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DIE AUTORIN

DeStefano-Autorenfoto.tif

Foto: © Henry S. Dziekan III. c/o Baror Inc.

Lauren DeStefano wurde in New Haven, Connecticut geboren. Sie absolvierte ihren Bachelor-Abschluss am Albertus Magnus College im Fach Kreatives Schreiben. Land ohne Lilien – Gefangen ist der Abschluss ihrer hocherfolgreichen Jugendbuch trilogie, die zum New-York-Times-Bestseller wurde.

Von der Autorin sind außerdem bei cbt erschienen:

Land ohne Lilien – Geraubt (30918, Band 1)

Land ohne Lilien – Geflohen (30908, Band 2)

Lauren DeStefano

Land ohne Lilien

Gefangen

Aus dem Englischen

von Catrin Frischer

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Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe März 2015

© 2013 by Lauren DeStefano

Published in agreement with the author,

c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, U.S.A.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Last Chemical Garden Trilogy – Sever«

bei Simon & Schuster

Children’s Publishing Division, New York.

© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Catrin Frischer

Lektorat: Christina Neiske

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

unter Verwendung eines Motivs von

Trevillion Images (Malgorzata Maj)

he · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-14254-4

www.cbt-buecher.de

Für Riley, Isaiah, Isabella, Hailey, Cameron,

Mary, Cooper, Eliot und Raina,

die noch ein Leben voller Wege vor sich haben

I must lose myself in action,

lest I wither in despair.

Alfred Tennyson

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1

Im Atlas fließt der Fluss noch. Dieser dünne Strich befördert Lasten an Ziele, die es schon lange nicht mehr gibt. Wir tragen denselben Namen, der Fluss und ich. Falls es einen Grund dafür gibt, dann ist der mit meinen Eltern gestorben. Doch meine Tagträume durchzieht dieser Fluss immer noch. Ich stelle mir vor, wie er sich in den riesigen Ozean ergießt, mit versunkenen Städten verschmilzt, alte Botschaften in Flaschen voranspült.

Auf diese Seite habe ich zu viel Zeit verschwendet. Eigentlich sollte ich mich mit Nordamerika befassen und meine Route von der Küste Floridas nach Providence, Rhode Island, planen, wo mein Zwillingsbruder gerade ein Krankenhaus zerbombt hat, in dem pro-wissenschaftliche Forschung an Embryos betrieben wurde.

Ich weiß nicht, wie viele Tote es seinetwegen gegeben hat.

Linden rutscht rastlos auf seinem Platz herum. »Ich habe nicht mal gewusst, dass du einen Bruder hast«, hat er gesagt, als ich ihm mitteilte, wo ich hinwollte. »Aber die Liste der Dinge, die ich von dir nicht weiß, wird sowieso jeden Tag länger.«

Er ist verbittert. Wegen unserer Ehe und der Art, wie sie zu Ende gegangen ist. Und weil sie irgendwie noch nicht wirklich vorbei ist.

Meine Schwesterfrau schaut aus dem Fenster, ihr Haar leuchtet wie Herbstblätter im Sonnenlicht. »Es fängt gleich an zu regnen«, sagt sie leise. Sie ist nur hier, weil ich darauf bestanden habe. Mein früherer Ehemann ist immer noch nicht ganz davon überzeugt, dass sie im Haus seines Vaters Vaughn in Gefahr war. Oder vielleicht glaubt er es ja, genau weiß ich das nicht, denn zurzeit spricht er kaum mit mir, höchstens um nach meinem Befinden zu fragen und mich davon in Kenntnis zu setzen, dass ich bald aus dem Krankenhaus entlassen werde. Ich sollte mich glücklich schätzen, die meisten Patienten hier drängen sich in den Eingangshallen oder zu Dutzenden in einem Zimmer, und auch das nur, wenn sie nicht weggeschickt werden. Ich habe Komfort und Privatsphäre. Krankenhausaufenthalte dieser Klasse sind den Reichen vorbehalten und zufälligerweise gehört meinem Schwiegervater nahezu jede medizinische Einrichtung im Staate Florida.

Weil für Transfusionen nie genug Blut da ist und weil ich so viel davon verloren hatte, nachdem ich mir in meinem irrsinnigen Delirium ins Bein gesägt hatte, dauerte es lange, bis ich mich erholt hatte. Und jetzt, da mein Blut sich regeneriert hat, wollen sie mir immer wieder etwas davon zur Untersuchung abnehmen, um ganz sicher zu sein, dass ich auf dem Wege der Besserung bin. Sie gehen von der Annahme aus, dass mein Körper nicht auf Vaughns Versuche, den Virus zu behandeln, reagiert hat. Ich weiß nicht, was genau er ihnen erzählt hat, aber er bringt es fertig, überall gegenwärtig zu sein, auch wenn er gar nicht da ist.

Meine Blutgruppe sei interessant, sagen sie. Nicht mal, wenn mehr Menschen für das magere Entgelt Blut gespendet hätten, das das Krankenhaus zahlt, hätten sie etwas Passendes finden können.

Cecily hat den Regen erwähnt, um Linden von dem Pfleger abzulenken, der gerade meinen Arm steril gemacht hat. Doch es hat nicht funktioniert. Lindens grüne Augen wollen sich nicht von meinem Blut lösen, das die Spritze füllt. Der Atlas liegt auf meinem mit einer Wolldecke bedeckten Schoß und ich blättere um.

Ich finde den Weg zurück nach Nordamerika, dem einzigen Kontinent, der noch übrig ist – und selbst der ist nicht mehr vollständig, es gibt unbewohnbare Teile, die früher unter den Namen Kanada und Mexiko bekannt waren. Da draußen gab es eine ganze Welt von Menschen und Ländern, aber inzwischen ist alles von Kriegen zerstört worden, die so lange zurückliegen, dass kaum noch jemand davon spricht.

»Linden?« Cecily berührt seinen Arm.

Er dreht den Kopf zu ihr, sieht sie aber nicht an.

»Linden«, versucht sie es abermals. »Ich muss etwas essen. Ich bekomme Kopfschmerzen.«

Das dringt zu ihm durch, denn sie ist im vierten Monat schwanger und neigt zur Blutarmut. »Was hättest du denn gern, Liebste?«, fragt er.

»Vorhin in der Cafeteria habe ich Brownies gesehen.«

Er runzelt die Stirn, sagt ihr, sie solle lieber Dinge mit größerem Nährwert essen, kapituliert aber sofort vor ihrem Schmollen.

Sobald er mein Krankenzimmer verlassen hat, setzt Cecily sich auf meine Bettkante, legt mir das Kinn auf die Schulter und schaut sich die Seite im Atlas an. Der Pfleger schiebt mein Blut auf dem Wagen voller chirurgischer Instrumente aus dem Zimmer.

Es ist das erste Mal, dass ich mit meiner Schwesterfrau allein bin, seit ich ins Krankenhaus eingeliefert worden bin. Sie zieht die Umrisse des Landes nach, wirbelt mit dem Finger über dem Atlantik herum und seufzt dazu.

»Linden ist wütend auf mich«, sagt sie zwar nicht ohne Zerknirschung, aber doch nicht auf ihre übliche weinerliche Art. »Er sagt, du hättest umkommen können.«

Ich habe Monate in Vaughns Kellerlabor verbracht, zahllose Experimente sind mit mir gemacht worden, während Linden nichts ahnend in den oberen Etagen herumlief. Cecily, die mich besucht hat und davon sprach, mir bei der Flucht zu helfen, hat ihm nie etwas davon erzählt.

Es ist nicht das erste Mal, dass sie mich verraten hat, und wie beim letzten Mal glaube ich, dass sie nur helfen wollte. Sie hat Vaughns Experimente verpfuscht, indem sie immer wieder den Tropf entfernt und die Instrumente verstellt hat. Ich glaube, sie hatte vor, mich so weit zu Bewusstsein kommen zu lassen, dass ich zur Hintertür rausspazieren konnte. Aber mit ihren vierzehn Jahren ist Cecily noch ziemlich jung, und sie begreift nicht, dass die Pläne unseres Schwiegervaters viel größer sind als alle ihre Bemühungen. Gegen ihn haben wir beide keine Chance. Er hat sogar Linden all die Jahre hinters Licht führen können.

Trotzdem frage ich: »Warum hast du Linden nichts erzählt?«

Zittrig holt sie Luft und setzt sich aufrechter hin. Ich sehe sie an, aber sie will mir nicht in die Augen schauen. Einschüchtern will ich sie nicht, deshalb blicke ich auf den aufgeschlagenen Atlas.

»Linden war todunglücklich, als du weg warst«, sagt sie. »Wütend, aber auch traurig. Er wollte nicht darüber reden. Er hat deine Tür zugemacht und mir verboten, sie zu öffnen. Er hat aufgehört zu zeichnen. Er hat ganz viel Zeit mit mir und Bowen verbracht, und das fand ich wunderbar, aber ich wusste, dass er das machte, weil er dich vergessen wollte.« Sie atmet tief durch und blättert die Seite um.

Ein paar Sekunden lang starren wir auf Südamerika. Dann sagt sie: »Und mit der Zeit ging es ihm wieder besser. Er hat davon geredet, mich zur Frühjahrsmesse mitzunehmen, die bald ansteht. Dann bist du zurückgekommen, und ich dachte, all die Fortschritte, die er gemacht hat, wären dahin, wenn er dich sehen würde.« Jetzt guckt sie mich an, mit durchdringendem Blick. »Und du wolltest doch sowieso nicht wieder zurück. Deshalb habe ich gehofft, ich würde es schaffen, dich so weit zu bringen, dass du wieder fliehen könntest, und er müsste das nie erfahren, wir könnten alle einfach glücklich sein.«

Sie sagt »glücklich«, als sei es das schlimmste Wort auf der Welt. Ihre Stimme bricht dabei. Vor einem Jahr hätte sie an dieser Stelle angefangen zu weinen. Ich erinnere mich noch, wie ich sie am letzten Tag, bevor ich weggelaufen bin, kreischend und weinend in einer Schneewehe habe stehen lassen, als ihr aufging, wie sie unsere ältere Schwesterfrau Jenna verraten hatte, weil sie unserem Schwiegervater von Jennas Bemühungen erzählt hatte, mir bei der Flucht zu helfen. Das hatte ihn in seinem Entschluss, sie loszuwerden, nur bestärkt.

Doch seitdem ist Cecily erwachsener geworden. Die Mutterschaft und der Verlust von nicht nur einer, sondern gleich zwei Schwesterfrauen hat sie altern lassen.

»Linden hatte recht«, sagt sie. »Du hättest umkommen können, und ich …« Sie schluckt schwer, schaut mir aber immer noch in die Augen. »Ich hätte mir das nie verzeihen können. Es tut mir leid, Rhine.«

Ich lege den Arm um ihre Schultern und sie lehnt sich an mich.

»Vaughn ist gefährlich«, sage ich ihr ins Ohr. »Linden will das nicht wahrhaben, aber du weißt es, glaube ich.«

»Ja«, sagt sie.

»Er verfolgt jede deiner Bewegungen, so wie er es bei mir gemacht hat.«

»Ich weiß.«

»Er hat Jenna umgebracht.«

»Ich weiß. Das weiß ich.«

»Lass dir von Linden nicht einreden, ihm zu vertrauen«, mahne ich. »Bring dich nicht in eine Lage, in der du allein mit ihm bist.«

»Du kannst weglaufen, aber ich nicht«, wendet sie ein. »Das ist mein Zuhause. Das ist alles, was ich habe.«

Linden räuspert sich in der Tür. Cecily hüpft auf ihn zu, stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn, während sie ihm den Brownie aus der Hand nimmt. Dann wickelt sie ihn aus der Plastikfolie, macht es sich auf einem Stuhl bequem und legt die geschwollenen Füße aufs Fensterbrett. Sie hat die Angewohnheit, Lindens Andeutungen, mit mir allein sein zu wollen, zu ignorieren. In unserer Ehe war das ein kleines Ärgernis, aber im Moment ist es eine Erleichterung. Ich weiß nicht, was Linden mir sagen will, nur dass sein Gezappel bedeutet, dass es eine private Unterredung sein soll – und davor fürchte ich mich.

Ich beobachte, wie Cecily die Kanten des Brownies benagt und Krümel von ihrer Bluse wedelt. Sie bemerkt Lindens Rastlosigkeit, aber sie weiß auch, dass er sie nicht bitten wird zu gehen. Weil sie schwanger ist und weil sie die einzige ihm verbliebene Ehefrau ist, die ihn aufrichtig verehrt.

Linden nimmt das Skizzenbuch zur Hand, das er auf einem Stuhl hat liegen lassen, setzt sich und versucht sich mit der Durchsicht seiner Bauzeichnungen zu beschäftigen. Irgendwie tut er mir leid. Er war nie so autoritär, das einzufordern, was er will. Obwohl ich weiß, dass ich mich nach diesem Gespräch, das er unbedingt führen will, elend und schuldig fühlen werde, muss ich mich darauf einlassen, das schulde ich ihm.

»Cecily«, sage ich.

»Hm?« Krümel rieseln von ihren Lippen.

»Lass uns ein paar Minuten allein.«

Sie wirft einen Blick zu Linden, der nicht widerspricht, dann schaut sie mich wieder an.

»Gut«, seufzt sie. »Ich muss sowieso pinkeln.«

Als sie die Tür hinter sich zugemacht hat, klappt Linden sein Skizzenbuch zu. »Danke«, sagt er.

Ich setze mich auf, glätte die Decke über meinen Schenkeln und nicke, seinem Blick weiche ich aus. »Was ist?«, frage ich.

»Morgen wirst du entlassen.« Er setzt sich auf den Stuhl neben meinem Bett. »Hast du irgendeinen Plan?«

»Im Planen war ich nie gut«, sage ich. »Aber mir fällt schon was ein.«

»Wie willst du deinen Bruder finden?«, fragt er. »Rhode Island ist Hunderte von Meilen weit weg.«

»Tausenddreihundert Meilen«, sage ich. »Grob geschätzt. Ich habe es nachgeschlagen.«

Er runzelt die Stirn. »Du musst dich noch erholen«, wendet er ein. »Du solltest ein paar Tage ruhen.«

»Da ich ohnehin nicht weiß, wo ich hinkönnte, kann ich mich ebenso gut auf den Weg machen.« Ich klappe den Atlas zu.

»Du weißt, dass das nicht stimmt«, sagt er. »Du hast ein …« Er zögert. »Du hast einen Ort, an dem du bleiben kannst.«

Er wollte »Zuhause« sagen.

Ich antworte nicht, und die Stille ist voll von all den Dingen, die Linden sagen möchte. Phantomworte, Geister, die den Staub verfolgen, der in Lichtstrahlen flirrt.

»Oder …«, fängt er wieder an. »Es gibt eine Alternative. Mein Onkel.«

Das bringt mich dazu, ihn doch anzusehen, zu neugierig vielleicht, denn es scheint ihn zu amüsieren. »Mein Vater hat vor Jahren den Kontakt abgebrochen, ich war noch sehr klein«, erzählt er. »Von mir wird erwartet, dass ich so tue, als würde es ihn nicht geben, aber er wohnt nicht weit von hier.«

»Er ist der Bruder deines Vaters?« Ich bin skeptisch.

»Denk einfach darüber nach«, sagt Linden. »Er ist ein wenig seltsam, aber Rose mochte ihn.« Letzteres sagt er mit einem Lachen und seine Wangen werden ganz rosig. Merkwürdigerweise geht es mir auf einmal besser.

»Sie ist ihm begegnet?«

»Nur ein Mal«, sagt Linden. »Wir waren auf dem Weg zu einer Party, und sie beugte sich zum Fahrer vor und sagte: ›Ich hab genug von diesen langweiligen Veranstaltungen. Bringen Sie uns irgendwo anders hin.‹ Also hab ich dem Fahrer die Adresse meines Onkels genannt und wir haben den Abend dort verbracht und den schlechtesten Mokkakuchen aller Zeiten gegessen.«

Das ist das erste Mal seit Roses Tod, dass er ihren Namen ausspricht, ohne vor Schmerz zusammenzuzucken.

»Und die Tatsache, dass mein Vater ihn hasst, machte ihr meinen Onkel gleich noch viel sympathischer«, fuhr Linden fort. »Meinem Vater ist er zu naturalistisch eingestellt, und zugegeben, er ist ein wenig seltsam. Ich hab es geheim halten müssen, dass ich ihn besuche.«

Linden hat eine rebellische Seite. Wer hätte das gedacht? Er streckt den Arm aus und streicht mir das Haar hinters Ohr zurück. Das macht er aus Gewohnheit, und seine Hand zuckt zurück, als ihm sein Fehler bewusst wird.

»Tut mir leid«, nuschelt er.

»Schon gut«, sage ich. »Ich denke darüber nach.« Die Worte kommen schnell heraus, linkisch. »Was du gesagt hast … meine ich … darüber werde ich nachdenken.«

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2

Cecily hat sich aus dem offenen Fenster der Limousine gelehnt, ihr Haar flattert hinter ihr her wie ein Tuch. In den Armen seines Vaters streckt Bowen die Hände danach aus. Erstaunlich, wie er gewachsen ist, während ich weg war. Er ist wie ein kleiner Teddybär, pummelig, freundlich und rotbackig. Als er geboren wurde, hatte er dunkles Haar und strahlend blaue Augen, die inzwischen haselnussbraun sind. Sein Haar ist kupferblond ge worden, so stelle ich mir Cecilys Babyhaar vor, aber ob das richtig ist, werden wir nie genau wissen. Er hat ihr trotziges Kinn und ihre dünnen Wimpern. Mit jedem Tag, der vergeht, schwinden Lindens Züge aus seinem Gesicht.

Aber er ist wunderschön. Und Cecily ist verrückt nach ihm. Noch nie habe ich jemanden etwas so lieben sehen, wie sie dieses Baby liebt. Sogar jetzt singt sie ein Schlaflied für ihn, obwohl sie in den vorüberhuschenden Himmel schaut. Ich erkenne das Lied wieder, es ist ein Gedicht aus einem Buch in der Bibliothek auf der Ehefrauenetage. Jenna hat es immer laut vorgelesen.

Sanfter Regen kommt und der Erde Geruch,

Schwäne rauschen wie ein schimmerndes Tuch,

und des Nachts singen Frösche im Kreis

und Pflaumenbäume in bebendem Weiß.

Rotkehlchen zwitschern im Feuerkleid

auf schlaffem Zaundraht zur Frühlingszeit.

Die Sonne geht unter und färbt die Welt orange. Ich reibe die Fäuste auf den Knien, voller Unbehagen. Ich kann nicht fassen, dass Vaughn uns die Limousine für diesen Zweck überlassen hat. Vielleicht will er es sich nicht mit Linden verderben und ihn manipulieren, indem er sich reumütig und verlässlich gibt. Ich rechne ständig damit, dass der Fahrer wendet und mich wieder zurück aufs Anwesen bringt. Aber er hat uns jetzt so weit aufs Land hinaus gefahren, dass diese Befürchtung langsam nachlässt. Wir sind schon eine ganze Weile an keinem Gebäude mehr vorbeigekommen. Es gibt weit und breit nur Gras, gelegentlich taucht ein einsamer Baum auf und ist sofort wieder verschwunden – wie eine Explosion.

Cecily hört auf zu singen und lehnt sich im Sitz zurück. »Wo sind wir?«

»Irgendwo auf dem Land«, sagt Linden. »Schwer zu sagen. Die Straßennamen hab ich nie gewusst.«

Cecily nimmt das Baby, hält es hoch und prustet ihm absurd klingende Küsse auf den Bauch. Bowens Kichern entlockt ihr ein Grinsen.

»Diese Abzweigung ist es«, sagt Linden zum Fahrer. »Runter von der Straße. Folgen Sie einfach den Reifenspuren.«

Sogar die Limousine, die gut gefedert ist, ruckelt auf dem unebenen Gelände. Und ein paar Minuten später haben wir das Einzige erreicht, das weit und breit zu sehen ist: ein zweistöckiges Haus, das ebenso alt und massiv wirkt wie Vaughns Villa, aber viel kleiner ist.

Darum herum sind etwa ein halbes Dutzend Planen auszumachen, die aussehen wie schwarze Autogespenster. Einen verfallenen Schuppen und eine Windmühle gibt es auch. Das Dach ist mit reflektierenden Platten bedeckt.

Cecily rümpft die Nase und sagt zu Linden: »Hier können wir sie nicht lassen. Das sieht ja aus wie ein Schrottplatz.«

»So schlimm ist es nicht«, meint er.

»Auf dem Dach ist Alufolie!«

»Das sind Sonnenkollektoren«, erklärt Linden ihr geduldig. »Damit er nicht so viel Strom verbraucht.«

Cecily macht den Mund auf, weil sie widersprechen will, aber ich sage: »Ist ja nur für ein paar Tage. Es sieht gut aus.« Ich sage nicht, dass es zwar ein Schritt zurück sein mag, wenn man es mit dem Luxus der Villa vergleicht, aber dass es auch nicht schlechter ist als die Häuser, in deren Nachbarschaft ich aufgewachsen bin. Und Sonnenkollektoren sind auch keine Seltenheit in Manhattan, wo viele sich Strom nicht leisten können.

Die Limousine hält, und ich mache schnell die Tür auf, weil ich Angst habe vor Schlafgas oder Verriegelungen oder Schlangen, die durch die Luftschächte gleiten könnten, um mich zu erwürgen.

Jetzt ist früher Abend und meilenweit weg von der Zivilisation kann ich die Dunkelheit aus allen Richtungen auf mich zukriechen sehen. Die Sterne strahlen hell, auf einer in allen Schattierungen von Rosa und Blau gefärbten Fläche verteilt ziehen sie hinter einer einzelnen ovalen Wolke her.

Linden stellt sich neben mich und folgt meinem Blick himmelwärts.

»Als ich klein war«, sagt er, »habe ich von meinem Onkel die Namen aller Sternbilder gelernt. Ich hab sie allerdings nie finden können.«

»Aber den Polarstern kennst du«, erinnere ich ihn. Ich weiß noch, wie er Cecily etwas über den erzählt hat – sie war enttäuscht, weil er so wenig Sinn für Romantik hatte.

»Genau da ist er«, sagt er, als er sieht, wo ich hinzeige.

»Das ist der Schwanz des Kleinen Bären«, sage ich und deute auf die entsprechenden Sterne. »Den hab ich am liebsten, ich finde, er sieht aus wie ein Drachen.«

»Ich kann ihn tatsächlich sehen«, sagt er verwundert. »Aber ich dachte, der Kleine Bär hätte die Form eines Schöpflöffels.«

»Tja, ich finde, er sieht aus wie ein Drachen«, sage ich. »So erkenne ich ihn immer wieder.«

Er dreht sich zu mir und ich spüre seine Atemzüge, so schwach und unauffällig, dass nur die Härchen an meiner Wange davon gestreift werden. Ich traue mich nicht, den Blick von den Sternen abzuwenden. Mein Herz hämmert. Erinnerungen rasen durch mich hindurch. Erinnerungen an seine Finger, die meine Schuhe aufmachen, die unter einem roten Ballkleid hervorlugen. Seine Lippen auf meinen. Die Dunkelheit meines Schlafzimmers hinter dem Efeu und die Champagnergläser in der Nacht, in der wir spät von der Messe nach Hause gekommen sind. Schneeflocken auf seinen Schultern und in seinem dunklen Haar in der Nacht, in der wir uns verabschiedet haben.

Cecily knallt die Autotür zu und holt mich ruckartig zurück in die Wirklichkeit. »Wenn Rhine heute Nacht hierbleibt«, sagt sie, »dann bleibe ich auch, um sicherzugehen, dass sie nicht von dem Irren ermordet wird, der hier das Sagen hat.«

Ich mache den Mund auf und will sie schelten, weil sie so unhöflich ist. Will ihr sagen, dass Lindens Onkel so nett war, mich aufzunehmen, und dass es undankbar erscheinen würde, darüber hinaus noch irgendwas zu verlangen. Außerdem würde ich sie gern darauf aufmerksam machen, dass sie mir nicht mal bis zur Schulter geht. Wie genau will sie mich denn vor einem Irren beschützen, wenn ich das nicht selbst schaffe?

Aber die Worte wollen mir nicht über die Lippen. Der Gedanke, dass meine einzige verbliebene Schwesterfrau zurück in diese Villa geht, sorgt bei mir für feuchte Handflächen. Solange Vaughn sie in Unwissenheit gehalten hat, war sie sicher, aber jetzt, nachdem sie die Machenschaften in seinem Keller gesehen und begriffen hat, wozu er fähig ist, fürchte ich um ihre Sicherheit.

»Mein Onkel ist kein Irrer«, sagt Linden und macht die Autotür wieder auf, um den Koffer herauszuholen, der auf dem Weg hierher auf dem Boden herumgerutscht ist.

»Warum hasst dein Vater ihn dann so sehr?«, fragt Cecily.

Lindens Vater kann sich kein Urteil darüber erlauben, wer irre ist und wer nicht, aber auch das spreche ich nicht aus. Ich lehne mich an den Kofferraum der Limousine, weil mir schwindelig wird und die Sterne anfangen zu pulsieren. Linden hat recht, ich brauche Ruhe, ehe ich mich wieder in die Welt hinauswage. Egal wo ich hinschaue, da ist nichts. Die Welt ist so weit weg. All meine Anstrengungen, all diese Meilen haben sich in nichts aufgelöst. Länger als zwei Monate war ich in Vaughns Keller des Grauens. Zwei Monate, die sich angefühlt haben wie zehn Minuten. Gabriel hält mich bestimmt für tot. Genau wie mein Bruder.

Aber es hat so viel Trauriges gegeben, so viel Entmutigendes, dass mein Körper einen Abwehrmechanismus entwickelt hat, der mich davon abhält, darüber nachzudenken. Mein Kopf wird dumpf, meine Knochen fangen an wehzutun. Ein Sturm bohrt sich in meine Gehörgänge. Ein durchdringender Schmerz zuckt als weißer Blitz durch mein Sichtfeld.

Cecily und Linden reden … es geht irgendwie um den Unterschied zwischen exzentrisch und wahnsinnig, glaube ich, und die Sätze ihrer Unterhaltung werden immer knapper, weil sie sich gegenseitig ins Wort fallen. Linden hat die Geduld eines Heiligen, aber Cecily kann jeden fertigmachen.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Cecily mich, und ich merke, dass die beiden ein paar Meter vorangegangen sind, auf das Haus zu. Linden dreht sich um und beobachtet mich. Bowens Windeltasche baumelt ihm von der Schulter und er hält den Koffer in der Hand. Er hat ein paar Sachen aus meinem alten Schrank für mich eingepackt.

Ich nicke und folge den beiden.

Niemand öffnet, als Linden an die Tür klopft. Er klopft fester, dann versucht er in das einzige sichtbare Fenster zu gucken, dessen Jalousie heruntergezogen ist. »Onkel Reed?«, ruft er und pocht an die Scheibe.

»Weiß er, dass wir kommen?«, frage ich.

»Ich hab es ihm bei meinem Besuch letzte Woche gesagt«, antwortet er.

»Wie oft fährst du hier raus?«, fragt Cecily verletzt. »Du hast mir nie davon erzählt.«

»Ich habe es geheim gehalten …« Linden lässt den Satz verebben und murmelt etwas vor sich hin, während er versucht, hinter die Jalousie zu gucken. »Ich glaube, ich sehe Licht drinnen.« Er klopft wieder, und als niemand reagiert, macht er die Tür auf.

Cecily legt schützend die Hand um Bowens Kopf und starrt nachdenklich in die Dunkelheit. »Linden, willst du wirklich …?« Aber er ist schon reingegangen.

Ich folge ihm, meine Schwesterfrau schlurft dicht hinterher und klammert sich an meinen Hemdzipfel.

Es ist so dunkel, dass ich Lindens Umrisse vor mir kaum ausmachen kann. Der Flur ist lang, das Holz knarrt unter unseren Füßen, und der Geruch nach Zedernholz und Moder hängt in der Luft. Dann flackert ein schwaches orangefarbenes Licht in einem Raum am Ende des Flures.

In der Tür halten wir uns links und rechts von Linden. Wir sind in einer Küche, jedenfalls glaube ich, dass es eine ist. Es gibt dort jedenfalls ein Spülbecken und einen Herd. Aber statt Schränken stehen hier Regale, die vollgestellt sind mit Sachen, die ich im Dunkeln nicht erkennen kann. Ein Mann sitzt da, über etwas gebeugt, das aussieht wie ein riesiges Organ aus Metall. Die Drähte, Rohre und das Getriebe sind die Arterien, das Ganze ist ein mechanisches Herz, das schwarzes Öl auf den Tisch und die Finger des Mannes blutet.

»Onkel Reed?«, sagt Linden.

Der Mann grunzt, mit einer Zange arbeitet er an etwas Kompliziertem, er nimmt sich Zeit, ehe er aufschaut. Mich sieht er zuerst, dann Cecily. »Sind das deine Ehefrauen?«, fragt er.

Linden zögert. Aber er muss nicht antworten, denn der Mann macht sich ohne weitere Umstände wieder an seine Arbeit. »Ich dachte, du hättest gesagt, es wären drei.«

»Nur zwei«, sagt Linden mit so wenig Gefühl, dass es mir zu denken gibt. Als ob Jenna überhaupt nicht existiert hätte! »Und das ist mein Sohn«, sagt er und nimmt Cecily das Baby aus den Armen. »Bowen.«

Der Mann, Reed, zögert, irgendetwas erstaunt ihn. Doch dann grunzt er nur: »Sieht dir aber nicht ähnlich.«

Cecily spielt mit einem Lichtschalter an der Wand, er funktioniert nicht. »Bitte fass nichts an«, sagt Reed und wischt sich die Hände an einem schmierigen Lappen ab, mit dem er das Öl nur verteilt. Er geht zum Spülbecken, der Wasserhahn zittert, ehe er stockend Wasser spuckt. Sicher bin ich mir nicht beim Kerzenschein, aber ich meine schwarze Teilchen darin zu sehen. Reed murmelt Verwünschungen.

Dann zieht er an einer Kordel über seinem Kopf und trübes Licht aus einer von der Decke baumelnden Birne breitet sich im Raum aus. Die Schatten springen hin und her, machen Gläser und Röhren und sinnlose Teile lebendig, die die Regale füllen. In einer Ecke des Raumes steht ein Kühlschrank, aber ohne das elektrische Summen, nichts deutet darauf hin, dass er eingeschaltet ist.

Reed kommt näher und mustert das Kind in Lindens Armen. Bowen guckt wie in Trance auf die pendelnde Glühbirne.

»Nein, der hat überhaupt nichts von dir«, bekräftigt Reed. »Von wem ist er?«

»Von mir«, sagt Cecily.

Reed schnaubt. »Wie alt bist du denn? Zehn?«

»Vierzehn«, sagt sie zähneknirschend.

Mir steigt ein benebelnder, rauchiger Geruch in die Nase, als Reed sich vor mich hinstellt. Meine Augen fangen an zu tränen, aber ich bin einfach nur dankbar, dass dieser Mann Vaughn gar nicht ähnlich sieht. Er ist nicht so groß wie er und ein bisschen übergewichtig, und seine grauen Haare sind wild wie Wellen, die sich an den Felsen brechen. »Ich dachte, du wärst tot«, sagt er zu mir.

Um mich muss es schlimmer stehen, als ich dachte, denn das hab ich mir doch bestimmt nur eingebildet. Aber dann sagt Linden: »Das ist nicht Rose, Onkel. Sie heißt Rhine. Du weißt doch, ich hab dir neulich von ihr erzählt.«

»Ach, stimmt ja«, sagt Reed. »Namen kann ich mir nicht merken. Normalerweise bin ich mit Gesichtern viel besser.«

»Man hat mir gesagt, dass ich aussehe wie sie«, werfe ich ein.

»Püppchen, du könntest ihr Geist sein«, sagt Reed. »Glaubst du an Reinkarnation?«

»Sie kann nicht die Reinkarnation von Rose sein«, bemerkt Cecily indigniert. »Die beiden haben zur selben Zeit gelebt.«

Reed sieht sie an, als ob sie etwas wäre, in das er gerade reingetreten ist, und sie rückt näher an Lindens Seite.

»Erzähl du’s mir«, sagt Reed und wendet sich mir wieder zu, »die Geschichte von meinem Neffen war nämlich so verwirrend. Du läufst vor ihm weg … und er hilft dir?«

»So kann man das auch ausdrücken«, sage ich. »Aber ich laufe nicht weg. Eigentlich nicht. Ich suche meinen Bruder.« Ich bekomme einen Kloß im Hals, weil Reed mich so anstarrt und weil er so riecht und weil dieses Licht so etwas Bohrendes hat. »Er war in Rhode Island, das ist meine letzte Information. Er ist in eine … schwierige Lage geraten und ich muss ihn finden. Ich mache keine Umstände.« Meine Worte überschlagen sich förmlich. Linden legt mir die Hand auf den Arm und aus irgendeinem Grund beruhigt mich das.

Reed mustert mich von oben bis unten, er verzieht den Mund, als würde er nachdenken. »Du hast zu viel Haare«, sagt er. »Du musst sie zurückbinden, damit sie nicht in die Maschinen geraten.«

Keine Ahnung, wovon er spricht, aber ich sage: »Okay.«

»Ich hab ihm gesagt, dass du ein wenig mithelfen würdest«, erklärt Linden. »Nichts Anstrengendes. Er weiß, dass du dich erholen musst.«

»Vom Autounfall. Genau«, sagt Reed. Ich weiß nicht, welche Geschichte Linden ihm aufgetischt hat als Erklärung für meine Verletzungen, aber sein Ton verrät, dass er sie nicht glaubt – oder dass es ihm egal ist. »Oben ist ein Zimmer, in dem du deine Sachen lassen kannst. Mein Neffe kann es dir zeigen. Die Böden knarren furchtbar, ich muss dich also bitten, nachts nicht herumzulaufen.«

Offenbar ist das das Stichwort für unseren Abgang, denn er widmet sich wieder dem Gerät auf dem Tisch. Linden führt uns den Flur entlang.

»Oh, Linden«, flüstert Cecily, die man beim Knarren der Stufen kaum versteht. »Ich wusste, dass du böse auf sie bist, aber dass du sie hierlassen willst, das kannst du doch nicht ernst meinen.«

»Ich tue Rhine einen Gefallen«, antwortet er. »Und sie kann auf sich selber achtgeben.« Über die Schulter hinweg schaut er mich an. Ich gehe zwei Schritte hinter ihm. »Stimmt doch, oder?«, sagt er.

Ich nicke, so als wäre mir diese neue, kalte Seite an ihm nicht unheimlich. Nicht grausam wie sein Vater. Nicht warm wie der Ehemann, der in stillen Nächten meine Gesellschaft gesucht hat. Irgendwas dazwischen. Dieser Linden hat nie seine Finger mit meinen verflochten, nie mich aus einer Reihe müder entführter Mädchen ausgewählt, nie in Milliarden von bunten Lichtern gesagt, er liebe mich. Wir bedeuten einander nichts.

Reed mag meinen Namen vergessen haben, aber offenbar hat er sich daran erinnert, dass ich kommen sollte, denn das Zimmer wird von drei Kerzen erleuchtet, eine auf dem Nachttisch, zwei auf der Kommode. Zusammen mit einem Doppelbett sind es die einzigen Möbel im Raum. An der Wand mir gegenüber hängt ein Spiegel mit einem Sprung, mein Spiegelbild versinkt in seinem Dunkel. Der Geist von Rose. Ich erwarte beinahe, dass er sich unabhängig von mir bewegt.

Cecily lässt den Koffer und die Windeltasche auf den Boden fallen, eine Staubwolke steigt von der Matratze auf, als sie sich draufsetzt. Aus ihrem Erstickungsanfall macht sie eine große Show.

»Alles gut«, sage ich und schüttele das Kissen aus.

»Ich trau mich kaum zu fragen, ob es hier ein Bad gibt, das ich benutzen kann«, sagt Cecily.

»Am Ende des Flurs«, sagt Linden, der sich mit dem Zeigefinger den Nasenrücken reibt. Das habe ich ihn sonst nur tun sehen, wenn er frustriert war von seinen Zeichnungen. »Nimm eine Kerze mit.«

Als Cecily das Zimmer verlassen hat, setze ich mich aufs Bett und sage: »Danke, Linden.«

Er schaut sein Spiegelbild an. »Mein Onkel stellt keine Fragen, wenn du keine stellst«, sagt er. »Ich meine, warum du nicht zu Haus bei mir bleibst.«

Die Stille ist angespannt und unnatürlich. Ich klammere mich an die Wolldecke und sage: »Du und Cecily, geht ihr zurück dahin?«

»Selbstverständlich.«

Er will mir immer noch nicht glauben, was alles im Kellergeschoss passiert ist. Die Sache mit Deidre. Vage erinnere ich mich, dass ich unter Drogen etwas von ihr geflüstert habe und von Jennas Leiche, die in irgendeiner Gefriertruhe versteckt würde. Er hat meinen Arm gerieben, Worte gewispert, die klangen wie Motten, die gegen Fensterscheiben prallen. Unsinnige Dinge, an denen ich mich festgehalten habe. Vielleicht war ich, als ich dort gelegen habe, so mitleiderregend, dass er keine andere Wahl hatte, als mich zu lieben. Jetzt sagt er, ich könne auf mich selbst achtgeben. Jetzt bin ich die Lügnerin, die versucht, die perfekte Welt zu zerstören, die sein Vater für ihn aufgebaut hat, die weggelaufen ist, die alles kaputtgemacht hat. Es ist schon spät und nun wird es Zeit, dass sich unsere Wege trennen.

Trotzdem entschlüpfen mir die Worte: »Geh nicht.«

Er sieht mich an.

»Geh nicht«, sage ich. »Und bring Cecily nicht wieder dahin zurück. Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich habe das schreckliche Gefühl, dass …«

»Ich kann auf Cecily aufpassen«, sagt er. »Auf dich hätte ich auch aufgepasst. Wenn ich gewusst hätte, dass dir mein Vater solche Angst gemacht hat.«

Bowen ist an Lindens Brust eingeschlafen und Linden nimmt ihn auf den anderen Arm. »Mein Vater dachte, da du ja nicht mit mir verheiratet sein wolltest, könnte er dich haben. Wegen deiner Augen. Er wollte sie untersuchen und ist dabei zu weit gegangen. So ist das manchmal mit ihm.« Seine Augenbrauen stoßen aneinander und er schaut auf seine Füße; er hat Mühe, seinen Worten einen Sinn zu geben, Logik zu erzwingen, wo es keine gibt. »Er ist nicht das Ungeheuer, für das du ihn hältst. Er … er vertieft sich einfach in seine Arbeit und vergisst, dass Menschen Menschen sind. Dann kann es passieren, dass er ein wenig übers Ziel hinausschießt.«

»Ein wenig übers Ziel hinausschießt?«, zische ich. »Er hat mir Nadeln in die Augen gebohrt, Linden. Er hat ein Neugeborenes ermordet …«

»Glaubst du, ich kenne meinen eigenen Vater nicht?«, unterbricht er mich. »Ich traue ihm eher, als dass ich irgendwas von dem glaube, was du sagst. Du hast ja nicht mal den Anstand gehabt, die Wahrheit zu sagen.«

Es hat eine Nacht gegeben, vor Monaten, in der ich es beinahe getan hätte. Das war nach der Architekturmesse. Ich war nicht mehr ganz nüchtern, mein Haar war klebrig, parfümiert und zerzaust, das Bett schwankte unter mir. Er war über mich rübergeklettert und hatte mich geküsst. Ich konnte die Bäume im Mondlicht miteinander flüstern hören. Und Linden sagte so nah, dass ich seinen Atem auf den Wimpern spüren konnte: ›Aber ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nicht, wo du herkommst.‹ Seine Augen hatten gestrahlt. Wie gern wollte ich es ihm erzählen, aber irgendwas an dieser ganzen Nacht kam mir so wunderschön, so seltsam vor, dass ich ihr meine Geheimnisse nicht anvertrauen wollte. Oder vielleicht habe ich auch nur mitspielen wollen, vielleicht wollte ich nur eine Weile seinen Ring tragen und seine Frau sein, so lange, bis der Zauber dem Mond das Licht wieder wegnehmen würde.

Jetzt sage ich nichts. In seinen Augen ist kein Strahlen für mich.

»Wenn du mich nicht geliebt hast«, sagt er, »hättest du es sagen sollen. Ich hätte dich gehen lassen.«

»Du vielleicht. Aber dein Vater nicht.«

»Mein Vater hat nie kontrolliert, was ich mache«, sagt er.

»Dein Vater hat immer kontrolliert, was du machst.«

Er sieht mich an und ich höre auf zu atmen. Irgendetwas brandet in seinen Augen auf, eine Form von Liebe oder Rachedurst. Irgendetwas, das mit jeder Sekunde, die ich weg war, weiter angewachsen ist. Und ich will es, was immer es ist, will es mit beiden Händen halten, als wäre es sein schlagendes Herz, das ihm aus der Brust gerissen wurde. Ich will ihm meine Körperwärme schenken.

»Wenn Cecily zurückkommt, dann sag ihr, ich warte am Auto.«

Dann ist er weg.

»Ich will dich nicht hier zurücklassen«, sagt Cecily, als ich ihr die Nachricht übermittele. »Hier sieht es aus, als könntest du dir Krebs einfangen oder so was.« An das Wort »Krebs« erinnert sie sich, es kam in einer Seifenoper vor, die Jenna immer geguckt hat. Krebs ist eine Krankheit, die aus unseren Genen ausgemerzt worden ist.

»Ich glaube, mit Krebs konnte man sich nicht anstecken«, wende ich ein.

»Dann eben etwas anderes«, sagt sie.

Offenbar machen wir zu viel Lärm, denn Reed klopft an die Decke.

Cecily schnaubt wütend und setzt sich neben mich aufs Bett. Ein paar Sekunden später legt sie mir den Arm um die Schultern und starrt auf ihren Bauch. Obwohl sie erst im vierten Monat ist, wirkt sie schon müde und aufgedunsen. Ihre Wangen und die Fingerspitzen sind rot angelaufen. Gesicht und Haare sind feucht, nachdem sie sich mit kaltem Wasser bespritzt hat. Das macht sie immer nach einem Brechanfall.

»Hast du dich oft übergeben müssen?«, frage ich sie.

»Halb so wild«, sagt sie leise. »Linden kümmert sich um mich.«

Ich mache mir Sorgen um sie. Ob ihr oder Linden wohl je in den Sinn gekommen ist, dass sie sich zwischen den Schwangerschaften kaum ausruhen konnte? Vaughn weiß bestimmt, wie riskant das ist, und er hat es dennoch zugelassen. Das macht mir noch mehr Sorgen. Ich fürchte, dass sie diesen dunklen Flur betreten, die Treppe hinuntergehen und für immer in Vaughns Klauen bleiben wird. Ich glaube, sie hat auch Angst, denn sie rührt sich nicht. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bis Linden nach ihr sucht.

»Bist du so weit? Können wir fahren?« Er steht in der Tür, größtenteils im Schatten.

»Ich bleibe über Nacht«, sagt sie.

Sie setzen sich irgendwie auseinander – mit Blicken. So eine Sache zwischen Mann und Frau, etwas, das ich nie so richtig beherrscht habe. Cecily gewinnt, denn Linden hebt die Windeltasche vom Boden auf und sagt: »Ich hole dich gleich morgen früh ab.«

Ein paar Minuten später beobachten wir durchs Fenster, wie die Limousine sich entfernt.

Die Matratze ist knotig und hart, und Cecily, die wieder genauso schnarcht wie während ihrer ersten Schwanger schaft, tritt und schlägt die ganze Nacht um sich. Sie trifft mich so oft, dass ich schließlich ein Kissen nehme und mich auf den Boden lege. Aber jede Stellung auf dem harten Holz verstärkt die Schmerzen in der heilenden Wunde in meinem Schenkel. Im Traum blutet sie und das Blut sickert durch die Dielenbretter und Reed hämmert an die Decke, weil Blut auf seine Arbeit tropft. Die Maschine auf dem Tisch erwacht zum Leben. Sie hat einen Puls und atmet.

In der Dunkelheit flüstert Cecily meinen Namen. Zuerst halte ich das für einen Teil meines Traumes, aber sie hört nicht auf, sagt ihn immer öfter, immer eindringlicher, bis ich schließlich reagiere. »Was ist?«

»Warum bist du auf dem Boden?« Ich kann gerade eben ihr Gesicht ausmachen und den Arm, der über die Matratze hängt, ein Gewirr von Haaren fällt ihr über die Schulter.

»Du hast getreten«, sage ich.

»Das tut mir leid. Komm wieder hoch. Ich tu’s nicht wieder, das verspreche ich.«

Sie macht mir Platz und ich quetsche mich neben sie ins Bett. Ihre Haut ist klebrig und heiß. »Du solltest im Bett keine Socken tragen«, sage ich. »Die halten die Hitze fest. Als du letztes Mal schwanger warst, bist du nachts immer fiebrig gewesen.«

Ihre Beine bewegen sich unter der Decke, als sie die Socken abstreift. Sie braucht eine Weile, bis sie es sich bequem gemacht hat, und ich merke, dass sie versucht, mich nicht zu stören, deshalb beklage ich mich nicht, wenn ich auf der Matratze herumgeschubst werde. Schließlich liegt sie ruhig auf ihrer Seite, das Gesicht zu mir gewandt.

»Hast du dich vorhin übergeben, als du im Bad warst?«, frage ich.

»Sag Linden nichts davon.« Sie gähnt. »Er hat sich so mit diesen Sachen. Er sorgt sich.«

Nach dem, was aus Roses Schwangerschaft wurde, ist das wohl nicht verwunderlich. Aber das kann ich ihr ja nicht erzählen. Und bald stelle ich fest, dass ich trotz meiner Sorgen so erschöpft bin, dass ich einschlafen kann.

Gerade als ich anfange zu träumen, sagt sie: »Ich denke oft an diese anderen Mädchen, die mit uns im Lastwagen waren. Die, die getötet worden sind.«

Meine Träume verblassen und ich wünsche sie mir verzweifelt zurück. Sogar ein Albtraum wäre mir willkommener als diese Erinnerung. Das ist etwas, worüber ich nie mit meinen Schwesterfrauen gesprochen habe, diese seltsame, entsetzliche Sache, die uns miteinander verbunden hat. Und ich hätte schon gar nicht erwartet, dass ausgerechnet Cecily damit anfängt, die niemals etwas anderes hat sein wollen als eine glückliche Hausfrau.

»Ich wollte nur, dass du das weißt«, sagt sie. »Ich bin kein Ungeheuer.«

Ich drehe den Kopf und sehe sie an. »Natürlich bist du das nicht.«

»Du hast mich so genannt«, erinnert sie mich. »An dem Tag, an dem du weggelaufen bist.«

»Ich hab mich aufgeregt«, sage ich und streiche ihr das verschwitzte Haar aus dem Gesicht. »Aber du hast keine Schuld an dem, was mit Jenna passiert ist.«

Nach einem zittrigen Atemzug schließt sie die Augen für eine ganze Weile. »Doch, es ist meine Schuld.«

An dieser Stelle hätte ich erwartet, dass sie anfangen würde zu weinen, aber sie tut es nicht. Sie guckt mich nur an. Und wieder verblüfft es mich, wie viel erwachsener sie während meiner Abwesenheit geworden ist. Vielleicht blieb ihr nichts anderes übrig. Es waren keine Schwesterfrauen da, die sie trösten konnten; der Schwiegervater, dem sie vertraut hatte, hatte sie nur ausgenutzt – und ihrem Ehemann konnte sie all das ja auch nicht erklären.

Ich ringe nach tröstlichen Worten, aber nichts scheint mir aufrichtig genug zu sein. Und ganz gleich, was ich sagen würde – Jenna bleibt weg, ebenso wie die anderen Mädchen, die entführt worden sind, und das Mädchen, das Silas und ich im Graben gefunden haben … Cecily wird nicht lange genug leben, um Bowen heranwachsen zu sehen, mein Bruder ist in seiner Trauer völlig aus der Bahn geraten – und ich bin auch nicht näher daran, ihn zu finden, als ich es im letzten Jahr war.

Ich bin völlig machtlos.

»Die ganze Zeit, während wir verheiratet waren, hab ich dich behandelt, als wärest du noch zu klein, um zu verstehen, was mit uns passiert«, sage ich. »Aber ich habe mich genauso klein gefühlt. Ich hatte die Situation auch nicht besser im Griff als du.«

»Du hast so selbstsicher gewirkt«, sagt sie. »Ich habe dich vom Tag unserer Hochzeit an beneidet. Ich habe beschlossen, dass ich mehr wie du sein werde.« Das sagt sie voller Überzeugung. »Ich werde stärker sein.«

Stark ist wohl das Letzte, was ich bin.

»Schlaf jetzt«, flüstere ich.

»Rhine?«

»Was denn?«

»Ich habe Linden gesagt, dass er dir glauben soll. Ich hab ihm erzählt, dass es wahr ist, dass Hausprinzipal Vaughn da unten schreckliche Dinge macht.«

Ich spüre Hoffnung. Linden mag keinen Grund haben, mir zu glauben, aber auf Cecily wird er hören. Auch wenn er es vielleicht nur tut, um sie bei Laune zu halten, damit sie ihm nicht hysterisch wird. »Das hast du getan?«

liche Dinge angetan. Du warst im Delirium und so krank

»Es war Wirklichkeit!« Ich setze mich auf. »Das war alles echt.«

Sie setzt sich auch auf, dreht sich zu mir in der Dunkelheit. »Da unten war nichts, Rhine.«

»Dann hat er sie versteckt«, sage ich. »Die Leichen. Die Bediensteten. Wenn Gabriel hier wäre, würde er dir dasselbe sagen.«

Cecily nimmt eine aufrechtere Haltung an, voller Hoffnung. Sie will mir glauben. »Hat er dir erzählt, dass da unten Leichen sind?«

»Nicht so richtig.«

»Was hat er dir denn erzählt?«

Ich fühle mich schwach, lasse mich aufs Kissen zurückfallen, gebe mich geschlagen. »Nicht viel«, gestehe ich ein. Zuerst war er unter Drogen und dann gab es ein Problem nach dem anderen. »Er hatte keine Gelegenheit.«

Cecily liegt neben mir, reibt mir beschwichtigend den Arm. Wir werden beide still. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass ich die Einzige bin, die gesehen hat, was Vaughn im Keller gelagert hatte. Doch, schlimmer noch, ich möchte wie Linden und Cecily glauben, dass in Wirklichkeit nichts von alldem geschehen ist. Vielleicht ist es ja so. Vielleicht ist Deidre wirklich in ein anderes Haus verkauft worden, als ich weg war, und Adair und Lydia auch. Vielleicht geht es ihnen gut und sie sind in Sicherheit – und ich habe Deidre heraufbeschworen, um die Einsamkeit bewältigen zu können, während ich an dieses Bett geschnallt war. Sie hat mich oft besucht.

Im Kopf mache ich eine Liste von allem, was ich weiß. Vaughn hat Jenna getötet, so viel hat er eingestanden. Roses Leiche war im Keller an dem Tag, an dem die Aufzüge ausgefallen sind. Ich habe sie gesehen. Ich habe ihren Nagellack wiedererkannt, ihre blonden Haare. In meinem Bein war ein Peilsender. Deidre hat mich darauf aufmerksam gemacht. So war es doch? Ich denke an all die Helfer, die an mir gearbeitet haben, während ich im Kellergeschoss war. In meiner Erinnerung tragen sie alle denselben hohlen Gesichtsausdruck, keiner hat eine Stimme, keinem bedeute ich etwas. Nur Deidre hatte Wärme. Ihre Stimme war sanft, sie hat mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben, das grotesk war an diesem Ort.

Die Liste fällt in sich zusammen, Worte und Erinnerungen vermengen sich zu einem blutigen Durcheinander. Wie frustrierend, dass die Bilder sich ständig verändern!

Schließlich ist es Cecily, nach der ich greife. Wenigsten kann ich mir sicher sein, dass sie existiert. Ihre Haut ist verschwitzt und warm, als ich die Ärmel des Nachthemdes hochschiebe, das sie sich von mir geliehen hat. Ich mache mir Sorgen, weil sie so überhitzt ist, als würde ein Feuer in ihr lodern. Ich glaube, sie war eingeschlafen und ich habe sie geweckt, denn sie murmelt irgendetwas Sinnloses, ehe sie die Augen aufschlägt. »Du musst mir nicht glauben«, sage ich. »Du musst nur glauben, dass Vaughn zu diesen Dingen fähig ist.«

»Das tue ich«, versichert sie. »Aber Linden nicht. Ich glaube, er will es nicht wahrhaben. Er ist so sensibel, weißt du.«

Sie streichelt mir die Wange, eine sich wiederholende, zarte Bewegung. Wie kleine gespenstische Küsse.

»Ich dachte, Hausprinzipal Vaughn wollte Gutes tun und uns alle retten«, sagt sie. »Ich habe mich geirrt. Das zuzugeben heißt, dass er kein Gegenmittel finden wird und dass keiner von uns viel Zeit hat. Du hast gesagt, du musst deinen Bruder finden … also solltest du das auch tun. Und Linden und ich haben Bowen und dieses Baby. Ich will so viel Zeit mit ihnen verbringen, wie ich kann. Ich will bis zum Ende mit ihnen zusammen sein.«

Letztes Jahr hätte sie nicht gewagt, all diese Dinge auszusprechen. Jetzt zuckt sie nicht mit der Wimper. Ihre Stimme bricht nicht mal, als sie hinzufügt: »Wenn all das, was du gesehen hast, wirklich da war, dann können wir nichts dagegen tun. Wir müssen uns um unser eigenes Leben kümmern, und unsere Zeit, damit etwas anzufangen, ist begrenzt.«

Was sie sagt, ist schrecklich und wahr. Sie greift nach meiner Hand. Wir drücken einander die Finger, und ich warte darauf, dass ihr die Tragweite ihrer Worte bewusst wird. Ich warte darauf, dass sie sich an mich presst und anfängt zu schluchzen. Doch an ihrem vernünftigen Tonfall merke ich, dass sie diese Worte schon lange mit sich herumträgt. Während ich weg war, hat sie genügend Zeit gehabt, sich an sie zu gewöhnen.

Und als Minuten später das Schluchzen kommt, ist es mein Schluchzen.

Meine Schwesterfrau ist längst eingeschlafen.

Ich träume von Linden, der in der Tür steht. Er schaut mich lange an, das Grün seiner Augen ändert sich jede Sekunde. »Die Sterne sehen tatsächlich aus wie ein Drachen«, gibt er zu. »Aber alles andere, was du gesagt hast, ist gelogen.«

Morgens wache ich auf, weil Cecily aus dem Bett springt und über die Dielen zum Fenster poltert. »Sei leise«, sage ich und zucke zusammen, als sie das Rollo mit einem schlürfenden Geräusch hochschnellen lässt und das Licht plötzlich eindringt.

»Nein, nein, nein. Du musst dich verstecken«, drängt sie. In ihren Augen steht Panik. Unter dem Fenster schnurrt ein Motor.

Schwankend stehe ich auf, jeder Muskel schmerzt, und gehe zum Fenster. Draußen steht die Limousine und daneben eine Gestalt, die uns nach unten winkt. Linden hatte gesagt, er würde Cecily am Morgen abholen, aber als meine Benommenheit nachlässt, wird mir klar, dass nicht Linden gekommen ist.

Sondern Vaughn.