46435.jpg

 








Für alle meine Mentoren

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
 
Für Fragen und Anregungen:
info@finanzbuchverlag.de
 
4. Auflage 2020
 
© 2011 FinanzBuch Verlag, 
ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
 
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
 
Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden von Verfasser und Verlag sorgfältig erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden. Ebenso ist die Haftung des Verfassers beziehungsweise des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.
 
Satz: HJR, Manfred Zech, Landsberg am Lech
Korrektorat: Silke Grauenhorst
E-Book: Grafikstudio Foerster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-89879-841-9
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86248-511-6
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86248-512-3
 
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.finanzbuchverlag.de

Inhalt

Titel
Widmung
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung

Teil A

KAPITEL 1 Minestrone oder Tomatensuppe? Vom Umgang mit Verlusten, der Veranlagung des Menschen und Selbstkontrolle

KAPITEL 2 Elf Methoden zur Stabilisierung der Selbstkontrolle im Handel
2.1 Positionsverkleinerung
2.2 Vorabfestlegung von Gewinnen und Verlusten
2.3 Realistische Zielsetzung
2.4 Eine Chance-Risiko-Betrachtung
2.5 Pyramidierung in den Gewinn hinein
2.6 Dokumentieren der Trades in einem Tagebuch
2.7 Mit höheren Zielwerten arbeiten
2.8 Verkürzung der empfundenen Zeit durch Ablenkung
2.9 Selbstbelohnung und Selbstbestrafung
2.10 Vorbilder
2.11 Selbstkontrolle im Alltag

KAPITEL 3 Das Börsenalphabet
3.1 Gründe für Kursveränderungen
3.2 Grundbegriffe an den Börsen
3.3 Grundlagen der Börsenkursfeststellung
3.4 Liquidität
3.5 Zusammenhang von Kassa- und Terminmärkten
3.6 Arbitrage zwischen DAX-Future und den DAX-Kassawerten anhand eines Beispiels

KAPITEL 4 Von der Fährte der Elefanten, von Wasserstellen, Löwen, Rehen, kleinen Fischen, Aasgeiern und anderen Tieren

Teil B

KAPITEL 5 Grundlagen Markttechnik: von Super-Losern zu Super-Tradern.
5.1 Grundlagen Aufwärtstrend
5.2 Grundlagen Abwärtstrend
5.3 Grundlagen Seitwärtstrend
5.4 Trendhandel
5.5 Progressionshandel
5.6 Regressionshandel
5.7 Ausbruchshandel

KAPITEL 6 Vertiefendes zum Trendaufbau
6.1 Gaps

KAPITEL 7 Die Zeiteinheiten
7.1 Grundlagen
7.2 Zusammenwirken der Zeiteinheiten

KAPITEL 8 Tom Sawyer und der Zaun: der Trendwechsel
8.1 Wendepunkte im Tickchart
8.2 Wendepunkte im 10-Minutenchart
8.3 Wendepunkte im Stundenchart
8.4 Wendepunkte auf Tagesbasis

KAPITEL 9 Markante Spuren der Herde: Tageslinien
9.1 Tageshochs und Vortageshochs
9.2 Tagestiefs und Vortagestiefs
9.3 Abfischlevels und Abfischlimite
9.4 Schlusskurs und Vortagesschlusskurs
9.5 Eröffnungskurse

KAPITEL 10 Handelsansätze
10.1 Erkenntnisse für den Handel aus zwei Fußballspielen
10.2 Handelsansätze mit einer hohen Erfolgswahrscheinlichkeit

KAPITEL 11 Vertiefung Markttechnik – oder vom Versuch, fallende Blätter an den Baum zu nageln
11.1 Länge und Dauer von Progressions- und Regressionsphasen und ihr Verhältnis zueinander
11.2 Auswirkungen der Altersstufen eines Trends auf den Handelsansatz

KAPITEL 12 Struktur einer Handelsstrategie
12.1 Die Methodik der Erstellung eines Handelsplans
12.2 Exemplarische Ausarbeitung einer Handelsstrategie

KAPITEL 13 Bewertung und Bedeutung von Verlusten für den Handel
13.1 Wahrnehmungsverzerrungen
13.2 Keine Begrenzung von Verlusten
13.3 Die Pyramidierung von Verlusten
13.4 Die fünf Verlustphasen
13.5 Die Logik des Vorwurfs an die Börse bei Verlusten

Schlusskapitel

Vorwort

Dieses Buch orientiert sich an meiner eigenen Ausbildung zum Händler auf dem Parkett der Frankfurter Wertpapierbörse Anfang der neunziger Jahre. Ich beschreibe, wie ich von meinem Chef, einem erfahrenen und sehr erfolgreichen Seniorhändler, an die Hand genommen und selbst zu einem erfolgreichen Börsenhändler ausgebildet worden bin. Die Beherrschung des Börsenalphabets ist eine Grundvoraussetzung für den Erfolg. Darum werden alle Elemente des Chartaufbaus, die man kennen und begreifen muss, um realisieren zu können, was genau an der Börse vor sich geht, aufeinander aufbauend vorgestellt. Ohne Abkürzungen und Umwege zu nehmen, erschließt sich so das System Börse.

Zielgruppe meines Buches sind Trader, die mit dem »Lesenkönnen« von Charts und dem Verstehen des Marktgeschehens an den Börsen mit kurz- bis mittelfristigen Spekulationen Geld verdienen wollen. Vorkenntnisse sind zwar willkommen, aber nicht Voraussetzung. Anfänger werden sicherlich den größten Nutzen aus dem Buch ziehen können, da es als Ausbildungslehrgang konzipiert ist. Es richtet sich an Leser, die nicht die Mühe scheuen, sich intensiv mit der Materie auseinanderzusetzen, da sie wissen, dass nur hierüber stetige Gewinne an der Börse generiert werden können. Für bereits erfahrene Händler sind der mittlere Teil und die Überlegungen zum Umgang mit Verlusten und vor allem die Auswirkungen der Verluste auf den Trader selbst interessant. Sowohl Händler, die noch keine Handelsstrategie haben, als auch solche, die bereits erfolgreich handeln, werden beim Lesen ihre Aha-Erlebnisse haben. Ziel des Buches ist es, angehende Händler bis zur Börsenreife zu begleiten.

Das Buch spiegelt den Erfahrungsschatz zweier Generationen wider: den des Oldschool-Parketthändlers und den seines Lehrlings, der in die digitale und derivative Handelswelt hineinwächst. Daher werden sich sowohl jüngere als auch ältere Trader angesprochen fühlen und in beiden Charakteren wiedererkennen sowie Antworten auf ihre jeweiligen Fragestellungen finden. Immer wissen, was man tut und in der Folge auch genau das tun, was man weiß – was im Berufshandel als Maxime gilt, sollte nach der Lektüre dieses Buches auch für den Neueinsteiger möglich werden.

Das Buch ist kein staubtrockenes Sachbuch, sondern fast schon ein Bildungsroman, in dem sich informative und erzählerisch-anschauliche Passagen abwechseln. Leser, die sich in einer Atmosphäre von Sachlichkeit und Ernst trotzdem einen Sinn für Ironie und Humor wünschen, werden voll auf ihre Kosten kommen. Wichtige Themen für erfolgreichen Börsenhandel werden nicht oberflächlich gestreift, stattdessen wird tief bis auf sicheren Verstehensgrund gebohrt. Geheime Formeln, mit denen man binnen kurzer Zeit zum Millionär wird, kenne ich nicht. Der Erfolg wird sich allmählich bei denen einstellen, die den Handel ernsthaft unter realistischen Annahmen betreiben wollen.

In der Konzeption des Buches besteht ein wesentlicher Unterschied zur Masse der bereits vorhandenen Börsenbücher. Während dort primär einfach zu realisierende, große Gewinne das Hauptthema sind, wird hier der Leser von Anfang an gezwungen, sich mit Verlusten auseinanderzusetzen. Es geht kein Weg daran vorbei: Wer an die Goldklumpen will, muss viel Sand, Erde und Geröll durch seine Hände rieseln lassen. Das Thema Verluste ist nicht wirklich »sexy«, aber erst die Beherrschung der Verluste ebnet den Weg zu den Gewinnen.

Im ersten Kapitel werden die Todsünden des Börsenhandels vorgestellt, im zweiten dann Techniken aufgezeigt, wie der Händler diese psychologischen Fallen umgeht. Die Auseinandersetzung mit Verlusten und geeignete Strategien des Umgangs mit ihnen stellen das langfristige Überleben des Traders sicher.

Nachdem dieses Fundament gegossen ist, wird im dritten Kapitel der Prozess der Kursentstehung ausgeleuchtet. Obwohl jeder Chart und jedes Geschäft seinen Ursprung in einem zustande gekommenen Kurs hat, machen sich nur wenige die Mühe, sich mit den Grundlagen der Kursentwicklung zu beschäftigen. Aus dem einzelnen Kurs wird das Konzept der Liquidität abgeleitet und hieraus die Implikationen für die unterschiedlichen Handelsstile aufgezeigt. Inwieweit die eigene Erwartungshaltung die Kursverläufe und die Wahrnehmung beeinträchtigt, wird im Anschluss behandelt.

Nachdem das Grundlagenwissen durch die Identifikation der verschiedenen am Handel beteiligten Marktteilnehmer und ihrer unterschiedlichen Ziele vervollständigt ist, wird in Kapitel 5 der Trend unter die Lupe genommen. Der Trend wird in seine Bestandteile zerlegt und es wird analysiert, wie die Einzelteile sinnvoll gehandelt werden können. Der Fokus ist dabei auf die Praxis des Berufshandels gelegt: Was lässt sich unter Chance-Risiko-Aspekten gut handeln?

Nachdem der Aufbau und der Ablauf von Marktbewegungen vollumfänglich erklärt wurden, werden anwendbare Einstiegs- und Ausstiegstechniken mit den dazugehörigen sinnvollen Stopplogiken erläutert. Sehr ausführlich wird im anschließenden Kapitel 6 das Auftreten von Gaps aus der Trendlogik heraus vermittelt. Intensiv wird in Kapitel 7 und 8 auf das Ineinandergreifen der Zeiteinheiten und die Übergänge von Trends, die Wendepunkte, eingegangen. Meines Wissens liegen die in diesen drei Kapiteln aufgezeigten Wirkungszusammenhänge bisher nicht in Buchform vor.

In Kapitel 9 werden markante Linien und Zeitpunkte, die der Berufshandel immer im Blick hat, genannt. Erst dieses Wissen befähigt den lernenden Trader nachzuvollziehen, an welchen Stellen und zu welchen Zeiten Hektik und damit große Bewegungen in den Markt kommen werden.

In Kapitel 10 und 11 werden die bisher behandelten Themen zusammengebracht und dahingehend vertieft, wie sie ganz konkret im Trading­alltag angewandt werden können.

Mit dem jetzt erworbenen Wissen wird der Leser in die Lage versetzt, sich eine zu seiner Persönlichkeit, seinen Zielen und vor allem seiner Risikoneigung passende Handelsstrategie zu erarbeiten. Das Wissen um die Entstehung eines Kurses, die möglichen Positionen der Marktteilnehmer und den Trendaufbau ermöglicht dem angehenden Händler, seinen eigenen Handelsstil zu finden.

In Kapitel 13 wird das sich als roter Faden durch das Buch ziehende Thema des Aufkommens von Verlusten im Börsenhandel noch einmal intensiv erörtert. Es wird dargestellt, wie es zu Wahrnehmungsverzerrungen im Börsenhandel kommen kann. Da Trader immer wieder den Fehler machen, Verluste nicht zu begrenzen und sie stattdessen zu pyramidieren, wird aufgeschlüsselt, was genau während einer Verlustphase durchlebt wird. Die Offenlegung von fünf Verlustphasen wird beim Händler zu einer verbesserten Selbstwahrnehmung führen und ihn aus Ohnmachtsgefühlen befreien, sodass er voll handlungsfähig bleibt.

Langfristig kann ein Profi einem anderen Profi kein Geld aus der Tasche ziehen. Die Gewinne des Berufshandels sind meistens die Verluste von Anfängern oder Unsachverständigen, die sich zudem noch massiv in ihrem Können überschätzen. Nach der Lektüre dieses Buches werden Sie keine leichte Beute mehr für den Profihandel sein. Sie werden Berufshändlern auf Augenhöhe begegnen können, sowohl was handwerkliches Können betrifft, vor allem aber durch einen professionellen Umgang mit den an der Börse unumgänglichen Verlusten. Wenn es erst einmal gelingt, sich im Haifischbecken von den darin patrouillierenden Profis nicht durch die Zahnritze ziehen zu lassen, sind die Gewinne nicht mehr weit.

Sofern es sich nicht um gängige Börsensprache handelt, versuche ich, den Börsenhandel mit einprägsamen Denkbildern und nicht mit Anglizismen und Fremdwörtern in einfacher und verständlicher Weise zu vermitteln. Sie sollen mit Freude und Spaß ein tiefes Verständnis vom Funktionieren der Börse bekommen, aber auch und vor allem durchschauen, was in Ihnen selbst vorgeht, sobald Sie mit dem Börsenhandel in Berührung kommen. Insgesamt ca. 250 Grafiken und 50 Tabellen unterstützen dabei, die Börse als eigenständiges Denksystem zu durchdringen.

Die Ausbildung zum Trader kann mit einer Bergbesteigung verglichen werden. Verschiedene Wege führen zum Gipfel. Die Masse der Trader gelangt nie dorthin, da sie bestenfalls um den Berg herumläuft und die Mühen des Aufstiegs scheut, das heißt nicht konsequent einen Weg zu Ende geht. Alle Top-Trader, die zum Gipfel gelangt sind, berichten übereinstimmend von den gleichen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Persönlichkeitsstrukturen, die hierfür notwendig sind. Wie sie tatsächlich vorgegangen sind, um ihr Ziel zu erreichen, unterscheidet sich jedoch erheblich. Daraus kann abgeleitet werden, dass nicht ein einziger, sondern viele Wege zum Gipfel führen. Einzig wichtig ist, sich für einen Weg zu entscheiden und diesen beharrlich zu Ende zu gehen. Das Basislager, von dem jede Gipfelbesteigung ausgehen sollte, ist das Erlernen eines neuen Denksystems, des Börsenalphabets.

Diese Erfahrung musste auch ich machen. Im Juli 1993 hatte ich meine Banklehre als einer der Jahrgangsbesten des Landes Hessen abgeschlossen und begann als Börsenhändler bei einem Makler an der FWB1 zu arbeiten. Kurz hintereinander legte ich die Prüfungen zum Börsenparketthändler, zum Terminhändler an der EUREX und zum Kursmakler ebenfalls mit sehr guten Noten ab. Meine Annahme, diese Qualifikationen würden mich dazu befähigen, schnell ein erfolgreicher Trader zu werden, war weit gefehlt. Meine eigentliche Ausbildung zum Trader, also einem Händler, der nicht nur fremde Orders abarbeitet, sondern sich eigene Gedanken macht und mit vollem Risiko aus selbständig eingegangenen Positionen einen stetigen Gewinnstrom generiert, wurde von meinem damaligen Chef durchgeführt. Trotz eines Mentors mit 40 Jahren Börsenerfahrung an meiner Seite, beging ich so ziemlich jeden Fehler, den ein Anfänger machen kann. Mein Chef sorgte mit starker Hand dafür, dass ich trotz häufiger Misserfolge nicht vom einmal eingeschlagenen Weg abgewichen bin. Genauso möchte ich Sie, lieber Leser, heute an die Hand nehmen und Sie auf Ihrem Weg zum Gipfel begleiten.

 

Erdal Cene
September 2011



1 Frankfurter Wertpapierbörse

Einleitung

Ein fast misslungener Börseneinstieg

Bereits in der ersten Woche, nachdem ich bei einem Kursmakler als dessen Stellvertreter zu arbeiten begonnen hatte, dachte ich, meine Börsenkarriere sei zu Ende. Heute, zwanzig Jahre später, kann ich über den Verlust, der mir damals so viel Angst eingeflößt hatte, nur schmunzeln. Als Reaktion darauf erklärte mir mein Chef, dass es in jedem Menschen eine Programmierung gibt, die im Allgemeinen zwar sinnvoll, im Börsenkontext aber verhängnisvoll ist: Wir neigen dazu, Verluste laufen zu lassen und Gewinne zu früh mitzunehmen. Er verdeutlichte mir sehr eindringlich und überzeugend, dass Erfolg an den Börsen nur haben kann, wer diese Neigung erkennt und abstellt. Jegliche Anstrengung, Überlegung und Technik ist zweitrangig und wird keine Früchte tragen, wenn es zuvor nicht gelungen ist, diese nur allzu menschliche Verhaltensweise zu überwinden.

Wird beispielsweise im Straßenverkehr die Grundregel nicht beachtet, bei Rot zu halten und bei Grün zu fahren, braucht man sich erst gar nicht um weitergehende Verordnungen zu kümmern, ein Totalschaden ist unvermeidlich. Dies ist der Grund, warum ich das Thema, dass Gewinne verfrüht mitgenommen und Verluste verspätet geschlossen werden, an den Anfang dieses Buches stelle. Nichts ist für den Erfolg im Wertpapierhandel wichtiger als die Beachtung dieser Grundregel.

Konkret war Folgendes passiert: Ich stand neben meinem Chef und stellte die Kurse für einige Nebenwerte fest. Er selbst kümmerte sich um die großen Dax-Werte in unserem Skontro. Die umsatzschwachen Werte hatte er mir abgetreten, damit ich üben konnte. Ich nahm also alle Orders in diesen Papieren mündlich, schriftlich oder elektronisch entgegen und stellte handelbare Geld-Brief-Kurse. Dabei sollte ich dreierlei trainieren: Erstens musste ich regelkonforme Kurse stellen. Zweitens musste ich lernen, zur gleichen Zeit zu telefonieren, Orders entgegenzunehmen, den Markt und diverse Nachrichtenticker zu beobachten und in schnellstmöglicher Abfolge Kurse zu rechnen. Drittens sollte ich im Rahmen des mir zugestandenen Limits Eigenhandel betreiben. Mit dem Kurserechnen selbst gab es keine Probleme, ich musste nur schneller werden. Aber zur gleichen Zeit so viele unterschiedliche Sachen zu machen, überforderte mich damals noch in Stoßzeiten.

Mein Eigenhandel brachte in den ersten Tagen keine besonderen Resultate. Ich bewegte mich auf der Nulllinie, mal auf der roten, mal auf der schwarzen Seite. Natürlich hatte mein Chef diese Zahlen im Maklertagebuch gesehen, aber darüber kein Wort verloren. Er ließ mich einfach machen.

Am Mittwoch musste ich aus der Orderbuchsituation heraus zum ersten Kurs 2500 Buderus kaufen. Ebenfalls zum ersten Kurs hatte ich in Linotype eine Verkaufsorder über 1000 bestens im Buch. Da keine Kauforder vorlag, kaufte ich die 1000 Aktien leicht unterhalb des Vortageskurses bei 810 DM. Bei beiden Aktien handelte es sich um relativ illiquide Werte.

Beide Positionen bin ich nicht als Eigenhandelsposition im eigentlichen Sinne eingegangen. Ich musste diese Geschäfte tätigen, da es unter anderem Aufgabe eines Kursmaklers ist, den Markt durch Eigengeschäfte liquide zu halten.

Ich will es kurz machen: Die Buderus fiel im Tagesverlauf und notierte vor dem Schlusskurs knapp über 50. Auf dem Weg nach unten hatte ich noch weitere 5500 Buderus dazugekauft, sodass ich jetzt insgesamt 8000 Buderus mit einem Schnittkurs von 51,50 in den Büchern hatte. An dieser Position hatte ich einen unrealisierten Verlust von ca. 12.000 DM.

Mit Linotype hatte ich Glück. Damals konnte ich noch nicht übersehen, dass es sich dabei um nichts anderes handelte. Ich war noch zu unerfahren, um zu realisieren, dass, wenn das Glück einen trifft, man stehen bleiben muss, damit sich die Konten füllen. Auch wusste ich damals nicht, dass es nicht auf Glück oder Pech ankommt. Diese neutralisieren sich gegenseitig, wenn man lange genug dabei ist. Erfolgreiche Händler sind deshalb erfolgreich, weil sie ihr Handwerk beherrschen, und nicht, weil sie Glück haben. Die andere Seite dieser Erkenntnis besteht darin, dass diejenigen, die in diesem Geschäft verlieren, dies nicht tun, weil sie Pech oder ein unglückliches Händchen haben, sondern weil sie die Gesetze und Regeln des Handels missachten.

Im Laufe des Vormittags wurde bekannt, dass ein viel beachteter Analyst die Linotype zum Kauf empfohlen hatte. Die sofort massiv einsetzende Nachfrage stieß auf wenig Angebot, sodass es zu einem Kursfeuerwerk kam. Gegen Mittag verkaufte ich alle 1000 Linotype bei 910 DM. Mein Verkauf war nur dadurch motiviert, dass ich noch nie einen Gewinn von 100.000 DM gemacht hatte. Ich konnte es buchstäblich nicht mehr ertragen, die Position länger zu halten. Die Angst, der Gewinn könne mir genommen werden, schaltete meinen Verstand aus. Dies war völlig unberechtigt. Als Kursmakler hatte ich ja Orderbucheinsicht und sah, dass vielen Kauforders nur wenige Verkaufsorders gegenüberstanden. Die Käufer rissen sich förmlich um Linotype. Umgekehrt wollten die Verkäufer bei dieser Nachrichtenlage natürlich nur zu deutlich höheren Kursen verkaufen oder sie strichen ihre Verkaufsorder ersatzlos. Nach meinem Verkauf musste ich zusehen, wie der Kurs bis zu den Schlusskursen auf 995 DM weiterstieg. Der mir durch mein voreiliges und unlogisches Schließen der Position entgangene Gewinn von 85.000 DM verleidete und vermieste mir meinen bisher höchsten Gewinn. Ich war so sehr mit der Kursentwicklung von Linotype beschäftigt, obwohl ich sie nicht mehr hatte, dass ich mir keine Gedanken um meine unrealisierte Schieflage in Buderus machte. Ich weiß zwar nicht warum, aber für mich war klar, dass Buderus nicht unter die 50 fallen konnte. Die von mir in den Chart eingezeichnete Unterstützungslinie schien mir stärker zu sein als die Berliner Mauer. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass die Buderus sehr wohl deutlich unter diesen Level fallen könnte, machte ich mir keine Sorgen. Im Gegenteil: Im Kopf verrechnete ich den realisierten Gewinn der Linotype mit dem unrealisierten Verlust in Buderus. Und bei dieser Betrachtungsweise war die Welt noch in Ordnung, da ich im Plus war. Erst viel später lernte ich, dass dies eine Falle ist, in die Anfänger allzu gerne tappen: Die mentale Verrechnung von Verlusten mit Gewinnen dient oft und gerne als Entschuldigung und Legitimation, seine Verlusttrades nicht zu schließen. Ich berücksichtigte leider nicht, dass niemand außer mir selbst diese Betrachtungsweise hatte. Die Verrechnung von Buderus mit Linotype fand bei den übrigen Marktteilnehmern nicht statt. Im Gegenteil: Das, was sich in meinem Kopf abspielte, beeinflusste in keiner Weise den Kurs der Buderus-Aktie. Während der Markt den Kursverfall in Buderus als solchen erkannt hatte und sich so schnell wie möglich von diesen Papieren trennen wollte, war ich durch meine Sichtweise tief entspannt, da ich mir einbildete, in Wirklichkeit keinen Verlust zu haben.

Die Wirklichkeit holte mich am Donnerstag ein: Buderus notierte bei 50 und ich kaufte weitere 2000 Stück. Auf der 50 lagen sehr viele Stopp-Verkaufsaufträge, die mit dem gerechneten Kurs aktiviert wurden. Dadurch wäre der zweite Kurs von Buderus bei 46 ausgeglichen gewesen. Ich wollte allerdings den Kurs nicht so weit fallen lassen und rechnete den Kurs 48. Hierzu musste ich jedoch 10.000 weitere Aktien kaufen. Ich hatte jetzt insgesamt 20.000 Aktien. Meine Buderus-Position, die ich mit einem Durchschnittskurs von 49,60 DM gekauft hatte, notierte zum Börsenschluss bei 45.

Damit saß ich auf einem unrealisierten Verlust von 92.000 DM. Der Verlust allein war aber nicht Schmach und Frust genug. Die Linotype, die ich tags zuvor bei 910 verkauft hatte, war den ganzen Donnerstag über gestiegen und notierte zum Schluss bei 1.120 DM. Es war zum Verrücktwerden! Hatte ich denn die Seuche an den Händen? Ich konnte nicht fassen, dass ich die Gewinnposition geschlossen hatte. Was das für einen fantastischen Gewinn ergeben hätte! Stattdessen musste ich zuschauen, wie aus einem kleinen Verlust ein riesengroßer wurde. Die Kraft, einfach die gesamte Buderus-Position am Donnerstag zu schließen, konnte ich nicht aufbringen.

Nach einer gefühlt schlaflosen Nacht kam ich am Freitagmorgen in unser Büro. Mein Chef war bereits vor mir da und hatte sich die Maklertagebücher angeschaut. Er rief mich in sein Zimmer und ordnete kurz angebunden an, ich solle die Buderus-Position heute direkt zur Eröffnung schließen. Außerdem teilte er mit, dass er nach Börsenschluss, damals war das schon um 13.30 Uhr, mit mir essen gehen wolle. Ich war geschockt und mir war schlecht. Das konnte ja nur das Ende meiner kurzen Börsenkarriere bedeuten.

Bei Börsenbeginn hätte ich den ersten Kurs 2 DM besser mit 47 rechnen können. Zu diesem potenziellen Kurs waren aber meine 20.000 Aktien nicht eingerechnet, die ich zu verkaufen hatte. Diese große Verkaufsorder drückte den Kurs massiv. So konnte ich meine 20.000 Buderus erst bei einem Kurs von 43 anbringen. Ich zögerte nicht und rechnete den Kurs 43. Damit war der Verlust realisiert. Die rechts unten in der Ecke des elektronischen Orderbuches aufleuchtende Ziffer von minus 132.000 verschlug mir zuerst die Sprache. Dennoch fühlte ich mich erleichtert. Eine enorme Last war mir von den Schultern gefallen.

Nach einem kurzen Moment ging es aber zügig weiter. Die Hektik und der Stress der Börse ließen keinen Raum, mich weiter mit meinem Verlust zu beschäftigen. Mit dem Erklingen der Schlussglocke rutschte mir allerdings das Herz in die Hose. Mein Chef würde mit mir ja gleich zu meiner Henkersmahlzeit gehen. Bestimmt wollte er mich nicht für die tolle Performance, die ich hingelegt hatte, belohnen. Von gestern auf heute hatte ich meine P&L2 von +100.000 DM um 132.000 DM reduziert. Während mein Chef in dieser Woche einen siebenstelligen Betrag verdient hatte, war es mir sogar gelungen, die sicheren Courtage-Einnahmen zu zersägen. Meine erste und wohl auch die letzte Börsenwoche schloss ich jetzt mit einem Verlust von rund 20.000 DM. Das war doch eine gigantische Leistung!

Was hatte ich mir alles darauf eingebildet, dass ich die Banklehre als einer der Jahrgangsbesten des Landes Hessen und kurze Zeit später sowohl die Prüfungen zum Börsenhändler an der FWB als auch zum Kursmaklerstellvertreter und zum EUREX-Terminhändler mit Bravour abgeschlossen hatte. Und jetzt das! Mein Chef würde mir gleich zu Recht kündigen. »Ich Vollidiot« hämmerte es mir entgegen, als ich gerade den Schlusskurs für Linotype mit 1.400 DM feststellte. So wie ein amputierter Körperteil Schmerzen verursachen kann, führte die nicht mehr vorhandene Position in Linotype bei mir zu Phantomschmerzen.

Das durfte nicht wahr sein. Noch vor zwei Tagen hatte ich 1000 Aktien mit 810 einstehen und sie ohne Not mit einem läppischen Gewinn verkauft. Was für eine Chance! Mir waren 490.000 DM Gewinn durch die Lappen gegangen. Stattdessen hatte ich mich zwei ganze Tage lang wie ein Pitbull in die Buderus-Position verbissen. Und dieser Verlust hatte meinen mickrigen Gewinn gekillt! Jetzt lag ich hinten3. Ich hatte sicherlich nicht die Erwartungen meines Chefs und schon gar nicht meine eigenen erfüllt. Jetzt hieß es für mich: »Börse ade, Geld ade, Zukunft ade.«

Ich hatte das Gefühl, auf voller Linie versagt zu haben. Schon jetzt konnte ich nicht mehr nachvollziehen, warum ich die Verlustposition pyramidiert und so lange gehalten hatte. Was war bloß in mich gefahren, dass ich den Gewinn förmlich von mir abgestoßen hatte? Mein Handeln war, daran gab es nichts zu rütteln und zu deuteln, in höchstem Grade unverantwortlich. Aber gerade auf diese Fragen würde ich meinem Chef gleich antworten müssen. Mir fiel absolut nichts ein, womit ich mein dilettantisches und idiotisches Vorgehen hätte begründen können.

Ich hatte mir den Strick selbst um den Hals gelegt und war mir sicher, dass mein Chef ihn im Restaurant zuziehen würde. Als wir uns am Tisch bei seinem Lieblingsitaliener gegenübersaßen, wollte die lockere und heitere Stimmung, die von ihm ausging, so gar nicht zu der von mir erwarteten Exekution passen. Er wollte wissen, wie mir die erste Woche bei ihm gefallen habe und ob ich mir vorstellen könne, mit der Hektik des Börsengeschäfts langfristig zurechtzukommen. Ich antwortete, das habe sich ja nun wohl erledigt nach der Leistung, die ich in den letzten Tagen gezeigt hatte. Er erwiderte, dass ich im Gegenteil heute Morgen die Feuerprobe bestanden hätte.

Ich muss so konsterniert dreingeschaut haben, dass er sofort anfügte: »Hätten Sie heute Morgen nicht die Stärke gehabt, meine Order widerspruchslos auszuführen und den für Sie großen Verlust zu realisieren, wären Ihre Befürchtungen eingetroffen«. Heute weiß ich, wie Recht er damit hatte, dass jemand, der zu schwach ist, Verlustpositionen zu schließen, an der Börse nicht überleben kann. Die Stärke, die Verluste aktiv begrenzen lässt, ist die gleiche Stärke, die Gewinne groß werden lässt.

Ich war sehr erleichtert. Jetzt sprudelte es aus mir heraus, dass ich aber weder ihm noch mir erklären könne, warum ich die Verlustposition so groß werden ließ und die Gewinnposition viel zu früh geschlossen hatte. Er klopfte mir väterlich auf die Schulter und sagte, das sei ein ganz typischer und nur allzu menschlicher Anfängerfehler. Er werde mir jetzt während des Essens erklären, warum ich ohne Vorwissen zwangsläufig so handeln musste, wie ich gehandelt hatte. In den nächsten drei Stunden sollte ich die wichtigste Lektion für den Börsenhandel bekommen.


 

2 P&L steht für Profit und Loss und bedeutet die Gewinn- und Verlustrechnung des Händlers.

3 Das bedeutet in der Börsensprache: im Verlust liegen.

TEIL A