Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Erster Teil: Die ersten Anzeichen
    1. Kapitel 1
    2. Kapitel 2
    3. Kapitel 3
    4. Kapitel 4
    5. Kapitel 5
    6. Kapitel 6
    7. Kapitel 7
    8. Kapitel 8
    9. Kapitel 9
    10. Kapitel 10
    11. Kapitel 11
    12. Kapitel 12
    13. Kapitel 13
    14. Kapitel 14
    15. Kapitel 15
    16. Kapitel 16
    17. Kapitel 17
    18. Kapitel 18
  8. Zweiter Teil: Die Wächter
    1. Kapitel 19
    2. Kapitel 20
    3. Kapitel 21
    4. Kapitel 22
    5. Kapitel 23
    6. Kapitel 24
    7. Kapitel 25
    8. Kapitel 26
    9. Kapitel 27
    10. Kapitel 28
    11. Kapitel 29
    12. Kapitel 30
    13. Kapitel 31
    14. Kapitel 32
    15. Kapitel 33
    16. Kapitel 34
    17. Kapitel 35
    18. Kapitel 36
    19. Kapitel 37
    20. Kapitel 38
    21. Kapitel 39
    22. Kapitel 40
    23. Kapitel 41
    24. Kapitel 42
  9. Dritter Teil: Tokamak
    1. Kapitel 43
    2. Kapitel 44
    3. Kapitel 45
    4. Kapitel 46
    5. Kapitel 47
    6. Kapitel 48
    7. Kapitel 49
    8. Kapitel 50
    9. Kapitel 51
    10. Kapitel 52
    11. Kapitel 53
    12. Kapitel 54
    13. Kapitel 55
    14. Kapitel 56
    15. Kapitel 57
    16. Kapitel 58
    17. Kapitel 59
    18. Kapitel 60
    19. Kapitel 61
    20. Kapitel 62
    21. Kapitel 63
    22. Kapitel 64
    23. Kapitel 65
    24. Kapitel 66
    25. Kapitel 67
    26. Kapitel 68
    27. Kapitel 69
    28. Kapitel 70
    29. Kapitel 71
    30. Kapitel 72
  10. Epilog

Über dieses Buch

Ein Kind, das vom Ende der Welt kommt und ein geheimes Wissen in sich trägt. Gnadenlose Mörder, die seinen Tod wollen.

Eine Frau, die alles tun wird, um es zu retten.

Eine Reise, die die Gesetze des wissenschaftlich Erklärbaren außer Kraft setzt und bis in die Tiefen der mongolischen Taiga führt …

Dort, wo der steinerne Kreis über Leben und Sterben bestimmt. Dort, wo der letzte Kampf ausgetragen wird.

Dort, wo Mensch, Tier und Geist eins werden.

Die Apokalypse kann kommen.

Über den Autor

Jean-Christophe Grangé, 1961 in Paris geboren, war als freier Journalist für verschiedene internationale Zeitungen (Paris Match, Gala, Sunday Times, Observer, El Pais, Spiegel, Stern) tätig. Für seine Reportagen reiste er zu den Eskimos, den Pygmäen und begleitete wochenlang die Tuareg. »Der Flug der Störche« war sein erster Roman und zugleich sein Debüt als französischer Topautor im Genre des Thrillers. Jean-Christophe Grangés Markenzeichen ist Gänsehaut pur. Frankreichs Superstar ist inzwischen weltweit bekannt für unerträgliche Spannung, außergewöhnliche Stoffe und exotische Schauplätze. Viele seiner Thriller wurden verfilmt. In Deutschland bereits erschienen sind seine Romane »Der Flug der Störche«, »Die purpurnen Flüsse«, »Der steinerne Kreis«, »Das Imperium der Wölfe«, »Das schwarze Blut« und »Das Herz der Hölle.«

Jean-Christophe Grangé

Der steinerne Kreis

Thriller

Aus dem Französischen von
Barbara Schaden

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Virginie Luc

Erster Teil
Die ersten Anzeichen

Kapitel 1

Insgesamt hatte Diane Thiberge genau achtundvierzig Stunden zur Verfügung.

Vom Flughafen Bangkok musste sie mit einem Inlandsflug nach Phuket weiterreisen und von dort aus mit einem Leihwagen in nördlicher Richtung nach Takuapa an der Küste der Adamanensee fahren. Dort würde sie eine kurze Nacht im Hotel verbringen und sich um fünf Uhr morgens wieder auf den Weg machen, immer weiter nach Norden. Zu Mittag wäre sie dann in Ranong an der Grenze zu Birma, wo sie noch die Mangrove überwinden musste, um ans Ziel ihrer Reise vorzudringen. Danach brauchte sie nur auf demselben Weg zurückzukehren und am darauffolgenden Abend die Maschine nach Paris zu erwischen. Die Zeitverschiebung arbeitete zu ihren Gunsten – sie würde gegenüber der Pariser Zeit fünf Stunden gewinnen und konnte am Montagmorgen, dem 6. September 1999, wieder im Büro sein. Wie eine Blume.

Aber die Maschine nach Phuket kam nicht.

Überhaupt lief nichts wie geplant.

Mit verkrampftem Magen stürmte Diane zu den Toiletten. Wie eine Welle schwappte die Übelkeit über ihr zusammen, und sie sagte sich: Es ist der Jetlag, mit meinem Vorhaben hat das gar nichts zu tun. Im nächsten Augenblick übergab sie sich, bis ihre Eingeweide ihr in der Kehle brannten. Das Blut hämmerte in den Adern, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn, und das Herz raste, irgendwo und überall in ihrem Körper. Sie musterte sich im Spiegel. Sie war aschgrau. In diesem Land kleiner glatthaariger brünetter Menschen fühlte sie sich mit ihren blonden Locken mehr denn je fehl am Platz, und noch viel absurder war ihre Größe – diese enorme Körpergröße, die ihr seit ihrer Jugend zu schaffen machte.

Diane wusch sich das Gesicht, säuberte den goldenen Ring im linken Nasenloch, rückte ihre runde Hippiebrille zurecht und kehrte in die Transithalle zurück, umwallt von ihrem weiten T-Shirt wie ein Geist. Der klimatisierte Raum schien ihr eisig.

Wieder studierte sie die Abflugtafel. Keine Ankündigung für Phuket. Sie ging ein paar Schritte. Ihr Blick fiel auf die überall ausgehängten Warnungen – zweisprachig, auf Thai und auf Englisch: Wer innerhalb Thailands im Besitz harter Drogen verhaftet wird, hat mit dem Tod durch Erschießen zu rechnen. Im selben Moment gingen hinter ihr zwei Polizisten vorbei. Kakiuniformen. Gewehre mit geriffeltem Kolben. Sie biss sich auf die Lippen: Alles an diesem verfluchten Flughafen erschien ihr feindselig.

Sie setzte sich und versuchte ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen. Zum tausendsten Mal an diesem Vormittag ging sie die Einzelheiten ihrer Reise durch. Sie musste es schaffen. Es war ihre Entscheidung. Ihr Leben. Sie konnte nicht unverrichteter Dinge nach Paris zurückkehren.

Um zwei Uhr nachmittags hob die Maschine nach Phuket endlich ab. Diane hatte fünfeinhalb Stunden verloren.

Erst hier, in Phuket, erkannte sie die Tropen wieder. Es war eine Erleichterung. Bläuliche Wolkenstreifen zogen sich den Horizont entlang, am Himmel blitzten silberne Feuer. Farblose Bäume flimmerten neben der Landebahn, über die der Staub in aufgeschreckten Spiralen wirbelte. Und dann, vor allem, der Geruch. Der Monsungeruch, heiß, drückend, schwer von Früchten, Feuchte und Fäulnis. Die Trunkenheit des Lebens, wenn es die Schwelle überschreitet und Verwesung wird. Diane schloss die Augen vor Entzücken und hätte sich am liebsten auf der Gangway lang ausgestreckt.

Sechzehn Uhr.

Sie hastete zum Schalter der Autovermietung, riss der Angestellten den Schlüssel aus der Hand und lief zu ihrem Wagen. Unterwegs fing es an zu regnen. Zuerst nur ein paar Tropfen, doch gleich darauf folgten wahre Sturzbäche, die auf das Wagendach hämmerten und einen ohrenbetäubenden Lärm erzeugten. Gegen die rötliche Schlammflut waren die Scheibenwischer machtlos. Diane klammerte sich mit beiden Händen ans Steuer und fuhr mit der Nase an der Scheibe.

Achtzehn Uhr. Kurz vor Einbruch der Nacht ließ der Wolkenbruch nach, und die Landschaft funkelte im Abendrot. Leuchtend grüne Reisfelder, braune Häuser auf Pfählen, goldene Büffel mit schmalen, spitzen Hörnern. Dazwischen hin und wieder ein ziselierter Tempel mit geschwungenem Dach … Und über allem der Himmel, von Blitzen gestreift und schwarz marmoriert, über den sich rechts nun ein dunkles Rot ergoss.

Um zwanzig Uhr erreichte sie Takuapa. Erst jetzt begann sie sich zu entspannen. Trotz der Verspätung, trotz der Panik war sie noch in der Zeit.

Sie fand ein Hotel im Zentrum der Stadt, in der Nähe eines hohen Wasserturms, und aß im Freien zu Abend, unter einem kleinen Vordach. Nun fühlte sie sich schon viel besser. Der Regen, der wieder eingesetzt hatte, umhüllte sie mit einer Aura wohltuender Frische.

In diesem Moment tauchten die Mädchen auf. Kleine Mädchen, viel zu grell geschminkt, in kunstledernen, hautengen Miniröcken, die Oberkörper in winzige Tops gezwängt. Diane beobachtete sie. Zehn, zwölf Jahre, älter waren sie nicht. Die hohen Absätze Beleidigungen ihrer kindlichen Gesichter. Am anderen Ende des Saals drängten sich schon die blonden Kolosse, Deutsche oder Australier, massig wie Schlachtvieh, und Diane nahm auf einmal eine Feindseligkeit wahr, die ihr selbst galt – als störte ihre Anwesenheit die Geschäftsbeziehungen zwischen den beiden Parteien.

Ein galliger Geschmack stieg ihr in die Kehle. Noch mit knapp dreißig konnte sie den Gedanken an Sex nicht ertragen, ohne dass ihr ein Abscheu, ein unbezähmbarer Ekel den Hals zuschnürte. Sie floh in ihr Zimmer ohne einen Blick zurück, ohne das geringste Mitgefühl mit diesen Kindern, die nun der männlichen Gier ausgeliefert waren.

Dann lag sie unter dem Moskitonetz und dachte wieder an ihr Ziel. Kurz bevor sie einschlief, sah sie die Warntafeln vom Flughafen vor sich, die Uniformen der Polizisten, die Kolben ihrer Waffen, und meinte in der Ferne das Klacken eiserner Riegel zu hören und dahinter das Dröhnen eines Hubschraubers …

Um fünf Uhr morgens war sie wieder auf den Beinen. Von der Übelkeit war nichts mehr zu spüren. Die Sonne schien, das Fenster öffnete sich auf eine üppig blühende Pracht – es war wie der Ausblick durch das Bullauge eines Schiffs auf einen Urwald. Diane war in der Stimmung, notfalls den gesamten Dschungel umzugraben.

Sie machte sich wieder auf den Weg und war am späten Vormittag in Ranong. Genau wie geplant. Sie erspähte das Meer: Es sah eher aus wie ein verschwommener Streifen aus morastigen Tümpeln, die sich zwischen ein Geflecht von Bäumen direkt über dem Wasser schoben. Irgendwo am Ende dieses Wasserlabyrinths verbarg sich die Grenze zu Birma. Ein Fischer erklärte sich wortlos bereit, sie mitzunehmen, und gleich darauf glitten sie durch das schwarze Wasser. Die Hitze, das Licht, die vorüberziehenden grünen Mauern: Mit ausgedörrter Kehle und prickelnder Haut nahm Diane jede Empfindung stoisch hin.

Eine Stunde später erreichten sie eine Landzunge, auf der mehrere Gebäude aus Beton aufragten. Sie setzte einen Fuß auf den Sand und verspürte ein Triumphgefühl wie ein kleines Mädchen: Sie hatte es geschafft. Nirgendwo auf dem Planeten gab es einen Ort, zu dem sie nicht vordringen konnte …

Vor der Poliklinik tobten Kinder herum, gleichgültig gegen die mittägliche Gluthitze. Diane betrachtete die schwarzen Mähnen, die dunklen Augen unter den geschwungenen Wimpern. Sie betrat das Hauptgebäude und fragte nach Térésa Maxwell. Der Schweiß rann an ihr herab, und es kam ihr vor, als durchschritte sie einen Spiegel. Einen Spiegel, den sie sich so oft herbeigeträumt hatte, dass er beinahe blind war.

Eine alte Frau erschien, in einen dunkelblauen Pullover gekleidet, aus dem ein breiter weißer Kragen ragte. Modell Tortenheber. Das breite, eigentlich gutmütige Gesicht unter den kurzen grauen Haaren schien zu einer Miene ständigen Argwohns erstarrt. Diane stellte sich vor. Madame Maxwell führte sie durch eine offene Galerie zu einem Büro, das bis auf einen wackligen Tisch und zwei Stühle völlig kahl war.

Diane zog ihre Akte hervor, die sie auf das Wesentliche reduziert hatte. In misstrauischem Ton fragte Térésa: »Haben Sie Ihren Mann nicht mitgebracht?«

»Ich bin nicht verheiratet.«

Das Gesicht verspannte sich. Die Frau musterte den goldenen Nasenring.

»Wie alt sind Sie?«

»Fast dreißig.«

»Sind Sie unfruchtbar?«

»Ich denke nicht.«

Térésa blätterte in den Unterlagen und murmelte vor sich hin: »Ich weiß nicht, was sich die in Paris einbilden …« Dann sagte sie, lauter, den Blick auf Diane geheftet: »Sie haben eigentlich nicht das richtige Profil, Mademoiselle. Sie sind jung, hübsch, unverheiratet – was wollen Sie hier?«

Diane fuhr auf wie unter Strom. Ihre Stimme war heiser – sie hatte zwei Tage lang kaum gesprochen: »Madame, ich habe fast zwei Jahre gebraucht, um bis zu Ihnen zu kommen. Ich musste einen endlosen Papierkrieg führen, Verhöre über mich ergehen lassen. Man hat in meiner Vergangenheit gewühlt, in meinem Privatleben, hat mein Einkommen überprüft. Ich musste mich ärztlichen Untersuchungen und psychologischen Tests unterziehen. Ich musste neue Versicherungen abschließen, bin schon zweimal nach Bangkok geflogen und habe ein Vermögen ausgegeben. Heute ist meine Akte absolut in Ordnung, absolut legal. Ich habe soeben zwölftausend Kilometer hinter mich gebracht und muss übermorgen wieder im Büro sein. Also könnten wir jetzt bitte zur Sache kommen?«

In dem Raum aus nacktem Beton trat ein Schweigen ein, das sich qualvoll in die Länge zog. Auf einmal verzog sich das Gesicht der alten Frau zu einem unerwarteten Lächeln. »Kommen Sie«, sagte sie.

Sie durchquerten einen Saal, in dem mehrere Deckenventilatoren rotierten. Vor den Fenstern blähten sich Gardinen, und durch die Luft zogen Schwaden von Karbolsäure, wie von Fieberschüben herbeigeweht. Zwischen den Reihen aus Betten mit eisernen Gitterstäben johlten, liefen, spielten, tobten Kinder aller Altersstufen, während die Aufseherinnen die Lage in den Griff zu bekommen suchten. Die Energie der Kindheit schien sich hier gegen eine süßliche Atmosphäre der Krankheit zu wehren, und tatsächlich wurden Diane bald erschreckende Details bewusst. Verkümmerungen, Narben, Gebrechen. Dianes Blick fiel auf ein Baby, das weder Hände noch Füße hatte. Térésa Maxwell bemerkte dazu: »Er kommt aus Südindien, jenseits der Andamanen. Fanatische Hindus haben ihn verstümmelt, nachdem sie seine Eltern umgebracht hatten. Moslems.«

Diane verspürte einen neuerlichen Brechreiz, und gleichzeitig kam ihr ein absurder Gedanke: Wie erträgt die Frau bei dieser Hitze einen Pullover?

Térésa ging weiter. Sie kamen in einen zweiten Saal. Wieder nur Betten. Und bunte Luftballons, die durch den Raum schwebten. Die Frau deutete zu einer Traube junger Mädchen hinüber, die sich auf einem einzigen Bett zusammendrängten: »Sie sind vom Volk der Karen. Ihre Eltern sind letztes Jahr in einem Flüchtlingslager bei lebendigem Leib verbrannt. Sie …«

Diane umklammerte jäh den Arm der Frau, bis ihre Knöchel weiß wurden. »Madame«, flüsterte sie, »ich will ihn sehen. Sofort.«

Die Direktorin lächelte ohne Fröhlichkeit. »Da ist er doch«, sagte sie.

Diane sah sich um und erblickte in einer Ecke des Saals das Ziel ihrer Reise, die Aufgabe ihres Lebens: einen einsamen kleinen Jungen, der mit Bändern aus Krepppapier spielte. Sie erkannte ihn augenblicklich – man hatte ihr Polaroidfotos geschickt. Seine Schultern waren so schmächtig, dass man meinen konnte, der Wind müsste ihm helfen, sein T-Shirt zu tragen. Sein Gesicht, viel bleicher als das der anderen, drückte eine intensive, angespannte, beinahe allzu nervöse Konzentration aus.

Térésa Maxwell verschränkte die Arme. »Er wird sechs oder sieben Jahre alt sein, genau lässt sich das nicht sagen. Wir wissen ja überhaupt nichts von ihm, weder seine Herkunft noch seine Geschichte. Wahrscheinlich ist er ein Überlebender eines Lagers. Oder der Sprössling einer Prostituierten. Er wurde in Ranong unter den Bettlern gefunden. Er lallt in einem Kauderwelsch vor sich hin, das hier keiner versteht. Zwei Silben haben wir schließlich herausgehört, die immer dieselben sind, ›lü‹ und ›sian‹. Deswegen nennen wir ihn Lü-Sian.«

Diane versuchte zu lächeln, doch ihre Lippen gehorchten ihr nicht. Sie hatte die Hitze vergessen, die Ventilatoren, ihre Übelkeit. Sie schob ein paar Luftballons zur Seite, trat auf das Kind zu und kauerte sich neben ihm nieder. Dort verharrte sie und betrachtete ihn wie ein Wunder.

»Lü-Sian, ja?«, murmelte sie. »Na, dann werden wir dich doch Lucien nennen.«

Kapitel 2

Diane Thiberge war einmal ein ganz normales Mädchen gewesen. Ein leidenschaftliches Kind, das sich allem, was es anfing, mit Konzentration und Eifer widmete. Wenn sie spielte, in sich versunken, lag in ihrer Miene so viel Ernst, dass die Erwachsenen Hemmungen hatten, sie zu stören. Wenn sie vor dem Fernseher saß, legte sie eine solche Aufmerksamkeit an den Tag, dass man meinen konnte, sie versuchte ihrem Gedächtnis jedes einzelne Bild einzuprägen. Sogar ihr Schlaf war wie ein Willensakt, eine Hingabe ihrer gesamten Person, als hätte sie sich vorgenommen, morgens munterer und lebhafter denn je aus den Federn zu springen.

Diane wuchs voller Vertrauen heran. Sie ließ sich von den Geschichten wiegen, die man den Kindern abends vor dem Zubettgehen ins Ohr flüstert. Sie betrachtete ihre Zukunft durch trügerische farbige Filter, Zeichentrickfilme, Bilderbücher, Marionettentheater. Ihr Herz war erfüllt von Flaumfedern, und ihre Gedanken kristallisierten sich wie die dicken Schneeflocken im Frühling um glückliche Gewissheiten. Sie wusste, dass es immer einen Prinzen geben würde, der sie entführte, eine Patin, die sie in ein Lichtgewand kleiden würde, wenn es Zeit war für den Ball. Alles stand schon irgendwo geschrieben, man brauchte nur zu warten.

Und Diane wartete.

Doch es waren andere Mächte, die sie mit sich rissen.

Mit zwölf Jahren fühlte sie seltsame Begierden in sich aufsteigen. Sie hatte das Gefühl, als dehnte ihr Körper sich aus und füllte sich mit Verwirrung. Sie empfand keine zarten Sehnsüchte mehr, sondern dunkle, beängstigende Triebe, die einen geheimnisvollen Schmerz in ihre Brust gruben. Sie sprach mit ihren Freundinnen darüber. Die Mädchen grinsten und zuckten die Achseln, und Diane begriff, dass sie genau dieselben Empfindungen erlebten, doch zogen sie es vor, sich hinter ihren unsicheren Schminkversuchen oder dem Rauch ihrer ersten Zigaretten zu verschanzen. Diane passten solche Ausflüchte nicht. Sie wollte sich der Realität stellen, wie auch immer sie aussah.

Im Übrigen entwickelte sie einen erbarmungslos scharfen Blick. Sie fühlte sich jetzt in der Lage, sofort alle Lügen, alle Kompromisse ihrer Mitmenschen zu entlarven. Die Welt der Erwachsenen stürzte von ihrem Sockel. Die Männer und Frauen, die man ihr stets als Vorbilder präsentiert hatte, erschienen ihr mit einem Mal als verweichlichte, hinterhältige, heuchlerische Feiglinge.

Allen voran ihre Mutter.

Eines Morgens gelangte Diane zu der Erkenntnis, dass die Frau, mit der sie zusammenlebte, sie nicht liebte, von Geburt an nie geliebt hatte. Sybille Thiberge mochte sich noch so sehr anstrengen, ihre Tochter glaubte an die Darstellung der vorbildhaften Mutter nicht mehr. Im Gegenteil, sie empfand immer größeres Misstrauen. Zu blond war sie, zu schön, zu sinnlich. Diane zählte die kleinen Details auf, die sie als Beweise der künstlichen Natur ihrer Mutter nahm, bei der sich alles nur um sie selbst und ihre Verführungskünste drehte. Die Affektiertheit, die sie zur Schau trug, sobald ein Mann ihr schmeichelte, dieses extravagante Lachen, kaum tauchte in der Umgebung ein männliches Wesen auf – das alles war unecht, kalkuliert, geziert. Sie war eine Lüge von Kopf bis Fuß – und das Zusammenleben von Mutter und Tochter eine einzige Verstellung.

Den Beweis bekam sie, als sich der Unfall ereignete, im Juni 1983, als Diane allein von der Hochzeit ihrer Patentante Isabelle Ybert zurückkehrte. Sybille hatte es vorgezogen, am Arm ihres neuesten Liebhabers eigene Wege zu gehen. »Der Unfall.« Die Bezeichnung war keineswegs zutreffend, doch so pflegte Diane das Unglück zu nennen, das ihr in den Gassen von Nogent-sur-Marne zugestoßen war. Noch als Erwachsene weigerte sich sich, daran zu denken. Geblieben war ihr nur ein Splitter Zeit, in dem Weidenlaub und ferne Lichter blitzten und ein vermummter Kopf keuchte, ganz nah … Und wenn sie ein Zweifel an der Realität des Ereignisses beschlich, brauchte sie nur die feinen Narben zu betasten, die sich unter ihren Schamhaaren wölbten.

Das Mädchen wusste nicht, wie ein derartiger Alptraum Wirklichkeit hatte werden können, doch eines wusste sie mit Sicherheit: Es war die Schuld ihrer Mutter. Wegen ihres Egoismus, ihrer absoluten Gleichgültigkeit gegen alles, was nicht mit ihren muskulösen Hinterbacken und der wilden Begierde ihrer Liebhaber zu tun hatte, die einen unheilvollen Kreis um sie zogen. Hatte sie ihre Tochter nicht genau aus diesem Grund allein nach Hause geschickt? Hatte sie nicht Diane einfach vergessen? Der Angriff war der Beweis, der sie überführte, ein für alle Mal.

Diane war knapp vierzehn. Sie erzählte Sybille kein Wort. Ihre Rache schien ihr vollständiger, gelungener, wenn sie ihre Mutter in Unkenntnis des Dramas ließ. Allein leckte sie ihre Wunden und verschloss ihr Leid über dem Geheimnis. Dafür verlangte sie, mit dem Beginn des nächsten Schuljahrs ins Internat geschickt zu werden. Sybille sträubte sich eine Zeit lang der Form halber, doch dann gab sie der Forderung nach und war in Wahrheit nur zu glücklich, dass sie diese wortkarge Bohnenstange, in der ihr auf amourösem Gebiet allmählich eine Konkurrenz heranwuchs, endlich los war.

Wortkarg, das war Diane allerdings. Weil sie nachdachte. Sie zog Lehren aus ihrem Erlebnis. Die Welt war in Wahrheit nichts als Gewalt, Verrat, Unheil. Das Leben beruhte auf dieser unbezähmbaren Kraft, diesem verhärteten Knoten des Hasses in der Seele jedes Menschen, der sich beim geringsten Anlass entzünden konnte. Diane nahm sich vor, diese Macht zu studieren. Die strukturelle Gewalt der Welt zu begreifen, zu beobachten, zu analysieren.

Sie fasste zwei Entschlüsse.

Der erste: nach dem Abitur Biologie und Ethologie zu studieren – die Wissenschaft vom Verhalten der Tiere. Ihr Spezialgebiet kannte sie bereits: Raubtiere. Und im besonderen die Jagd- und Kampftechniken, mit deren Hilfe die Raubkatzen, Reptilien, ja die Insekten über ihr Revier herrschten und überlebten, indem sie andere vernichteten. Für sie war es eine Möglichkeit, direkt ins Wesen der Gewalt einzutauchen. Einer natürlichen Gewalt, frei von jeglicher Moral und jedem anderen Beweggrund als der einfachen Logik des Lebens. Vielleicht war es auch eine Möglichkeit, ihren »Unfall« zu legitimieren, das Grauen zu lindern, indem sie die Gewalt als solche in eine umfassendere, universalere Logik einordnete.

Soviel zur geistigen Ebene.

Auf der körperlichen Ebene entschied sich Diane für Wing-Tsun.

Wörtlich: »ewiger Frühling«. Wing-Tsun ist die schnellste, effizienteste Variante des Shaolin-Boxens. Eine Technik, die den Nahkampf bevorzugt und angeblich von einer buddhistischen Nonne entwickelt worden war. Mit Beginn des Schuljahrs 1983 schrieb sich Diane an einer Schule nahe ihrem Internat in der Umgebung von Fontainebleau ein. Bereits im ersten Jahr bewies sie ein durchaus ungewöhnliches Talent. Zu dem Zeitpunkt maß sie über eins fünfundsiebzig und wog knapp fünfzig Kilo. Trotz ihrer stangenförmigen Erscheinung legte sie die Geschmeidigkeit einer Akrobatin und eine außerordentliche Muskelkraft an den Tag.

Ihre Lehrer, die sich ihrer Fähigkeiten bewusst waren, boten ihr eine vertiefte Ausbildung an, einschließlich einer Einführung ins wu-te, der Tugend der martialischen Disziplin. Diane lehnte ab. Von Philosophie oder gar kosmischer Energie wollte sie nichts hören. Sie hatte nichts anderes im Sinn, als ihren Körper zu schmieden wie eine Waffe, um nie, niemals mehr das junge Mädchen zu sein, das man überrumpeln konnte.

Die Meister, weise und unbeugsame Asiaten, gerieten durch ihre aggressive Reaktion ein wenig aus der Fassung, doch sie hatten eine außerordentliche Kämpferin vor sich, das wussten sie, und Philosophie hin oder her – solche Begabungen waren selten.

Das Training wurde verstärkt. Wettkampf folgte auf Wettkampf. 1986 errang die Schülerin Thiberge den Titel der französischen Jugendmeisterin. 1987 gewann sie bei den Europameisterschaften den silbernen und im Jahr darauf den goldenen Gürtel. Ihre Siege erfolgten blitzschnell. Die Schiedsrichter waren verdutzt und das Publikum ein wenig enttäuscht. Diane, die immer nahe war, immer nach vorn geneigt, wankte nie und hielt den Blick stets auf die Hände ihrer Gegnerinnen geheftet. Während die Mädchen noch nach einer Lücke suchten, lagen sie schon mit beiden Schultern auf dem Boden.

Nichts schien den Aufstieg der jungen Athletin aufhalten zu können. Doch im Jahr 1989 verzichtete Diane auf die Teilnahme an den Wettkämpfen. Sie war knapp zwanzig, und wie durch ein Wunder hatte ihr Gesicht nie einen Schlag abbekommen, ihr Körper nie eine ernsthafte Verletzung davongetragen. Damit wäre es früher oder später vorbei, das wusste sie – und ohnehin, fand sie, hatte sie ihr Ziel erreicht.

Sie war geworden, was sie sich vorgenommen hatte: ein in jeder Hinsicht gefährliches Mädchen, dem man lieber nicht zu nahe kam.

Kapitel 3

Diane Thiberge hörte damals Frankie Goes to Hollywood, mit einem winzigen Walkman und voll aufgedrehten Bässen. Sie liebte diese Gruppe. Weil sie am Schnittpunkt mehrerer, scheinbar unvereinbarer Richtungen stand, die sie auf geniale Weise zu einem grandiosen Sound verband.

Schon deshalb, weil sie eine Gruppe knallharter Burschen waren, Straßenjungen direkt aus Liverpool. Außerdem waren sie eine Post-Disco-Band und hatten ein Gefühl für Rhythmik, für Groove entwickelt, der jeden Discobesucher im Handumdrehen mitriss. Schließlich war Frankie eine Schwulen-Band. Und das war das Verrückteste daran: Diese geballte Wucht aus Gebrüll, barbarischen Rhythmen und kämpferischen Parolen kam von einer Bande von Irren, die direkt vom Hof Ludwigs XIII. zu stammen schienen, und diese Kombination verlieh den Musikern eine unglaubliche Leichtigkeit, Beweglichkeit und Wendigkeit, die ihnen niemand so leicht nachmachte. Das fünfte Bandmitglied spielte überhaupt kein Instrument, sondern sang nur, tanzte nur, er war der »Mann in Bewegung« im Hintergrund der Bühne, der unter seiner Lederjacke die Schultern rollen ließ. Diane überlief jedesmal ein Schaudern: Jawohl, Frankie war eine Wahnsinnsband.

Die langen Nächte der Studentin beschränkten sich allerdings mehr oder weniger aufs Musikhören. Sie ging nicht aus, tanzte nicht, traf sich mit niemandem, sondern konzentrierte sich ganz auf ihr Studium der Ethologie, saß allabendlich in ihrer Bude im Viertel Cardinal-Lemoine, vertieft in Konrad Lorenz und Johann von Uexküll, und ernährte sich von Hamburgern.

Aber einmal, an einem Abend, wollte sich Diane doch ins Gewühl stürzen.

Nathalie, die kleine Pest aus dem Biologieseminar, die es verstand, sich alles unter den Nagel zu reißen, was der Fachbereich zu bieten hatte, veranstaltete ein Fest, und Diane wollte hingehen.

Es war der richtige Augenblick: jetzt oder nie.

Der ideale Anlass, um die Probe aufs Exempel zu machen.

Später dachte Diane oft an diese entscheidende Nacht zurück. Die Ankunft in dem Mietshaus aus Quadersteinen am Boulevard Saint-Michel, die Stille im Treppenhaus, der Veloursteppich auf den Stufen. Dann das dumpfe Hämmern der Bässe, das aus einem der oberen Stockwerke drang. Sie versuchte ihr rasendes Herz zu besänftigen, das synkopisch zu den tiefen Rhythmen von oben schlug, und umklammerte den eisigen Hals der Champagnerflasche, die sie eigens besorgt hatte. Als sie oben vor der Wohnung stand, war der rhythmische Lärm so ohrenbetäubend, dass er die breite lackierte Holztür aus den Angeln zu sprengen drohte. Die hören mich nie, dachte sie, während sie auf die Klingel drückte.

Doch beinahe augenblicklich ging die Tür auf, und ein Schwall Musik quoll heraus. Diane erkannte sofort die Stimme von Holly Johnson, dem Sänger von Frankie, der brüllte: »RELAX! DON’T DO IT!« Das war ein günstiges Vorzeichen: Ihre geliebte Band, ihr Fetisch, begleitete sie bei der Prüfung. Eine Dunkelhaarige mit knochigen Gesichtszügen unter einem übertrieben grellen Make-up wippte auf der Türschwelle auf und ab. Nathalie-die-Medusa in Person.

»Diane!«, schrie sie. »Das ist ja supertoll, dass du kommst …«

Diane lächelte über die Lüge, während Nathalie sie von Kopf bis Fuß musterte. Diane trug eine schwarze Weste mit Perlmuttknöpfen und eine enganliegende lange Hose aus dunklem Molton – diesem Stoff, der damals unumschränkt über die Körper junger Mädchen herrschte. Im Übrigen war sie in einen riesigen wattierten Mantel gehüllt, der ebenfalls schwarz war.

»Bist du mit Schlafanzug und Bettdecke gekommen?«, fragte Nathalie grinsend.

Diane fasste mit Daumen und Zeigefinger das schwarze Taftkleid des Mädchens an.

»Ist doch ein Kostümfest, oder?«

Nathalie brach in Gelächter aus. Sie nahm ihr die Champagnerflasche ab und forderte sie brüllend auf: »Komm rein. Tu deine Sachen in das Zimmer da hinten.«

Drinnen tobte das Fest. Nachdem Diane ihren Mantel abgelegt hatte, bezog sie in der Nähe des Buffets Stellung, dem traditionellen Ankerplatz für alle, die niemanden kennen. Sie hatte sich vorgenommen, keinen Alkohol anzurühren, um einen klaren Kopf zu behalten, was auch immer geschah. Doch nach einer Stunde Langeweile war sie bereits beim dritten Glas angelangt. Sie nippte in kleinen Schlucken, während sie zur Tanzfläche hinüberschaute.

Die Uhr lief.

Zwar hatte Diane mit Festen dieser Art nicht viel Erfahrung, doch der rituellen Zyklen, die dabei abliefen, war sie sich jedenfalls bewusst. Um Mitternacht begann das Vorspiel. Die Mädchen tanzten, wirbelten herum, stellten sich mit übertriebenen Hüftschwüngen und Schütteln ihrer langen Mähnen zur Schau, während die Jungen sich im Hintergrund hielten, verstohlene Blicke warfen, mit flotten Sprüchen den Kontakt einleiteten …

Um zwei Uhr morgens begann eine neue Phase, das Fest begann zu brodeln, die Musik nahm an Lautstärke zu. Der Alkohol überwand jede Hemmung, alle Hoffnungen waren erlaubt. Die Jungen schritten zur Tat, brüllten über die Menge hinweg, suchten sich ihre Beute. Wieder war es Frankie, der die Menge bis zur Raserei aufpeitschte. Two Tribes. Ein Protestsong gegen den Krieg, unterlegt von einem wilden Beat, von dem Diane jede einzelne Note, jeden einzelnen Riff kannte.

Nun überließ auch sie sich der Musik. Sie stürzte sich ins Gewühl und verbarg, so gut es ging, ihre heuschreckenartigen Gliedmaßen. Sie bemerkte etliche Blicke in ihre Richtung und traute ihren Augen nicht. Schüchtern über alle Maßen, wusste sie doch, dass sie selbst noch mehr einschüchterte. In den meisten Fällen hielten ihre Schönheit, ihre Lockenmähne und ihre enorme Größe alle Kandidaten in gebührendem Abstand. Aber an diesem Abend war es anders: Ein paar ganz besonders Verwegene wagten es tatsächlich, sie anzusprechen.

Sie spürte jetzt, wie ihr Körper sich in leichten Spiralen auflöste und über dem Hämmern des Schlagzeugs schwebte, zwischen den anderen kreiste. In diesem Augenblick griff ein Typ nach ihrer Hand und wollte einen Rock ’n’ Roll tanzen. Auf allen Tanzflächen der Welt gibt es immer einen, der sich in den Kopf setzt, jedem beliebigen Rhythmus irgendwelche komplizierten Schritte aufzuzwingen. Diane wich sofort zurück. Der andere ließ sich nicht abschrecken. Abwehrend hob sie beide Handflächen. Nein. Sie tanzte keinen Rock ’n’ Roll. Nein. Sie ließ sich von keinem bei der Hand nehmen. Sie ließ sich überhaupt von niemandem irgendwo anfassen. Der Typ fing an zu lachen und verschwand in der Menge.

Einen Moment lang stand sie da wie versteinert und starrte auf ihre Hand, als hätte sie sich bei der Berührung verbrannt. Sie wankte, wich zurück bis zur Wand und ließ sich daran zu Boden gleiten. Neben sich fand sie ein halb volles Glas. Sie leerte es in einem Zug und hielt sich krampfhaft daran fest, reglos. Die Trauer überwältigte sie. Die erlebte Szene brachte ihr wieder die grausame Wahrheit zu Bewusstsein: Sie konnte nicht die geringste Berührung ertragen. Keine Liebkosung, nicht einmal ein flüchtiges Streifen ihrer Haut. Jedweder Körperkontakt war ihr unerträglich.

Um drei Uhr morgens nahm die Musik eine esoterische Wendung: O Superman von Laurie Anderson. Ein eigenartiges Wiegenlied, durchsetzt von hypnotisierendem Seufzen. Es war die Stunde der letzten Chancen. Im Halbdunkel waren nur noch ein paar vereinsamte Gestalten übrig, die sich im Rhythmus dieses Singsangs wiegten. Ein paar hartnäckige Jäger und ein paar arme Mädchen, die sich nicht geschlagen geben wollten.

Diane musterte die aufgelösten Gesichter, die schwankenden Schatten und hatte den Eindruck, sie betrachtete ein von Verwundeten und Sterbenden übersätes Schlachtfeld. Sie ging ihren Mantel holen und strich dann unauffällig entlang dem von leeren Flaschen überquellenden Buffet zur Wohnungstür. Im Geist war sie bereits draußen, stellte sich die kalte Luft vor, die sie wieder so weit ausnüchtern würde, dass sie über ihr Scheitern ausgiebig nachdenken konnte.

In diesem Augenblick spürte sie zwei Hände, die sich von hinten um ihre Taille legten.

Sie fuhr herum, an das Buffet gelehnt, gespannt wie ein Bogen.

Drei Kerle umringten sie und verströmten intensiven Alkoholdunst.

»He, Leute, da gibt’s tatsächlich noch was abzusahnen …«

Einer der Angreifer streckte von neuem die Hände nach ihr aus. Diane entzog sich ihm mit einem Hüftschwung und drehte sich wieder zum Tisch. Sie legte ihren Mantel ab, erspähte ein volles Glas und tat, als wollte sie trinken. Einen Augenblick lang dachte sie, die drei hätten aufgegeben, doch ein alkoholschwerer Atem hauchte ihr in den Nacken. Das Glas zerbarst zwischen ihren Fingern. Eine Scherbe trug Lippenstiftspuren. Diane drückte ihre Handfläche darauf und spürte, wir ihr das Glas ins Fleisch schnitt.

»Haut ab, lasst mich in Ruhe«, murmelte sie.

Die Burschen hinter ihr rückten glucksend näher.

»Oh-oh, zieren wir uns?«

Heiße Tränen traten ihr in die Augen und rannen ihr unter der Brille hervor über die Wangen. Langsam und deutlich sagte sie sich: Tu’s nicht. Aber einer der Betrunkenen gab jetzt saugende Geräusche von sich, direkt in ihr Ohr, und lallte etwas von Miezen und Würsten und Pelz, und sie dachte wieder: Tu’s nicht. Aber sie hatte bereits die Brille abgelegt und ihre Mähne zu einem Knoten geschlungen. Während sie noch mit ihrem Haar beschäftigt war, hatte einer der Burschen eine Hand unter ihre Weste geschoben, sie spürte die Wärme seiner tastenden Finger auf ihrer Brust, während eine feixende Stimme säuselte: »Mach mich nicht an, Süße, sonst …«

Das Knacken eines gebrochenen Kiefers blendete kurz die Musik von Art of Noise aus.

Der Typ wurden gegen den Kamin geschleudert und prallte mit dem Gesicht gegen eine Marmorkante. Diane hatte ihm einen Schlag mit dem Ellenbogen versetzt – jang tow. Noch einmal dachte sie: NEIN, doch gleichzeitig schoss ihre Hand vor und wie ein Rammbock in die Rippen des zweiten Gegners, die ein trockenes Splittern von sich gaben. Er landete auf dem Buffet, das unter Getöse zusammenbrach.

Diane rührte sich nicht mehr. Eines der Grundprinzipien von Wing-Tsun ist der äußerst sparsame Gebrauch von Kraft und Atem. Der letzte Angreifer hatte sich aus dem Staub gemacht. Erst jetzt wurde sie sich der entgeisterten Mienen, des verlegenen Raunens ringsum bewusst. Sie setzte ihre Brille wieder auf. Sie war selbst befremdet – nicht von ihrer Gewalttätigkeit oder dem Skandal. Sondern von ihrer eigenen Ruhe.

Irgendwo hinter ihr fing Nathalie zu kreischen an: »Bist du jetzt komplett durchgeknallt, oder was?«

Diane drehte sich langsam zu ihr um und erklärte: »Tut mir leid.«

Sie durchquerte das Zimmer, dann wiederholte sie über die Schulter, schreiend: »Tut mir leid!«

Der Boulevard Saint-Michel war genau so, wie sie gehofft hatte.

Menschenleer. Eisig. Hell erleuchtet.

Diane marschierte unter Tränen, gedemütigt und erleichtert zugleich. Jetzt hatte sie den Beweis, auf den sie gewartet hatte. Den Beweis, dass ihr Leben für immer genau so verlaufen würde: außerhalb des Kreises, fern von den anderen. Und wieder dachte sie an das Ereignis, mit dem alles begonnen hatte, diese grausame Szene, die ihre natürlichsten Impulse zerstört und rund um ihren Körper eine Festung errichtet hatte: unsichtbar, unverständlich – und uneinnehmbar.

Sie sah die Weiden wieder vor sich, die Lichter.

Sie spürte den Knebel aus Gras im Mund, den Atem unter der Vermummung.

Und sie sah auch mit einer Aufwallung von Hass das Gesicht ihrer Mutter – doch dann lächelte sie müde: An diesem Abend hatte sie nicht mehr die Kraft, irgendjemanden zu hassen. Sie erreichte die Place Edmond-Rostand, im Brunnen spiegelten sich die Lichter, und links von ihr raschelte leise das freundliche Laub des Jardin du Luxembourg. Spontan reckte sie sich und berührte mit den Fingerspitzen die Blätter an den Ästen, die über das schwarz-goldene Gitter hingen.

Mit einem Mal fühlte sie sich so leicht, dass sie meinte, nie wieder fallen zu können.

Dies geschah am Samstag, dem 18. November 1989. Diane Thiberge war soeben zwanzig geworden, aber sie wusste: Ihr Leben als junges Mädchen hatte sie für immer begraben.

Kapitel 4

»Brauchen Sie etwas?«

»Nein, danke.«

»Sicher nicht?«

Diane sah auf. Die Stewardess – blaues Kostüm und purpurnes Lächeln – bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. Einem Blick, der sie endgültig in Harnisch brachte. Sie mühte sich damit ab, die Fleischstücke des »Juniormenüs« zu zerkleinern, das man dem kleinen Jungen kurz nach dem Start in Bangkok vorgesetzt hatte, aber das Plastikbesteck verbog sich unter ihren Fingern, und mit ihren hektischen Gesten brachte sie nichts weiter fertig, als das Essen in der Schüssel zu zermanschen. Sie hatte das Gefühl, alle beobachteten sie und weideten sich an ihrer Ungeschicktheit, ihrer Nervosität.

Die Stewardess ging weiter. Diane hielt dem Jungen wieder einen Bissen hin. Er weigerte sich, den Mund zu öffnen. Das Blut schoss ihr in die Wangen, und sie fühlte sich vollkommen hilflos. Wieder dachte sie an den Anblick, den sie bot mit ihrem hochroten Kopf, ihren zerzausten Haaren und ihrem schwarzäugigen kleinen Jungen. Wie oft hatten die Stewardessen genau diese Szene schon beobachtet? Aufgelöste, desorientierte Europäerinnen, die ihr künftiges Schicksal mit nach Hause nahmen?

Die blaue Gestalt tauchte wieder auf. »Bonbons vielleicht?«

Diane lächelte angestrengt. »Nein, wirklich: Es ist alles bestens.«

Wieder versuchte sie dem Jungen einen Bissen einzuflößen, doch es war vergeblich. Das Kind starrte unverwandt auf den Bildschirm, auf dem ein Zeichentrickfilm lief. Sie sagte sich, dass eine verweigerte Mahlzeit keine Staatsaffäre ist, schob das Tablett beiseite und setzte Lucien die Kopfhörer auf. Dann zögerte sie. Sollte sie den englischsprachigen Kanal einstellen? Den französischen? Oder einfach nur Musik? Alles verunsicherte sie, selbst das geringste Detail. Sie entschied sich für den Musikkanal und stellte behutsam die Lautstärke ein.

Die Tabletts wurden eingesammelt, und im Flugzeug kehrte Ruhe ein. Die Beleuchtung war gedämpft, Lucien döste bereits. Diane streckte ihn auf den beiden freien Sitzen neben ihr aus, dann machte sie es sich selbst bequem und breitete die Decke der Fluggesellschaft über sich. Auf Langstreckenflügen war ihr dies sonst die liebste Stunde: die gedämpfte Beleuchtung, der flimmernde Bildschirm in der Ferne, die Passagiere reglos, zusammengekauert wie Kokons unter ihren Decken und ihren Kopfhörern … Dann schien alles zu treiben, zwischen Schlaf und Höhe zu schweben, irgendwo über den Wolken.

Diane lehnte den Kopf zurück und zwang sich zur Reglosigkeit. Nach und nach entspannten sich ihre Muskeln, die Schultern sanken herab, und eine tiefe Ruhe strömte durch ihre Adern. Mit geschlossenen Augen ließ sie auf dem schwarzen Hintergrund ihrer Lider die einzelnen Etappen vorüberziehen, die sie hierher geführt hatten, an diesen entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens.

Die sportlichen Leistungen und mondänen Erfolge lagen weit zurück. Im Jahr 1992 hatte Diane cum laude in Verhaltensforschung promoviert. Ihre Doktorarbeit trug den Titel »Die Jagdstrategien und die Strukturierung des Reviers bei den großen Raubtieren im Nationalpark Massai Mara, Kenia«. Gleich danach hatte sie für mehrere private Stiftungen gearbeitet, die für die Erforschung und den Schutz der Natur erhebliche Summen ausgaben. Diane war durch Schwarzafrika, Südostasien und Indien gereist, vor allem durch Bengalen, wo sie an einem Programm zur Rettung des Tigers im Gebiet der Sundarbands mitarbeitete. Außerdem hatte sie eigenverantwortlich eine einjährige Studie über das Verhalten der kanadischen Wölfe durchgeführt, die sie beobachtet und bis an die Grenze der Nordwestterritorien, des nördlichsten Landesteils, begleitet hatte.

Sie führte nun das Leben einer Forschungsreisenden, immer unterwegs und immer allein, der Natur so nahe wie möglich und letztlich weitgehend im Einklang mit den Träumen ihrer Kindheit. Entgegen allen Erwartungen, trotz ihres Traumas und ihrer geheimen Defizite hatte Diane eine Art von Glück gefunden, das sie mit niemandem teilte, und war stark durch ihre Unabhängigkeit.

Aber im Jahr 1997 sah sie ein neues schicksalhaftes Datum auf sich zukommen: Auf einmal wurde sie sich bewusst, dass sie bald dreißig war.

An sich bedeutete der dreißigste Geburtstag nichts. Vor allem nicht für ein Mädchen wie Diane: Dank ihrer Konstitution und Körpergröße und ihrem Leben in der freien Natur war sie gegen den Zahn der Zeit besser gefeit als ihre Altersgenossinnen. Doch aus biologischer Sicht war die Zahl drei eine Schwelle. Als Biologin, Expertin für die Wissenschaft vom Leben, wusste sie, dass sich der weibliche Fortpflanzungsapparat von diesem Zeitpunkt an unmerklich zurückzubilden beginnt. Den Sitten und Gebräuchen der Industrieländer zum Trotz sind die weiblichen Geschlechtsorgane darauf angelegt, schon sehr früh zu funktionieren, wie die jugendlichen Mütter in Afrika – kaum älter als fünfzehn – beweisen, denen Diane so häufig begegnet war. Das Überschreiten der Schwelle rief ihr symbolisch eine ihrer tiefsten Erkenntnisse in Erinnerung: Sie würde nie ein Kind haben. Aus dem einfachen und einleuchtenden Grund, weil sie nie einen Mann haben würde.

Doch zu diesem Verzicht war sie nicht bereit. Sie machte sich auf die Suche nach Lösungen. Sie besorgte sich mehrere Fachbücher und vertiefte sich beklommen in die Welt der Reproduktionsmedizin. Da gab es zunächst die künstliche Befruchtung. In ihrem Fall musste sie eine Insemination mit Spendersamen ins Auge fassen. Das Spermienpellet käme von einer Samenbank und würde ihr während der fruchtbarsten Phase des Menstruationszyklus entweder durch den Gebärmutterhals oder direkt in den Uterus injiziert. Das bedeutete, dass die Ärzte mit spitzen, krummen, eiskalten Instrumenten in sie eindringen würden, dass die Substanz eines Fremden sich in ihren Bauch einschleichen und in ihre physiologischen Abläufe eingreifen würde. Sie stellte sich vor, wie ihre Organe – Gebärmutter, Eileiter, Eierstöcke – reagierten, im Kontakt mit dem »Fremden« in Aktion traten … Nein. Niemals. Für sie wäre das nichts anderes als eine klinische Vergewaltigung.

Sie befasste sich mit einer anderen Möglichkeit, der In-vitro-Fertilisation, und las, dass ihr dabei durch Punktion Follikel entnommen und im Reagenzglas künstlich befruchtet würden. Der Gedanke, dass der Vorgang außerhalb ihres Körpers stattfand, in der Sterilität eines Operationssaals, erschien ihr zunächst verlockend. Doch sie las weiter: Nach erfolgter Befruchtung werden ein oder mehrere Embryonen durch die Vagina in die Gebärmutter implantiert. Diane stockte und begriff, wie blind sie schon wieder gewesen war. Was hatte sie sich denn vorgestellt: dass sich auch die Schwangerschaft in der Retorte abspielen würde, gut geschützt hinter Milchglas? Dass sie zusehen könnte, wie der Embryo nach und nach heranwuchs, als vergeistigte Mutation?

Ihre hartnäckige Phobie errichtete eine Wand, eine unüberwindliche Mauer zwischen ihr und jedem Kinderwunsch. Ihr Körper, ihre Gebärmutter würden sich für immer gegen ihre natürliche Funktion, die wunderbare Entwicklung eines Kindes wehren. Diane versank in einer tiefen Depression. Eine Zeit lang verbrachte sie in einem Sanatorium, danach zog sie sich in die Villa zurück, die Charles Helikian, der Ehemann ihrer Mutter, am Mont Ventoux im Luberon besaß.

Dort, unter glutheißer Sonne und beim Zirpen der Grillen, fasste sie einen neuen Entschluss. Wenn ihr jeder biologische Versuch verwehrt war, wollte sie es auf anderem Weg versuchen: Adoption. Dieser Ausweg erschien Diane als der bei weitem bessere, denn er war eine echte moralische Verantwortung und nicht der zweitklassige Versuch, die Natur nachzuahmen. In ihrer Lage war diese Entscheidung die einzig vernünftige und die ehrlichste. Gegenüber sich selbst ebenso wie dem Kind gegenüber, das ihr Leben teilen würde.

Im Herbst 1997 unternahm sie die ersten Schritte. Zuerst versuchte man sie mit allen Mitteln von ihrem Vorhaben abzubringen. Auf dem Papier hatten auch Unverheiratete das Recht zur Adoption. In der Praxis jedoch war es sehr schwierig, in ihrer Situation, die auf eine homosexuelle Orientierung hindeuten könnte, die Genehmigung des Jugendamts und der Adoptionsvermittlungsstelle zu bekommen. Diane ließ sich jedoch nicht entmutigen, sondern stellte ihr Dossier für einen Genehmigungsantrag zusammen. Es folgten monatelange Gespräche, Nachforschungen, Prüfungen – das Verfahren drehte sich im Kreis und führte nie zu irgendeinem Ergebnis.

Fast eineinhalb Jahre nach ihrer ersten Anfrage war sie noch immer keinen Schritt weitergekommen. Ihr Stiefvater bot ihr an, sich für sie zu verwenden. Er könne, meinte er, ihren Antrag ein wenig befördern. Diane lehnte rundheraus ab. Diese Intervention stellte eine – wenn auch indirekte – Einmischung ihrer Mutter in ihr Leben dar. Dann besann sie sich. Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Ängste und ihr Zorn ein so wichtiges Vorhaben vereitelten. Was Charles Helikian wirklich unternahm, erfuhr sie nie, doch einen Monat später hatte sie die Genehmigung der Adoptionsstelle.

Nun musste sie nur noch ein Waisenhaus finden, das ihr ein Kind anvertraute – Diane hatte sich immer vorgestellt, dass sie einen kleinen Jungen aus einem fernen Land adoptieren würde. Sie wandte sich an zahlreiche Organisationen, die Waisenhäuser in allen Teilen der Welt unterstützten, und fühlte sich wieder einmal verloren. Und wieder trat ihr Stiefvater als Vermittler auf den Plan. Als gelegentlicher Sponsor ließ er der Stiftung Boria-Mundi, die mehrere Waisenhäuser in Südostasien finanzierte, alljährlich eine bedeutende Summe zukommen. Falls Diane einverstanden sei, sich an diese Stiftung zu wenden, könnten die letzten Schritte sehr schnell über die Bühne gehen.

Drei Monate später suchte sie das Waisenhaus von Ranong auf, nachdem sie schon zuvor zweimal nach Bangkok geflogen war, um alle administrativen Hürden hinter sich zu bringen. Charles hatte die Auswahl des Mündels überwacht und dabei besonders den Umstand berücksichtigt, dass Diane, anders als die meisten Adoptivmütter, ein Kind von mehr als fünf Jahren bei sich aufnehmen wollte. Im allgemeinen ziehen Adoptiveltern ein Neugeborenes vor, weil sie davon ausgehen, dass dem Säugling die Anpassung leichter fällt. Diane widerstrebte dies, ja, sie empfand einen regelrechten Abscheu: Die Vorstellung, dass manche Waisen, die ohnehin alles verloren haben, zum Überfluss auch noch das Pech haben, dass sie schon zu groß sind oder zu spät ausgesetzt wurden, brachte sie ganz selbstverständlich dazu, sich gerade für die Übriggebliebenen zu interessieren …