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© Querverlag, Berlin 2015 (überarbeitete Neuausgabe)

Die Erstausgabe erschien Mai 1991 im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos © ullstein bild – Imagno/Archiv Natter.

ISBN 978-8-89656-578-5

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

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Der letzte Sommer

8. Juli 1941. Den Tag werde ich nie vergessen. Es war im zweiten Kriegssommer in Polen – ein schöner, richtig heißer Tag. Mit ein paar Freunden war ich nach meiner frühen Arbeit als Laufbursche beim deutschen Bäcker Max Licht an die Weichsel zum Baden gefahren…

Als wir mittags am Flussufer angekommen waren, klebten alle Sachen am Leib von der großen Hitze. Nur flüchtig sondierten wir das Gebiet, um zu sehen, dass wir mit keinen Deutschen aneinander gerieten, womöglich noch mit Soldaten, die ebenfalls die heißen Tage zum Baden nutzten. Dann ließen wir alle Vorsicht außer Acht…

Andrzej, ein Nachbarjunge, hatte als Erster die Böschung erreicht, warf seinen kleinen Rucksack ins Gras, daneben sein Hemd und die kurze Hose, und schon war er mit einem Jubelschrei kopfüber im Wasser verschwunden. Kurz darauf waren wir mit ihm in den erfrischenden Fluten.

Während wir im Wasser herumtobten, merkten wir nicht, dass doch irgendwo eine Patrouille von zwei deutschen Soldaten in der Nähe gewesen sein musste. Wir tauchten einander gegenseitig unter und schrien nur so vor Vergnügen. Vielleicht schrien wir sogar unmäßig laut, weil derartige Unternehmungen so selten geworden waren in den vergangenen Jahren, in denen Krieg herrschte und Polen von der deutschen Wehrmacht besetzt war.

Jeder von uns hatte in dieser Zeit etwas eigenes Schlimmes erlebt, der eine mehr, die andere weniger – nur schlechter war es uns seitdem allen gegangen. Jetzt jedoch, beim Herumtoben in der Weichsel, beim Erfrischen im kühlen, klaren Wasser, war all das für einen Moment vergessen.

Und es war wieder Andrzej, der als Erster einen vom Ufer weit herüberragenden Ast als Sprungbrett für uns entdeckte und nackt, wie er war, mit einem übermütigen Salto voransprang. In dem Augenblick, als wir es ihm nachtun wollten und gerade Richtung Ufer schwammen, um zu dem Ast zu gelangen, brüllte plötzlich eine herrische Stimme in unmittelbarer Nähe: »Los, rauskommen! Sofort alle Mann raus aus dem Wasser und stillgestanden!«

»Alle Mann« – das waren der mutige, dünne Andrzej, der kleine Pawel und sein noch kleinerer Bruder Marek und ich, der längste von allen. Tropfend und vor Angst zitternd, nicht vor Kälte, stolperten wir vollends aus dem Wasser und blickten in Richtung der bärbeißigen Stimme. Jetzt erst zeigte sich hinter einem dichten Gebüsch der rundliche Besitzer dieses Organs mit seinem etwas jüngeren Begleiter: zwei deutsche Soldaten, die ihre Gewehre auf uns gerichtet hatten.

»Wisst ihr, was im Krieg mit Partisanen geschieht?«, bellte der Ältere erneut los, kaum dass wir alle aus dem Wasser waren und versuchten, irgendeine uns militärisch erscheinende Haltung einzunehmen. Aber mach das mal, klitschnass und splitternackt! Da ich von uns vieren am besten deutsch sprach, meldete ich mich zaghaft zu Wort:

»Aber, Herr, wieso denn Partisanen? Wir sind Kinder, die hier allein zum Baden hergekommen sind. Bitte geben Sie uns doch unsere Sachen und wir werden sofort nach Hause gehen.«

Zum ersten Mal zeigte der Soldat ein Grinsen, wenn es auch nur höhnisch war:

»Ach, ›Baden‹ nennt ihr Ganoven heute eure konspirativen Treffen! Sagt bloß noch, ihr wisst nicht, dass es euch verboten ist, in der Öffentlichkeit eure Polackensprache zu benutzen?«

Darauf wollte er also hinaus – ich musste mich beherrschen, um mir nicht unwillkürlich an den Kopf zu fassen wegen dieses Unsinns. Ja, es stimmte, es gab da diese Anordnung, dass wir in Gegenwart von Deutschen nicht polnisch sprechen durften – aber hier waren doch bis vor wenigen Minuten gar keine gewesen! Vielleicht fand der Ältere es auch einfach komisch, ein paar polnische Jungen zu schocken. Doch wie sollte es nun weitergehen?

Zum Glück schien sein Begleiter nicht das gleiche Vergnügen zu empfinden. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf dieser zustimmend nickte. Dann schrie er erneut im Kasernenton in unsere Richtung:

»Wir werden euch dieses eine Mal noch ziehen lassen. Aber merkt euch in Zukunft: Polen gibt es nicht mehr – das hier ist jetzt wieder Westpreußen und gehört zum Großdeutschen Reich! Habt ihr das verstanden?«

Andrzej und ich nickten. Als wir sahen, dass Pawel und Marek nur stumm vor sich hin starrten, boxten wir sie in die Seiten, damit sie auch nickten.

Endlich schienen die beiden ihre Vorstellung beenden zu wollen. Doch es war ihnen noch ein besonderer letzter Einfall gekommen. Sie hatten wohl Andrzejs Rucksack erspäht und stopften nun alle Kleidungsstücke, die sie von uns herumliegen sahen, in diesen Rucksack. Zuletzt ergriff einer von ihnen einen schweren Stein, der am Ufer lag, und verschnürte ihn ebenfalls darin. Dann schleuderten sie den nun prallen Rucksack, so weit sie konnten, zur Mitte des breiten Weichselstromes hin, wo er, nachdem er eine große, blubbernde Luftblase abgegeben hatte, augenblicklich versank…

Warum erzähle ich das eigentlich so ausführlich? Schließlich war ja alles noch mal eher gut abgelaufen. Marek und Pawel heulten zwar noch ein bisschen, aber Andrzej und mir gelang es schließlich doch, nach über einer Stunde, mit einem Hanfseil unseren Rucksackschatz aus der Tiefe zu bergen. Das Tollste war noch, dass die beiden Soldaten Pawels kleine Boxkamera übersehen hatten, die er vor dem Schwimmen an einer schattigen Ecke sorgsam abgelegt hatte. Und so ist am späten Nachmittag etwa einhundert Meter weiter ein Foto entstanden, das ich noch heute besitze. Der kleine Marek war auf einem Hügel abgestellt zum Aufpassen, während wir anderen drei ein paar feucht gewordene Brotkanten aufbrieten und dazu frische Himbeeren aßen.

Während wir in unseren schon fast trockenen Sachen im Gras saßen und das leckere Mahl genossen, musste ich wieder daran denken, was der Soldat gebrüllt hatte: Polen gibt es nicht mehr!

Polen gibt es nicht mehr! Polen gibt es nicht mehr! Dieser Satz ist in meiner Erinnerung bis heute fest verbunden mit jenem Tag im Spätsommer 1939, als ich erfuhr, dass ich nie wieder eine Schule besuchen dürfte.

Im Frühsommer 1939 hatte ich mit vierzehn Jahren gerade die sieben Klassen der polnischen Volksschule absolviert. Ich war ein ziemlich guter Schüler gewesen – das kann ich ja heute als alter Mann sagen. In der Schule war wenigstens immer etwas los. Außerdem mochte ich gern lesen und am liebsten mochte ich Musik. Im Musiksaal unserer Schule stand ein uralter Konzertflügel, den unser fröhlicher, junger Klassenlehrer einmal von einer entfernten Tante geerbt und uns gestiftet hatte. Darauf konnte er schön und mit so großer Begeisterung spielen, dass es nicht selten vorkam, dass die ganze Klasse das Läuten überhörte und vergaß, nach Hause zu gehen.

Es war dieser junge Herr Scibarski, der eines Tages meinen Vater in die Schule bat und zu ihm sagte: »Wissen Sie eigentlich, dass eine musische Begabung in Ihrem Sohn steckt? Er muss unbedingt auf ein Gymnasium, damit alle seine Fähigkeiten angemessen gefördert werden!«

»Aha«, brummte mein Vater. Er kratzte sich etwas unsicher am Hinterkopf und faltete dann seine zerbeulte Eisenbahnermütze sorgfältig zusammen und wieder auseinander. Dann schaute er mich an: »Und was willst du, Junge?«

Ich war genauso unsicher wie Vater, hatte aber leider keine Mütze zum Zusammenfalten. Weder Vater noch Mutter hatten in den vier Volksschuljahren ihrer Kindheit richtig lesen und schreiben gelernt. Immerhin waren sie auf einer deutschen Schule gewesen und so waren wir von früh an zweisprachig erzogen worden. Vater hatte später den Beruf eines Eisenbahnarbeiters bei der Güterabfertigung in Toru´n gelernt. Mutter war eine ungelernte Arbeiterin geblieben.

Beide hatten uns den katholischen Glauben gelehrt, was für mich von früh an mit einer schönen und einer nicht so schönen Erfahrung verbunden war: Jeden Abend vor dem Schlafengehen betete Mutter mit jedem Einzelnen von uns fünf Kindern. Danach hatte sie immer noch ein paar Minuten Zeit, wo sie sich unsere großen und kleinen Sorgen anhörte und mit uns beriet, was jeweils am kommenden Tag getan werden sollte. Das war die schöne Erfahrung.

Nicht so schön war, dass wir jeden Sonntag in so genannte gute Kleider gesteckt wurden für den Kirchgang. Nicht allein, dass diese steifen Hosen und Kragen entsetzlich kratzten auf der Haut, auch war Mutters ganze Freundlichkeit verschwunden, kaum dass dieses Folterzeug uns einhüllte. Dann sauste sie aufgeregt um uns herum, zerrte an schief sitzenden Manschetten und Kragen und warnte uns mit wildesten Drohungen vor der kleinsten Beschmutzung. Nie konnte ich glauben, dass das der liebe Gott wollte, als er den Sonntag geschaffen hatte…

So schaute ich nun meinen Vater ratlos an und sagte schließlich etwas, das wohl jeden anderen armen Vater, der jeden Pfennig zweimal umdrehen musste, eher abgeschreckt hätte: »Ich möchte so gern richtig singen lernen und einmal Sänger werden!«

Nicht so mein Vater! Anders als Mutter, die wegen unserer Armut ab und zu panische Zustände bekam, hatte sich Vater immer einen Sinn für das »wahre Leben«, wie er es nannte, bewahrt. »Das wahre Leben ist nicht nur Ackern und Schuften und Geld zusammenkratzen«, so sagte er manchmal zum Ärger von Mutter auch in unserer Gegenwart, »sondern das wahre Leben, das sind die schönen Dinge.« Dabei grinste er wie ein Schuljunge, und es blieb unserer Fantasie überlassen, welche »schönen Dinge« er jeweils meinte. Jetzt erfuhr ich, dass für ihn zu meinem Glück auch das Singen dazugehörte.

Zu Herrn Scibarski gewandt, meinte er jedenfalls fröhlich: »Gut, Herr Lehrer, soll der Stefan mal seine musischen Begabungen schulen, nicht?« Und ernst fügte er noch hinzu: »Aber Sie müssen ihm dabei auch ein wenig helfen! Meine Frau und ich wollen ihn kleiden und ernähren, aber bei der Schule helfen können wir nicht…«

So kam es, dass ich in diesem Sommer 1939 oft bei Herrn Scibarski in seiner kleinen, gemieteten, schattigen Stube saß, während die anderen Kinder schon ihre Ferien genossen. Ich büffelte für die Aufnahmeprüfung des staatlichen Toru´ner Gymnasiums, Herr Scibarski nahm dafür nicht einen Zloty von meinen Eltern, obwohl es schließlich auch seine Ferien waren.

Anfang August war endlich die Aufnahmeprüfung. Die ganze Nacht hatte ich kein Auge zugetan und schlich am anderen Morgen blass und mit schweißnassen Händen zum ersten Mal durch das beeindruckend große Portal des Gymnasiums. Unten war auf eine Stelltafel mit Kreide notiert: »Aufnahmeprüfungen im Zeichensaal!« Da ich keine Ahnung hatte, wo der Zeichensaal war, schaute ich mich fragend um und sah eine kleine Gruppe blasser Jungen eine der großen Treppen hinaufgehen. Da sonst niemand im Schulhaus war, lief ich ihnen einfach hinterher.

Im Zeichensaal wurden wir jeder an einen Tisch gesetzt, der so großen Abstand zum nächsten Tisch hatte, dass man sich nichts zuflüstern konnte. An die Gesichter der anderen Kinder erinnere ich mich kaum noch. Mir scheint, dass wir alle gleich ausgesehen haben, jedenfalls machte die Prüfungsangst uns alle zu ähnlich mausgrauen, verschüchterten Erscheinungen.

Auch habe ich keine Erinnerung, was nun eigentlich geprüft wurde. Dagegen spüre ich noch heute, dass meine Finger so verschwitzt waren, dass ich Mühe hatte, den Stift richtig zu halten, und dass alle meine Blätter leichte Wellen von der Feuchtigkeit meiner Hände aufwiesen, als ich sie endlich abgab. Am Ende wusste ich kaum noch, wie ich hieß…

Von den folgenden zwei Wochen weiß ich nur, dass ich in völliger Erschöpfung die meiste Zeit irgendwie vor mich hin dämmerte. Das heißt, ich machte weiter meine normalen Arbeiten wie Zeitungen austragen und Aushelfen bei einem Gärtner, mit denen ich auch sonst ein wenig für unsere Familie dazuverdiente, aber ich tat alles in einem Zustand geistiger Betäubung. Nur so kann ich erklären, dass ich in jenem heißen Sommer 1939 nicht wirklich mitbekam, was um mich herum geschah.

Ich erwachte erst aus diesem Zustand, als ich in der vorletzten Augustwoche endlich das Ergebnis der Prüfung erfuhr. Zuerst war es nur eine Erlösung, dass die Zeit des Wartens vorbei war – allmählich drang auch der Bescheid zu mir durch, dass ich bestanden hatte und zum neuen Schuljahr aufgenommen war.

Vater und Mutter und selbst meine Geschwister sahen mich so stolz an, dass ich mich fast ein wenig schämte.

»Freue dich einfach, Stefan!«, meinte Vater zu mir. »Wegen einer besseren Schule ist man sicher kein besserer Mensch. Aber etwas einfacher hat man es vielleicht doch mal im Leben…«

Und Mutter, die doch sonst immer zuerst Ängste entwickelte wegen des fehlenden Geldes, sagte mit fester Stimme:

»Morgen gehen wir zum Schneider und dort werden wir dir eine neue Schuluniform kaufen. Niemand soll sehen, dass du aus einem armen Elternhaus kommst!«

Langsam taute ich aus meiner Erstarrung wieder auf. Am meisten freute mich, dass mein älterer Bruder Mikolaj, der eigentlich ein viel ehrgeizigerer Junge war als ich und leider nicht für eine höhere Schule vorgeschlagen worden war, überhaupt nicht gekränkt oder eifersüchtig war. Eines Abends vor dem Schlafengehen kam er noch einmal rüber zu meinem Bett, kniete sich daneben und legte mir einen kleinen Umschlag auf mein Kopfkissen:

»Hier, nimm mal – ich bekomme doch schon ein bisschen Lohn und du wirst ja nun noch ’ne Weile armer Schüler bleiben und kannst es sicher brauchen!«

In dem Umschlag waren ein paar Zloty-Münzen – keine große Summe, aber doch so viel, dass ich wusste, dass er dafür beinahe eine Woche arbeiten musste.

»Danke, Mikolaj, ich werde dir das nie vergessen!«

Er klopfte mir nur sanft auf die Schulter: »Ich freue mich mit dir, ehrlich! Du weißt, dass ich auch gern weiter zur Schule gegangen wäre, aber in den letzten Wochen denke ich schon manchmal, vielleicht ist es in diesen Zeiten besser, wenn man einen Beruf gelernt hat…«

Damit erhob er sich, um zu seinem Bett zu gehen. Ich hörte im Dunkeln, wie er sich aufs Bett legte, ohne sich zuzudecken.

»Mikolaj, was meinst du mit ›diesen Zeiten‹?«, fragte ich noch einmal leise zu ihm hinüber.

»Es gibt viel Hass und viele gegenseitige Drohungen in der Welt – in den letzten Tagen vor allem zwischen Deutschland und Polen. Wir sind ein kleines Land zwischen dem großen Deutschland im Westen und der großen Sowjetunion im Osten. Ich hoffe nur, dass sich die Politiker wieder beruhigen und ihre Drohungen nicht wahr machen…«

Selten redete mein älterer Bruder so lange auf einmal. Ich spürte, dass er sich eigene Gedanken um die Welt gemacht hatte, und fühlte mich plötzlich ziemlich naiv in meiner Beschränktheit auf die Vorbereitung für die höhere Schule – das war meine ganze Welt in den letzten Wochen gewesen. Ich konnte nicht ahnen, dass diese Welt bereits in wenigen Stunden nicht mehr existieren sollte…

Am 30. August 1939, zwei Tage vor Beginn des neuen Schuljahres, kam schließlich die neue Schuluniform für mich. Der Schneider hatte meinen Eltern gestattet, den Anzug in 24 Monatsraten abzuzahlen. Mutter bestand darauf, dass ich ihn sofort anzog. Glücklich und entspannt, wie ich sie noch nie bei »guten Kleidern« erlebt hatte, umkreiste sie mich mehrfach und streichelte dabei den »hervorragenden Stoff« an allen möglichen Stellen.

»Wir müssen an seinem ersten Schultag unbedingt ein Foto von Stefan machen lassen!«, meinte sie zu Vater gewandt, der seiner unerwartet leichtsinnig gewordenen Ehefrau sofort begeistert zustimmte: »Ja, Liebe, aber von dir wollte ich auch schon lange ein Foto und unsere anderen Kinder sollen nicht hintanstehen!«

Über Mutters Gesicht huschte ein kurzer, ernster Schatten. Dann lachte sie befreit und sagte: »Aber nur dieses eine Mal!«

Mein erster Schultag im Gymnasium hat nie stattgefunden. Dafür ist er in die Geschichte eingegangen. An jenem 1. September 1939 lagen wir noch ahnungslos in unseren Betten, als nördlich von unserer Stadt Toru´n an der Mündung der Weichsel, genauer gesagt im Hafen von Danzig, ohne Kriegserklärung vom deutschen Linienschiff »Schleswig-Holstein« aus auf das polnische Festland gefeuert wurde.

Ein paar Stunden später erklärte der deutsche Regierungschef Adolf Hitler, der so genannte Führer, im Rundfunk: »Seit heute Morgen um 5.45 Uhr wird zurückgeschossen!« Dabei log er gleich zweimal, wobei das eine vielleicht wirklich nur schlichte Unkenntnis war. Nicht um 5.45 Uhr, sondern um 4.45 Uhr war der Angriff im Hafen von Danzig erfolgt, für den er bereits am Vortag, mittags um 12.40 Uhr, den geheimen Befehl gegeben hatte.

Zum anderen war es ein Angriff und keine Verteidigung, wie er mit dem Wort »zurückgeschossen« vorgeben wollte. Den Vorwand für den Angriff hatten die Nazis selbst geliefert: In der Nacht zum 1. September hatte es einen bewaffneten Überfall auf den deutschen Grenzsender in Gleiwitz gegeben. Nach dem Krieg stellte sich heraus, dass es von den Deutschen gedungene Banditen gewesen waren, die diesen Überfall vorgespielt hatten.

Wir wurden an diesem Morgen nicht wie sonst vom sanften Rütteln unserer Mutter geweckt, sondern vom Dröhnen schwerer deutscher Militärflugzeuge, die über unsere Siedlung hinwegdonnerten. Mikolaj war als Erster auf den Beinen und starrte aus dem weit geöffneten Fenster zum Himmel.

»Jetzt geht es los, Stefan!«, sagte er leise zu mir, als ich neben ihm stand und sah, wie er seine Erregung zu verbergen suchte durch tiefes Ein- und Ausatmen. Sein kräftiger Brustkorb hob und senkte sich, aber er sprach den ganzen Morgen kein weiteres Wort.

Dafür redete Mutter umso aufgeregter: »Was soll das denn jetzt! Du lieber Gott, sind die Menschen endgültig verrückt geworden?«

Irgendwann erinnerte sie sich an das, was wir heute eigentlich vorgehabt hatten: »Also, das geht nicht, wir müssen doch heute zum Fotografen! Stefan, du ziehst jetzt sofort deine neue Schuluniform an!«

Fragend schaute ich zu Vater. Er bedeutete mir stumm und ernst, dass ich ihn für eine Weile mit Mutter allein lassen sollte. Kurz darauf hörten wir fünf Kinder, die wir alle im Nebenzimmer hockten, wie Mutter laut aufschluchzte, und dazwischen immer wieder Vaters Stimme, scharf und entschlossen. Als sie endlich herauskamen, sagte Vater: »Ich gehe jetzt mal zu unseren Nachbarn. Die haben ein Radio, und ich hoffe, wir werden bald Genaueres wissen. Beruhigt Mutter, Aufregung ist jetzt fehl am Platz.«

Mutter saß stumm auf dem Ehebett und schniefte leise in ein Taschentuch…

Endlich kam Vater zurück.

»Krieg! Es ist tatsächlich Krieg! Unsere Regierung fordert alle Männer auf, sich sofort zu melden. Für die Verteidigung unserer Hauptstadt Warschau sollen allein 120000 Mann zusammengezogen werden! Ich werde mich noch heute beim Rathaus melden!« Dann schaute er fragend Mikolaj an.

»Ich bleibe bei Mutter!«, sagte Mikolaj sehr leise und ernst. Er sagte es so eindringlich, dass Vater nur einen Moment zögerte und ihm dann mit ungewohnter Feierlichkeit die Hand gab: »Gut, Junge, dann kann ich beruhigt los, wenn ich weiß, dass du hier bist!«

Die neue Schuluniform blieb an diesem Tag im Schrank hängen. Sie blieb auch die folgenden sechs Wochen dort. In diesen Wochen fielen etwa 70000 Polen in den Kämpfen. Von Vater erhielten wir die ganze Zeit über keine Nachricht. Am 17. September floh die bisherige polnische Regierung außer Landes. Die noch verbliebenen 116 Flugzeuge der Luftstreitkräfte nahm sie gleich mit. Trotzdem kämpften viele polnische Soldaten noch weiter bis Anfang Oktober, weil allen klar war, was nach der Niederlage folgen würde. Am 6. Oktober 1939 kapitulierten die letzten polnischen Einheiten.

Am Abend jenes 6. Oktober gab Mutter mir meine Schuluniform aus dem Schrank, wobei sie sie sorgfältig in einen Bogen Papier einschlug:

»Stefan, polnischen Kindern ist ab sofort der Besuch aller höheren Schulen untersagt. Die freien Plätze werden an deutsche Schüler vergeben. Lauf schnell zum Schneider und sage ihm, dass die Uniform noch völlig unbenutzt ist. Vielleicht nimmt er sie noch zurück und wir verlieren nur die erste Monatsrate…«1*

Auf dem Weg zum Schneider kam ich an einer Gaststätte vorbei, die vor allem von Deutschen besucht wurde. Aus den Räumen klang fröhliches Singen und Feiern bis auf die Straße. Es war ein milder Herbstabend, die Luft wie Seide, und die Abendvögel hatten gerade begonnen, sich auf ihre Lieder einzustimmen.

Ich ging mit meinem Paket unterm Arm langsam und mit schweren Schritten die Straße entlang, als ich hörte, wie ein Mann laut auf Deutsch grölte: »Polen gibt es nicht mehr! Leute, ein für alle Mal: Polen gibt es nicht mehr!« Dann ging seine Stimme im Jubel unter…

Es war ein milder Herbstabend, aber ich spürte die schöne Luft nicht und hörte auch keine Vögel mehr. Wenn nur Vater bald heil zurückkommen würde…