In den letzten zehn Jahren haben sich die Wirtschaft und das Wettbewerbsumfeld radikal verändert. Der Markt ist von einer hohen Volatilität geprägt, nichts ist mehr wirklich prognostizierbar. Die Gewinner von heute können die Verlierer von morgen sein. Viele sehnen sich nach vergangenen Tagen zurück, als alles noch planbarer erschien. Stattdessen überschlagen sich die Prognosen, was Trends, Marktentwicklungen und die Wirtschaft im Allgemeinen angeht. Kaum glaubt man, die eine Krise sei überwunden, beginnt bereits das nächste Chaos. Der Schmetterlingsschlag am Ende der Welt löst inzwischen wirklich einen Sturm aus, der uns, unser Team oder unser Unternehmen von heute auf morgen ins Chaos stürzen kann.
Wenn Sie dieses Buch in die Hand nehmen, werden Sie entweder in einem Unternehmen arbeiten, das bereits in einer Krise steckt oder dem eine Krise droht – oder Sie haben das ungute Gefühl, dass Ihr Unternehmen gegen eine mögliche Krise nicht ausreichend gewappnet ist. Was immer der Grund ist, Krisen treffen früher oder später jedes Unternehmen, und nur die wenigsten sind ausreichend darauf vorbereitet, egal ob die Ursachen im Innern liegen oder scheinbar von außen kommen. Weder Größe noch Profitabilität sind Erfolgsgaranten.
Die neue Unternehmensstärke heißt Anpassungs- und Lernfähigkeit. In der Psychologie spricht man von Resilienz, also der Fähigkeit, sich reflexartig in Krisen anzupassen, zu lernen und zu bestehen. Nicht resiliente Unternehmen werden auf Dauer nicht überleben. In Krisenzeiten bemühen Fachleute gerne das Bild vom Bambus im Sturm, den man imitieren solle – sich flexibel im Wind biegen und anschließend zur alten Form zurückkehren.
Vermeintlich asiatische Weisheiten klingen zwar gut, müssen deswegen aber noch lange nicht richtig sein. Wer in schwierigen Zeiten überleben will, braucht nicht die Fähigkeit, sich in den Urzustand zurückzuversetzen, sondern sich weiterzuentwickeln. Denken Sie zurück an die vielen Krisen, sowohl berufliche wie private, die Sie bisher erlebt und überlebt haben. Nach einem solchen Kampf war nichts mehr wie zuvor, und das ist gut so, denn ohne diese Krisen wären Sie nicht, wer Sie heute sind. Resilienz ist die dauerhafte Widerstandsfähigkeit durch Antizipation und Anpassungsfähigkeit.
Gefragt ist ein starkes Immunsystem des Unternehmens. In der Medizin werden wir bereits als Säuglinge geimpft, damit wir tückische Krankheiten weitgehend problemlos überstehen können. Diese Immunisierung ist ein hochkomplexer Sensibilisierungsprozess, und unser Immunsystem wird durch eine solche Impfung nachhaltig verändert. Die Aufmerksamkeit für Viren und Krankheitserreger wird erhöht, und wenn der Ernstfall eintritt, reagiert unser Immunsystem so schnell, dass die Symptome der Krankheit gar nicht erst auftreten. Was wir bei der Impfung allenfalls als einen kleinen ärgerlichen Pikser wahrnehmen, setzt in Wahrheit einen recht komplexen Prozess der Optimierung von Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit in unserem Körper in Gang.
Unternehmen, die in Zukunft bestehen wollen, müssen ebenso geimpft werden, denn wir befinden uns in einem hochinfektiösen Wirtschaftsumfeld mit einer exorbitanten Virenlast. Genau davon handelt dieses Buch. Es geht darum, Blockaden aufzulösen, die Reaktionsfähigkeit zu erhöhen und das Immunsystem des Unternehmens in die Lage zu versetzen, auf unbekannte Krankheitserreger in kürzester Zeit effektiv zu reagieren.
Dieses Buch erzählt keine Best-Practice-Geschichten, die Sie nur übernehmen müssen. Ebenso wenig bietet es den einen Masterplan, um Ihr Unternehmen oder Team zum Erfolg zu führen. Wir werden später dezidierter auf die Gründe eingehen. Gleich vorab: Unternehmen sind so unterschiedlich wie die Menschen, die dort arbeiten, deswegen kann keine Königsstrategie und kein Best-Practice-Ansatz pauschal funktionieren, auch wenn sich ein solches Versprechen besser verkauft. Das echte Leben ist weitaus komplexer, als uns die Management-Gurus glauben machen wollen.
Dieses Buch bietet klare Ansätze für eine mehrstufige Unternehmensimpfung. Schritt für Schritt werden Barrieren beseitigt und die Widerstandsfähigkeit des Unternehmens verbessert. Ziel ist dabei die Veränderung der Unternehmenskultur und eine konsequente Stärkung des Immunsystems unter Verwendung minimalinvasiver Schritte.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, um zu starten? Diese Frage wird oft gestellt. Meine Antwort: Der richtige Zeitpunkt ist jetzt! Es gibt immer Gründe, um Krisen-Impfungen aufzuschieben. Beliebt ist das Argument, dass man sich derzeit mitten in einer Krise befinde und deswegen einfach nicht die Ressourcen habe oder dass die Mitarbeiter nicht beunruhigt werden sollen. Wenn sich ein Patient in der Notaufnahme befindet, sollte man ihn dann lieber nicht behandeln, weil man ihn zu sehr aufregen könnte? Glauben Sie mir, wenn Sie in einer Krise stecken, sind die Mitarbeiter ohnehin bereits beunruhigt.
Sollte Ihr Unternehmen derzeit nicht in einer Krise stecken, ist jetzt ebenfalls der richtige Zeitpunkt, denn schließlich handelt es sich um eine Impfung, und die nimmt man am besten vor, bevor die Krankheit ausbricht. Aber das werden Sie ohnehin wissen, sonst hätten Sie dieses Buch ja nicht gekauft. Starten wir also mit einem Blick auf das hochinfektiöse Umfeld, in dem wir uns derzeit bewegen.
Das heutige Marktumfeld stellt Unternehmen vor gänzlich neue Herausforderungen. Selten war die Umgebung, in der Unternehmen sich behaupten müssen, so schwierig wie heute. Organisationen, die vor zwei Jahren noch Marktführer waren, kämpfen inzwischen um ihre Existenz. Firmen, die vor wenigen Jahren noch unbekannte Marktpioniere waren, haben in kürzester Zeit die Vorreiterrolle übernommen. Die globalen Märkte schufen neue Absatzchancen, aber auch komplett neue Konkurrenzsituationen. Noch nie standen uns derart viele Informationen in Echtzeit zur Verfügung, und dennoch scheitern 70 bis 80 Prozent der Produkteinführungen binnen der ersten zwölf Monate.1
Zugleich erleben wir eine radikale Verkürzung der Produktlebenszyklen. Ein Handy, heute auf den Markt geworfen, ist schon in wenigen Monaten Schnee von gestern. Während der Produktlebenszyklus eines Automodells in den Siebzigerjahren noch bei sechs bis sieben Jahren lag, gilt es heute bereits nach zwei Jahren als veraltet und benötigt das erste Update. Selbst diese kurzen Produktlebenszyklen sind eigentlich noch zu lang. Märkte und Kundenbedürfnisse verändern sich schneller, als man darauf reagieren kann. Keiner weiß, ob die Wirtschaft vor einer der größten Boomphasen oder vor dem totalen Abgrund steht. Sehnsüchtig hofft man auf das Ende ständiger Veränderungen und Umbrüche, auf das Ende der Krisen und das baldige Eintreten der gewohnten Beständigkeit und Planbarkeit.
Doch wir hoffen vergebens, denn was wir derzeit erleben, ist keine Übergangsphase. Wir sind in eine neue Ära eingetreten, und was wir heute als Krise empfinden, werden wir in zehn Jahren als Normalzustand ansehen. Das Zeitalter der Beständigkeit und der Planbarkeit ist vorbei, und wer auch in Zukunft erfolgreich sein will, muss den Tatsachen ins Auge sehen und sich für das Zeitalter beständiger Veränderung rüsten, in dem das Unvorhersehbare die Regel wird.
Wenn die vergangenen Jahrzehnte im Rückblick ruhiger und gemächlicher wirken, so liegt das nicht daran, dass der Blick durch die Nostalgiebrille alles positiver erscheinen lässt, als es war. Wir sind tatsächlich Zeitzeugen eines dramatischen Umbruchs, der die Art, wie wir arbeiten und wie Unternehmen operieren und somit auch die Faktoren, die zum Erfolg führen, nachhaltig verändert hat und weiterhin verändert. Wir haben das industrielle Zeitalter längst hinter uns gelassen und sind in eine neue Ära eingetreten.
Es ist weder das Informations- noch das Kommunikationszeitalter angebrochen, wie gerne behauptet wird. Denn Begriffe wie Information und Kommunikation beschreiben nicht ausreichend, worauf es heute ankommt. Wir befinden uns im Zeitalter der Vernetzung. Die hochgradige Vernetzung unserer Welt ist es, die unseren Alltag und die Märkte prägt. Sie betrifft alle Aspekte von der Produktion über den Vertrieb bis hin zu Liefersystemen und Marketing.
Wenn über die Erfolgsgeschichten des Internets geschrieben wird, werden gerne Facebook, Amazon oder Google als Paradebeispiele gefeiert. Dabei sind die eigentlichen Erfolgsgeschichten weder das Internet noch dessen prominenteste Akteure. Das Internet ist nur ein Aspekt der hochgradigen Vernetzung. Niedrige Logistikkosten, neue Verkehrswege, die uns in die entlegensten Regionen der Welt bringen, radikal gesunkene Markteintrittsbarrieren, Handelsabkommen – all dies trägt zur Vernetzung der Welt bei. Die wirkliche Revolution findet nicht nur im Internet statt, sondern hat längst den Mittelstand und sogar die kleinsten Unternehmen erfasst. Der hohe Vernetzungsgrad bietet jedem kleinen Unternehmen enorme Chancen, in rasanter Geschwindigkeit global in den Markt zu treten. Zugleich breiten sich Krisen, die in einer entfernten Region der Welt auftreten, binnen kürzester Zeit aus und betreffen schnell Unternehmen auf aller Welt. Die hochgradige Vernetzung ist der Grund, warum ehemalige Spitzenunternehmen plötzlich am Abgrund stehen und vormalige Nischenanbieter plötzlich dominieren.
Die Frage der Neunzigerjahre, ob wir eine Dienstleistungs- oder eine Produktionsgesellschaft werden sollten, hat sich insofern erledigt, als wir in erster Linie eine vernetzte Gesellschaft geworden sind und diese Vernetzung vorantreiben müssen. Nicht nur in der Infrastruktur, sondern auch im Denken und Handeln. Der Erfolg des deutschen Mittelstands mit seinen von der Politik oft vernachlässigten Hidden Champions hat eine Renaissance erfahren, die nicht allein auf Tüftlereigenschaften und der guten deutschen Ingenieurtugend fußt. Die konsequente Nutzung von Vernetzungen macht es mittelständischen Unternehmen möglich, Produktionen sinnvoll auszulagern, neue Märkte zu erschließen und global zu agieren. Das ist jedoch keine Einbahnstraße, denn genau jene Möglichkeiten, die ein globales Agieren möglich machen, können zugleich das Einfallstor für ungeahnte Gefahren sein.
Unabhängig davon, ob man international oder national am deutschen Markt agiert: Die konsequente Vernetzung der Welt bietet Chancen und beschleunigt andererseits Veränderungen in nie zuvor gekannter Weise. Die Karten werden ständig neu gemischt, und wer heute zu den Gewinnern gehört, kann schon morgen ein Verlierer sein. Der eingangs erwähnte Flügelschlag eines Schmetterlings, der laut Chaostheorie einen Sturm auslösen kann, ist heute in der Wirtschaft zum Alltag geworden. Das Eintreten des Unvorhersehbaren wird zur Normalität. Da jedes Ereignis durch die hohe Vernetzung seine Auswirkung mit enormer Wucht in kürzester Zeit entfalten kann, wird das Planbare und Vorhersehbare die Ausnahme sein.
Der Statistiker und Finanzmathematiker Nassim Taleb prägte hierfür in seinem gleichnamigen Bestseller den Begriff des schwarzen Schwans. Er greift dabei auf eine prägnante Analogie zurück: Jahrhundertelang ging man in der westlichen Welt davon aus, dass Schwäne weiß seien, eben weil alle Schwäne, die man bis dahin gesehen hatte, weiß waren. Dann entdeckte man jedoch Australien und fand dort schwarze Schwäne vor – ein Ereignis, das völlig unvorhersehbar war.
Genau jene schwarzen Schwäne sind im heutigen Marktumfeld zur Regel geworden, nur dass die Schwäne in allen möglichen Farbnuancen auftauchen, denn sonst wären sie ja wiederum vorhersehbar. Wenn Unternehmen nun unter Druck geraten oder ums Überleben kämpfen, so ist dies weniger Ursache der Krise als Symptom eines viel grundlegenderen Problems. In einem Sturm havarieren meist die Schiffe, die ohnehin kaum noch seetauglich waren. Unternehmen werden nicht wegen plötzlicher, unvorhersehbarer Veränderungen untergehen, sondern weil sie intern auf solche Szenarien nicht vorbereitet sind. Denn allein dass wir vorhersagen können, dass nichts mehr vorhersagbar ist, ist eine Basis zum Handeln. Das Unternehmen der Zukunft muss auf das Unvorhersehbare vorbereitet sein, und genau darin liegt die Herausforderung. Um in Zukunft erfolgreich zu sein und in der permanenten Krise bestehen zu können, benötigen Unternehmen andere Eigenschaften als jene, die bisher gepflegt wurden.
Das Zeitalter der Vernetzung zeigt die Grenzen gängiger Managementstrategien auf. Denn die permanenten Veränderungen des Marktumfelds und der Unternehmensanforderungen führen zu einer komplett anderen Gültigkeit von Strategien. Jede Strategie ist in dem Moment, da sie erdacht wird, bereits veraltet, weil sie auf Annahmen beruht, die der Vergangenheit angehören.
Eine Strategie ist nicht mehr als ein gut gemeinter Plan, der auf Annahmen beruht, denen Zustände der Vergangenheit zugrunde liegen.
Wenn man von einer Stadt in eine andere fährt, nimmt man sich ein Navigationsgerät und gibt den Zielort ein. Eine Route wird berechnet. Das ist die Strategie. Aber schon nach wenigen Kilometern beginnt das Computerprogramm zu optimieren. Ein hohes Verkehrsaufkommen wird registriert, Staumeldungen werden verarbeitet und die Route entsprechend angepasst. Es ist eine Frage der Zeit, bis Navigationsprogramme zusätzlich Wetterbedingungen wie Gewitter, Hagel und Nebel standardmäßig in Echtzeit in die Routenoptimierung einbeziehen. Am Anfang stand die Strategie, die ursprünglich geplante Fahrtroute, doch die schnelle intuitive Anpassung der Routenplanung während der Fahrt ist das, was optimal zum Ziel führt. Während wir früher noch mit Straßenkarten fuhren und Verkehrsmeldungen allenfalls im Radio hörten – und dies meist, wenn wir bereits im Stau standen –, wird jetzt jede Fahrt kontinuierlich optimiert.
Heute können Unternehmen es sich gar nicht mehr leisten, sich auf eine Strategie, also eine Straßenkarte zu verlassen, die sie am Anfang der Reise angeschaut haben. So faszinierend neue Technologien auch sind, die schnelle Anpassung an neue Gegebenheiten kann ein Computer nur bedingt bewältigen. Jedes noch so gute Computersystem kann nur das optimieren, was vorgegeben wurde. Ein Navigationssystem kann nur innerhalb des programmierten Straßennetzes optimieren. Wenn nun plötzlich die Bedingungen verrückt spielen und binnen Minuten Straßen nicht mehr existieren oder neue Straßen auftauchen, ist jeder Navigationscomputer am Ende seiner Möglichkeiten. Genau in dieser Situation befinden sich Führungskräfte mit gängigen Managementtheorien und mühsam erarbeiteten Unternehmensstrategien, und hieraus erwächst ein grundlegendes Dilemma.
Seit dem Beginn der Industrialisierung und dem damit einhergehenden Entstehen komplexer Unternehmungen mit einem hohen Maß an Arbeitsteilung sind Führungskräfte mit der Aufgabe konfrontiert, diese komplexen Organisationen und Prozesse zu optimieren. Reibungsverluste und mangelnde Effizienz konnten über Erfolg oder Scheitern entscheiden. Schnell entstanden Managementtheorien und Unternehmensstrategien, die bis heute immer wieder angepasst und adaptiert werden. Ein ganzer Wissenschaftszweig war neu entstanden, der ein primäres Ziel hatte: Arbeitsprozesse zu optimieren und effizienter zu gestalten.
Das moderne Management wurde erfunden, um das Problem der Ineffizienz zu lösen. Mit anderen Worten, es ging um die Maximierung des Verhältnisses zwischen Leistungsinput und Leistungsoutput. Dies ist das Kernziel der Strategien des 20. Jahrhunderts, die bis heute noch Anwendung finden, und zugleich Ursache des Dilemmas sind, in dem sich Management und Führungskräfte auf allen Ebenen befinden.
Gerade weil Strategien zu dem Zeitpunkt, wo sie ausgesprochen werden, bereits überholt sind, bieten sie nicht die notwendige Schärfe, um darauf basierend ein Unternehmen zu lenken. Im Grunde befindet sich das Management in einer ähnlichen Situation wie die Physik zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Als Newton 1687 sein bahnbrechendes Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica schrieb, schuf er den Grundstein für die moderne Physik. Die Newton’schen Gesetze ermöglichten erstmals, dass der Mensch ganz konkret die physikalische Welt, wie er sie kannte und erlebte, prognostizieren konnte. Erst in den letzten hundert Jahren konnte gezeigt werden, dass es sich bei der Newton’schen Mechanik nicht um die absolute Wahrheit, sondern um Annäherungen handelt. Zweifellos, Newtons Arbeit war brillant, und sie war gut genug – für eine gewisse Zeit. Dennoch enthielt sie einige kleinere Fehler; Fehler, die nicht auffielen, da sie mit den damaligen Methoden nicht messbar waren. Zudem konnte man auch mit den Newton’schen Annäherungen ganz gut leben, da niemand in Extrembedingungen agierte, wo die Fehler Probleme bereiteten.
Erst die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik konnten die Fehler korrigieren, was letztlich auch notwendig war, als man im Laufe des 20. Jahrhunderts in Extrembereiche vorstieß. Kein Satellit würde heute seine Umlaufbahn halten, wenn man sich auf Newtons Gesetze verließe. Es war die Einstein’sche Physik, welche die Grenzen der mechanischen Physik aufzeigte und sich unter extremen Bedingungen als deutlich verlässlicher zeigte, und es ist die Quantenmechanik, die im Widerspruch zu Newtons Theorien steht, aber erst die atomaren Zusammenhänge erklärt.
Deswegen braucht man die Newton’sche Mechanik nicht über den Haufen zu werfen und aus den Schulbüchern zu tilgen. Für den Alltagsgebrauch sind Newtons Gesetze gut genug und erlauben uns Berechnungen, die praktikabel und belastbar sind. Sobald wir uns aber in Extrembereiche begeben, sollten wir tunlichst die Newton’sche Mechanik verlassen und auf die Relativitätstheorie oder Quantenmechanik zurückgreifen.
Ebenso haben Managementstrategien weiterhin eine gewisse Gültigkeit, solange wir uns nicht in Extrembereichen befinden. Das heutige Marktumfeld jedoch ist ein permanenter Extrembereich, in dem mit hohen Geschwindigkeiten, unter extremem Druck und in kürzester Zeit agiert und reagiert werden muss. Die mechanischen Ansätze der gängigen Unternehmensstrategien reichen nicht aus, um in diesen Grenzbereichen bestehen zu können. Wir müssen uns die Grenzen der Strategie vor Augen führen. Denn nicht nur die Strategie ist sofort überholt, auch für das angestrebte Ziel kann dies gelten.
Dabei steht und fällt der Erfolg jeder Strategie mit der Zieldefinition. Wenn ein Unternehmen 1988 als Ziel definiert hat, in zehn Jahren der führende Anbieter von Nadeldruckern zu sein, mag es dieses Ziel zehn Jahre später erreicht haben. Aber 1998 der führende Anbieter von Nadeldruckern zu sein war nicht von großen Umsätzen gekrönt. Somit gilt für jede Strategie heute die folgende Definition:
Eine Strategie ist ein Plan, der auf dem beruht, was wir glauben zu wissen und glauben, zur Verfügung zu haben – ohne absehen zu können, ob diese Ressourcen dann tatsächlich verfügbar sind –, in der Hoffnung, ein Ziel zu erreichen, ohne sicher zu sein, ob dieses Ziel, wenn wir es erreichen sollten, noch so sinnvoll erscheint wie zu Beginn des Plans.
Zugegeben, es handelt sich um einen Bandwurmsatz, aber er definiert die Möglichkeiten und die Grenzen jeglicher Strategie sehr genau.
Als Schlussfolgerung auf jegliche Unternehmensstrategien zu verzichten wäre zu kurz gedacht. Keine Firma kann es sich leisten, ohne Strategien auszukommen. Sie sind lebenswichtig für ein Unternehmen, wenn auch mehr aus psychologischen Gründen. Stellen Sie sich vor, ein Vorstand würde sagen: »Liebe Mitarbeiter, wir haben keine Strategie, das ist in den heutigen Zeiten auch nicht weiter wichtig. Wir müssen sehen, dass wir uns so durchschlagen.« Das totale Chaos wäre garantiert.
Allerdings kommt so etwas gerade in krisengeplagten Unternehmen häufiger vor, als man denkt. Bestenfalls wird lieber irgendeine Strategie gebastelt. Hauptsache, man hat etwas, an dem man sich festhalten kann. Das ist auch zwingend notwendig, um die Belegschaft zu beruhigen und selbst ruhiger schlafen zu können.
Strategien haben eine starke psychologische Wirkung, die man nicht unterschätzen darf. Man sollte sich jedoch niemals in Sicherheit wiegen, nur weil man eine Strategie hat, sonst schaut man eines Tages einem heranrollenden Tsunami entgegen, und es beschleicht einen die ungute Ahnung, dass man trotz Regenschirm in der Hand nass werden wird. Führungskräfte befinden sich in dem Dilemma, dass sie einerseits Strategien entwickeln müssen, weil es erwartet wird, andererseits diese Strategien jedoch nichts weiter als Wunschdenken sind und immer weniger mit dem Alltag zu tun haben. An Führungskräfte werden Anforderungen gestellt, die sie mit klassischen Methoden gar nicht erfüllen können.
In einer Welt, in der nichts mehr planbar ist, bedarf es anderer Fähigkeiten, um am Markt bestehen zu können. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat eine recht treffende Beschreibung für das Problem der heutigen Zeit gefunden:
»Wir können mit Sicherheit vorhersagen, dass wir überrascht sein werden, wenn ein unvorhersehbares Ereignis eintritt. Wir können ebenso mit Sicherheit vorhersagen, dass wir, wenn es dann eintritt, unzureichend vorbereitet sein werden.«
In diesem Sinn wissen wir ja, was auf uns zukommt.
1 Schätzung für den FMCG-Markt 2010–2011