noch die Vorteile kolonialer Besitzungen, was ihnen aber nicht geholfen hat, einen einträglicheren und vor allem umfassenderen Kosmopolitismus zu entwickeln, als die Schweizer es geschafft haben.
Diese Erfahrungen bilden den Hintergrund dafür, für die Zukunft der Schweiz die doch recht ausgefallene Option, Schwierigkeiten in Europa durch ein vermehrtes Engagement in und mit Asien zu kompensieren, zu propagieren. Das heisst natürlich nicht, dass sich die Schweiz völlig aus Europa herauslösen kann oder soll. Handfeste geografische und auch kulturelle Verankerungen lassen sich nicht leichthin durch Willensentscheide aufheben. Die Schweiz kann nicht «wollen», ein Teil Asiens zu sein, ebenso wenig wie die Japaner sich nach Europa wünschen können.
Der Mut zum Aufbruch, zum Neuen und Ungewohnten muss die Devise für das Überleben sein, Verzagtheit ist keine Option für einen hoch spezialisierten Kleinstaat wie die Schweiz! Und ganz in diesem Sinne ist das Plädoyer für den Mut zu einer historischen Neupositionierung der Schweiz in der Welt zu verstehen. Wir wissen und bekommen es auch immer wieder von der EU zu spüren, dass wir bei den meisten wichtigen politischen Entscheidungen, die Europa und unsere Nachbarschaft betreffen, von deren Goodwill und Regulatorien abhängig sind: von den Landeanflügen auf den Zürcher Flughafen über die Migrationspolitik bis hin zur Besteuerung von in der Schweiz niedergelassenen ausländischen Firmen. Mögen wir auch die eine oder andere Konzession und Verbesserung heraushandeln können, so wissen wir doch, dass wir in allen wichtigen Belangen in Europa eingebunden sind und nur der von niemandem gewünschte Kollaps der EU uns daraus befreien könnte.
Doch Europa ist nicht die ganze Welt. In der Interaktion mit Lateinamerika, Afrika und Asien brauchen wir uns an keine Vorgaben der EU zu halten und können mit den dortigen Ländern in voller Souveränität interagieren. In mancher Hinsicht besitzt die kleine Schweiz gar mehr Bewegungsfreiheit in Übersee als selbst die Grossen unter den EU-Mitgliedsstaaten. Deutschland oder Frankreich können keine eigenständigen Freihandelsabkommen mit China oder Japan aushandeln, sondern müssen unter dem Dach der EU agieren. Demgegenüber kann die Schweiz sehr wohl bilaterale Freihandelsabkommen abschliessen, wie dies unlängst im Fall der Volksrepublik China erfolgreich geschehen ist.
Verzagtheit ist ein gefährlicher Gemütszustand. Setzt er sich fest, kann die Fähigkeit, nationale Interessen wirksam zu verteidigen und wahrzunehmen, leicht in eine Abwärtsspirale geraten. Ebenso gefährlich ist die Option der Selbstabschliessung, die eine natürliche Versuchung ist, wenn die Dinge an der Aussenfront nicht rundlaufen. Die Eidgenossenschaft kann sich in weiser Selbstbeschränkung in der Politik einen Marignano-Effekt leisten. An der Wirtschaftsfront ist dies allerdings ohne die Inkaufnahme eines substanziellen und schmerzhaften Wohlstandsverlusts nicht möglich. In der heutigen global vernetzten Welt noch weniger als je zuvor.
Das Plädoyer für einen Aufbruch aus Europa Richtung Asien beinhaltet wesentlich mehr als nur handels- und aussenpolitische Argumente. Es geht auch um eine Standortbestimmung grundsätzlicher Natur, die zum Ziel hat, die gefährlichen Brüche und Entfremdungen zu überwinden, die es zwischen einer international und global ausgerichteten Schweizer Wirtschaft und einer immer verzagter und binnenorientierter werdenden Politik in wachsendem Masse gibt. Sich auf Neuland zu wagen, hat Gesellschaften immer wieder neue Dynamik verliehen, man denke etwa an die Wirkung von «Go West» in den USA im 19. Jahrhundert. Gerade die jungen Menschen in der Schweiz verdienen einen solchen Aufbruch. Auch als Folge der voranschreitenden Überalterung der Schweizer Bevölkerung besteht die Gefahr, dass eine konservative, tendenziell pessimistische Grundhaltung das Land in ihren Bann zieht. Dies ist im Fall Japans bereits zu erkennen, da dort die demografischen Verhältnisse aufgrund der sehr bescheidenen Aussenzuwanderung noch erheblich prekärer sind als in der Schweiz.
Nochmals: Der Aufbruch in Richtung Asien ist für die Schweiz des 21. Jahrhunderts nicht nur ein wirtschafts- und aussenhandelspolitisches Anliegen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes eine Existenzfrage, die keine andere Instanz als das Schweizer Volk selbst zu beantworten vermag und, im Sinne unserer nationalstaatlichen Souveränität, beantworten muss. Wir haben im Zusammenhang mit aussenpolitisch relevanten Fragen immer wieder die Erfahrung gemacht, dass, wenn am Volk vorbei agiert wird, über kurz oder lang Populisten das Heft in die Hand nehmen. Gerade weil es in der Aussenpolitik um Entwicklungen geht, die naturgemäss nicht in die alleinige Verfügungsgewalt der Eidgenossen fallen, ist das Misstrauen, dass «die da oben» nationale Interessen aufs Spiel setzen könnten, besonders gross. Schnell werden da Analogien zu Wilhelm Tell und zur Vertreibung der fremden Richter und fremden Herrscher gezogen. Asien kann Ressentiments wecken, wovon einige wie die «gelbe Gefahr» weit in die Vergangenheit zurückreichen. Als eine neue Auflage der Furcht vor den Hunnen erscheint dann der Slogan von der in allen Industriebereichen dominierenden Werkstatt China, welche die Schweizer Arbeitsplätze gefährdet. Aus diesem Grund wird in diesem Buch versucht, die verschiedensten Aspekte der bestehenden, möglichen und wünschbaren Beziehungen zwischen Asien und der Schweiz auszuleuchten. Die Leser sollten dadurch in die Lage versetzt werden, sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, ob ein Näherrücken zu Asien für die Schweiz von Nutzen ist oder im Gegenteil eine Gefährdung darstellt.
Jahrhundertprojekte können unterschiedliche Gestalt annehmen. In der Regel werden sie in Zeiten der existenziellen Bedrohung lanciert. Denken wir zurück an den Landigeist und an die wehrhafte Schweiz während des Zweiten Weltkriegs oder noch weiter zurück an die Bundesverfassung von 1848. Als 1989 die Berliner Mauer fiel und kurz darauf die Zeit des Kalten Krieges zu Ende ging, brach ein neues Zeitalter an, das von einigen euphorisch gar als «Ende der Geschichte» zelebriert wurde.
Für die Schweiz stellten das Ende des Kalten Krieges, der Fall der Berliner Mauer und die Beseitigung des Eisernen Vorhangs eine seit Ende des Zweiten Weltkriegs präzedenzlose Herausforderung an ihr traditionelles Neutralitätsverständnis dar. Seit dem Wiener Kongress mit der Garantie der «immerwährenden Neutralität» der Schweiz und seit der wehrhaften Neutralität der Schweizerischen Eidgenossenschaft während der grossen Kriege in Europa hatte man sich bequem in einem offensichtlich erfolgreichen Neutralitätsverständnis eingerichtet. Doch wurde die traditionelle Neutralität bereits während des Kalten Krieges infrage gestellt, hatte sich die Schweiz doch bei der Wirtschaftspolitik wie auch bei ihrem Gesellschafts- und Staatsverständnis eindeutig im westlichen Lager positioniert. Immerhin konnte man sich aber durch die Nichtzugehörigkeit zur NATO und zur EU aus der Sicht des damaligen Ostblocks eine gewisse neutralitätspolitische Glaubwürdigkeit verschaffen.
Doch mit der neuen Weltordnung, die im Nachgang zum Fall der Mauer und zum Kollaps der Sowjetunion noch immer im Entstehen begriffen ist, haben Sinn und Zweck der Neutralität einen anderen Stellenwert bekommen und viel von ihrer Substanz verloren. Aus der Sicht von Tokio, Delhi oder Peking spielt es keine Rolle, welche Position die Schweiz im europäischen Machtgefüge einnimmt. Massgeblich ist einzig und allein die Frage, welche wirtschaftliche Handlungsfreiheit die Schweiz besitzt. Diesbezüglich sind Bern in Europa Grenzen gesetzt, die sich aus den mit der EU eingegangenen Verträgen ergeben. Diese Grenzen in der wirtschaftspolitischen Handlungsfreiheit interessieren aus asiatischer Perspektive insbesondere bei der Ansiedlung von Unternehmen in der Schweiz, vor allem auch bei der Standortwahl von Überseegeschäftssitzen. In diesem Bereich muss die Schweiz sorgfältig darauf achten, nicht durch Abkommen mit der EU wichtige Standortvorteile aufs Spiel zu setzen.
Asiaten sind sehr geschichtsbewusst. Deshalb ist es von Nutzen, wenn die Schweiz bei ihrer Präsentation nach aussen auf ihr seit 1848 herangewachsenes Profil verweist. Wie bereits erwähnt lässt sich Neutralität heute nicht mehr so klar und eindeutig definieren und beschreiben wie während des 19. Jahrhunderts, während der beiden Weltkriege oder während des Kalten Krieges. In den Beziehungen zwischen dem Okzident und dem Orient, zwischen Europa und Asien gibt es keinen grossen Spielraum, sich als neutraler Akteur zu positionieren. Wo und warum soll man neutral sein? Doch andererseits sollten wir nicht vergessen und unter den Tisch kehren, dass die Eidgenossenschaft ein Land mit einer grossen neutralitätspolitischen Erfahrung und Glaubwürdigkeit ist. Wie wir spätestens seit 9/11 wissen, ist die Weltgeschichte mit dem Verschwinden des Ostblocks und der Sowjetunion nicht zu ihrem Ende gekommen. Konflikte und Kriege scheinen der Menschheitsgeschichte wesensimmanent zu sein. Dies wiederum bedeutet, dass es immer wieder zu Situationen kommen wird, in denen eine neutrale Position und eine neutralitätspolitische Kompetenz von grossem Wert sein können. Zu denken ist beispielsweise an die heikle Frage von Sanktionen. Natürlich hat die Schweiz seit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen nicht mehr die ursprüngliche Position reiner Souveränität. Doch auch nach dem UNO-Beitritt kann die schweizerische Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik genügend Spielraum für Vermittlungsaktionen beanspruchen. In diesem Kontext könnte uns der neutralitätspolitische Glaubwürdigkeitsbonus, den die Eidgenossenschaft aus früheren Zeiten vorweisen kann, zugutekommen, sind doch viele asiatische Nationen und insbesondere die beiden Schwergewichte Indien und China sehr misstrauisch, wenn es um Sanktionen und Eingriffe in die Souveränität anderer Länder geht. Hier ist es sehr wichtig, dass die Schweiz Flagge zeigt und in Asien markiert, dass sie nicht zur EU oder zur NATO gehört und deshalb nicht an Sanktionen und Verurteilungen gebunden ist, die von diesen Institutionen und von deren Mitgliedern verhängt werden. Auf den Punkt gebracht: Es lohnt sich, wenn die Schweiz in den kommenden Jahren viel mehr diplomatische Ressourcen in Asien zum Einsatz bringt. Denn dort gibt es nicht nur noch sehr viel Unkenntnis zu beseitigen, sondern es bieten sich auch viele Aktionsfelder an, auf denen die Asiaten sehr gerne eine aktive Schweiz sehen würden.
Wegbereiter, Pioniere und Abenteurer – Eidgenossen in Asien
Schon in der Antike übte Asien eine grosse Anziehungskraft auf Europa aus. Der Feldzug Alexanders des Grossen, der ihn bis weit in den Nordwesten des indischen Subkontinents vorrücken liess, gehört zu den gros-sen Unternehmen und Abenteuern von weltgeschichtlicher Bedeutung. Das römische Imperium war nicht nur in sich selbst ein trikontinentales Reich mit wirtschaftlich und geopolitisch, aber auch kulturell bedeutsamen asiatischen Besitzungen. Über seine asiatischen Grenzen hinweg pflegte es auch einen intensiven Handel mit Indien und China. Zuweilen gab es gar die Besorgnis, dass der Goldabfluss nach Indien wegen der einseitigen Güterströme die finanzielle Stabilität des Imperium Romanum infrage stellen könnte. Knapp zwei Jahrtausende später sollte eine ähnliche Furcht in Grossbritannien zum Opiumkrieg mit China führen.
Ein neues Kapitel der Interaktion zwischen Europa und Süd-, Südost- und Ostasien wurde gegen Ende des 15. Jahrhunderts aufgeschlagen, als sich die Portugiesen erfolgreich auf die Suche nach dem Seeweg nach Indien begaben und in der Folge zusammen mit den Spaniern erste winzige Überseebesitzungen etablierten. Die Suche nach dem Seeweg nach Indien war notwendig geworden, weil die auf dem Landweg errichtete Seidenstrasse wegen der Ausdehnung der islamischen Reiche in Westasien blockiert worden war. Den Iberern folgten in Asien schon bald die Holländer, Briten und Franzosen und selbst das kleine Dänemark hisste in Indien seine Flagge. Als die ersten portugiesischen Schiffe an der indischen Westküste anlegten und die Portugiesen die später zum «Rom des Orients» aufgestiegene Niederlassung Goa gründeten, zählte die Alte Eidgenossenschaft zehn Kantone.
Wie der Schaffhauser Unternehmer und Historiker Stefan Sigerist in seinem Buch Schweizer in Asien beschreibt, gab es bereits ab 1600 Eidgenossen, die in Asien Fuss gefasst hatten. Diese Pioniere reisten nicht unter der Schweizer Flagge nach Asien, sondern kamen entweder als Söldner in fremden Diensten oder auf der eigenständigen Suche nach einem wirtschaftlichen Auskommen im Windschatten der europäischen Kolonialpräsenz in Asien an. Es gibt keine Statistik darüber, wie viele dieser Verwegenen, die der heimatlichen Misere entrinnen wollten oder schlicht ein Abenteuer suchten, auf der mühseligen und gefährlichen Reise umgekommen oder in der Ferne gescheitert sind. Sicher ist nur, dass die meisten kaum je ihre Heimat wiedersahen. Im 21. Jahrhundert fällt es schwer, sich die Umstände der Auswanderung im 16. und 17. Jahrhundert zu vergegenwärtigen. Heute gibt es dank einem immensen Angebot an Transportmitteln und dank der kommunikativen Vernetzung der Welt keine endgültige Auswanderung mehr. Billigflüge erreichen die entlegensten Orte und, wer nicht reisen will, kann über Internet, Facebook und Youtube mit der Heimat in engstem, wenn auch virtuellem Kontakt bleiben. Nicht zuletzt kann man sein heimatliches Leibblatt auch noch im entlegensten Erdteil aus dem Netz herunterladen.
Die Möglichkeit, seine Auswanderung zu revozieren, macht es zugleich schwieriger und leichter, den neuen Standort als Heimat aufzubauen. Leichter ist es mit Sicherheit, weil die Verbindungen zur Welt, in der man aufgewachsen ist, nicht mehr auf alle Zeiten hinaus gekappt werden müssen, wie dies noch im 19. Jahrhundert bei den meisten Asienauswanderern der Fall war. Schwieriger ist es aber geworden, sich in der Ferne zu verankern, weil die alten Beziehungen aufrechterhalten werden können und die Heimat stets als Alternative im Hinterkopf bleibt. Die Folge davon ist, dass die Identifikation mit dem neuen Wirkungsort weniger intensiv ist wie in der Vergangenheit, als die Auswanderung definitiv oder zumindest auf einen weiten Zeithorizont hinaus angelegt war. Im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts konnten wir eine weitere markante Gewichtsverlagerung beobachten. Mit dem Fortschritt der globalen Vernetzung und vor allem mit der Entwicklung der aufstrebenden Märkte ist die Notwendigkeit für die Entsendung von Expatriates, um vor Ort nach dem Rechten zu sehen, stark geschwunden. Blickt man insbesondere auf die Überseepräsenz der grossen multinationalen Gesellschaften und der internationalen Finanzinstitute, so fällt auf, wie gering inzwischen die Zahl von Schweizern, die vor Ort einen festen Wohnsitz haben und in der Niederlassung in Übersee arbeiten, geworden ist.
Hier soll keiner unbedachten Fortsetzung des traditionellen Expat-Systems das Wort geredet, aber immerhin zu bedenken gegeben werden, dass eine kompetente und langjährige Überseepräsenz von grossem Nutzen für ein Unternehmen sein kann. Kontrollbesessene Manager und Protagonisten der globalen Vereinheitlichung von Standards können indes fehlgehen, wenn sie jeden, der längere Zeit oder ein Leben lang in Übersee lebt und arbeitet, für «verbuscht» erachten. Es gibt einige Fälle, wo Banken und Konzerne stark davon profitiert haben, dass sie einen altgedienten Expat vor Ort hatten, auch wenn er sich vielleicht schon so weit von seinen Schweizer Wurzeln gelöst hatte, dass Bedenken aufkommen mussten, ob er sich gegenüber den «Einheimischen» noch so distanziert zu verhalten vermochte, wie sich dies die heimische Firmenleitung wünscht. Nicht nur die «soft power» einer Überseepräsenz, sondern auch das im positiven Sinne gemeinte Insiderwissen fallen der Kurzatmigkeit und Kurzzeitigkeit der Strategien der Geschäftsleitung zwangsläufig zum Opfer.
In weit zurückliegenden Zeiten waren die Motive für die Auswanderung so vielfältig wie die Schicksale fern der Heimat. Bemerkenswert ist, wie zahlreich die Eidgenossen im Vergleich mit anderen Ländern von ähnlicher Grösse in die Ferne aufbrachen. Das Fehlen einer schützenden Kolonialmacht führte dazu, dass Schweizer an allen Ecken und Enden Asiens anzutreffen waren, ein Sachverhalt, der auch heute noch gilt. Natürlich lässt sich der Exodus nach Asien nicht mit der Auswanderung in andere europäische Länder oder nach Nordamerika, dem auch von vielen Schweizern bewunderten «verheissenen Land», vergleichen. Nach Angaben der Auslandschweizer-Organisation lebten 2013 mehr als 10 Prozent der Schweizer Bürger und Bürgerinnen ausserhalb der Landesgrenzen. Über 60 Prozent der Auslandschweizer haben sich in Europa niedergelassen, 25 Prozent auf den beiden amerikanischen Kontinenten. An dritter Stelle folgt Asien, das bald 7 Prozent aller Auslandschweizer beherbergen wird. Bemerkenswert ist, dass 2013 im sechsten aufeinanderfolgenden Jahr Asien den prozentual höchsten Zuwachs bei der Zuwanderung von Auslandschweizern verzeichnen konnte. Offensichtlich spiegelt sich darin die Anziehungskraft dieses wirtschaftlich ausserordentlich dynamischen Kontinents wider, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, dass in absoluten Zahlen erfasst die Schweizer Präsenz in Asien im Vergleich zu den traditionellen Schweizer Auswandererdestinationen nach wie vor bescheiden ist. Über 190 000 Auslandschweizer leben in Frankreich, beinahe 80 000 in den USA und rund 40 000 in Kanada, derweil in ganz Asien weniger als 50 000 Auslandschweizer gezählt werden. Die in den vergangenen Jahren rasch gewachsene Gemeinde der Auslandschweizer in China inklusive Hongkong dürfte bald 5000 Personen zählen.
Kehren wir zur ferneren Geschichte zurück, so interessieren neben aussergewöhnlichen Einzelschicksalen aus heutiger Perspektive natürlich vor allem die Auslandschweizer, die in Asien bleibende Spuren hinterlassen haben. Auf diese beziehen sich teilweise bis heute auch Schweizer Investoren, Exporteure und Importeure. Noch ist, von der löblichen Ausnahme des Buches von Stefan Sigerist abgesehen, viel zu wenig Kraft in eine Aufarbeitung der Schweizer Präsenz in Asien investiert worden. Vor allem im Hinblick auf die ganz frühen Zeiten ist die Quellenlage natürlich schwierig, doch dürften sich ab dem 19. Jahrhundert ergiebigere Informationen vor allem aus einzelnen Familien- und Firmengeschichten gewinnen lassen. Nicht zuletzt im Zusammenhang der überfälligen Abkehr vom Eurozentrismus ist es wichtig, der Geschichte der «fünften Schweiz» mehr Gewicht einzuräumen. Es gibt sorgfältig aufgearbeitete Firmengeschichten wie jene des Handelshauses DKSH. Doch schlummern sicherlich noch grosse Schätze in den Firmenarchiven, die nähere Auskunft über die Schweizer Präsenz in Asien geben könnten. Dabei geht es nicht primär um akademische Fachliteratur, sondern um Darstellungen, die den sich noch am Anfang ihrer beruflichen Karriere befindlichen jüngeren Generationen als Anregung und Vorbild dienen können.
Die Schweiz hat eine lange Tradition im Gastgewerbe und Tourismus und es kann deshalb nicht erstaunen, dass Eidgenossen von Hongkong bis Tokio und von Nepal bis zu den Philippinen Karriere als Hoteliers, Köche, Bäcker und Konditoren gemacht haben. Noch heute gibt es an der Hauptgeschäftsstrasse von Kolkata (früher Kalkutta), der Park Street, das Kaffeehaus «Flury’s», heute von Indern geführt, aber 1926 von einem Schweizer Ehepaar gegründet. Im stolzen «Peninsula» Hotel in Hongkong wurde die Nachkriegsgeschichte entscheidend von vier Schweizern, Leo Gaddi, Peter Gautschi, Felix Bieger und Peter Borer, geprägt, die als Generaldirektoren dem ehrwürdigen Hotel in Kowloon ihren Stempel aufgedrückt haben. Zahlreiche Hotels in Osaka und Tokio haben Schweizer als Manager und in anderen Bereichen beschäftigt. Die Schweizer Präsenz im Hotelgewerbe ist fraglos in ganz Asien überdurchschnittlich gross. Übrigens hat von der guten Reputation der Überseeschweizer auch die Schweiz als allgemein geschätzter Standort von Hotelfachschulen profitieren können. Die Schweiz und die Schweizer werden in Asien weithin mit hochwertigem, zuweilen auch exklusivem Gastgewerbe in Verbindung gebracht.
Es ist sicherlich nicht vielen bekannt, dass 1897 auf den Philippinen das Kino von zwei Schweizer Unternehmern eingeführt wurde und dass vier Jahre später ein unternehmungslustiger junger Schweizer, Frederick Zuellig, in Manila eintraf, um nach einer kurzen Lehrzeit bei einer Handelsfirma schon bald eine eigene Unternehmensgruppe zu gründen, die bis heute existiert und floriert. Der erste Rang unter den Schweizer Unternehmen in Asien dürfte wohl eindeutig der Handelsgruppe DKSH (Diethelm Keller Siber Hegner) zufallen. Das in Zürich ansässige Unternehmen, das 2012 einen erfolgreichen Börsengang realisiert hat, blickt bei einem Teil seiner Geschäftstätigkeiten auf eine 150-jährige Präsenz in Asien zurück.
Die Geschichte von DKSH steht geradezu exemplarisch für den Pioniergeist von Schweizern in Asien. In den 1860er-Jahren waren unabhängig voneinander die Schweizer Wilhelm Heinrich Diethelm, Eduard Anton Keller und Hermann Siber in den Fernen Osten aufgebrochen. Diethelm ging nach Singapur, Keller auf die Philippinen und Siber nach Japan. 1864 hatte die Schweiz nach Einführung durch die seit dem Anbruch des 17. Jahrhunderts in Nagasaki ansässigen Holländer formelle Beziehungen zum japanischen Kaiserreich etablieren können. Das Augenmerk der Schweizer Handelsdelegation lag auf Uhren und Textilien und bereits im darauf folgenden Jahr etablierten sich Siber und Brennwald als Handelsgesellschaft in Yokohama. Kurze Zeit später machten sich weitere Schweizer ins ferne Nippon auf.
Einen Schweizer Vorstoss nach Asien eher abenteuerlustiger Natur gab es Ende des 18. Jahrhunderts in Indien. Der Neuenburger Charles-Daniel de Meuron übernahm das Kommando des 1781 ausgehobenen Schweizer Infanterieregiments, das nach ihm «Régiment de Meuron» benannt wurde. Dieses Regiment trat in den Dienst der holländischen Vereenigde Oostindische Compagnie, dem holländischen Äquivalent zur britischen East India Company, und diente in Sri Lanka, damals eine holländische Kolonie, und in Kapstadt. Nachdem sich die Schweizer wegen nicht bezahlten Solds mit den Holländern überworfen hatten, traten sie getreu dem Motto «Point d‘argent, point de Suisses» in die Dienste der Briten. 1798 wurde die Unterstellung unter das Kommando der East India Company vollständig vollzogen und die Schweizer erhielten den gleichen Sold wie die Briten. 1799 nahm das Regiment an der Kampagne von Mysore in Südindien teil, die das Schicksal der Franzosen in Indien besiegeln sollte. In der Folge der südindischen Kampagnen wurde der französische Einfluss auf dem Subkontinent auf ein paar winzige Enklaven reduziert und der bis dahin gefährlichste Rivale für die britische Herrschaft definitiv aus dem Feld geschlagen. Man stelle sich vor, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts wohl verlaufen wäre, hätte im südindischen Krieg Frankreich den Sieg errungen und im Zweiten Weltkrieg wären die reichen Ressourcen Indiens nicht den Briten, sondern den Franzosen zugefallen. Ein anderer Ausgang des Zweiten Weltkriegs wäre damit wohl eine realistische Option geworden.
Die Schweizer Auswanderung nach Asien, die immer unter fremder Obrigkeit erfolgte, brachte es mit sich, dass der ganze Kontinent im Visier stand, während sich bei den traditionellen Kolonialmächten geografische Schwerpunkte bildeten. Die breite geografische Ausrichtung der Schweizer Auswanderer (übrigens nicht nur in Asien, sondern auch auf den anderen Kontinenten) spiegelt sich bis heute in der Überseepräsenz wider, obschon es natürlich im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter des Massentransports und des Internets, die klassische Auswanderung kaum mehr gibt. Noch immer ist man in Grossbritannien auf die ehemaligen britischen Kolonien fokussiert, zu denen im Rahmen des Commonwealth nach wie vor intensive Beziehungen bestehen. In Indochina und in Indonesien sind die Briten nur schwach vertreten, obschon die einstige französische beziehungsweise holländische Präsenz dort kaum mehr zu spüren ist. Die Tatsache, dass die Schweizer als Einzelkämpfer kamen, hatte auch zur Folge, dass die Schweiz nie mit den imperialistischen Praktiken und Träumen in Verbindung gebracht wird, welche die meisten europäischen Mächte verfolgten, die noch bei der vorletzten Jahrhundertwende eine Aufteilung Chinas unter sich nach dem Vorbild Afrikas ernsthaft in Erwägung gezogen hatten.
In Asien werden historische Referenzen sehr geschätzt, vor allem wenn es sich, wie dies bei Schweizer Auswanderern bemerkenswert häufig der Fall ist, um Pioniertaten handelt. Gerade im Falle Asiens liessen sich dadurch wertvolle Beiträge zur Stärkung der aktuellen bilateralen Beziehungen gewinnen. Dass die Schweiz zudem keine Kolonialmacht war und fremde Länder ausbeutete, macht es möglich, diesen Unternehmensgeist ohne Scham zelebrieren zu können.