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DIE VÖGEL DER NACHT

Schaurig – magisch – schön ...

Stefan Karch

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Robin und Scarlet
Die Vögel der Nacht

von Stefan Karch

Von Stefan Karch ebenfalls im G&G Verlag als E-Book erschienen:

1. digitale Auflage, 2014

www.ggverlag.at

ISBN E-Book 978-3-7074-1709-8

In der aktuell gültigen Rechtschreibung.

Lektorat: Karin Ballauff

©2011 G&G Verlagsgesellschaft mbH, Wien

Inhalt

Prolog

Ein Niemand

Ferienpläne

Meggie und George

Allein unterwegs

Der Traum

Das Elfenkleid

Unter der Brücke

Die schwarzen Vögel

Der nackte Junge

Mister Lock

Ein seltsamer Fund

Wieder allein

Ungebetene Gäste

Was geschehen war

Wenn Gedanken Bilder werden

Der fliegende Junge

Das Büro der Wächter

Die Unterredung

Billy und seine Eltern

Ein unerfreuliches Wiedersehen

Der Kuss

Der Brief

Die Busfahrt

Das Haus des Richters

Ein dunkler Gang

Eine unversperrte Tür

Sam

Die Schlüssel

Die Frau

Der Sprung ins Nichts

Der Höllenhund

Aurin

Die Entdeckung

Nummer 7

Der Angriff

Der Pakt

Ein Ring für Scarlet

Die Wächter

Das Wunder

Epilog

Prolog

In einer flachen Schale lagen sieben Ringe. Sie bildeten die Form einer Blüte.

Die Frau nahm die Schale. Sie trug sie zu einem Tisch aus Stein, stellte sie darauf ab und tauchte ihre Finger in einen Tiegel, der mit Tierfett gefüllt war. Sorgfältig strich sie das Fett über ihre knochigen Finger, bis die pergamentene Haut seidig glänzte.

Nun nahm sie einen Ring nach dem anderen aus der Schale und schob ihn sich über ihre Finger. Sie betrachtete ihre Hände, und Zufriedenheit erfüllte sie.

Die Frau bewegte sich fast schwebend aus dem Raum hinaus in ein anderes Zimmer, in dem sieben Betten standen.

„Aufstehen!“, befahl sie. Sie sprach leise und bewegte ihren Mund kaum. Doch ihre Stimme hallte wider in den Köpfen der Jungen die in den Betten lagen. Die Jungen erhoben sich schlaftrunken, krochen unter ihren Decken hervor und folgten der Frau, barfuß und nackt. Wieder war es so, als würde die Frau schweben. Nur ihr langes, schwarzes Kleid bewegte sich leicht an der Stelle, wo es den Boden berührte. Es war eng geschnitten und voller Rüschen und Spitzen wie aus uralten Zeiten.

Sie gelangten schließlich in einen nach oben hin offenen Raum. Über ihnen funkelten Tausende Sterne wie winzige kleine Pünktchen. Es schien so, als wäre der Himmel in weite Ferne gerückt. Die Dunkelheit würde sich bald auflösen, das wussten die Jungen.

Sie bildeten einen Kreis und senkten die Köpfe. Obwohl sie geschlafen hatten, waren sie müde und erschöpft. Sie sprachen kein Wort miteinander und wechselten keinen Blick. Jeder von ihnen stand für sich allein.

Die Frau ließ sich lautlos auf einem Stuhl nieder. Ihr Gesicht war ebenso weiß wie ihr langer Hals und die dünnen Arme. Ihr leerer Blick glitt über die Jungen hinweg. Sie brauchte ihre Augen nicht, um zu sehen. Denn durch Magie konnte sie die Dinge anders wahrnehmen. Schon bald würde sie durch viele Augen sehen.

Die Frau hob ihre dünnen Finger von der Stuhllehne und strich sich mit einer Hand über die andere. Sanft streichelte sie über die Ringe. Ihre blassen Lippen öffneten sich leicht.

Was die vor Müdigkeit erschöpften Jungen in diesem Moment auch dachten – bald würden sie keine eigenen Gedanken mehr haben. Denn die Gedanken der Frau drängten sich in ihre Köpfe und füllten sie aus. Sie selbst dachten nichts mehr und alles, was sie sahen, war das, was die Frau sah.

Ein Niemand

Ich heiße Robin, und ich hatte an diesem Tag wieder einmal das Gefühl, ein Niemand zu sein, ein hoffnungsloser Fall. Eigentlich hätte ich den Kopf hängen lassen und ein paar Runden Trübsal blasen können. Aber das tat ich nicht. Ich hatte mich ja daran gewöhnt, so zu sein, wie ich war. Außerdem hatte ich immer noch die große Hoffnung, dass eines Tages alles gut werden würde.

Für meinen Vater war es vor langer Zeit ein Glück gewesen, dass er mich loswerden konnte. Er hatte mich an einen Magier verkauft.

Dieser Magier wurde mein Lehrer, der alle Hoffnungen in mich setzte. Doch ich enttäuschte ihn bitter, weil ich ein miserabler Schüler war. Ich beherrschte nur Taschenspielertricks. Deshalb wollte mein Lehrer mich auch loswerden. Das fiel ihm nicht schwer, denn er beherrschte ja Magie, und er verwandelte mich in einen Kater.

Höchstwahrscheinlich wollte er mich irgendwo aussetzen oder gar töten. Doch dann kam alles anders.

Ein Mädchen rettete mich, das war mein großes Glück im Unglück, es war Gerechtigkeit in der Ungerechtigkeit meines Schicksals.

Scarlet war so alt wie ich. Im Gegensatz zu mir steckte in ihr allerdings jede Menge Magie.

Sie übertraf alle Erwartungen.

Für Scarlet war ich am Anfang nur ein Haustier, ein Kater, aber einer, den sie liebte. Ich durfte immer in ihrer Nähe sein. Sie streichelte und liebkoste mich, und ich drückte mich an sie, wann immer es ging. Wenn ich daran denke, kann ich noch heute die Wärme ihres Atems und ihre zärtlichen Finger spüren, die sich in meinem Fell vergraben. Diese Erinnerungen habe ich tief in meinem Herzen gespeichert, und immer dann, wenn ich das Gefühl habe, ein Niemand und ein Nichts zu sein, hole ich sie hervor. So wie an diesem kalten Tag in einem Winter, der kein Ende nehmen wollte. Dabei lag es gar nicht an der Kälte, dass ich mich so fühlte.

Als Scarlet nach Scorpiohof kam – eine Schule für außergewöhnlich magisch begabte Kinder –, nahm sie mich mit.

Wir wollten gemeinsam ein Verbrechen aufklären, das vermutlich in Scorpiohof verübt worden war. Einem Mädchen namens Marie war das Gedächtnis gestohlen und sie war all ihrer magischen Fähigkeiten beraubt worden.

Doch auf einem meiner Erkundungsstreifzüge durch das Schulgebäude geriet ich in die Hände eines Magiers, der mir Übles antun wollte. Wieder rettete mich ein Mädchen, Aurin war ihr Name. Der Preis meiner Rettung aber war hoch. Ich wurde zwar wieder in einen Jungen zurückverwandelt, doch ich war von nun an unsichtbar.

Ferienpläne

Nachdem Scarlet Schülerin in Scorpiohof geworden war, wollte sie nicht mehr zu ihrem Onkel zurück, bei dem sie aufgewachsen war. Scarlet war ein Waisenkind. Und der Onkel hatte ihr weder Zuneigung noch Sympathie zukommen lassen.

Abraham, ein Magier aus Afrika, nahm Scarlet und auch mich, den unsichtbaren Jungen, bei sich auf. Er war Scarlets Mentor, und sie mochte ihn sehr.

Seitdem wohnten wir in einer wunderschönen Dachwohnung mit Blick über die Stadt. Im Winter war die Wohnung jedoch eisig kalt, was an den vielen großen Fenstern lag. Die Kälte zauberte Eisblumen an die Fensterscheiben. Abraham machte meistens ein Feuer im Kamin, wenn er abends spät nach Hause kam. Dann breitete sich die wohlige Wärme des Feuers in der ganzen Wohnung aus, und es duftete nach Holz und Harz. Wir machten es uns vor dem Feuer gemütlich. Wäre ich noch ein Kater gewesen, hätte ich mich schnurrend zu Scarlet gelegt und mich von ihr kraulen lassen.

„Ich werde für einen Monat nach Afrika reisen“, sagte Abraham eines Abends, als wir alle drei am Feuer saßen und dem Knistern lauschten.

„Und ich fahre mit!“, rief Scarlet begeistert.

Doch an Abrahams Gesichtsausdruck konnte sie sofort erkennen, dass der Magier nicht vorhatte, sie mitzunehmen.

„Warum nicht?“, fragte sie, ohne seine Antwort abzuwarten. In ihren fragenden Augen flackerten winzige Flammen.

„Weil du nicht so lange Ferien hast“, antwortete Abraham mit sanftem Lächeln.

„Aber ich habe eine ganze Woche Ferien!“, protestierte Scarlet.

Abraham drückte Scarlet an sich, und Scarlet schlang ihre Arme um seinen Hals.

„Du und Robin, ihr zwei macht Ferien bei Meggie und George“, sagte der Magier liebevoll. Scarlet seufzte tief und gab sich geschlagen.

Meggie war Abrahams Mutter. Sie wohnte am Stadtrand.

„Ich verreise ja erst in ein paar Tagen“, tröstete Abraham Scarlet, „und bei Meggie wird es dir und deinem unsichtbaren Freund bestimmt gefallen!“

Er sollte Recht behalten.

Zwei Tage später packte Scarlet ihren Koffer. Ich packte nichts, denn wenn man unsichtbar ist, braucht man weder Kleidung zum Wechseln noch sonstige Dinge, die andere Leute auf Reisen mitnehmen.

Meggie und George

„Scarlet!“, rief Meggie einige Tage später, „das Frühstück ist fertig!“

Scarlet schoss wie ein Blitz aus ihrem Zimmer und stürmte noch im Pyjama ins Bad.

Ich musste weder ins Bad noch mir die Zähne putzen. Ein Geist zu sein, hatte auch seine Vorteile.

Ich stieg die alte Holztreppe hinunter, die bei jedem Schritt ächzte und stöhnte. Meggies Häuschen war alt, das roch man. Ich mochte den Geruch.

„Scarlet?“, rief Meggie erneut und schubste für George ein Spiegelei von der Pfanne auf den Teller.

George war Meggies Freund. Er war einmal Lastwagenfahrer gewesen, hatte einen gewaltigen Bauch und Tränensäcke, in denen seine kleinen Augen beinahe versanken. Seine Nase hingegen war riesig und immer leicht gerötet, als hätte er zu viel Wein getrunken, was er auch gerne tat. Er kam jeden Morgen und blieb den ganzen Tag. George erledigte Einkäufe, weil Meggie nicht schwer tragen konnte, und sie spielten Karten miteinander.

Scarlet sprang die Stufen herunter, immer mehrere auf einmal.

„Die Kleine wird sich noch das Genick brechen“, brummte George. Er ließ einen Zahnstocher von einem Mundwinkel zum anderen wandern. Dann nahm er ihn heraus und brach ihn in der Mitte auseinander. Die beiden Hälften legte er sorgfältig in einen Aschenbecher.

Scarlet wollte sich an Meggie vorbeischieben. Doch Meggie hielt sie sanft an der Schulter fest. „Morgen, Schatz“, sagte Meggie und drückte Scarlet einen Kuss auf die Stirn. So war Meggie: Wen sie mochte, den beglückte sie mit ihrer Liebe. Ihre Arme waren riesig wie dunkles, weiches Brot. Auch ihr Köper sah wie frisch gebacken aus. Von Meggie gedrückt zu werden, war wie in ein kuscheliges Bett zu fallen, das nach Rosenwasser roch. So stellte ich es mir jedenfalls vor, denn ich hatte noch nicht das Vergnügen gehabt, von ihr umarmt zu werden.

Scarlet goss Milch in eine Schüssel mit Getreideflocken. Während sie sich die Flocken in den Mund schaufelte, hielt sie plötzlich inne.

„Was ist das?“, erkundigte sie sich kauend. Auf der Anrichte lag ein Holzbrett, an dem ein riesiger Fischkopf befestigt war.

„Den hat George mitgebracht“, bemerkte Meggie. Das klang nicht gerade begeistert.

George wischte sich Eigelbreste von den Lippen. Dann schob er seinen Teller beiseite und steckte sich einen neuen Zahnstocher in den Mund.

„Ich habe das Ding ersteigert“, begann er zu erzählen. „Es war purer Zufall. Ich sah es und musste es haben. Und ich bekam es auch.“ George ließ die rechte Faust triumphierend in seiner linken Handfläche landen.

„Wer hätte diesen wundervollen Fischkopf sonst noch haben wollen?“, unterbrach ihn Meggie.

Doch George erzählte unbeirrt weiter.

„Als ich noch ein kleiner Junge war, ging ich öfters mit meinem Vater zum Fischen. An dem Tag, bevor er starb, hab ich einen Fisch gefangen, der ganz genauso aussah wie dieser hier. Er war mindestens einen Meter lang. Und mein Vater war so stolz auf mich. Dieser Fischkopf wird mich immer daran erinnern. Ich muss nur noch einen geeigneten Platz für ihn finden.“

„Und dieser Platz wird nicht in meinem Haus sein!“, versicherte Meggie.

Ich musste an früher denken. Wenn mein Vater zu Hause war, wurde die Luft dünner und alle waren angespannt. Mein Vater war jähzornig und unberechenbar, besonders wenn er viel Bier getrunken hatte. Dann genügte eine Kleinigkeit und er explodierte. Er konnte verdammt laut schreien. Meine Mutter fing dann immer an zu heulen. Das machte ihn noch wütender.

„Ist der unsichtbare Junge da?“, erkundigte sich George. Scarlet hielt im Kauen inne. „Weiß nicht“, gestand sie.

„Er soll den Fischkopf nicht anrühren“, bemerkte George. „Was sollte der Junge mit dem Kopf anstellen?“, warf Meggie ein.

George nahm den Zahnstocher aus dem Mund und betrachtete die Spitze.

Ich hatte eine ungefähre Ahnung davon, was er dachte. Allein die Vorstellung, dass ich im Raum sein könnte, bereitete George Unbehagen. Anfangs wollte auch Meggie mich nicht in ihrem Haus haben. Doch Abraham konnte sie schließlich überreden. Ich musste mich an bestimmte Regeln halten und durfte Meggies Zimmer nicht betreten. Mittlerweile hatte sie sich an mich gewöhnt. Bei George war ich mir da nicht so sicher.

Scarlet hatte zu Ende gefrühstückt. Ich berührte ihre Hand. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Wenn ich sie berührte, konnte ich mit ihr sprechen. Das war nur möglich, weil Scarlet ein magisches Ritual mit mir durchgeführt hatte.

„Komm in mein Zimmer“, flüsterte sie.

Wir wohnten beide im ersten Stock. Mein Zimmer war eine schmale dunkle Kammer, in der nur ein Sofa und ein Kleiderkasten Platz hatten.

Allein unterwegs

Scarlets Zimmer war hell, freundlich und geräumiger als meines. In einer Ecke stand ein riesiges Bett, gegenüber ein breites weiches Sofa, in das man sich hineinkuscheln konnte. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, und an der Wand daneben hingen Zeichnungen. Scarlet konnte nämlich wundervoll zeichnen und malen. Auf einem Sessel vor dem Schreibtisch lagen Kleidungsstücke. „Wir wollen es mit der Ordnung nicht übertreiben“, verkündete Scarlet gerne.

„Setz dich“, forderte sie mich nun auf. Ich hatte es mir jedoch längst auf dem Sofa gemütlich gemacht. Scarlet wirkte sehr aufgeregt. Abraham hatte überraschend angerufen.

„Ich fahre heute mit Abraham in die Stadt. Ich werde von ihm persönlich abgeholt. Er hat noch eine Überraschung für mich, bevor er abreist“, berichtete sie, ohne mir zu verraten, worum es ging.

„Was wirst du unternehmen, wenn ich weg bin?“, erkundigte sich Scarlet.

Ich werde voller Sehnsucht darauf warten, bis du wiederkommst, hätte ich am liebsten geantwortet. Stattdessen sagte ich: „Mir wird sicher etwas einfallen, ich komme schon klar.“