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Sadako will leben
von Karl Bruckner

1. digitale Auflage, 2014

ISBN E-Book 978-3-7074-1702-9
ISBN Print 978-3-7074-1368-7

© 2005 G&G Verlagsgesellschaft mbH, Wien
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Inhalt

ZUM GEDENKEN

Dies geschah am Vormittag des zwanzigsten Juli 1945:

Aus dem Luftraum über dem glitzernden Inlandmeer kam ein leises Dröhnen. Eine japanische Beobachtungsstation an der Küste der Insel Sikok funkte der Befehlsstelle für die Verteidigung Südjapans im Alten Schloss von Hiroshima: „Feindlicher Bomber im Anflug!“

Einige Minuten später folgte dieser Funkmeldung eine zweite: „Feindbomber wurde als Aufklärer erkannt.“

Die Befehlsstelle ließ keinen Fliegeralarm für die Stadt geben, um die Arbeit in den Rüstungsbetrieben nicht unnötig zu unterbrechen. In letzter Zeit hatten Feindflugzeuge mehrmals Hiroshima überflogen und keine Bomben abgeworfen.

Am Ufer eines der sechs Arme des Otha-Flusses fischte der arbeitsunfähige alte Bootsbauer Kenji Nishioka. Er saß auf einem Stein, der aus dem Uferschlamm ragte. Seine nackten Füße ließ Kenji vom Wasser umspülen. Die Kühle linderte das Brennen in den geschwollenen Knöcheln. In der vergangenen Nacht war der Schmerz besonders arg gewesen. Kenji betrachtete nachdenklich die kranken Gelenke. War es die Sommerhitze, die seine Knöchel anschwellen ließ? Oder hatte seine Nachbarin, die alte Kumakichi, Recht, wenn sie sagte: Alles Übel kommt vom Krieg? Daran mochte etwas Wahres sein. Der Krieg war schuld, dass er, Kenji, in den vergangenen Monaten nur mehr jeden dritten Tag so viel Reis erhielt, wie er früher an einem Tag gegessen hatte. Die Männer in der Stadtverwaltung hielten wohl alle alten Leute für unnütze Esser, weil sie ihnen gar so winzige Mengen Lebensmittel zuwiesen. Die Jüngeren hatten keinen Respekt mehr vor den Alten. Ja, ja, der Krieg verdarb die Sitten. Wenn er nicht bald endete, mussten die alten Leute verhungern.

Missmutig zog Kenji die Angelschnur ein und steckte einen frischen Köder an die Angel. Seit dem frühen Morgen saß er hier, aber kein Fisch hatte angebissen. Hätte er sein gutes Boot noch gehabt, er wäre aufs Meer hinausgefahren zum Fischfang. Dieses Boot war aber schon im ersten Kriegsjahr für die Marine beschlagnahmt worden. Und alles Schiffsholz dazu, das er zu einer Zeit aufgestapelt hatte, als er noch schwere Jollen baute für Fischer und auch leichte Ruderboote für Vergnügungsfahrten.

Aus unbestimmbarer Richtung kam ein Dröhnen. Das Geräusch schwoll an, verebbte und ließ sich abermals vernehmen. Kenji Nishioka spähte blinzelnd himmelwärts. Die Sonne blendete ihn. Die Augenschlitze in seinem vollmondrunden Gesicht glichen nun zwei Pinselstrichen, mit schwarzer Tusche gemalt. Angestrengt bemühte er sich, die Ursache des Gedröhns zu erkennen. Nun bog er den Kopf so weit nach hinten, dass der schüsselförmige Hut aus Bast von seinem Kahlkopf abrutschte und in den Uferschlamm fiel. Dieser Hut war früher die Kopfbedeckung eines Rikschafahrers gewesen. Der hatte den Hut, als er zum Militärdienst eingezogen wurde, seinem Gläubiger Nishioka als Pfand für ein kleines Darlehen zurückgelassen. Damals war der Hut fast neu gewesen. Jetzt war er zerschlissen und ohne Form. Trotzdem trug ihn Kenji mit Vorliebe und deshalb wischte er sorgsam den Schlamm weg, der auf dem Hut haftete. Er war so beschäftigt damit, dass es vergaß, was er vorhin in der Luft gesucht hatte. Als ihn das lauter werdende Gedröhn daran erinnerte, wurde es durch das jäh einsetzende Stampfen einer der vielen Maschinen in der Mitsubishi-Schiffswerft am jenseitigen Ufer übertönt. Eine schmutzig graue Rauchsäule zischte dort drüben in die Höhe. Kenji Nishioka kümmerte sich nicht mehr um das Gedröhn in der Luft.

Auf der Uferstraße marschierte singend eine Kompanie Soldaten. Nur einer, der letzte Mann am linken Flügel, hob den Blick zum Himmel. Er sah ein Flugzeug hoch über dem Meer. Es schien ihm kleiner als das winzigste Schriftzeichen. „Ein feindlicher Bomber“, sagte der Soldat zu seinem Nebenmann und wies ihm verstohlen die Richtung. Der Kamerad streifte die Flugmaschine mit scheuem Blick. Danach zog er die Luft durch die Zähne. Das sollte ausdrücken, wie gering er die Gefahr einschätzte.

Der junge Offizier, der die Kompanie zu einem Exerzierplatz führte, drehte sich überraschend um. Er musterte streng die Reihen der Soldaten. Keinen bemerkte er, der das Gesicht dem Bomber zuwandte. So war es recht. Ein Soldat musste die Gefahr verachten. Sogar dieser alte Mann dort unten am Flussufer reinigte in Ruhe seinen Hut, statt dem Bomber in der Höhe seine Aufmerksamkeit zu schenken. Der Alte gab ein gutes Beispiel.

Am Straßenrand bemühte sich der zehnjährige Shigeo Sasaki, mit den marschierenden Soldaten Schritt zu halten. Das war nicht leicht, denn Shigeo ging auf Stelzen. Einen halben Meter über dem Boden balancierte er auf den Tritthölzern, die an übermannshohe Latten geschraubt waren. Shigeo hörte wohl das Motorengedröhn in der Luft, aber er nahm sich nicht Zeit, aufwärts zu blicken. Es war ihm wichtiger, den Soldaten zu imponieren. Hinter ihm trippelte seine vierjährige Schwester Sadako. Sie weinte, weil sie den großen Bruder nicht einholen konnte. Schließlich blieb die pausbäckige Kleine stehen und trampelte unter schrillem Geschrei auf der Stelle. Ihre winzigen Holzsandalen mit den hohen Stöckeln klapperten mit der Schnelligkeit von Trommelschlägeln auf das Pflaster. Die Arme hielt sie vorgestreckt, als wollte sie Shigeo von seinen Stelzen herabziehen. Er stapfte ungerührt weiter, wobei er, Anerkennung heischend, den Soldaten zulächelte, bis er stolperte und abspringen musste. Einige Soldaten grinsten belustigt. Shigeo tat, als wäre er nur seiner Schwester zuliebe abgesprungen und lief zurück. Er umschlang die Kleine, hob sie hoch und drehte sich, um sie zu beruhigen, im Kreis. Sie ließ sich nicht trösten.

Shigeo wurde zornig. Er zeigte nach dem Flugzeug am Himmel. „Siehst du die große Hummel dort oben? Die wird gleich herunterstürzen und dich stechen, wenn du nicht still bist.“

Das Kind schielte aufwärts, verstummte und steckte einen Finger in den Mund. Das Flugzeug in der Höhe schien ihm tatsächlich eine bösartige Hummel zu sein.

Der Bootsbauer Kenji Nishioka suchte zum dritten und letzten Mal die Flugmaschine im Himmelsblau. Jetzt entdeckte er sie. Soeben schwebte sie über dem Stadtzentrum. Kenji dachte: „Wenn dieser Flieger ein Feind ist, muss er ein mutiger Mann sein. Er ist übers große Meer zu uns hergeflogen.“ Er wechselte den Köder an der Angel und wiegte dabei in Gedanken den Kopf. Er dachte weiter: „Es ist ein Feind. Unsere Flugmaschinen machen nicht so viel Lärm. Wahrscheinlich ist er ein Kundschafter. Sonst hätte man Fliegeralarm gegeben.“ Durch die Angelschnur ging ein Zucken. Kenji riss an. Der Fisch hatte nicht angebissen. Kenji dachte weiter: „Ich wäre sowieso nicht zum Luftschutzbunker gelaufen. Ich habe niemandem etwas Böses getan, warum sollte mich ein Fremder erschlagen wollen?“

Der Flugzeugführer war Kapitän Lawrence A. Kennan. Er hatte viele Aufklärungsflüge mit Erfolg durchgeführt und war mehrfach ausgezeichnet worden. Vor dem Krieg war er Organisationsleiter einer Firma in Detroit gewesen, die sich mit dem Bau von Beton- und Stahlbrücken beschäftigte. Er hatte seinen Beruf geliebt. Brücken zu bauen schien ihm ein Mittel, Menschen einander näherzubringen. Seine Geschäftsreisen hatten ihn nach Südamerika geführt, nach Australien und sogar nach Indien und den Philippinen. Damals war die Welt für ihn ein unbegreifliches Wunder gewesen, das er bestaunte, wann immer ihm Zeit dazu blieb. Der Krieg dagegen ließ ihm selten Zeit, Naturschönheiten zu bewundern. Gleich nach Abschluss seiner Ausbildung zum Aufklärungsflieger war er, ausgenommen zwei kurze Urlaube, pausenlos im Einsatz gestanden, ständig bedroht von feindlichen Fliegern und den Flakgeschützen auf dem Boden. Selbst auf den malerischen Tropeninseln, die er überflogen hatte, war stets der Tod auf der Lauer gestanden. Dieser Flug über das japanische Inselreich war sein zwölfter im Laufe von achtzehn Tagen. Am frühen Morgen war er mit sechs Mann Besatzung von der Insel Tinian in der Marianengruppe im Pazifik gestartet. Zu einem Flug von mehr als viertausend Kilometern – hin und zurück. Jetzt kreiste er in sechstausend Metern Höhe über dem befohlenen Ziel – Hiroshima. Er wusste: Der Beobachter im Rumpf der Maschine fotografierte jetzt die Stadt.

Kapitän Kennan erlaubte sich einen Blick in die Tiefe. Er sah das Delta des Flusses Otha und die sechs Inseln, auf denen Hiroshima erbaut war. Das Stadtpanorama beeindruckte ihn sehr. Eine Urlaubsreise nach Japan in Friedenszeiten dünkte ihm ein großartiges Erlebnis. Er würde Liddy mitnehmen, seine Frau, und seine Kinder Evelyn und Bud. Und mit ihnen alle Städte besuchen, die er als Aufklärungsflieger im Krieg überflogen hatte. Wann wird dieser Krieg zu Ende sein? Dauerte er noch Monate oder Jahre?

Jahre?

Ausgeschlossen. Die Macht des Feindes im Pazifikraum war gebrochen. Die Japaner hatten alle von ihnen besetzten Gebiete aufgeben müssen, ihre Kriegsflotte eingebüßt und sich auf ihr Inselreich zurückgezogen. Dort allerdings waren sie immer noch kraftvolle Gegner. Eine Truppenlandung vom Meer her würde sich nur unter furchtbarsten Verlusten erzwingen lassen. Am besten war es, an solches Schlachten nicht zu denken. Er durfte nicht daran denken! Sonst sah er wieder die Toten. Die Feuermeere! Die Hölle! Nichts denken!

Zu spät. Es hatte ihn schon gepackt. –

Kennans Gesichtsmuskeln verkrampften sich und auch seine Hände. Er bäumte sich auf wie unter Qualen.

Er hatte im Verlauf dieses Krieges so viel sinnlos Zerstörtes gesehen, so viele unmenschliche Gräueltaten erlebt, dass er in manchen Nächten, von grausigen Träumen gequält, aufschrie, erwachte und im fortdauernden Entsetzen in die Nacht hinausjagte. Wenn er sich endlich besann, weil er gestürzt, gegen ein Hindernis gerannt war oder von Wachtposten angerufen wurde, glaubte er stets, alles im Krieg Erlebte wäre gleichfalls ein Traum gewesen. Er war zweifellos nicht mehr jener gesunde, lebensfrohe Lawrence A. Kennan, der zu Beginn des Krieges mit Begeisterung Flugzeugführer gewesen war. Er litt unter einer seltsamen Krankheit. In den letzten Wochen hatte ihn mehrmals, wenn er während des Fluges an die Kriegserlebnisse dachte, ein übermächtiges Hassgefühl gegen seine Maschine angefallen. Er umklammerte dann in wilder Kraft den Steuerknüppel, stemmte sich gegen die Haltegurte und verspürte unbändige Lust, alles Mögliche loszureißen, zu zertrümmern. Hatte er diese nur wenige Sekunden währende Empfindung überwunden, fühlte er sich erschöpft wie nach einem aufregenden Wettlauf. Nach jedem Anfall nahm er sich vor, mit dem Truppenarzt zu sprechen, aber nie führte er sein Vorhaben aus. Er wollte von seinen Kameraden nicht für einen feigen Heuchler gehalten werden, für einen Drückeberger. In diesem Krieg musste, nach seiner Meinung, jeder Einzelne seinen Teil an Leiden ertragen – bis zum bösen oder guten Ende.

Der zweite Flugzeugführer hieß George Hawkins. Er war als Vortragskünstler bei der Truppe ungemein beliebt. Er stammte aus Boston, wo er im Hafen Kranführer gewesen war. Zeit seines Lebens hatte dieser blondhaarige Achtundzwanzigjährige mit den blauen Babyaugen davon geträumt, ein berühmter Schauspieler zu werden. Wegen eines leichten Sprachfehlers – seine Stimme klang heiser – war ihm jedoch der Weg zur Bühne verwehrt geblieben. Ein erstaunliches Gedächtnis befähigte ihn, stundenlang Rollen auswendig zu deklamieren. Shakespeare war sein Lieblingsdichter. Während aller Flüge beschäftigte sich Hawkins in Gedanken mit den Helden der Dramen dieses Dichters und war bald Othello, bald König Lear oder Hamlet oder Cäsar. Nebenbei erfüllte er, verlässlich wie ein Automat, seinen Dienst als Kopilot, überwachte aufmerksam die Instrumente und hielt die Sprechverbindung aufrecht, ohne jemals zu vergessen, wo er beim Aufsagen seiner Rolle im Text unterbrochen worden war. Wäre das Flugzeug abgeschossen worden, hätte er wahrscheinlich, noch am Fallschirm hängend, einen Monolog aus einem Drama Shakespeares in die Luft gesprochen.

William Sharp, der kraushaarige Beobachter, bediente die in Bodenschächten eingebauten Aufnahmegeräte mit der Sicherheit eines gewiegten Fachmannes. Vor dem Krieg hatte er, trotz seiner Jugend, als Spezialist in der Herstellung optischer Gläser gegolten. In der Fabrik in Pittsburgh, in der er beschäftigt gewesen war, hatte er eine Menge Dollars verdient. Das Geld war ihm stets zwischen den Fingern zerronnen. Er liebte Wetten, spielte leidenschaftlich gerne Poker und hasste jeden Zwang. Als Luftwaffensoldat wurde er gezwungen, sich unzähligen Dienstvorschriften zu fügen, darum hasste er auch alle Vorgesetzten, die ihn hinderten, diese Vorschriften zu missachten. Bloß seine Spezialkamera betreute er mit der Sorgfalt eines Liebhabers. Es ließ ihn gleichgültig, was er fotografierte. Tropische Landschaftsbilder, Inseln, Städte, Gebirge interessierten ihn nicht. Er wusste nur, dass er über einer japanischen Hafenstadt flog, die Hiroshima hieß. Seinetwegen hätte sie Honolulu oder Singapur heißen mögen. Jetzt, da er mit seiner Arbeit zu Ende war, dachte er nur mehr daran, wie er am Abend im Biwak auf der Insel Tinian seine Kameraden beim Pokern hereinlegen könnte. Im Augenblick verspürte er mächtige Lust, eine Zigarette zu rauchen. Genusssüchtig schnalzte er mit der Zunge und schielte nach dem Bordmechaniker Sam Miller. Dieser humorlose Kommissknochen war ein Aktiver – er hatte schon vor dem Krieg bei der Luftwaffe gedient. Dieser verschlossene, mürrische Bursche würde seinen eigenen Bruder melden, falls er den beim Rauchen im Einsatz erwischte.

Sharp zog als Ersatz für die Zigarette ein Stück Kaugummi aus seiner Tasche und biss grimmig in die teigige Masse. Zum Zeitvertreib guckte er durch das Beobachtungsgerät und sah, wie die Stadt unter ihm zurückblieb. Das Meer kam ins Bild. Der Rückflug zur Flugbasis Tinian begann. Das gefiel ihm. Die Chance, eine Partie Poker zu spielen, vergrößerte sich von jetzt ab von einer Minute zur anderen. Hoffentlich verminderten keine Feindflieger diese Chance. Die Japaner waren tolle Draufgänger. Unbegreiflich, dass sie diesen Aufklärer unbehelligt ließen. Schien ihnen wohl der Mühe nicht wert, wegen eines solchen Einzelgängers Krach zu machen. Wenn die wüssten, warum diese hübsche Viermotorige über der Stadt gekreist war, hätten sie bestimmt auf alle Knöpfe gedrückt, um sie herunterzuholen. Die heutigen Aufnahmen von Hiroshima wurden sicher für einen speziellen Einsatz gebraucht. In Tinian schien sich etwas ganz Besonderes vorzubereiten. Seit zwei Tagen ließ sich beim Kommandostab ein aufgeregtes Getue bemerken. Sonderkuriermaschinen landeten und flogen ab. Die höheren Offiziere flüsterten nur mehr miteinander. Wenn das nicht auf ein ungewöhnliches Vorhaben hindeutet, will der Beobachter William Sharp auf der Stelle seinen ganzen Fallschirm auffressen.

Der Bordschütze O’Hagerty durchforschte mit gespanntester Aufmerksamkeit den Luftraum bis zum Horizont. Er hatte das Denken ausgeschaltet, so wie man etwa einen Elektromotor zum Stillstand bringt. Das war ihm erst nach langem Training gelungen. Während vieler Einsatzflüge hatte er sich darin geübt, an nichts zu denken, und nur zu schauen. Nun durfte er sich rühmen, einer der gewissenhaftesten Bordschützen der gesamten Luftstreitkräfte zu sein. Ihm entging nichts, was sich in seinem Blickfeld abspielte. Seine Sehorgane waren gedrillt wie zwei Rekruten, die von einem Feldwebel so lange und gnadenlos geschliffen wurden, bis sie ohne Wimperzucken bereit waren, sich auf Kommando vom Dach eines Wolkenkratzers in die Tiefe fallen zu lassen.

O’Hagerty konnte stundenlang hinter den Bordwaffen ausharren, ohne etwas zu denken. Seine Willenskraft war enorm. Er hatte die besten Chancen, nächstens zu einem Lehrgang für Offiziersanwärter einberufen zu werden.

Der zur Fülle neigende Heckschütze Frank Richardson fror wieder einmal jämmerlich. Trotz der pelzgefütterten Stiefel und der dicken ledernen Fliegerkombination hockte er, wie ein Gürteltier zusammengekauert, in seiner Glaskuppel. Er fror, weil er Angst hatte. Angst vor einem unversehens auftauchenden Feindflieger. Er war südlich der Insel Guam abgeschossen worden, und seither quälte ihn die Vorstellung, noch einmal diese feurigen Linien der Leuchtspurmunition auf sich zukommen zu sehen. Damals waren von der Flugzeugbesatzung nur er und der Funker am Leben geblieben. Und selbst das war ein Wunder gewesen, weil der feindliche Flieger ihn und den Kameraden noch umkreiste und beschoss, als sie beide an ihren Fallschirmen zum Meer niederschwebten. Niemals wird Richardson diese entsetzlichen Minuten der Todesangst aus seinem Gedächtnis löschen können. Niemals!

Dem zehnjährigen Shigeo Sasaki war es endlich gelungen, seine kleine Schwester Sadako zu beruhigen. Er hatte sie hochgehoben und auf die Tritthölzer seiner Stelzen gestellt. Es war ziemlich mühsam gewesen, die tollpatschige Kleine so weit zu bringen, dass sie richtig Stand fasste. Zuerst hatte sie sich an eine Stelzenlatte geklammert und war nur auf dem linken Fuß gestanden, während er sich anstrengte, auch ihrem rechten Fuß auf der zweiten Latte Halt zu geben. Endlich hatte sie begriffen, beide Latten festzuhalten. Jetzt stand sie oben; aber so stark war er nicht, sie so viel zu stützen, dass sie auf den Stelzen schreiten konnte. Obwohl er die Hölzer mit aller Kraft umklammerte, schwankte Sadako bedenklich. Sie jauchzte vor Vergnügen über dieses neuartige Spiel. Er keuchte vor Anstrengung und fürchtete, mitsamt dem Kind zu stürzen.

„Ich heb dich herunter, Sadako. Komm, lass los“, redete er ihr zu. Sie bewegte eigensinnig den Kopf, lachte ihn an und schrie, als er sie umfasste. Ihr Widerstand ärgerte ihn. „Sadako, du musst mir folgen. Ich bin ein Mann. Ein Mädchen muss immer folgen, wenn ein Mann etwas befiehlt. Lass dich herunterheben.“

Die Kleine verzog schmollend das Mäulchen. Sie hatte schon gelernt, dass man dem älteren Bruder gehorchen musste. Er hatte ein Recht, ihr zu befehlen. Die Mutter hatte es ihr oft genug gesagt. Sie widerstrebte nicht länger und ließ sich in Shigeos Arme fallen. Aus Trotz verlangte sie nun: „Nach Hause will ich – nach Hause.“

Shigeo bückte sich nach den auf dem Boden liegenden Stelzen. „Nach Hause – nach Hause“, äffte er den Tonfall des Mädchens nach. „Was willst du dort? Zu Hause ist niemand. Die Mutter arbeitet in der Werft.“

„Hab Hunger“, klagte Sadako. „Will essen.“

Shigeo dachte an die zwei fingerdünnen Reiskuchen und die beiden Schälchen bitteren Tees, die heute Morgen die Mutter ihm und Sadako als Frühstück vorgesetzt hatte.

„Tsch, ich hab auch Hunger“, sagte er, wobei er die Blicke durch die Gegend streifen ließ, als suchte er etwas Essbares zu entdecken. „Zu Hause gibt es nichts zu essen. Wir müssen warten bis zum Abend. Dann macht uns die Mutter gute Sushi.“ Bei dem Gedanken an seine Lieblingsspeise, Schnitten aus gekochtem und mit Essig gesäuertem Reis, leckte er in gierigem Verlangen mit der Zunge über die Lippen. Sadako bemerkte dieses Zungenlecken und ahmte es unbewusst nach. Sie streckte eine Hand vor und bettelte: „Gib mir Sushi – hab Hunger.“

Ergrimmt über diesen Unverstand riss er seine schwarze Schülermütze vom kahl geschorenen Kopf und drohte damit der Kleinen. „Ich schlag dich, wenn du mich ärgerst!“, schrie er sie an. „Ich hab dir gesagt, erst am Abend bekommen wir Sushi. Ich habe keine.“

Die erschrockenen Augen des Kindes besänftigten Shigeos Zorn. Durch die Stelzen behindert, kehrte er umständlich seine Rocktaschen nach außen. „Da schau – nichts hab ich. Alles leer. Ich kann dir nichts zu essen geben.“

Ein Gedanke kam ihm. Er dämpfte seine Stimme: „Aber ich weiß etwas. Wir gehen zur Kaserne, dorthin, wo die vielen Soldaten sind. Vielleicht kennen sie unseren Vater. Dann geben sie uns Essen. Komm mit.“

Nach wenigen Schritten hörte sich Shigeo angerufen. Vom Flussufer her winkte ihm der alte Bootsbauer Kenji Nishioka zu. Er wohnte in derselben Straße, schräg gegenüber dem Elternhaus Shigeos. Anscheinend wünschte er, mit ihm zu sprechen. Man musste dem alten Mann gehorchen.

In Eile stieg der Junge, die kleine Schwester an der Hand, die Uferböschung hinab. Respektvoll und genau, wie es die Sitte gebot, verbeugte er sich tief vor dem Rücken des Alten, wobei er die Hände über die Schenkel abwärtsgleiten ließ. Auch Sadako verbeugte sich. Unbeholfen, weil ihr Rückgrat noch nicht so biegsam war wie das ihres Bruders. Und nicht so tief, weil die schüsselförmige Kopfbedeckung des Herrn Nishioka derart ihre Neugier erregte, dass sie nicht den Blick davon lassen wollte.

Der alte Mann hatte sich vorhin, nachdem er Shigeo gerufen hatte, wieder dem Fluss zugewandt. Als er annahm, die Kinder stünden hinter ihm, drehte er sich ruckweise um, indem er ächzend einen Fuß nach dem andern aus dem Wasser zog. Gemächlich setzte er sich zurecht, dann musterte er stirnrunzelnd Shigeo. Der begriff sofort und verbeugte sich zum zweiten Mal. Herr Nishioka konnte die erste Verbeugung nicht gesehen haben, weil er mit dem Gesicht zum Fluss gesessen war.

„Und was ist mit ihr?“, fragte Nishioka streng und zeigte auf Sadako. „Lehrt man heutzutage ein kleines Mädchen nicht mehr, wie man das Alter ehren muss?“

„Schnell, Sadako, verbeuge dich vor Nishioka-san“, flüsterte Shigeo der Kleinen zu und drückte ihren Kopf nieder. Er hätte dem alten Herrn sagen können, dass er und Sadako sich bereits einmal verneigt hatten, aber das wäre respektlos gewesen.

Der Alte blickte freundlicher. „Weißt du, warum ich dich gerufen habe, Junge? Natürlich nicht. Du kannst es nicht wissen, darum muss ich es dir sagen ...“

Er wartete, bis Shigeo sich abermals verneigt hatte, dann setzte er noch freundlicher fort: „Mir ist langweilig geworden. Seit Stunden sitze ich hier und hab keinen Fisch gefangen. Ich habe mich gefragt: Was ist los mit den Fischen? Sind sie schlauer geworden oder sind sie alle krepiert, weil diese vielen Fabriken giftiges Wasser in den Fluss rinnen lassen? Ich bin hungrig, Junge. Ich hätte gern ein paar gebratene Fischchen gegessen. Uns Alten weist man von einer Woche zur andern kleinere Lebensmittelrationen zu.“

Er betrachtete, den Kopf schief geneigt, mit lauerndem Ausdruck die kleine Sadako. Er wandte auch den Blick nicht von ihr, als er sagte: „Ihr bekommt sicher viel, viel mehr zugewiesen, das merkt man am dicken Gesicht deiner Schwester. Deine Mutter ist Soldatenfrau und arbeitet – so viel ich weiß – in der Mitsubishi-Werft an einer Stanzmaschine. Die Werft ist ein Kriegsbetrieb – da gibt es Extrarationen an Reis und Trockenfisch für die Arbeiter.“

Shigeo hatte einen flüchtigen Blick auf das angeblich dicke Gesicht seiner kleinen Schwester geworfen. Es schien ihm um nichts dicker als das Gesicht irgendeines anderen Mädchens ihres Alters. Er deutete durch ein schnelles Verbeugen des Oberkörpers eine Verneigung an und erlaubte sich zu sagen: „Nackt ist Sadako sehr mager. Das sehe ich, wenn wir mitsammen baden im Trog zu Hause. Sie hat auch immer Hunger. So wie ich.“

Nishioka stieß unwillig mit einem Finger nach dem Jungen. „Schlechte Sitten sind das. Badest zusammen mit einer viel jüngeren Schwester. Ein Mann badet zuerst, dann dürfen seine Söhne in den Trog steigen und nach ihnen die Mutter und danach erst die Mädchen. So ist es seit vielen hundert Jahren gewesen. Das kannst du Yasuko-san, deiner Mutter, sagen. Was meinst du, wie böse dein Vater sein wird, wenn er aus dem Krieg heimkommt und merken wird, dass sein Sohn auf sein Recht im Haus verzichtet hat? Er wird sagen: Ist das ein Unglück, mein Sohn lässt sich wie ein Mädchen behandeln. Ja, das wird er sagen. Bestimmt. Und jetzt geh! Ich merke, mit dir kann ich mich nicht unterhalten.“

Shigeo verbeugte sich höflich und fasste nach der Hand der Schwester. Als er sie fortziehen wollte, rief ihn Nishioka an. „Warte – ich wollte dich doch etwas fragen ...“

Diesmal galt sein lauernder Blick nur dem Jungen. „Sag – habt ihr zu Hause gar nichts Überflüssiges? – Ich meine, etwas zu essen – ein bisschen Reis oder Bohnen – ein winziges Stückchen Kuchen vielleicht?“

Der Junge verneigte sich abermals und zeigte danach die leeren Handflächen. „Nichts haben wir, verehrungswürdiger Nishioka-san.“

Er hatte gehofft, durch die besonders respektvolle Anrede den alten Herrn versöhnlich zu stimmen. Aber der schrie wütend: „Also, dann verschwinde! Ja, ja, geh – geh! Mit dir reden heißt Zeit verschwenden.“ Dann drehte er sich um.

Das Gesicht dem Alten zugekehrt, entfernte sich Shigeo, indem er rückwärts schritt. Erst als er stolperte und fast die kleine Schwester umgerissen hätte, wandte er sich und stieg die Böschung hinauf. Er begriff nicht, warum Herr Nishioka so zornig geredet hatte. Bis heute war der alte Mann stets ein freundlicher Nachbar gewesen.

Kenji Nishioka rutschte unruhig auf seinem Stein hin und her, als wollte er die beste Sitzmöglichkeit finden. Er brummte: „Schämen muss ich mich – bin ein Bettler geworden – hab den Jungen gekränkt –, ist er schuld, dass ich Hunger habe?“

Der Soldat Kunyoshi Komatsu stand in der Sonnenhitze als Wachtposten vor dem Kasernentor. Eine Fliege ließ sich auf seiner Kinnspitze nieder. Er gestattete sich bloß ein Mundwinkelzucken, um das lästige Insekt zu verscheuchen. Selbst wenn aus dem Flugzeug, das vorhin über der Stadt kreiste, eine Bombe direkt auf die Kaserne heruntergesaust wäre, hätte sich der vierundzwanzigjährige Kunyoshi nicht von der Stelle gerührt. Er hatte in Malaysia und auf Luzon gekämpft und war zweimal verwundet worden. Zwei seiner Brüder waren bei Kämpfen auf Inseln im Pazifik gefallen. Sein jüngster Bruder, Tetsuro, half dem Vater, einem landwirtschaftlichen Pächter, bei der Feldarbeit. Das Gut lag an der Bahnlinie zwischen Osaka und Kioto. Alle Komatsus waren strenggläubige Buddhisten. Nach seiner zweiten Verwundung, als er in einem Feldlazarett lag, hatte Kunyoshi von seinem Vater einen Brief erhalten. Den verwahrte Kunyoshi wie ein heiliges Andenken in einem Säckchen auf der Brust. In diesem Brief hatte der Vater geschrieben: „Mein Sohn Kunyoshi, tapferer Held! Du hast mich erfahren lassen, dass zum zweiten Mal dein Blut geflossen ist für die Ehre deiner Heimat. Ich und dein Bruder, deine Mutter und deine zwei Schwestern sind gestern zum Tempel nach Nishoya gepilgert. Ich habe vom Priester viele Bitten um Gesundung für dich zu Buddha, unserem Welterleuchter, sprechen lassen. Auch wir haben auf den Knien für dich gebetet. Es verneigt sich vor dir dein Vater, der stolz ist auf seinen Sohn Kunyoshi.“

Niemals hätte dem Soldaten Komatsu eine größere Auszeichnung widerfahren können als diese Ehrung, die sein Vater ihm erwies. Er hatte sich vor seinem Sohne Kunyoshi verneigt. Seither betete Kunyoshi zu seinem Gott, er möge ihm gestatten, im Kampf mit dem Feind sein Leben opfern zu können. Dann erst wird er im Jenseits den Titel „Tapferer Held“ in allen Ehren tragen dürfen. Und seine Familie wird von allen Freunden nicht nur um seine beiden gefallenen Brüder, sondern auch um ihn, Kunyoshi, beneidet werden. Vorläufig schien es jedoch, als wollte das Schicksal seine Willensstärke prüfen, bevor es ihm das größte Opfer gestattete. Er stand schon die dritte Stunde als Wachtposten hier. Sich reglos zu verhalten war niemals seine Stärke gewesen. Er liebte Bewegung. Schon als Kind hatte er nur bei Androhung von Schlägen still sitzen oder knien können. Noch dazu spürte er arge Schmerzen im rechten Hüftgelenk als Folge seiner ersten Verwundung. Hatte man vergessen, ihn abzulösen? Es schwindelte ihm bereits. Seit Minuten unterschied er nur noch undeutlich, was sich vor ihm befand. Zum Beispiel schien ihm der Telegrafenmast auf der gegenüberliegenden Seite eine hin und her schwingende Säule zu sein. Jetzt sah er sie sogar dreifach. Es musste ihm gelingen, das Schwindelgefühl zu überwinden. Hatte ihn nicht sein Vater „tapferer Held“ genannt? Wenn er sich nicht bezwang, verdiente er, von diesen Kindern verlacht zu werden, die soeben vor ihm stehen blieben. Der Junge hielt Stelzen unter einem Arm festgeklemmt. Das kleine Mädchen neben ihm schien seine Schwester zu sein. Warum gaffte der Junge so unverschämt? Merkte er, dass sich der Soldat Komatsu nur mehr mit Mühe aufrecht hielt? Das Mädchen saugte an einem Daumen. Eine niedliche Kleine. Sie sollte ihn aber nicht so anstarren. Es fiel ihm schwer, den Blick von diesem lieblichen Kindergesicht loszureißen. Es ähnelte dem seiner jüngsten Schwester, Shikao. Oder war es Shikao, die da vor ihm stand? Sie lächelte ihn an. Oh, wie schrecklich schmerzte jetzt wieder die verletzte Hüfte! Das wühlte im Körper, als würden Pfeilspitzen hineingebohrt.

Die kleine Sadako wollte nicht länger warten. Shigeo hatte gesagt, die Soldaten in der Kaserne würden ihr zu essen geben. Dieser Soldat da gab ihr nichts. Wusste er nicht, wie hungrig Sadako war?

Die Kleine streckte das linke Händchen vor. Der Soldat rührte sich nicht. Sie wies ihm beide Handteller und sagte: „Gib mir Essen!“

Shigeo puffte die Schwester und flüsterte ihr zu: „Dieser Soldat kann uns nichts geben. Er ist nur ein Wächter. In der Kaserne gibt’s Essen. Der Wächter wird uns aber erst einlassen, wenn ich ihm gezeigt habe, wie gut ich auf Stelzen gehen kann.“

Shigeo stelzte vor dem Wachtposten auf und ab. Er drehte sich kunstvoll auf der Stelle. Er stelzte, rückwärts schreitend. Der Soldat verzog nicht einmal die Lippen, obwohl ihm Shigeo freundlich zulächelte. Also führte er sein bestes Kunststück vor. Er balancierte auf einer Stelze und streckte die andere von sich.

Zwei Offiziere durchschritten das Kasernentor. Als sie den Stelzenläufer bemerkten, blieben sie stehen. Der kleinere der beiden, dem sich der Uniformrock über dem Schmerbauch wölbte, herrschte Shigeo an: „Verschwinde von da! Marsch! Weg mit dir!“

Sein Begleiter, schnauzbärtig, größer als der Dicke und mit vielen Medaillen auf der Kriegerbrust, wandte sich dem Wachtposten zu. Er musterte ihn eine Weile scharf, dann schnarrte er: „Der Bursche schwankt wie ein Besoffener.“ Gleich darauf brüllte er in den Kasernenhof: „Wachtkommando! Heraus!“ Im selben Augenblick fiel der Wachtposten Komatsu um. In der starren Haltung einer Holzfigur. Ein strammer Soldat, auch in ohnmächtigem Zustand.

Verstört schaute Shigeo nach dem Gestürzten, dann hörte er Getrappel und sah ein Rudel Soldaten über den Kasernenhof in Richtung zum Tor laufen. Weil er glaubte, die Soldaten wären gerufen worden, um ihn zu verjagen, griff er schnell nach Sadakos Hand und zerrte die Kleine fort. Als er sich nach kurzer Flucht umdrehte, trugen die vermeintlichen Verfolger ihren bewusstlosen Kameraden in die Kaserne. Die beiden Offiziere hatten sich entfernt. Vor dem Tor stand ein anderer Wachtposten.

Grübelnd ging Shigeo weiter. Nie zuvor hatte er Ähnliches gesehen: ein Soldat, der gerade steht und plötzlich umfällt. Hatte er das tun müssen, weil der Offizier vor ihm stand? Ein solches Kunststück verlangte bestimmt viel Mut.

Shigeo wollte es erproben. Er ließ Sadakos Hand los, legte die Stelzen ab, straffte den Körper und ließ sich, die Augen geschlossen, nach vorn fallen. Schon bei geringer Neigung streckte er Halt suchend die Arme aus und taumelte einen Schritt vorwärts. Er versuchte es ein zweites und drittes Mal, in so gerader Haltung wie der Wachtposten zu stürzen. Es gelang ihm nicht. Der Soldat schien lange geübt zu haben, bevor er das Kunststück zuwege brachte.

Sadako jammerte wieder: „Nach Hause gehen. Hunger!“

Noch einmal schaute Shigeo nach dem Posten, der jetzt den Eingang zur Kaserne bewachte. Der Mann stand so reglos wie sein Vorgänger. Er fiel aber nicht um.

Ungeduldig rüttelte Sadako die Hand des Bruders und verlangte weinerlich: „Nach Hause, nach Hause! Essen!“

Shigeo stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. „Es gibt nichts zu essen zu Hause. Das hab ich dir schon einmal gesagt.“

Nun weinte Sadako wirklich. Sie legte die Handrücken an die Augen und heulte erbarmungswürdig. Um sie zu trösten, versprach Shigeo: „Wir gehen ins Viertel der Händler. Dort werden alle Häuser niedergerissen. Wenn du das siehst, wirst du vergessen, dass du Hunger hast.“

Die Kleine verstummte, schluchzte mehrmals auf und verlangte schließlich: „Trag mich, bin müde.“

„Gut, ich trag dich, aber du darfst nicht mehr weinen“, sagte Shigeo und packte sich das Mädchen auf den Rücken, indem er ihm auf den Stelzen, die er quer übers Rückenende legte, einen Sitz bot. Eine Weile ging er die Straße am Flussarm entlang, dann schwenkte er nach links ab zu dem Stadtteil, in dem früher unzählige Händler in winzigen Läden ihre Waren feilgeboten hatten.

Die kleinen Häuser in den engen Gassen waren allesamt aus Holz gebaut. Sie wurden jetzt auf Befehl des Feldmarschalls Hata abgerissen. Man befürchtete, dass sie bei dieser trockenen Sommerhitze nach einem Bombenangriff in Flammen aufgehen könnten. Eine Feuersbrunst in diesem Stadtteil wäre nicht einzudämmen gewesen und hätte eine Bedrohung für mehrere Bezirke Hiroshimas gebildet. Den Händlern und ihren Familien hatte man befohlen, sich andere Quartiere zu suchen. Die arbeitsfähigen Männer, Frauen und Halbwüchsigen wurden in Rüstungsbetrieben beschäftigt.

Shigeo ging keuchend und tief gebückt durch die Gassen des Händlerviertels. Sadako hatte ihren Spaß an seiner Plage. Sie hopste lustig auf seinem Rücken und wollte ihn durch Händeklatschen zu schnellerer Gangart antreiben. „Sitz still!“, forderte er wiederholt. Dann spürte er mit einem Mal, dass sie sich an ihn presste. Fast gleichzeitig zerschmetterte ein Balken knapp vor seinen Füßen auf dem Boden. Aus der Höhe rief ihm jemand zu: „Aufgepasst, Kleiner! Geh nicht weiter, sonst wirst du mitsamt dem Kind erschlagen!“

Shigeo richtete sich auf. Er sah den Weg vor sich mit Trümmern bedeckt. Von den Dächern umliegender Häuser warfen Mädchen und Burschen in schwarzen Studentenuniformen alles in die Gasse, was sie mit Äxten und Hämmern zertrümmert hatten. Weiter vorn häufte sich der Schutt bereits meterhoch. An der linksseitigen Häuserfront zerrten Burschen unter anfeuerndem Geschrei ruckweise an einem Seil. Es war um die Vorderwand eines Häuschens geschlungen. Es krachte und splitterte. Die Wand zerbarst in mehrere Teile und fiel in sich zusammen. Die Burschen jubelten. Eine Staubwolke wälzte sich durch die Gasse und hüllte die Burschen ein.

Shigeo hatte die kleine Schwester vom Rücken gehoben. Beide gafften wortlos. Staub senkte sich wie Nebel auf sie nieder. Ein Student kletterte über die Trümmerhaufen. Er schwang spielerisch ein Beil. Lustig pfeifend schlug er wahllos nach links und rechts auf geborstene Balken, Pfeiler, Reste von Holzrahmen und Dachtraufen ein. Es machte ihm anscheinend Vergnügen, alles Zerstörte noch gründlicher zu zerstören. Nun bückte er sich, zog aus einem wirren Haufen von Trümmern ein mit Papier bespanntes Holzgitter und betrachtete es, indem er es mit ausgestrecktem Arm vor sich hielt. Shigeo wusste sofort, was dieses Holzgitter vorstellte: den oberen Teil einer Schiebetür. Das Papier auf dem Gitter war mit bunten Figuren bemalt. Eine große Fläche des Papiers war merkwürdigerweise nicht zerrissen. Dieses Stück ließe sich zum Bau eines Drachens verwenden. Man musste es nur zurechtschneiden.