Meiner Gabriele in Dankbarkeit
Geleitwort
Der Berufsweg des Chirurgen ist vergleichbar mit einem langen schmalen Pfad, der sich in vielen Windungen zwischen hoch befriedigenden Erfolgserlebnissen, tief empfundener Dankbarkeit seitens der Kranken und damit verbundenem Hochgefühl auf der einen Seite und der manchmal drückenden Last der Verantwortung, deprimierenden Fehlschlägen sowie Undank und Versagensvorwürfen auf der anderen Seite dahinschlängelt. Dabei ist die Arzt-Patienten-Beziehung in der Chirurgie durch ein besonderes Vertrauensverhältnis geprägt, bedeutet der chirurgische Heilansatz doch ein gezieltes Eingreifen in die Körperintegrität, das juristisch dem Tatbestand der Körperverletzung entspricht und nur durch die Zustimmung des aufgeklärten Patienten legitimiert wird.
Auch das Bild des Chirurgen in der Öffentlichkeit ist ein besonderes. Aus Medienanalysen wissen wir, dass einerseits die hohe Arbeitsbelastung von Chirurgen Anerkennung findet, aber auch eine nicht zuletzt dadurch wachsende Gefahr von folgenreichen Fehlern befürchtet wird. Chirurgen gelten als innovativ und erfolgreich, als Vorreiter der Technik mit handwerklicher Begabung sowie als mutige und häufig spektakulär agierende Helfer der Kranken. Der Chirurg kann etwas, das kein anderer kann mit Instrumenten, die sonst keiner so beherrscht, und er ist bereit, neue Wege zu gehen, wobei seine Arbeit hohes Können und besonders intensiven Einsatz verlangt. Auf der anderen Seite stehen Vorwürfe einer blinden Fortschrittsgläubigkeit geschuldeten Technikfixierung, die das Machbare über das Sinnvolle und nicht zuletzt das Einträgliche über das Notwendige stellt.
Der Beruf des Chirurgen ist ganz wesentlich auch ein Sprechberuf oder sollte es zumindest sein. Der vertrauensvolle und offene Dialog zwischen Arzt und Patient ist die Basis jeder erfolgreichen, auf das individuelle Patientenbedürfnis abgestimmten Diagnose und Therapie. Basis dieses Dialogs wiederum ist das Zuhören, das heute wie die gesamte Kommunikation mit unseren Patienten bei den ständig verdichteten Arbeitsabläufen und einer durch die zunehmende Spezialisierung bedingten Arbeits- und Verantwortungsteilung unter dem der Ökonomiesprache entliehenen Begriff „perioperatives Management“ immer mehr verloren zu gehen droht.
In der studentischen Ausbildung und der fachärztlichen Weiterbildung kommen bei der zu vermittelnden Fülle theoretischer Kenntnisse und praktischer Fertigkeiten die Einschätzung von und der Umgang mit den individuellen Bedürfnissen der Patienten, das Verhalten zu den Kranken und am Krankenbett in der Regel zu kurz. In einer Vorbildfunktion gelebte Empathie, Zuwendung zum Patienten und das auf die Kunst des Zuhörens aufgebaute ärztliche Gespräch dem chirurgischen Nachwuchs zu vermitteln, sollte eine der vornehmsten Aufgaben akademischer Lehrer und chirurgischer Weiterbilder sein.
Mit seiner sehr persönlichen Zusammenfassung und empfindsamen Interpretation anekdotischer Patientengespräche, auf- und nachgezeichnet aus Jahrzehnten erlebter und aktiv gestalteter Chirurgie, wendet sich Volker Schumpelick mit genau dieser Intention an den chirurgischen oder besser gesagt ärztlichen Nachwuchs. Das Bändchen Unterm Messer – Patienten in der Chirurgie vollendet gewissermaßen als „Schlussstein“ seine chirurgischen Lehrbücher und sein Lebenswerk als akademischer Lehrer und Klinikchef. Es gelingt ihm, jungen Kolleginnen und Kollegen auf äußerst anschauliche, weil authentische Weise in Form von Patientengeschicht(ch)en unser faszinierendes Fach Chirurgie in all seinen Facetten darzustellen und so auch auf besondere Weise begreifbar zu machen. Das Bild von der Chirurgie und den Chirurgen aus dem Blickwinkel der Patienten rundet er durch ein gehöriges Maß an Selbst-, Standes- und Gesellschaftskritik ab. Dabei lösen sich auch vermeintliche Gegensätze auf, wie er dies z. B. auch als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 2009 mit seinem Kongressmotto „Humanität durch Technik“ thematisiert hat.
Eine Anekdote hat, so die lexikalische Definition, eine bemerkenswerte oder charakteristische Begebenheit, meist im Leben einer Person, zur Grundlage. In der Alltagssprache bezeichnet Anekdote die Schilderung einer kuriosen, ungewöhnlichen oder komischen Begebenheit. So gesehen ist diese Zusammenstellung persönlich erlebter Patientengeschichten eine echte Anekdotensammlung, in der allerdings keineswegs das Kuriose oder Komische überwiegt. Dennoch möchte man, was die auf diese Weise vermittelte besondere Sicht auf unser Fach Chirurgie und das Verständnis chirurgischen Handelns anbelangt, im Sinne einer kleinen heiter-nachdenklichen Versesammlung Eugen Roths, zusammenfassen: „Mir geht’s schon besser, Herr Professer!“
Prof. Dr. med. Hartwig Bauer
Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie
Vorwort
In wohl keiner Lebenssituation kommen fremde Menschen einander so nahe wie der Arzt und sein Patient. Dies gilt vor allem für den Chirurgen, der plötzlich zum Sachwalter des Schicksals eines ihm bis dahin völlig unbekannten Menschen wird. Diese Patientenbeziehung kann für den Chirurgen ein beglückendes Geschenk sein, falls er sich dieser Verantwortung gewachsen fühlt, aber auch eine Last, wenn ihn diese Anforderung eher bedrückt. In jedem Fall erwächst dem Chirurgen mit seinem Patienten neben dem medizinischen Auftrag eine unabweisliche Aufgabe: Der Patient wird zum Partner auf Zeit, mit dem der Chirurg in guten wie in schlechten Stunden die Behandlung teilt. Ein Patient kann den Chirurgen bis in seine Träume verfolgen, ihn beglücken oder tief betrüben. Sein Schicksal beschäftigt nicht selten auch die Familie des Chirurgen, der es nach Hause oder in die Ferien mitnimmt. Ein Urlaub mit einem kriselnden Patienten im Hintergrund ist kein wirklicher Urlaub, trotz bester Vertretung und mehrfacher täglicher Telefonate. Jeder Chirurg hat in dieser Situation bereits Urlaube storniert oder abgebrochen, geschweige denn viele häusliche Abendeinladungen kurzfristig abgesagt. Ein verantwortungsbewusster Chirurg kann sich seiner Verantwortung – außer im Notfall – nicht entziehen. Dies gilt auch in heutigen Zeiten strikter Einhaltung der Arbeitszeitgesetzgebung.
Der Chirurg ist vor allem durch seine Patienten definiert, ohne diese ist er nichts. Er ist ihr Diener entsprechend seinem Auftrag – vor, während und nach der Operation und so auch für ihre Angehörigen, die ihn mit Fragen bedrängen oder ihn bitten, dem Patienten Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg zu geben („auf Sie hört er !“). Vorher aber ist er in erster Linie der Sachwalter der Operation in ihrer Indikation, Technik und Nachsorge. Er weiß, dass es einen garantierten Erfolg nicht geben kann und muss dem Patienten dennoch Zuversicht vermitteln, wenn der Erkrankte zwischen Angst und Hoffnung schwankt. Der Patient geht naturgemäß von einem Erfolg aus, sonst würde er sich nicht operieren lassen. Er ahnt trotz aller Aufklärung nur diffus das tatsächliche Risiko eines Misserfolges. Aber da, wo Gewissheit fehlt, fixiert sich der Mensch auf die Hoffnung und das Vertrauen in den von ihm gewählten Chirurgen. Während der Behandlung, speziell in der bewusstlosen Phase der Narkose, bewahrt der Chirurg dieses Vertrauen sorgsam wie in einem Safe vor äußeren Einflüssen, er wird zum Notar auf Zeit. Nach Beendigung der Behandlung gibt ihm der Chirurg das Anvertraute vollständig zurück, so auch den Vertrauensvorschuss, den Verlust der persönlichen Distanz sowie das Wissen um kleinere und größere Geheimnisse. Jetzt, da der Patient wieder im vollen Besitz seiner Persönlichkeit ist, hat der Chirurg über alles erworbene Wissen zu schweigen. Darum gibt es auch nur wenig Literatur mit Patientengeschichten, die sich aufgrund des Arztgeheimnisses nicht auf konkrete Fälle mit Namensnennung beziehen dürfen und darum meist im Allgemeinen bleiben und auf Wiedererkennungseffekte verzichten müssen.
Auch in dieser Anekdotensammlung wurde sorgsam darauf geachtet, keine Patienten-Geheimnisse zu verraten und dennoch informativ und verbindlich zu sein. Obwohl sich alle hier dargestellten Patientengeschichten tatsächlich ereignet haben, wurden sie durch Verfremdung doch so unkenntlich gemacht, dass keine Verletzung des Arztgeheimnisses erfolgt. Allerdings sind die meisten dieser Anekdoten so exemplarisch, dass man auf keine verzichten konnte, wenn es um eine realistische Darstellung des breiten Verhaltensspektrums chirurgischer Patienten geht. Nur so konnte es gelingen, bei zukünftigen Patienten und Angehörigen Verständnis für die allseits gefürchtete Situation „unter dem Messer“ zu gewinnen und durch Betonung des humanen Umfeldes in jedem heutigen Krankenhaus übertriebene Ängste vor dieser Situation abzubauen. Das Ziel moderner Chirurgie ist es, vor allen Sachzwängen die Menschen in Patienten, Ärzten und im Pflegepersonal in den Vordergrund zu stellen.
In der Chirurgie ist das Arzt-Patienten-Verhältnis in der Regel kurz und eingreifend, zudem häufig von Angst, Schmerzen und Einbußen an persönlicher Freiheit geprägt. Für manchen Patienten überwiegt das Gefühl des Ausgeliefertseins, wenn er sich einer bislang fremden Person nur aufgrund deren Reputation oder anderer Leute Empfehlung mit Leib und Seele anvertraut. Dadurch wird er abhängig und zumindest in bestimmten Behandlungsphasen hilf- und bewusstlos. Diese Episode behutsam und menschlich zu gestalten, ist das Rezept guter Chirurgie. Gefragt ist kein Magier, kein Halbgott, kein Technikfreak, sondern ein einfühlsamer Arzt mit einer großen Dosis Empathie.
In dieser verletzlichen Phase lässt sich der Patient als Mensch unverstellt erfahren. Dafür braucht der Chirurg einen offenen Sinn, jetzt erlebt er seinen Patienten authentisch, nackt und ungeschminkt im wahrsten Sinne des Wortes. Mit der Ablegung der Straßenkleidung wird der Sprechstundenpatient zum schlichten Mitmenschen, der sich vorübergehend aller seiner äußeren Statusmerkmale entledigt. Gern spricht er in dieser für ihn ungewohnten, fast peinlichen Phase – gewissermaßen als Statusersatz – über seine persönlichen Leistungen, seinen Beruf, seine Familie und andere Merkmale seiner bisherigen Position. Hierbei sollte sein Arzt sehr aufmerksam zuhören, um die wahre Persönlichkeit seines Gegenübers zu verstehen.
Das Schönste am Beruf des Arztes, zumal des Chirurgen, ist nun einmal das Erlebnis der verschiedenen Menschen mit ihren unterschiedlichen Krankheiten und vor allem Persönlichkeiten, denen wir mit unseren Methoden helfen können, ohne ihnen die Kraft ihrer Individualität und Persönlichkeit zu nehmen. Dies sind die Kunstwerke, die wir schaffen, die Weltreiche, die wir erobern und dies ist unser Beitrag zur Gesellschaft. Unser Lohn sind die Patienten, die sorgenvoll gebückt kommen, um uns nach wenigen Tagen stolz und aufgerichtet im Vollbesitz ihrer Würde und Persönlichkeit wieder verlassen. Gleichsam als Dank für unseren Einsatz hinterlassen sie uns ihre Geschichte, wobei diese Anekdoten häufig allzu wunderbar sind, als dass man sie anderen am Menschsein interessierten Zeitgenossen vorenthalten dürfte. So lassen auch Sie, verehrte Leserinnen und Leser, sich vom zeitlosen „Wunder Mensch“ verzaubern. Es lohnt sich, die Patienten „unterm Messer“ staunend, bewundernd und mit Menschenliebe zu betrachten. Denn der Mensch bleibt gerade auch in seiner Angst und Schwäche ein unerschöpfliches Wunder, das vor allem anekdotisch begriffen werden kann.
Hamburg, im April 2012
Volker Schumpelick
Angst vor Operation
Angst vor einer Operation hat jeder. Sie ist Ausdruck der hochentwickelten menschlichen Intelligenz; debile Menschen und viele Tiere kennen kaum Angst. Wir haben gelernt, unsere Angst zu überwinden oder nach außen zumindest nicht erkennen zu lassen, indem wir eine rationale Risiko-Nutzen-Kalkulation vornehmen: Was muss ich einsetzen, um welches Ergebnis zu erreichen ? Rechnen sich Risiko, Schmerz und Mühen für den beabsichtigten Erfolg ? Diese Fragen stellt sich jeder vor einer Operation und hat sie bereits fürs sich bejaht, wenn er den Operationstermin wahrnimmt. Aber Angst ist kein rationales Phänomen, sie wird aus dem Urschlamm des Unterbewusstseins und unserer Erfahrungen geboren und ist rationalen Argumenten kaum zugänglich. Die Hauptinhalte der Angst sind Schmerz, Kontrollverlust, entstellende Narben, Ausgeliefertsein, Arbeitsunfähigkeit. Auch andere Ängste wie die vor sozialer Deprivation, möglichen Infektionen im Krankenhaus oder einem zu rüden Krankenhaus-Personal belasten viele Patienten. Bei Abwägung dieser potentiellen Risiken fällt in der Regel die Entscheidung rational aus, also auf Evidenz basiert, was allerdings selbst bei rational geschulten Patienten nicht immer der Fall sein muss:
Ein 42-jähriger Jurist, tätig als Rechtsanwalt in einer mittelgroßen Kanzlei, klagt seit Jahren über Gallensteine mit wiederkehrenden Koliken bei Kaffeegenuss und fetten Speisen. Sein Hausarzt rät aufgrund der Befunde zur Operation in Form einer laparoskopischen Gallenblasenentfernung. Da alle Vorbefunde einwandfrei sind, werden ein Vorstellungs- und danach ein Operationstermin entsprechend den Terminwünschen des Patienten vereinbart. Dieser Termin wird telefonisch dreimal wegen angeblicher Terminüberlastung seitens des Patienten verlegt, der vierte Termin wird dann endlich zur stationären Aufnahme wahrgenommen, doch verlässt der Patient am gleichen Abend die Klinik wegen „wichtiger Termine“ und bittet am nächsten Tag telefonisch um einen neuen Aufnahmetermin. Dies wiederholt sich zweimal jeweils nach einer Woche. Auf Nachfragen gesteht er dann, dass er seine Angst vor der Operation nicht in den Griff bekomme. Er sei ein Bewunderer des Malers Andy Warhol, und der sei leider an einer Gallenblasen-Operation gestorben. Selbst das Zureden von Freunden und der Familie habe nicht geholfen, er habe ganz einfach Angst vor dem Eingriff, die er allein nicht überwinden könne. Er brauche professionelle Hilfe zur Beherrschung seiner Operations-Angst. – Ein hinzugezogener klinischer Psychologe nimmt sich des Patienten in sechs Sitzungen an, unter Einschluss von zwei Probeeinschleusungen in den vorgesehenen Operationssaal und Kontaktgesprächen mit dem Anästhesisten und den Operations-Schwestern. Doch am Operationstag lässt sich der Patient zwar in den OP einschleusen, verlässt dann aber unter Mitnahme bereits liegender venöser Infusionskatheter und EKG-Kabel vor der Narkoseeinleitung fluchtartig den Operationsaal und flieht im kaum bedeckenden OP-Hemd zu Fuß auf die Station. Hier lässt er sich von den verdutzten Stationsschwestern („tun Sie was ich sage, ich bin Jurist!“) entkabeln und verlässt kaum eine Stunde später ohne Erklärung eigenmächtig die Klinik. Am nächsten Tag erklärt er sein Verhalten am Telefon: Er komme trotz aller Vernunftargumente und der psychologischen Vorbereitung gegen seine Angst nicht an. Er sei eben einfach nicht operabel; solche Menschen müsse es auch geben.
Sieben Jahre später stellt er sich erneut zur Gallenblasen-Operation vor. Er habe jetzt keine Angst mehr, da fünf seiner Freunde in der Zwischenzeit erfolgreich und problemlos an der Gallenblase operiert wurden. Er mache sich vor denen mit seiner Angst doch lächerlich, jetzt müsse er sich einfach überwinden, um nicht als Feigling dazustehen. Wie nicht anders zu erwarten, verlief alles ohne jedwede Komplikation. Zum Abschied bedankte er sich für unser Verständnis und die Toleranz ihm gegenüber. Meinen Hinweis, dass auch Chirurgen gelegentlich verständnisvolle Juristen bräuchten, nahm er schmunzelnd mit nach Hause.
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Aufklärung
Jeder Patient hat das Recht, über seine Operation und vor allem seine Krankheit aufgeklärt zu werden. Ohne diese Aufklärung ist selbst bei größter operativer Sorgfalt jede Operation tatbestandlich eine strafbare Körperverletzung. Damit gewinnt die Aufklärung eine zentrale Funktion in der Arzt-Patienten-Beziehung. Die Aufklärung ist ein einklagbares Recht und ein nicht zu diskutierender Anspruch jedes Patienten. Dies ist Gegenstand vieler Strafverfahren gegen Ärzte, denen fehlerhafte oder lückenhafte Aufklärung zum Vorwurf gemacht werden. Soweit die juristische Basis. Wie verhält es sich aber mit der gelebten Realität? Ein Patient, der dezidiert und auch schriftlich auf seine Aufklärung verzichtet, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Damit hat er den Arzt von der Pflicht zur Aufklärung eindeutig entbunden. Häufig wird dies vom Patienten so dargestellt, dass er dem Arzt gegenüber darum bittet, so zu handeln, wie es für ihn am besten sei. Er sagt, „Handeln Sie so, wie Sie es für einen nahen Angehörigen tun würden“. Schwieriger wird die Situation für den Arzt, wenn der Patient sagt, was würden Sie denn tun? Auch dann muss der Arzt seine Entscheidungsgründe darlegen und verständlich machen, in die der Patient dann in der Regel auch einwilligt.
In der Situation einer tödlichen Erkrankung mit sehr geringer Lebenserwartung gerät der Arzt in seiner Pflicht zur Aufklärung häufig in den Konflikt zwischen sachlicher Information über die nahe Todesgefahr und seinem tiefempfundenen Mitleid mit dem Patienten. Die sachliche Information kann hier die Seele töten oder faktisch zum Selbstmord führen, die allzu mitleidsvolle Information aber beinhaltet Verschweigen oder gar Lüge. Jeder erfahrene Chirurg kennt diesen Konflikt und verfügt eigentlich über kein Patentrezept. Sagt man dem Todgeweihten, er solle sich keine Sorgen machen, so hebt das zwar den verbleibenden Lebensmut des Todkranken, kann aber zu falschen Entscheidungen im familiären und beruflichen Umfeld führen. Die klare Wahrheit und so etwa der Vorschlag der Beendigung einer Chemotherapie wegen Erfolglosigkeit, können nur die wenigsten für sich umsetzen und als Schicksal akzeptieren. Sind doch die meisten Menschen heute so sehr an die uneingeschränkte Machbarkeit in der Medizin gewöhnt, dass sie darauf vertrauen, dass es für alles noch eine Lösung gibt, auch wenn medizinisch eigentlich nichts mehr geht. Ein Schicksal dieser Art fatalistisch zu akzeptieren, gelingt nur den Wenigen, die in einem starken Glauben oder in einem festen Familienzusammenhalt Geborgenheit finden. Für die meisten Erkrankten aber beginnt jetzt das breite Spektrum der sogenannten Alternativmedizin oder ein Ärztetourismus, der die Zeit bis zum Tode zwar voller Aktivitäten und Anstrengungen gestaltet, aber meist in belastenden, kostspieligen und vergeblichen Therapieversuchen z.T. durch geldgierige Scharlatane in aller Welt endet. Jeder ist zwar seines Glückes Schmied, er sollte aber den uneigennützigen Rat des Erfahrenen höher veranschlagen als das vermeintliche Glück auf der alternativen Straßenseite. Besonders gefährdet sind hier jene Patienten, die sich nicht in ihr Schicksal fügen wollen oder ihren Arzt für nicht ausreichend informiert halten. Sie quälen sich zwischen unterschiedlichsten Praxen in aller Welt, nehmen erhebliche Kosten und Reisen auf sich und finanzieren so überwiegend gewinnsüchtige, selbsternannte Superspezialisten oder Quacksalber.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einen Hamburgischen Reeder, der sich in New York mit extrem teuren Medikamenten wegen eines nicht-operablen Bauchspeicheldrüsenkrebses für einen siebenstelligen Betrag aus der eigenen Kasse behandeln ließ und keinen Tag länger lebte als ein einfacher Patient, der mit der gleichen Diagnose zeitgleich auf Kosten der gesetzlichen Krankenkasse in einer Klinik in Hamburg behandelt wurde. Wer letztendlich glücklicher war, soll hier nicht entschieden werden. Der Tod aber egalisierte letztlich alle Unterschiede.
Es gibt Patienten, die sich aller Aufklärung verweigern, ohne dies schriftlich und dezidiert niederzulegen. Es sind meist sehr stolze Menschen, die die Niederlage, dass ein anderer ihnen eine etwaige Todesbotschaft übermittelt, nicht mit ihrem persönlichen Stolz vereinbaren können. Dies betraf einen 64-jährigen Großindustriellen aus Mailand, der drei Monate lang wegen eines Speiseröhrenkrebses – mit Operation, Bestrahlung und Chemotherapie – in meiner Behandlung war. Jeden Tag führten wir lange Gespräche über Gott und die Welt, über Deutschland und Italien, über Demokratie und Kommunismus. Aber nie über seine Krankheit. Bei jedem Verfahrenswechsel wurde dies von mir versucht, doch jedes Mal blockte er ein aufklärendes Gespräch ab. Als es mit ihm ans Ende ging, bat er mich zu einem letzten Gespräch zu sich und sagte, er sei mir so dankbar für alles, was ich getan hätte. Man könne, das wisse er auch aus seinem Beruf, nicht immer Erfolg haben, und dennoch dürfe man nicht aufgeben. Das Wichtigste aber sei, dass man mit Menschen auf gleicher Augenhöhe im Gespräch bliebe, nur das schütze vor Bitternis und Einsamkeit. Und so wolle er mir dafür danken, dass ich ihn mit unseren Gesprächen so behutsam über seine für ihn schon lange gewisse hoffnungslose Diagnose hinweg getäuscht habe. Ein verbales Todesurteil aus meinem Munde hätte die gesamte Symmetrie unserer Bekanntschaft und unserer wunderbaren Gespräche in den letzten drei Monaten zerstört. „Danke, dass Sie mich durch Ausklammern dieses ekelhaften Krebsthemas so erfolgreich belogen haben. Der Krebs hatte zwischen uns nichts zu suchen.“ Dies waren seine Abschiedsworte.
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Operationseinwilligung
Gebührende Sorgfalt, Aufklärung und Einwilligung machen aus dem Tatbestand der Körperverletzung durch jede Operation einen straffreien Eingriff zum Zwecke der gewünschten Heilung. Sorgfalt und Aufklärung sind nach allem bereits Gesagten selbstverständlich, doch reichen sie beide allein nicht zur Entlastung des Chirurgen. Mindestens ebenso wichtig ist die Einwilligung des Patienten in die Operation. Im Falle der Unmündigkeit übernehmen die Eltern, die Erziehungsberechtigten oder der Vormund diese Aufgabe. Nach Darlegung aller Voraussetzungen und Notwendigkeiten ist das Votum etwa der Eltern bindend, es sei denn, sie verweigern den objektiv notwendigen Eingriff aus nicht nachvollziehbaren subjektiven Gründen. In diesem Fall kann eine Entmündigung der Eltern erfolgen, was allerdings die extreme Ausnahme sein sollte. Zu sehr wäre der Vertrauensbruch gegenüber dem Kind im weiteren Leben für die Eltern-Kind-Beziehung belastend. Darum vermeidet jeder kluge Arzt diese Entscheidung, wenn sie nicht unbedingt Not tut. Schwierig ist auch die Situation bei Nichterreichbarkeit der Eltern. Formal könnte man sich bei einem dringenden Notfall als „Geschäftsführung ohne Auftrag“ über die fehlende schriftliche Einwilligung hinwegsetzen. Eher aber schickt man das Einwilligungsformular nach telefonischer Absprache per Telefax oder E-Mail, sendet einen Boten oder versucht die Eltern an irgendeinem Ort abzufangen, wenn sie beispielsweise auf Reisen sind. Ihre schriftlich bestätigte Einwilligung ist nun mal die beste Voraussetzung für den Eingriff. Andernfalls übernimmt der Amtsrichter diese Funktion.