Der Duft der Träume
ROMAN
Aus dem Spanischen von
Stefanie Karg
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Care Santos
Titel der katalanischen Originalausgabe: »Desig de xocolata«
Originalverlag: Editorial Planeta, S.A.
Translation rights arranged by Sandra Bruna Agencia Literaria, S.L.
through SvH Literarische Agentur
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © getty-images/DeAgostini
Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-1407-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Deni Olmedo
für all das,
was sich kaum in Worte fassen lässt
Sechzehn Scherben und eine Tube Alleskleber. Max widmet sich dem zweifelhaften Vergnügen, die Stücke zusammenzusetzen, als handle es sich um ein Puzzle. Es ist spätnachts, und eigentlich sollte er längst schlafen – immerhin muss er in wenigen Stunden wieder aufstehen –, doch er hat es Sara zugesagt und will dieses Versprechen auch halten.
Er greift eine Scherbe nach der anderen und sucht ein passendes Gegenstück. Je weniger Scherben auf dem Tisch zurückbleiben, umso schneller geht ihm die Arbeit von der Hand. Er bestreicht die Ränder mit ausreichend Klebstoff und presst sie zusammen. Zufrieden betrachtet er dann das Ergebnis. In einigen Fällen gelingt es ihm, die Narben nahezu unsichtbar zu machen, aber meist ist es schwierig, vor allem wenn die Bruchstellen zersplittert sind. Nach und nach stellt Max das wieder her, was für immer verloren schien. Es hat sich gelohnt, nach dieser langen Nacht vor Müdigkeit schier umzufallen. Sara wird glücklich sein, wenn sie am Morgen in die Küche kommt und sieht, wie viel Mühe er sich gegeben hat.
Es war ein gelungener Abend gewesen. Zuerst das Gespräch zwischen zwei alten Freunden, die sich nach so langer Zeit vieles zu erzählen hatten. Dann Sara, so bezaubernd, so schön, so entschieden. Was geschieht nur mit den Frauen, wenn sie die vierzig überschreiten? Ihre Qualitäten scheinen sich zu bündeln, so dass sie intensiver, intelligenter, ausgeglichener und attraktiver wirken als noch vor zwanzig Jahren. So hatte Max gestern Abend seine Frau wahrgenommen, und er war stolz auf sie gewesen. Stolz darauf, dass sie seine Frau ist. Das ist ein primitives, ein falsches Gefühl, das eigentlich gar nicht zu ihm passt, sagt er sich jetzt, doch er muss zugeben, dass der Abend aus genau diesem Grund für ihn so erfreulich verlaufen ist.
Sobald Oriol die Wohnung verlassen hatte, hatten Sara und er begonnen, alles aufzuräumen, das Geschirr zu spülen und die Reste wegzustellen, in der perfekten, oft erprobten Arbeitsteilung. Selbstverständlich sprachen sie dabei über die Neuigkeiten. Gut, dass der Freund endlich vernünftig geworden war, aber hätte er sich nicht auch eine Frau aus der näheren Umgebung suchen können?
»Wer zum Heiraten in die Ferne geht, wird betrogen oder will betrügen«, flüsterte Sara im Tonfall ihrer Mutter, während sie die Salatreste in eine kleine transparente Plastikdose umfüllte.
»Was meinst du, wie er als Vater sein wird?«, fragte Max.
»Katastrophal«, sagte sie, »wie in allem anderen.«
»Nicht in allem, sei nicht ungerecht.« Max war ganz der treue Freund, der die Verteidigung übernimmt. »Er hat wirklich etwas Großartiges auf die Beine gestellt!«
Doch Sara antwortete nicht. Ihre Augen sahen müde aus und sie wirkte ein wenig niedergeschlagen. Es tat ihr offensichtlich weh, das zerbrochene Porzellan zu sehen. Resigniert betrachtete sie die Scherben.
»Mach dir keine Sorgen, wir können sie kleben«, sagte Max aufmunternd.
»Auch wenn du sie klebst, werde ich immer wissen, dass sie mal zerbrochen war«, antwortete Sara und verstaute die Plastikdosen in perfekter Anordnung im Kühlschrank. »Macht es dir etwas aus, wenn ich im Bett auf dich warte?«
Max macht es nichts aus. Ganz im Gegenteil. Er weiß, dass Sara allein sein muss und Zeit benötigt, um alles zu verarbeiten. Diese Nacht ist erst der Anfang eines langen Weges. Womöglich werden die Narben niemals ganz verschwinden, so wie die auf dem Porzellan, das in seiner Hand wieder Form annimmt, und sie werden lernen müssen, ihnen einen Sinn zu geben.
Das, was sich nun wieder formt, ist von erlesener Schönheit. Die blaue Inschrift unten ist leider in der Mitte auseinandergebrochen. Je suis à Madame Adé…, hält Max in der rechten Hand, …laïde de France in der linken. Zum Glück ist nicht ein Millimeter des Porzellans verloren gegangen, und die beiden Hälften passen perfekt zusammen. Madame Adélaïde von Frankreich – wer auch immer sie sein mag – kann aufatmen.
»Jeder Gegenstand hat seine Geschichten, die zum Leben erwachen können«, hatte Sara vor Jahren gesagt, als sie die Schokoladenkanne aus Porzellan zum ersten Mal in den Händen hielt. »Manchmal, wenn ich etwas berühre, habe ich das Gefühl, dass ich diese Geschichten hören kann.«
»Und, sind es viele?«, hatte Max fasziniert gefragt.
»Ja, einige. Siehst du denn nicht, dass dies ein sehr altes Stück ist, das schon durch viele Hände gegangen ist?«
Und Max vertiefte mit seinem üblichen wissenschaftlichen Interesse das Thema.
»Du behauptest also, dass die Dinge voller Geister sind, so wie die Häuser in den Horrorfilmen?«
Sie nickte zustimmend.
»Ganz genau, Max. Die Leute glauben an verwunschene Häuser, aber die Geister leben im Allgemeinen lieber in kleinen, alltäglichen Gegenständen, dort, wo sie niemand vermutet.«
»Ein guter Grund, niemals Staub zu wischen!«, meinte Max amüsiert.
Als er die Tülle zusammensetzt, die in drei Teile zerbrochen ist, und sie dann an den birnenförmigen Korpus klebt, nimmt die Kanne beinah wieder ihre alte Gestalt an. Nun liegen auf dem Tisch nur noch zwei Scherben vom Henkel. Wenn Max sie erneut in die graziöse Form einer Schleife gebracht hat, wird das Puzzle fertig sein. »Hier habt Ihr Eure Schokoladenkanne, Madame. Möge sie Euch noch viele Jahre begleiten. In Kürze werdet Ihr sie wieder einweihen können«, scheint eine ihm unbekannte Stimme in seinem Kopf zu sagen, und eine Sekunde lang lächelt er vor sich hin. Mit der Hingabe eines Chirurgen, der eine heikle Operation zu Ende bringt, klebt er die Bruchstücke zusammen. Danach entfernt er mit Alkohol und etwas Watte die Kleberreste von den Bruchstellen.
Die Schokoladenkanne erinnert ihn an einen Kriegsinvaliden. Als Sara sie kaufte, spät in jener Nacht, war die Tülle am Rand schon angeschlagen, und obwohl der Deckel und der Quirl fehlten, wirkte sie doch sehr edel und elegant. Seine Frau hat ihm niemals erzählt, ob der Antiquitätenhändler ihr etwas über die Herkunft verraten hatte. Max weiß nur, dass dieser merkwürdige alte Mann den Preis herabsetzte, weil Sara so jung und so interessiert war. Damals beeinträchtigte der angeschlagene Rand den harmonischen Gesamteindruck. Jetzt hingegen wirkt er keineswegs störend. Max streicht mit der Fingerkuppe über die alte Verletzung. Er spürt die Unebenheit des Materials. Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. Spuren, die man von außen nicht sieht. Obwohl die Kanne von oben bis unten geklebt ist, könnte man sie noch benutzen. Sie fasst genau drei kleine Tassen Schokolade. Wie schade, dass jetzt, da Oriol nicht mehr da ist, eine Tasse übrig bleibt. Tatsächlich wird nun immer eine Tasse übrig bleiben.
Als Max fertig ist, räumt er alles auf. Er stellt die soeben aus Trümmern auferstandene Schokoladenkanne genau in die Mitte des Tischs, reißt ein Blatt vom Einkaufsblock ab, schreibt Voilà darauf und legt es vor sein Werk. Dann schaltet er das Licht aus.
Er befürchtet, dass Sara noch wach ist und all die Ereignisse des Abends Revue passieren lässt. Aber nein. Sara schlummert wie ein kleines Kind. Als er unter die Laken schlüpft, bemerkt er, dass seine Frau vollkommen nackt ist. Er weiß, dass dies eine Einladung ist, die er nicht ablehnen sollte, aber er weiß auch, dass es nicht der passende Moment ist. Sobald er Ursachen und mögliche Konsequenzen analysiert hat, stellt er den Wecker eine halbe Stunde später als sonst und macht die Augen zu. Sein Herz pocht mit rasender Geschwindigkeit.
Die unheilbaren Verletzungen des Herzens sind der Preis,
den wir für unsere Unabhängigkeit zahlen.
HARUKI MURAKAMI