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CYNTHIA EDEN

Firebird

Glühende Dämmerung

Roman

Ins Deutsche übertragen

von Antje Engelmann

Zu diesem Buch

Die Journalistin Eve Bradley schleust sich undercover in das Labor des berüchtigten Dr. Richard Wyatt ein, der dort Versuche an Übernatürlichen durchführt, um einen Überkrieger erschaffen zu können. Dort erregt besonders Caine, Versuchsobjekt Dreizehn, ihre Aufmerksamkeit. Er berührt sie wie niemand zuvor. Als Caine vor ihren Augen getötet wird, jedoch wie ein Phoenix aus der Asche wieder aufersteht, weiß sie augenblicklich, dass Dr. Wyatt diese Gabe niemals für seine Zwecke missbrauchen darf. Gemeinsam gelingt es ihnen aus dem Labor zu flüchten, doch die Häscher des Labors setzen alles daran, sie zurück in ihre Gewalt zu bekommen …

1

Dreizehn lag in Ketten, als Eve Bradley ihn zum ersten Mal sah.

Sie erstarrte vor der Trennscheibe, die für Versuchsperson Dreizehn auf der anderen Seite des Glases wie ein Spiegel aussah. Halb durchlässig erlaubte er Ärzten und Beobachtern, jede Bewegung der Testperson mit anzusehen. Wobei der Mann sich kaum bewegen konnte, weil er an die Wand gekettet war.

»Ich … ich dachte …« Eve bemühte sich, nicht zittrig zu klingen. Sie sollte wirken, als gehörte sie hierher. Als passte sie zu all den Forschern, die ganz heiß darauf waren, an den Versuchspersonen herumzuexperimentieren. »Ich dachte, jeder ist freiwillig hier.«

Dr. Richard Wyatt wandte sich ihr zu, und sein weißer Laborkittel streifte sie. »Die Ketten sind zu seiner Sicherheit.« Sein Ton vermittelte ihr, dass sie diese offenkundige Tatsache hätte erkennen müssen.

Ja, richtig.

Ob sie ihm diese Behauptung wirklich abkaufen sollte? Angekettet zu sein – in welcher durcheinandergeratenen Welt bedeutete das denn Sicherheit?

»Dr. Bradley …« Wyatts dunkle Brauen hoben sich, als er sie prüfend musterte. »Ihnen ist doch wohl klar, dass alle Versuchspersonen hier ganz und gar keine Menschen sind?«

Sie kannte dieses Gerede. »Selbstverständlich. Es sind Übernatürliche, die an Experimenten teilnehmen, die dem US-Militär zugutekommen.« Das hatten all die schicken Anzugträger den Medien erzählt, als die Genesis-Gruppe im Herbst mit der Anwerbung von Mitarbeitern begonnen hatte.

Deren Geschichte allerdings glaubte sie nicht. Es hatte Eve Monate - Monate - gekostet, sich eine falsche Identität zuzulegen und in die Forschungseinrichtung zu gelangen.

Wäre sie dabei auf sich allein gestellt gewesen, hätte sie die Sicherheitsüberprüfung nie bestanden. Aber zum Glück hatte Eve sich im Laufe der Jahre mit einigen mächtigen Leuten anfreunden können.

Mit Leuten, die die Wahrheit über diese Einrichtung so dringend erfahren wollten wie Eve. Sie alle hatten ein Interesse an Genesis.

Manche Journalisten konnten eine Story einfach riechen. Und in diesem Moment zuckten Eves Nasenflügel.

Sie betrachtete wieder Versuchsperson Dreizehn. Jeder wusste, dass Paranormale mitten unter den Menschen lebten. Vor etwa zehn Jahren hatten die ersten Übernatürlichen sich zu erkennen gegeben und ihr Coming-out in der Welt der Normalsterblichen gehabt. Und warum auch nicht? Warum hätten sie gezwungen sein sollen, sich weiter zu verbergen? Sich immer im Dunkeln herumzudrücken musste ja ätzend sein. Vielleicht waren sie es einfach leid gewesen, eine Lüge zu leben, und hatten beschlossen, die Menschen dazu zu zwingen, wahrzunehmen, was sich unmittelbar vor ihren Augen abspielte – oder direkt rechts und links von ihnen lebte.

Seit der großen Enthüllung war für die Paranormalen vieles anders geworden. Manche wurden gejagt, andere über Nacht berühmt. Und auch die Reaktionen der Menschen hätten unterschiedlicher nicht sein können.

Manche Menschen hassten die Übernatürlichen. Andere fürchteten sie. Und wieder andere schliefen rasend gern mit ihnen.

Eve gehörte nicht unbedingt zu einer dieser Gruppen.

Versuchsperson Dreizehn musterte sie unverwandt. Eve fröstelte ein wenig.

Dreizehns Augen waren dunkel und wirkten fast schwarz – so schwarz wie sein volles Haar, das etwas zu lang war und ihm über die breiten Schultern strich. Er war ein gut aussehender Mann, stark, muskulös – unübersehbar muskulös –, und sein herrlicher Knochenbau hatte bei Frauen sicher schon viel Aufmerksamkeit erregt.

Hohe Wangenknochen. Ein kantiger Unterkiefer. Feste, etwas dünne Lippen, die aber dennoch sexy waren … obwohl Eve hätte schwören können, dass sein Mund einen Zug ins Grausame besaß.

Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Dreizehns Blick glitt über ihren Leib. Langsam und bedacht. »Kann er … kann er durch den Spiegel sehen?« Sein Blick fühlte sich an, als berührte etwas Heißes Eve.

»Natürlich nicht«, erwiderte Doktor Wyatt sofort. Der Arzt klang verärgert über sie.

Ihre Schultern entspannten sich.

Versuchsperson Dreizehn lächelte.

Mist! Gleich verspannten sich ihre Muskeln wieder.

Wyatt sah in seine Aufzeichnungen und sagte: »Gehen Sie rein, und überprüfen Sie seine lebenswichtigen Organe, bevor wir mit der Prozedur beginnen.«

Richtig. Prüfung der lebenswichtigen Organe. Das war ihre Aufgabe. Eve nickte. Zwei Jahre war sie auf eine medizinische Hochschule gegangen, ehe sie begriffen hatte, dass dieses Studium nichts für sie war. Deshalb genügte sie den Anforderungen dieser Leute problemlos. Ihr Lebenslauf war nur zum Teil erfunden.

Der gute Teil war ausgedacht.

Eve näherte sich langsam der Metalltür, dem einzigen Zugang zu dem Zimmer, in dem Dreizehn festgehalten wurde. Ein Wächter öffnete ihr. Ein bewaffneter Wächter, was die nächste Frage aufwarf: Warum mussten Freiwillige bewacht werden?

Dieser Ort machte ihr wirklich Angst. Freiwillige? Gute Güte!

Natürlich hatte Eve während ihrer Zeit bei Genesis einige weitere Probanden gesehen. Aber nicht viele. Eve war lediglich zur Arbeit in Sicherheitszone eins berechtigt gewesen. Erst an diesem Tag hatte sich das geändert.

Als man ihr nämlich gesagt hatte, Dr. Wyatt brauche bei diesem letzten Experiment ihre Hilfe. Dr. Richard Wyatt war Genesis. Als ehemaliges Wunderkind besaß er eine ganze Handvoll Studienabschlüsse und war der führende Experte in paranormaler Genetik.

Außerdem war er ein Mistkerl, der Eve Angst einjagte, wenn seine kalten grünen Augen sie musterten. Er mochte ja ziemlich attraktiv sein, aber etwas an ihm ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Der Wächter gab ihr per Handzeichen zu verstehen, sie könne gefahrlos eintreten. Als Eve in Dreizehns Zelle kam, blähten sich dessen Nüstern ein wenig. Dann wandte er ihr langsam den Kopf zu und fasste sie mit fast schlangenhafter Bewegung des Halses von oben bis unten ins Auge.

Er sagte nichts, doch seine kräftigen Hände ballten sich zu Fäusten.

Eve öffnete ihre kleine schwarze Tasche. »Hallo.« Ihre Stimme klang zu hell. Sie holte Luft, um sich zu sammeln. Der Mann war angekettet. Ihr konnte gar nichts passieren. Sie musste sich nur zusammenreißen und ihre Arbeit machen. »Ich bin bloß hier, um Sie schnell zu untersuchen.« Er war an keine Apparate oder Monitore angeschlossen. Wyatt wollte, dass diese Untersuchungen auf altmodische Weise erledigt wurden – warum auch immer. Eve zog ihr Stethoskop heraus und blieb einen halben Schritt vor Dreizehn stehen. »Ich … ich muss Ihr Herz abhören und ihren Puls messen.«

Noch immer nichts. Gut. Eve schluckte und warf ihm ein schwaches Lächeln zu. Offenbar war er nicht der geschwätzige Typ.

Eve schob sich näher an ihn heran. Ihr Blick sprang zu den Ketten, die seine Arme an den Seiten gefesselt hielten. Selbst wenn er sie hätte packen wollen – tu das bloß nicht! -, hätte er sich nicht bewegen können.

Und falls Wyatt ihr eine Falle stellte? Der Typ war schließlich angekettet, musste also gefährlich sein, oder? Und es waren wirklich enorm dicke Ketten. Sie schienen direkt aus einer Folterkammer des Mittelalters zu stammen.

»Ich tue Ihnen schon nicht weh.«

Seine Stimme ließ sie zusammenfahren. Wie dunkel und knurrend sie klang! Der große böse Wolf im Märchen hatte sich bestimmt genauso angehört wie Versuchsperson Dreizehn.

Sie atmete aus und hoffte, nicht verunsichert zu wirken. »Das hatte ich auch nicht erwartet.«

Sein Mund verzog sich zu der kaum sichtbaren Andeutung eines Lächelns, das sie der Lüge bezichtigte.

Eve setzte ihm das Stethoskop aufs Herz, horchte und betrachtete ihn erstaunt. »Schlägt es immer so schnell?« Sie nahm sein Krankenblatt und überflog die Einträge. Sein Puls war normalerweise hoch, aber nicht so hoch. Jetzt dagegen galoppierte sein Herz wie ein Rennpferd.

Eve legte ihm die Hand auf die Stirn und atmete vernehmlich aus. Er glühte. Seine Haut war nicht warm, nicht fieberheiß, sondern glühend.

Und sie war ihm so nah, dass ihre Brüste seinen Arm streiften.

Der Puls von Versuchsperson Dreizehn nahm noch mehr Fahrt auf.

Oh … auweia … oh. Verdammt! Sie wich eilig ein wenig zurück.

»Ich muss Ihnen etwas Blut abnehmen.« Eve wollte auch seine Temperatur messen, denn er musste ja förmlich brennen. Worum mochte es sich bei ihm wohl handeln? Sicher nicht um einen Vampir, denn die konnten solche Temperaturen nicht erreichen. Um einen Gestaltwandler? Vielleicht. Am ersten Tag hier hatte sie einen gesehen. Aber der hatte sich in einem behaglichen Schlafzimmer aufgehalten.

Und war nicht angekettet gewesen.

Eve packte das Stethoskop ein, nahm eine Spritze, schob sich erneut vorsichtig an Dreizehn heran und stellte sich auf die Zehen. Er war groß, sicher eins siebenundachtzig, vielleicht sogar eins neunzig, und so reichte sie ihm nicht ganz bis ans Ohr, als sie flüsterte: »Sind Sie freiwillig hier?«

Dann zapfte sie ihm Blut ab. Dreizehn zuckte nicht mal, als die Nadel in seinen Arm glitt.

Doch er schüttelte kurz den Kopf.

Mist! Sie ließ sich wieder auf die Fußsohlen sinken und überlegte, wie sie ihm helfen konnte.

»Ich bin Eve.« Sie leckte sich die Lippen, und sein Blick folgte dieser Bewegung. Die Dunkelheit in seinen Augen schien sich zu erhitzen. Alles an diesem Mann war glühend. »Ich … ich kann Ihnen helfen.«

Er lachte nur, und das Geräusch ließ sie erschauern. »Nein«, sagte er mit seiner tiefen knurrenden Stimme, »das können Sie nicht.«

Eve merkte, dass sie zwischen seinen Beinen stand. Zwischen seinen unangeketteten Beinen. Seine Oberschenkel streiften ihre, und sie schrak zusammen.

Sein Lächeln war so kalt wie sein Lachen. Sie hatte sich nicht getäuscht, als sie etwas Grausames um seine Lippen bemerkt zu haben glaubte. Jetzt lag diese Härte klar zutage. »Sie sollten Angst haben«, sagte er.

Ja, diese Ahnung machte sich tatsächlich in ihr breit.

Eve zog die Spritze aus seinem Arm und tupfte etwas Alkohol auf eine Wunde, die sie nicht mal sehen konnte. Dann trat sie von ihm zurück, so rasch es ging.

»Kommen Sie nicht wieder hier rein«, sagte er, und seine Augen wurden schmal. Eine Warnung.

Oder eine Drohung?

Eve wandte sich ab.

»Sie riechen wie Naschwerk …«

Sie hielt inne. Jetzt war es ihr Herz, das zu schnell schlug.

»Sie machen mich …« Er senkte die Stimme, doch sie vernahm ein geknurrtes »hungrig«.

Und er machte ihr Angst. Eve schlug energisch gegen die Metalltür. »Wächter!« Wieder war ihre Stimme zu hoch. »Wir sind fertig!«

Die Tür wurde geöffnet, und sie stürzte fast aus der Zelle. Trotz ihrer Angst wagte sie noch einen letzten Blick zurück. Dreizehn starrte ihr mit zusammengebissenen Zähnen nach. Er sah wirklich hungrig aus, aber um etwas zu essen schien es ihm nicht zu gehen.

Es geht ihm um mich.

Die Tür glitt zu, und Eve fiel wieder ein, wie man atmete. Sie holte tief Luft und blickte auf – geradewegs in die stechenden und allzu grünen Augen Dr. Wyatts.

»Probleme?«, fragte er leise und mit schwachem Südstaatenakzent. Obwohl das Genesis-Labor abgelegen in den Blue Ridge Mountains im Osten der USA lag, zeugte der Akzent vieler Mitarbeiter davon, dass sie ihre Wurzeln im Süden hatten.

Die Wächter jedenfalls. An Dreizehn hatte sie keinen Akzent bemerkt.

Sie riss sich zusammen, schüttelte den Kopf und schob Wyatt Dreizehns Krankenblatt zu. »Ganz und gar nicht, Sir.«

Lügnerin, Lügnerin.

Sie spürte noch immer diesen Blick auf ihrem Leib. Schlimmer: Sie spürte ihn selbst.

»Gut«, sagte Wyatt, »denn wir fangen jetzt an.«

Anfangen? Sie hatte gedacht, ihre Arbeit wäre erledigt.

Er gab dem Wächter ein Zeichen. Den Namen des Mannes kannte sie schon. Mitchell. Barnes Mitchell. Vor Eves Augen zog er seinen Revolver und prüfte die Trommel.

»Der erste Schuss darf nicht ins Herz gehen«, wies Wyatt ihn an, neigte den Kopf zur Seite und schürzte die Lippen. »Wir wollen einen Vergleichsschuss. Verwunden Sie ihn zunächst, und dann schießen Sie ihm ins Herz.«

Was?

Doch Barnes nickte bloß und begab sich mit entsichertem Revolver in Dreizehns Zelle.

Obwohl sie gerade Luft geholt hatte, wäre Eve beinahe erstickt, so sehr raubte der Schreck ihr den Atem.

Cain O’Connor atmete tief ein. Die Luft roch nach ihr. Ein leichter süßer Geruch. Er konnte die Frau beinahe spüren – und er wollte mehr von ihr. Sehr viel mehr.

Was dachten sich diese Kerle dabei, einen Leckerbissen wie sie zu ihm in die Zelle zu schicken? Wussten sie nicht, was er ihr antun konnte? Was er tun wollte? Nach all den Monaten …

Vielleicht hatten sie ihn in Versuchung führen wollen? Er zerrte an den Ketten, um ihre Stärke zu testen. Solches Metall war ihm nie begegnet. Sie mussten verstärkt worden sein. Die Genesis-Leute hielten sich mit ihren Erfindungen ja für besonders clever. »Auch von Geschöpfen mit übernatürlichen Fähigkeiten nicht zu knacken«, hatte dieser Wyatt hämisch verkündet, als er wegen der Ketten gefragt hatte.

Die Ketten würden ihn nicht für alle Zeiten fesseln. Diese Haft würde enden. Und der Albtraum dieses Monsters und seiner Folterknechte würde beginnen.

Bald.

Seine Zellentür öffnete sich. Er nahm sie – Eve - kurz wahr, als sie sich noch einmal zu ihm umsah. Ihre blauen Augen waren vor Angst geweitet. Und Angst sollte sie auch haben. Und möglichst schnell von hier fliehen. Bevor es zu spät für sie sein würde.

Für die anderen war es schon zu spät. Er hatte sie zum Sterben ausersehen. Vor allem Wyatt. Diesem Arzt verschaffte Folter doch erst den ersehnten Kick.

Wie wird es dir gefallen, wenn du erst brüllst, Wyatt? Ob es dir dann immer noch so viel Spaß macht?

Der Wächter trat ein. Er roch nach Schweiß und Zigaretten. Die Tür schloss sich hinter ihm. Keine Eve mehr.

Doch Cain hörte ihre Schritte. Ihre und die Wyatts. Seine Sinne waren viel schärfer, als er merken ließ. Warum sollte er seinen Feinden einen Vorteil verschaffen?

Warum sollte er ihnen das Geringste geben?

Der Wächter, ein untersetzter Kerl mit durchtriebenem Blick und entschiedenem Behagen an Folterungen, hatte seine Waffe gezogen. Cain biss die Zähne zusammen. Er wusste, was der Revolver bedeutete. Diesmal würden sie es mit altmodischen Kugeln versuchen.

Ob sie ihm ins Herz schießen würden? Oder in den Kopf? Vielleicht würde der Wächter zwischen die Augen zielen und ihm das Hirn wegpusten.

»Was machen Sie da?« Das war Eves Stimme. Sie erreichte seine Ohren wie ein Flüstern. Dabei hielten sie diese Zelle für schalldicht.

Da täuschten sie sich. Er konnte die Stimmen zwar nicht laut hören, doch sie erreichten ihn als Flüstern. Er wusste sehr viel mehr, als dieser zweifelhafte Arzt ahnte.

Cain sah zum Spiegel und blickte mühelos in das dahinterliegende Zimmer. Dazu brauchte er sich nur etwas zu konzentrieren und ein wenig von seiner Energie zu mobilisieren …

Da ist sie.

Sie hatte sich das dunkle Haar mit Nadeln hochgesteckt. Ihr Gesicht war … wirklich sehr schön. Scharf konturierte Wangenknochen und rote volle Lippen, die ihn an sinnliche Freuden im Bett denken ließen.

Und ihre Augen hatten etwas … unfassbar Tödliches.

Vielleicht gehörten sie zu den wenigen Dingen, die wirklich tödlich für ihn sein konnten.

»Warum hat der Wächter den Revolver gezogen?«, wollte Eve wissen, und er hörte, wie Angst ihre Stimme beben ließ.

Das gefiel ihm nicht, weder der Klang der Furcht noch deren Geruch. Als Eve ihm sehr nah gekommen war, war sie ängstlich gewesen.

Arme Eve. Wahrscheinlich wusste sie nicht, wen sie mehr fürchten sollte - ihn oder Wyatt.

Cain schaute auf den Revolver in Barnes’ Hand. »Ziemlich unfair, oder?«, brummte er. »Auf mich zu schießen, wenn ich angekettet bin?«

»Sie lassen es zu, dass der Wächter ihn erschießt?«, rief Eve nun.

Nein, sie war wirklich nicht wie die anderen. Das mochte ein Problem werden. Wenn hier die Hölle losbrach – und gleich war es so weit -, musste er dafür sorgen, dass sie keine Verbrennungen erlitt.

Nicht allzu viele Verbrennungen jedenfalls.

Der Lautsprecher an der Zellenwand knackte. »Test fortsetzen«, befahl Wyatt mit seinem nervtötenden Akzent.

Verdammt! Cain spannte alle Muskeln an. Es passte ihm nicht, dass die Frau dies miterleben musste, aber vielleicht musste sie sehen, wozu diese Kerle imstande waren. Sie hatte bei diesem Projekt angeheuert und sollte ruhig erkennen, wie wahnsinnig ihr Chef tatsächlich war.

»Das darf er nicht«, rief Eve mit sich überschlagender Stimme …

Doch da feuerte der Wächter schon.

Die Kugel traf Cain seitlich in den Leib und zerriss Fleisch und Muskeln. Blut spritzte. Furchtbare Schmerzen ließen ihn zittern.

Doch er gab keinen Laut von sich. Dieses Vergnügen gönnte er dem Sadisten, der ihn beobachtete, nicht.

»Silberkugeln können in die Versuchsperson eindringen«, bemerkte Wyatt ungerührt, als spräche er über das Wetter.

Cain ballte die Hände zu Fäusten. Der nächste Schuss würde ein lebenswichtiges Organ treffen. Er wusste, wie das lief. Wyatt gefiel es, mit seinen Opfern zunächst zu spielen. Foltergeiler Hurensohn …

»Aufhören!«

Cain sah auf. Eve hämmerte an die Glaswand, und der Spiegel erzitterte unter der Wucht ihrer Faustschläge. »Wächter, lassen Sie ihn in Ruhe!«, rief sie, und ihre verzweifelten Worte dröhnten aus dem Lautsprecher. »Werfen Sie die Waffe weg!«

Nicht wie die anderen.

Wyatt packte sie an den Schultern und zog sie zurück. Wut pulsierte durch Cains Adern. Der Arzt hatte kein Recht, sie anzufassen.

»Weitermachen«, befahl Wyatt.

Eve kreischte und wand sich in seinen Armen.

Cain sah, wie sie sich von dem Arzt befreite. Sie rannte zur Zellentür und riss sie auf.

»Weitermachen!« Wyatt klang jetzt wirklich verärgert.

Eve hetzte in die Zelle. »Lassen Sie ihn in Ruhe!«, fuhr sie den Wächter an. »Werfen Sie die Waffe weg und …«

Der Wächter feuerte.

Die Kugel traf Cain direkt ins Herz. Er hörte das Geräusch, mit dem sie ihm in den Leib drang. Spürte, wie sie ihm durchs Herz fuhr. Ein Moment. Zwei.

Er sah Eve in die Augen. Ihre ach so blauen Augen weiteten sich, und ihre Lippen öffneten sich zu einem Schrei, den er nicht hörte.

Es war zu spät. Cain war bereits tot.

Glühend rot breitete sich Blut auf Dreizehns Brust aus. Die Kugel hatte ihn direkt ins Herz getroffen.

Eve stürzte zu ihm und kümmerte sich nicht um den Revolver, den der Wächter langsam sinken ließ. Verdammter Killer! Einen angeketteten Mann zu erschießen!

Dreizehns Beine hatten unter ihm nachgegeben, aber die Ketten verhinderten, dass er auf den Boden krachte. Sein Kopf war nach vorn gesackt und hing schlaff herab.

Sie schob ihm die Hände unters Kinn und hob es an. Oh weh! Seine Lider waren geschlossen, und die Wimpern warfen schwere Schatten auf seine Wangen. »Tut mir leid«, flüsterte sie ihm zu. Sie hätte schneller sein müssen. Hätte den Wächter k. o. schlagen sollen, irgendwas tun sollen, um diesen Mann zu retten.

Stattdessen hatte sie zugesehen, wie er gestorben war.

»Sie müssen sich von der Versuchsperson entfernen, Dr. Bradley«, sagte Wyatt, und diesmal kam seine Stimme nicht aus dem Lautsprecher an der Wand, sondern von irgendwo hinter Eve.

Sie erstarrte. »Sie haben gerade einen Mann kaltblütig ermordet.« Sie hatte nicht erwartet, je so etwas erleben zu müssen. Experimente waren eine Sache. Mord dagegen war eine Sünde von ganz anderem Gewicht.

Eine Sünde, für die es keine Vergebung gab.

Mit der Hand strich sie durch Dreizehns Haar. Sie hatte gesagt, sie würde ihm helfen.

»Er ist kein Mensch.« Wyatt klang belustigt. »Und das wissen Sie. In diesem Labor finden keine Menschenversuche statt. Genesis befasst sich nur mit Paranormalen.«

Eve zitterte vor Wut. »Egal, ob er ein Mensch ist oder ein Übernatürlicher … Sie haben ihn umgebracht.« Sie drehte sich zu Wyatt und dem Wächter um. Beide standen gut drei Meter von ihr entfernt.

Wyatt zuckte mit den Schultern. »Das gehört zum Experiment.«

Was?

Er stöhnte verärgert auf. »Sie sollten jetzt wirklich beiseitetreten. Wenn nicht, kann ich für Ihre Sicherheit leider nicht garantieren.«

Verrückt. Dieser Arzt war ein Fall für die Psychiatrie, und sobald sie das Labor verlassen hätte, würde sie allen Medien des Landes ihre Geschichte laut und stolz verkünden. Sie würde dafür sorgen, dass dieses Loch geschlossen wurde – und wenn es das Letzte war, was sie tun würde.

Sicher, manche hatten den Übernatürlichen gegenüber Bedenken, aber niemand würde eine Todesfabrik akzeptieren. Niemand würde …

Dreizehn bewegte sich unter ihren Fingern, wenn auch nur ein klein wenig.

»Treten Sie beiseite, Dr. Bradley!«

Hörte sie Angst in Wyatts Stimme? Eve war sich nicht sicher, und da sie ihm den Rücken zuwandte, konnte sie seine Miene nicht auf Gefühle hin mustern. Ihre Aufmerksamkeit war auf Dreizehn gerichtet, weil … sie hätte schwören können, dass sie gerade gespürt hatte, wie er einatmete.

Unmöglich.

Sicher, Vampire konnten die verschiedensten Angriffe überleben, aber Dreizehn war kein Vampir. Darauf hätte Eve ihr Leben verwettet. Sie hatte ihn sterben sehen. Es war …

Seine Wimpern hoben sich. Er blickte sie an. Nur waren seine Augen nicht mehr schwarz. Sie waren rot und brannten wie Flammen. Sie loderten geradezu - loderten, loderten …

Brutale Hände zerrten Eve zurück. Sie stürzte zu Boden, brachte dabei aber auch Wyatt und den Wächter zu Fall. Die beiden hatten nach ihr gegriffen und zogen sie aus Dreizehns Nähe.

Doch schon waren Wyatt und der Wächter wieder auf den Beinen und schleiften sie quer durch die Zelle hinaus.

Eve widersetzte sich nicht, konnte den Blick aber nicht von Dreizehn abwenden. Rauch stieg von ihm auf, als würde er von innen brennen. Dieser Blick – sie meinte, direkt in die Hölle zu schauen. In den Augen eines Mannes sollte kein Feuer flackern.

Doch in seinen Augen standen lodernde Flammen.

Der Rauch, der von ihm aufstieg, wurde immer dichter.

»Raus!«, bellte Wyatt. Der Wächter packte sie bei einer Hand, Wyatt bei der anderen. Zu dritt taumelten sie auf den Flur. Wyatt schloss die Tür und gab hastig einen Sicherheitscode ein, der das Zellenschloss zuschnappen ließ.

Eve merkte sich die Zahlenfolge. Denn was einen Mann einschloss … konnte ihn womöglich auch befreien.

Dann hetzten sie zu dritt zum halb durchlässigen Spiegel zurück. Denn nun stieg nicht mehr nur Rauch von Dreizehn auf: Der Mann stand lichterloh in Flammen!

»Oh Gott«, entfuhr es ihr, und sie flüsterte vor Staunen.

Dreizehn wandte den Kopf. Durch die Flammen hindurch musterte er sie.

All ihre Muskeln verspannten sich in blankem Entsetzen. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Wie war das möglich? Wie konnte er stehen? Denn inzwischen stand er. Er lag nicht mehr auf den Knien. Er hing nicht mehr in den Ketten. Er stand.

Die Flammen erstarben langsam. Sie hatten seine Kleidung verzehrt. Asche umschwebte ihn. Dreizehn stand da – nackt, stark und mit einem wirklich vollkommenen Körper.

Von der Schusswunde, die ihn getötet hatte, war nicht mehr das Geringste zu sehen.

Nur dass … ihn die Kugel gar nicht getötet hatte und er sie noch immer ansah.

»W… was ist das denn für einer?«, brachte Eve mühsam hervor.

Dreizehn zerrte an den Ketten, die ihn nach wie vor fesselten. Ketten, die feuerfest sein mussten.

»Das weiß ich nicht …«, erwiderte Wyatt, und die Aufregung in seinen Worten war unüberhörbar, »aber ich werde es herausfinden.«

Dreizehns Blick sprang zum Arzt hinüber.

Er sieht uns. Sie wusste nicht, wie er das machte, doch der Mann, der tot hätte sein sollen, konnte mühelos durch das Schutzglas blicken.

»Wieder ein erfolgreiches Experiment.« Wyatt wandte sich vom Beobachtungsspiegel ab und trat auf den Flur zu seinem Büro. »Morgen probieren wir es mit Ertränken. Ich bin gespannt, ob auch Wasser die Flammen der Versuchsperson nicht zu löschen vermag …«

Eve blieb völlig reglos. Sie konnte sich nicht rühren.

Morgen probieren wir es mit Ertränken.

Dr. Richard Wyatt war ein schwer gestörter Wissenschaftler vom Schlage eines Frankenstein. Sie legte die Hand an die Scheibe. Worum es sich bei Dreizehn handelte, wusste sie nicht, aber sie durfte nicht zulassen, dass Wyatt ihn weiter folterte.

»Ich halte ihn auf«, flüsterte sie.

Doch Dreizehn schüttelte den Kopf und formte die Lippen zu einer kurzen stummen Mitteilung: Ich erledige das.

Richard Wyatt hatte sich noch rechtzeitig umgeschaut, um zu sehen, wie Eve die Hand an die Scheibe legte – als versuchte sie, die Testperson zu berühren. Sie hätte aufgrund dessen, was sie gerade mit angesehen hatte, tief verängstigt und verzweifelt darum bemüht sein müssen, diesen Ort zu verlassen.

Genau wie die anderen.

Aber nein, sie war noch immer da und betrachtete Dreizehn fasziniert. Und der musterte sie genauso bezaubert.

Perfekt, wirklich. Das Experiment war noch ergiebiger, als Wyatt zu hoffen gewagt hatte. Diese neue Entwicklung konnte eine ganze Welt unerwarteter Möglichkeiten eröffnen.

Eine vollkommene Tötungsmaschine. Ein unsterblicher Attentäter.

Einer, den nur er zu beherrschen vermochte.

Das Experiment war ein entschiedener Erfolg gewesen. Er konnte den Beginn der morgigen Vorstellung kaum erwarten.

Wie wunderschön die Flammen gewesen waren! Ob sie Eves zarte Haut verbrennen würden? Oder würde Dreizehn endlich beginnen, seine wahre Stärke zu zeigen?

Um ihretwillen täte er gut daran, sich zu beherrschen. Denn die schöne Eve würde bei den morgigen Ereignissen nicht bloß Beobachterin sein.

Sie würde an dem Experiment teilnehmen.