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Ob kilometertief unter dem Meeresboden oder hoch oben in der Troposphäre: Mikroben sind unangefochten die vorherrschende Lebensform auf Erden! Erst in den letzten Jahren erkennen Forscher im Zuge verbesserter DNA-Analysen wie schwindelerregend hoch ihre Zahl und Vielfalt tatsächlich ist und wie eng und vielfältig die Verbindung von Tieren und Pflanzen mit den mikrobiellen Winzlingen wirklich sind.
In »Die Herrscher der Welt« erzählt Bernhard Kegel kenntnisreich und höchst anschaulich von diesen revolutionären Entdeckungen, die die Art, wie wir uns selbst und das Phänomen Leben sehen, vollständig verändern.
 
Bernhard Kegel, geboren 1953 in Berlin, studierte Chemie und Biologie an der Freien Universität Berlin, danach Forschungstätigkeit, Arbeit als ökologischer Gutachter und Lehrbeauftragter. Seit 1993 veröffentlichte Bernhard Kegel mehrere Romane und Sachbücher, bei DuMont erschienen die Sachbücher ›Epigenetik‹ (2009), ›Tiere in der Stadt‹ und ›Die Ameise als Tramp‹ (beide 2013). Bernhard Kegels Bücher wurden mit mehreren Publizistikpreisen ausgezeichnet. Er lebt als freier Autor und Wissenschaftspublizist in Berlin.

Bernhard Kegel

DIE HERRSCHER
DER WELT

Wie Mikroben unser Leben bestimmen

 

We used to think of ourselves

as separate from nature.

Now it’s not just us. It’s us and them.

Rosamond Rhodes1

 

 

Mögen deine Symbionten mit dir sein!

Angela E. Douglas2

Einführung

Wahrscheinlich mögen Sie keine Bakterien. Niemand mag sie. Bakterien verursachen abscheuliche Krankheiten und gedeihen da, wo Chaos und Verfall regieren, das weiß jedes Kind, spätestens seit es Geschichten über die Zahnzerstörer Karius und Baktus gehört hat. Diese Abneigung sitzt tief und ist wohlbegründet. Ganze Heerscharen von Ärzten verschrieben sich dem Kampf gegen Bakterien, und einige haben dabei sogar ihr Leben verloren. Koch, Pasteur, Virchow, die größten Heroen der Medizingeschichte, gelangten zu Ruhm, weil sie wichtige Erkenntnisse über Bakterien gewinnen und Etappensiege über einzelne Erreger erringen konnten. Dass diese Mikroben auch unsere Abwässer reinigen und unschätzbare ökologische Dienste beim Abbau organischer Substanz leisten, dass es ohne sie weder Harzer Käse noch Joghurt oder Essig gäbe … geschenkt. Die Vorstellung, Ihre Umgebung, Ihr Badezimmer, Ihre Küche, der Kühlschrank und die Spüle, ja, Sie selbst könnten mit Unmengen von Bakterien und anderen Mikroben kontaminiert sein, ist Ihnen sicher ein Graus, und vermutlich tun Sie das Menschenmögliche, um dieser unsichtbaren Plage Herr zu werden. Alle tun das.

Keine Angst, ich werde im Folgenden nicht versuchen, Ihr Mitleid zu erwecken, werde nicht über arme schutzlose und bedrohte Mikroben lamentieren, die, statt von uns erbittert bekämpft zu werden, im Grunde Mitgefühl und Wertschätzung verdienten. Das haben diese Winzlinge nicht nötig. Sie sind so unfassbar viel älter als alles, was sich je mithilfe von Beinen, Flügeln oder Flossen über diesen Planeten bewegte oder in seinem Boden wurzelte. Gemessen an ihrer Zahl und der Vielfalt ihrer Lebensstrategien sind Mikroben unangefochten die vorherrschende Lebensform auf Erden. Und sie waren es von Anbeginn. Hätte es einige von ihnen nicht gegeben, die Erde wäre für alle Zeiten der lebensfeindliche Planet geblieben, der sie einmal war, und komplexere Lebensformen, wie wir sie kennen – die Pflanzen, Pilze und Tiere –, wären nie entstanden. Auch ein paar Hundertmillionen Jahre Evolution der Vielzeller haben an ihrer herausragenden Position nichts geändert. Wie bizarr und imposant die vermeintlichen Herrschertiere zu Lande und zu Wasser auch gewesen sein mögen, die Dinosaurier und Ammoniten, Trilobiten und Insekten, Säugetiere und Vögel, der Mensch – die Erde ist seit der Entstehung des Lebens ein Planet der Mikroben gewesen und sie ist es bis heute geblieben.

Doch selbst wenn man guten Willens ist: Wie soll man etwas wertschätzen, das man nicht einmal sehen kann? Killer unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, die Millionen von Menschen auf dem Gewissen haben? Pest, Typhus, Cholera, Diphtherie, Syphilis, Tuberkulose, um nur einige der Wichtigsten zu nennen. Erst mit der Entdeckung des Penizillins und der Entwicklung von Impfstoffen haben diese und viele andere Krankheiten ihren Schrecken verloren – für Menschen, die das Glück haben, in Ländern mit guter medizinischer Versorgung zu leben, keineswegs für alle. Und Meldungen über die bedrohliche Zunahme multiresistenter Bakterienstämme lassen erahnen, dass dieser Triumph über die Mikroben möglicherweise nicht von Dauer sein könnte. Die wichtigsten Waffen, die wir gegen sie in Stellung gebracht haben, beginnen stumpf zu werden.

Ein Autor, der einen derartigen Unsympathen zum Helden seines Buches machen möchte, hat ein Problem. Auf den folgenden Seiten wird es um revolutionäre neue Erkenntnisse der Biowissenschaften gehen, die uns alle angehen und interessieren sollten. Sie betreffen uns Menschen und wahrscheinlich jeden anderen Organismus auf diesem Planeten und sie werden die Art, wie wir uns selbst und das Phänomen Leben sehen, auf eine Weise verändern, die noch gar nicht abzusehen ist. Sie sollten also versuchen, gegenüber Bakterien und den anderen einzelligen Helden, denen Sie auf den folgenden Seiten begegnen werden, zumindest für die Zeit Ihrer Lektüre eine eher entspannt-gelassene Haltung einzunehmen. Obwohl auf fast jeder Seite von ihnen die Rede sein wird, ist dies kein Buch, das in erster Linie von Bakterien und anderen Mikroben handelt. Im Mittelpunkt steht die Verknüpfung von Mikro- und Makrokosmos, das faszinierende Miteinander von überaus versierten Einzellern und allen anderen Lebewesen einschließlich des Menschen. Mit modernsten Methoden sind Wissenschaftler dabei, den Vorhang vor einem Schauspiel zu lüften, das weniger von Krankheit, Siechtum und Tod als von Gesundheit, Kooperation und Arbeitsteilung handelt. Sie werden eine ganz andere und viel freundlichere Seite dieser kleinsten aller Lebewesen kennenlernen. Außerdem haben wir keine Wahl. Entkommen kann man ihnen nicht.

Menschen sind Teil der Natur, Teil der Ökosysteme dieser Erde – Sätze wie diese sind fast schon zu Binsenwahrheiten verkommen, nicht erst in Zeiten des globalen Wandels. Aber wurden sie konsequent zu Ende gedacht? Unser Tun verändert die Welt, hat Auswirkungen auf zahllose Lebewesen, die den Lebensraum mit uns teilen. Umgekehrt sind wir auf sauberes Wasser und saubere Luft angewiesen, brauchen Sauerstoff und Nahrung. Doch Teil der Natur zu sein bedeutet mehr, und der Satz gilt auch umgekehrt: Die Natur ist Teil des Menschen. Sie ist Teil jedes Lebewesens. Erst in den letzten Jahren haben die Wissenschaftler gelernt, wie wörtlich diese Aussage zu verstehen ist.

  

Haben Sie ein Foto von Freunden oder Familienmitgliedern greifbar? Oder vielleicht eine Illustrierte, eine Programmzeitschrift? Was sehen Sie darauf?

Dumme Frage, werden Sie denken, Menschen natürlich. Vermutlich gehören diese Menschen irgendeiner sozialen Gruppe an, einer Familie, einer Peergroup, einem Volk oder einer Ethnie. Es handelt sich jedoch eindeutig um Einzelwesen, um Individuen mit bestimmten Eigenschaften, Kennzeichen und Fähigkeiten, die sie geerbt, gelernt oder auf andere Weise erworben haben.

Aus biologischer Sicht würde man sagen: Es handelt sich um Exemplare der Hominiden-Spezies Mensch (Homo sapiens sapiens). Obwohl wir es ohne technische Hilfsmittel nicht sehen können, wissen wir, dass ihre Körper aus Milliarden winziger Zellen bestehen. Diese Zellen können unterschiedlichste Gestalt annehmen und eine Vielzahl an zum Teil hoch spezialisierten Aufgaben erfüllen, sie sind aber ausnahmslos durch Teilung aus einer einzigen hervorgegangen, der befruchteten Eizelle, und daher genetisch identisch. Nach der Teilung bleiben fast alle Zellen miteinander verbunden und ordnen sich gemäß ihrem genetischen Plan und unter Einfluss der Umwelt zu einem vielzelligen, komplexen Ganzen an – dem Wunder Mensch. Alles, was sie zu leisten imstande sind, vom Verdauen der Nahrung bis zur Errichtung gigantischer Bauwerke, alle ihre Merkmale und Eigenschaften schaffen diese Wesen aus sich selbst heraus, im Zusammenspiel ihrer Zellen und in Kooperation mit anderen Einzelwesen ihrer Art.

In ganz ähnlicher Weise würden wir aber auch Tiere beschreiben, einen Hund, ein Pferd oder einen Elefanten, sogar einen Regenwurm oder einen Schmetterling. Auch sie bewerkstelligen alles, was sie können, aus eigener Kraft oder in Zusammenarbeit mit Artgenossen. Das Gleiche gilt für Pflanzen (obwohl die Verhältnisse hier komplizierter sind). Kurz: Die Tatsache, dass die meisten Organismen einschließlich des Menschen autarke Einzelwesen sind, ist für uns eine Selbstverständlichkeit – und zwar nicht nur für wissenschaftliche Laien. Die Existenz biologischer Individuen bildet die Grundlage vieler Fachdisziplinen, von der Genetik über Anatomie und Physiologie bis zur Evolutionsbiologie.

In letzter Zeit mehren sich jedoch die Zeichen, dass diese unsere Sicht auf die belebte Welt und uns selbst falsch oder zumindest in grober Weise unvollständig ist. Ein wesentlicher, ja entscheidender Teil der Realität ist unserer Aufmerksamkeit entgangen. Wie fundamental dieser Fehler war, lässt sich vielleicht erahnen, wenn man sich folgendes Bild vor Augen führt: Ein Außerirdischer beobachtet ein gähnend leeres Stadion, in dem zwei Mannschaften ein leidenschaftlich geführtes Ballspiel austragen. Nach einer Weile begreift er, worum es dabei geht: Das kleine Runde muss ins Eckige. Offenbar folgt das Ganze bestimmten Regeln, und ein schwarz gekleideter Mann mit Trillerpfeife achtet darauf, dass sie eingehalten werden. Warum wird das Spiel aber in einem riesigen Stadion ausgetragen, auf dessen Sitzreihen sich nur eine Handvoll Zuschauer verlieren, und warum abends, im Dunkeln, sodass man es mit großen Scheinwerfern aufwendig beleuchten muss? Wieso tragen die Spieler bunte Schriftzeichen auf der Brust und warum kämpfen sie bis zum Umfallen? Niemand sieht oder hört zu. Was also sollen die vielen Werbetafeln, die sich dauernd verändern, der riesige Bildschirm, auf dem Spielszenen wiederholt werden, die Lautsprecherdurchsagen, das Feuerwerk, die wehenden Fahnen an den Masten, die Musik, für wen tanzen die jungen Mädchen? Vieles bleibt für den Alien unverständlich, und er sucht nach Erklärungen. Wird das alles veranstaltet, um die Konzentrationsfähigkeit der Spieler auf die Probe zu stellen? Oder damit die, die auf der Ersatzbank sitzen, sich nicht langweilen? Der Außerirdische weiß nicht, dass die gastgebende Mannschaft zu diesem Geisterspiel verdonnert wurde, weil es beim letzten Heimspiel zu schweren Zuschauerausschreitungen gekommen war. Vor allem ahnt er nicht, dass an diesem Spektakel nicht nur die wenigen Menschen beteiligt sind, die sich im Stadion befinden. Für ihn unsichtbar sitzen Millionen von Zuschauern in Kneipen und Wohnzimmern, um das Spiel zur besten Sendezeit an ihren Fernsehschirmen zu verfolgen. Ihnen gilt der ganze Aufwand. Sie sind die eigentlichen Adressaten. Ohne sie würde dieses Spiel so nicht stattfinden.

Bis vor Kurzem befanden sich die Biologen in einer vergleichbaren Situation. Sie sahen die bekannten Akteure auf dem Rasen, die Tiere und Pflanzen, und versuchten, die geltenden Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Sie fanden heraus, dass biologische Individuen in einem komplexen Gewebe ökologischer Wechselwirkungen leben, in einer Welt voller Artgenossen, Fressfeinde, Beutetiere, Nahrungspflanzen, Bestäuber und Parasiten, in der das Klima und die chemische Beschaffenheit von Wasser, Luft und Böden die Rahmenbedingungen setzen. Schon im 17. Jahrhundert entdeckten sie mithilfe neuartiger Mikroskope, dass über die sichtbare Welt hinaus ein Mikrokosmos existiert, in dem es von winzigen Lebewesen, von Bakterien, Algen, Pilzen und tierischen Einzellern nur so wimmelt. Anders als die Menschen vor den Fernsehern in unserer Geschichte sind diese Mikroben keine passiven Zuschauer, sondern nehmen höchst aktiv am Lebensgeschehen teil. Die Zahl der Akteure auf dem ökologischen Spielfeld wurde immer größer, und die Regeln ihres Zusammenlebens erwiesen sich als derart komplex, dass sie den Forschern erhebliches Kopfzerbrechen bereiteten.

Heute wissen wir jedoch, dass die meisten Akteure trotz immer besserer mikroskopischer Techniken weiterhin im Verborgenen agierten. Erst in den letzten Jahren begannen die Wissenschaftler, sich ihrer tatsächlichen Zahl und Bedeutung bewusst zu werden und zu verstehen, wie eng und vielfältig die Verbindungen von Tieren und Pflanzen mit den mikrobiellen Winzlingen wirklich sind. Was die Forscher zutage befördern, ist derart revolutionär, dass die prominente amerikanische Mikrobiologin Margaret McFall-Ngai bei vielen in ungläubiges Staunen verfallenden Biologen eine Art »Zukunftsschock« diagnostizierte. Der Grund: »Zu viel Veränderung in zu kurzer Zeit.«1 Den Biologen geht es wie dem Alien, der plötzlich die Kameras entdeckt und erkennt, dass an dem Spektakel im Stadion ein Millionenpublikum teilnimmt. Die neuen Erkenntnisse brächten große Herausforderungen mit sich, betonte jüngst ein internationales Autorenteam namhafter Forscher. Sie seien »ein Aufruf an alle Lebenswissenschaftler, ihre Sicht auf die fundamentale Natur der Biosphäre signifikant zu verändern«.2

Als vor etwa 700 bis 800 Millionen Jahren tierisches Leben entstand, hatten Bakterien schon mindestens drei Milliarden Jahre Evolution hinter sich, genug Zeit, um Strategien für die unwirtlichsten Lebensbedingungen zu entwickeln, um vielfältige Formen des Miteinanders auszuprobieren und auf das, was noch kommen sollte, vorbereitet zu sein. Jeder Entwicklungsschritt der vielzelligen Neulinge erfolgte in einer von Bakterien beherrschten Welt, und was immer die Evolution sich für die komplexer werdenden Tiere und Pflanzen ausdachte, Bakterien und andere Mikroben waren dabei: als Nahrung, als Erreger von Krankheiten, aber auch als Partner, Helfer und Impulsgeber. In großer Zahl schlossen sie sich den neuen Wesen an und machten sich im Laufe des folgenden gemeinsamen Evolutionsweges unentbehrlich.

Nimmt man diese Überlegungen und Erkenntnisse ernst – und immer mehr Wissenschaftler tun dies –, dann müssen Genetiker, Evolutionsbiologen, Physiologen, Ökologen, Immunologen, Mediziner und Entwicklungsbiologen umdenken oder besser: noch einmal von vorn denken – und mit ihnen wir alle, ob es uns gefällt oder nicht. Nichts in der Biologie ergibt mehr Sinn ohne Berücksichtigung der Mikroben, könnte man in Abwandlung eines berühmten Zitates des Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky sagen.3 Viele Probleme der Lebenswissenschaften müssen neu durchdacht werden, beginnend mit einer einfachen Frage, von der wir glaubten, wir wüssten die Antwort: Was ist das eigentlich, ein Organismus?

Mikroben sind allgegenwärtig, doch lange hat sich die Wissenschaft – aus verständlichen Gründen – vor allem auf ihre Rolle als Krankheitserreger konzentriert. Symbiosen, eine Art Gegenmodell, das nicht für ein feindliches, sondern ein kooperatives Miteinander von Mikroben und anderen Lebewesen steht, galten für die Mehrzahl der Forscher als seltene Ausnahmen, und meist interessierte man sich nur für spektakuläre und ökonomisch wichtige Fälle, etwa für die Knöllchenbakterien einiger Kulturpflanzen, die einzelligen Verdauungshelfer der Kühe oder die Holz zersetzenden Untermieter der Termiten. Heute wissen wir, dass es sich tatsächlich um Ausnahmen handelt, aber nur, weil sie vergleichsweise einfach sind, mit wenigen beteiligten Organismenarten. Im Normalfall sind es nicht ein oder zwei, sondern Hunderte, Tausende oder gar, wie im Falle des Menschen, Zehntausende von bislang unbekannten Mikrobenarten, und möglicherweise leisten sie alle in einem dynamischen Miteinander einen kleinen oder großen Beitrag zu dem, was uns als scheinbar autarkes Einzelwesen gegenübertritt. Diesen Beitrag zu entschlüsseln wird eine der großen Herausforderungen der Biowissenschaften für die kommenden Jahrzehnte sein. Die Forscher sehen sich mit schwindelerregend komplexen Wechselwirkungen konfrontiert, und die Ausnahmen der Vergangenheit werden unversehens zu Modellsystemen, die Entscheidendes zum Verständnis der Zusammenhänge beitragen können.

Welchen Einfluss haben diese Winzlinge auf die Entwicklungswege der Lebewesen genommen, die nach ihnen entstanden, und welche Wirkung haben sie noch heute? Unglaublich, aber wahr: Ein Drittel der in unserem Blut zirkulierenden Stoffwechselverbindungen ist nicht-menschlichen Ursprungs. Sie stammen zum großen Teil von Körperbakterien, vor allem aus dem Darm, die ihren chemischen Einfluss auf diese Weise bis hin zu weit entfernten Organen ausdehnen, bis in die Schaltzentrale, ins Gehirn. Was bewirken diese Stoffe? Welche Informationen werden hier übermittelt, und wer ist ihr Adressat?

Eines dürfte schon jetzt klar sein: Kein Lebewesen ist mit sich allein. Für jede seiner Lebensäußerungen, jede seiner Eigenschaften und Fähigkeiten muss in Zukunft auch die Frage nach den Mikroben gestellt werden. Was hinter dem von der modernen Forschung gelüfteten Vorhang sichtbar wird, ist nichts Geringeres als ein atemberaubend neues Bild von der Welt, in der wir leben. Es sieht anders aus, als wir gedacht haben. Biologische Individuen existieren nicht und haben nie existiert.4 Irdische Lebewesen sind in einer Weise miteinander verknüpft und verbunden, von der wir bis vor Kurzem kaum eine Vorstellung hatten. Vielleicht kommt diese Erkenntnis angesichts der enormen Herausforderungen der Zukunft gerade recht, um uns Menschen den Platz im Lebensgeschehen zuzuweisen, der uns zusteht.

1. Mikrobenwelt – In Zeiten großer Entdeckungen

Als Forscher auf der ganzen Welt sich Ende des letzten Jahrtausends daranmachten, das menschliche Genom zu entziffern, versprachen sie bahnbrechende neue Erkenntnisse über uns selbst und vor allem Heilung von den großen Geißeln der Menschheit. Zwar lässt die Einlösung der Heilsversprechen auf sich warten, die Methoden und Verfahren, die im Zuge dieses Menschheitsprojektes zur Anwendung kamen, wurden jedoch immer weiter verbessert und sind aus der biologischen Forschung nicht mehr wegzudenken. Die heute praktizierte DNA-Sequenzierung der nächsten Generation (next generation sequencing) ist ungleich leistungsfähiger als das, was den Pionieren des Humangenomprojektes zur Verfügung stand.

Kostete die erste vollständige Entzifferung eines menschlichen Erbguts noch drei Milliarden Dollar, liegt der Preis heute bei nur 5000 Dollar, und das Ganze dauert nicht mehr Jahre, sondern höchstens Wochen. Die Zahl der entzifferten Pflanzen-, Tier- und Bakteriengenome geht mittlerweile in die Tausende. »Für die ersten zwölf Genome haben wir 17 Jahre gebraucht«, sagt Peter Pohl, Geschäftsführer von GATC Biotech, des in Konstanz ansässigen Marktführers unter den Sequenzierdienstleistern in Europa, und für die nächsten 2000 Genome fünf Jahre. Und für die »nächsten 20 000 Genome werden wir keine zwei Jahre mehr brauchen, schätze ich.«1 Gleichzeitig erarbeitete die Bioinformatik immer bessere Software-Instrumente, um Ordnung in die ungeheuren Datenmengen zu bringen, die mit diesen Methoden produziert werden.

In nahezu allen Bereichen der Lebenswissenschaften haben sich diese Technologien zu unentbehrlichen Hilfsmitteln entwickelt, und nun sorgen sie für bahnbrechende neue Erkenntnisse, mit denen, zumindest in der Öffentlichkeit, niemand gerechnet hat. Der enorme, innerhalb nur weniger Jahre erzielte technische Fortschritt ermöglicht heute Forschungsansätze, die früher unmöglich erschienen, zum Beispiel die Metagenomik. Sie hat nicht mehr nur die Sequenzierung einzelner Genome im Blick, sondern analysiert die DNA ganzer Organismengemeinschaften. Untersucht werden die Genome aller Lebewesen, die in einer bestimmten Umweltprobe enthalten sind, in einem Liter Meereswasser, im Bodensediment eines Sees oder im Stuhl eines Menschen – eine ideale Methode zur Untersuchung von Mikrobengemeinschaften.

Früher musste man Bakterien kultivieren, um ihre Eigenschaften und Fähigkeiten untersuchen zu können. Die Forscher überführten sie aus ihrem natürlichen Lebensraum ins Labor und versuchten, die Zellen auf speziellen Nährmedien am Leben zu erhalten und, wenn möglich, zu vermehren. Mikrobiologen brachten es dabei zu einiger Meisterschaft. Schon bei den ersten metagenomischen Analysen tauchten jedoch viele DNA-Sequenzen auf, die in keiner Datenbank verzeichnet waren. Heute schätzen Experten, dass sich nicht einmal ein Prozent der Mikrobenarten kultivieren lässt.2 Bei einer metagenomischen Analyse werden möglichst alle Zellen, die sich in einer Umweltprobe befinden, zerstört, ihre frei gewordene DNA wird extrahiert und gereinigt und anschließend analysiert. Ob die Zellen kultivierbar sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle. »Die moderne Erforschung der mikrobiellen Vielfalt«, stellt der amerikanische Botaniker und Pilzexperte Nicholas Money fest, »hat das Mikroskop durch automatische Sequenzierer ersetzt.«3

Mit diesen und anderen molekularbiologischen Methoden gelingt es Forschern erstmals, einen Eindruck von der tatsächlichen Vielfalt der Mikroben zu erlangen, von ihrer atemberaubenden Omnipräsenz in Böden, in den Meeren, unter den Eismassen der Antarktis sowie in und an anderen Lebewesen. Im Gestein kilometertief unter dem Meeresboden, dem größten Lebensraum der Erde, werden nach jüngsten Schätzungen zwei Drittel der gesamten Biomasse des Planeten vermutet. Anders als von Jules Verne in seinem Roman 20 000 Meilen unter dem Meer ausgemalt, wird sie nicht von höhlenlebenden Riesenechsen und anderen Ungetümen gebildet, sondern ausschließlich von winzigen Mikroben. Und während diese »tiefe Biosphäre« die globale Verteilung von Kohlenstoff und Schwefel beeinflusst, betätigen sich Luftbewohner hoch oben in der Troposphäre, wo unsere Flugzeuge ihre Bahnen ziehen, als Klimaköche und tragen zur Wolkenbildung bei. Der Planet Erde, darüber kann kein Zweifel bestehen, ist eine Mikrobenwelt.4

  

Besonders drastisch fällt die Korrektur alter Vorstellungen bezüglich der Ozeane aus, dort, wo mikrobielles Leben vor drei bis vier Milliarden Jahren entstanden sein könnte. Waren vor dem Census of Marine Life, einer groß angelegten Bestandsaufnahme ozeanischen Lebens, etwa 20 000 verschiedene marine Mikroorganismen bekannt, schätzt John Barros, Leiter des für Mikroben zuständigen Teilprojektes und Professor an der University of Washington, den Bestand heute auf etwa eine Milliarde Arten. Allein in den Ozeanen würden damit mindestens zehnmal mehr Mikrobenarten leben als Pflanzen- und Tierspezies auf der ganzen Welt. Zusammen würden sie das Gewicht von etwa 240 Milliarden Afrikanischen Elefanten auf die Waage bringen. Das entspricht 50 bis 90 Prozent der lebenden Biomasse in den Ozeanen. Wer das Erdklima und die globalen Stoffkreisläufe verstehen will, kommt an den kleinsten Lebewesen der Ozeane nicht vorbei.

Antje Boetius, die deutsche Leibniz-Preisträgerin vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen, glaubt, dass John Barros mit seiner Schätzung eher noch zu niedrig liegt. »Nehmen Sie irgendwo einen Teelöffel voller Erde. Dann einen Teelöffel voll Schlamm aus dem Meer. Und dann einen Liter Meerwasser. In allen drei Proben werden Sie etwa 20 000 Mikrobenarten finden. Davon überlappen sich jeweils nur zwanzig.«5

Pionierarbeit leistete einmal mehr der amerikanische Molekularbiologe Craig Venter, der mit einer innovativen Sequenziermethode, dem sogenannten »Shotgun Sequencing«, schon dem öffentlich finanzierten Humangenomprojekt Beine gemacht hatte. Dabei wird ein DNA-Molekül in eine Vielzahl von kurzen Schnipseln zerlegt, deren chemische Buchstabenfolgen mit Sequenzierautomaten bestimmt und dann im Computer mithilfe sich überlappender Sequenzen an ihren Enden wieder zusammengesetzt werden. Die gleiche Methode wendeten er und seine Mitarbeiter im Jahr 2003 in der Nähe der Insel Bermuda an, um eine metagenomische Analyse der Sargassosee durchzuführen. Dieses Meer war bereits gut untersucht. »Es ist«, so die Forscher, »relativ nährstoffarm, und so dachte man, dass mikrobielles Leben nur eine sehr geringe Vielfalt aufweisen würde.«

Doch in den Wasserproben konnte Venters Team mit wenigen Stichproben mindestens 1800 verschiedene Mikrobenarten nachweisen und DNA-Sequenzen von mehr als einer Milliarde Basenpaaren Länge gewinnen, was etwa einem Drittel des menschlichen Genoms entspricht. Über 1,2 Millionen bislang unbekannte Gene wurden identifiziert. Noch wesentlich umfangreicher fielen die Erträge der Global Ocean Sampling Expedition aus, für die die Probennahme in der Sargassosee als Pilotprojekt diente. 2004 stach die Sorcerer II, Craig Venters private 30-Meter-Jacht, in Halifax, Kanada, in See und umrundete im Verlauf von zwei Jahren die Erde. 2007/2008 folgte eine weitere Expedition, die die Sorcerer II entlang der amerikanischen Westküste nach Norden führte, 2009/2010 waren die Ostsee, das Mittelmeer und das Schwarze Meer an der Reihe. Wo das Schiff haltmachte, wurden einige Hundert Liter Oberflächenwasser entnommen, durch Filter unterschiedlicher Porengröße gesaugt und die Filter mitsamt ihrer Mikrobenladung für die spätere Analyse eingefroren. Zusammen haben alle diese Forschungsfahrten die umfangreichste Sammlung mikrobieller Metagenome geliefert, die je erhoben wurde.6

Damit kein Missverständnis entsteht: Kein Mensch hat irgendeine dieser neu entdeckten Mikroben gesehen, und möglicherweise wird dies auch in Zukunft niemandem gelingen. Es wurde gar nicht der Versuch unternommen, sie zu kultivieren. Das Einzige, was wir von ihnen kennen, sind die Sequenzen einiger Fragmente ihrer Erbsubstanz. In vielen Fällen reicht das aber, um sie einer bestimmten Verwandtschaftsgruppe zuzuordnen, und wenn die Forscher Glück haben und Gene bekannter Funktion finden, können sie daraus noch viel mehr ableiten, Aussagen über die bevorzugten Lebensumstände der Mikroben zum Beispiel, über spezielle Stoffwechselwege, die wiederum Informationen über deren Ernährungsweise und ökologische Bedeutung liefern.

Mithilfe der DNA-Sequenzen, die während der Global Ocean Sampling Expedition gewonnen wurden, konnten die Forscher die Existenz von Millionen unterschiedlicher mikrobieller Proteinmoleküle belegen, viele davon bislang unbekannt – eine wahre Schatzkammer.7 Um nur ein Beispiel zu nennen: Allein in der Sargassosee fanden die Forscher nicht weniger als 782 verschiedene bakterielle Varianten eines extrem lichtempfindlichen Proteins namens Rhodopsin. Dieser auch »Sehpurpur« genannte Stoff findet sich als Fotopigment in der Retina von Wirbeltieren, doch schon im Jahr 2000 konnten amerikanische Forscher in einer metagenomischen Analyse nachweisen, dass ähnliche Proteine auch unter marinen Bakterien weit verbreitet sind.8 Die Mikroben können mithilfe dieses Stoffes zwar nicht sehen, aber aus Licht Energie gewinnen, was mindestens genauso bemerkenswert ist. Die besonderen Eigenschaften dieses Moleküls prädestinieren es für eine ganze Reihe technischer Anwendungen.9

Metagenomische Untersuchungen haben auch zur Entdeckung neuer Antibiotika und biotechnologisch interessanter Enzyme geführt.10 Gerade auf diesem Gebiet birgt die nun aufgespürte Mikrobenvielfalt viel Potenzial. Doch die Auswertung und Analyse solcher metagenomischer DNA-Schnipselgemische stellt Bioinformatiker vor enorme Probleme, die trotz großer Fortschritte längst nicht gelöst sind.11 Noch vor wenigen Jahren war die Sequenzierung eines einzelnen Genoms eine Herkulesaufgabe, die enorme Rechnerkapazitäten verschlang; immerhin konnte man sich wenigstens sicher sein, dass alles irgendwie zu einem Ganzen zusammengehörte. Bei metagenomischen Untersuchungen stammen die Schnipsel jedoch von vielen unterschiedlichen Organismen, deren Gensequenzen natürlich nicht durcheinandergeraten sollen. Diese Fragmente wieder korrekt zu vollständigen Genomen oder auch nur größeren Teilen davon zusammenzusetzen kommt der Aufgabe gleich, eine in unzählige Papierschnipsel zerlegte Bibliothek aus mehreren Tausend Bänden anhand sich überschneidender Buchstabenfolgen wieder zu lesbaren Büchern zu montieren, ohne dass sich dabei Passagen des Zauberbergs in den Buddenbrooks wiederfinden und umgekehrt. Die Aufgabe der Biologen ist sogar noch weit schwieriger, denn in den Sammlungen der Bibliotheken ist jedes Buch in der Regel nur mit einem Exemplar vertreten. Organismen treten aber grundsätzlich in sehr unterschiedlichen Häufigkeiten auf. Manche sind in einem Lebensraum und damit auch in einer repräsentativen Stichprobe extrem häufig, die überwiegende Mehrzahl aber, möglicherweise sogar die interessantesten, in jedem Fall aber die, die am meisten zur natürlichen Vielfalt beitragen, sind selten oder sehr selten. Manche Sequenzen werden in einem metagenomischen DNA-Fragmentgemisch also tausend- oder gar millionenfach vertreten sein, andere dagegen nur in wenigen Exemplaren. Auch die sollen aber erfasst werden und nicht im Einheitsbrei der dominanten Sequenzen untergehen.

Dazu kommt ein weiteres Problem: Eine rekonstruierte Fassung der Bibel kann man lesen und verstehen; was aber haben die DNA-Sequenzen unbekannter Meeresmikroben zu bedeuten, die von den Computerprogrammen rekonstruiert wurden? Welche biologische Funktion haben sie und wozu dienen die darin codierten Proteine?

Aus diesen Fragen wird deutlich, dass der klassische Ansatz der Mikrobiologie, möglichst viele Bakterien und Mikroben zu kultivieren, im Detail zu studieren und ihr Genom vollständig zu entschlüsseln, weiterhin unverzichtbar ist. Denn nur durch Vergleich mit solchen Referenzgenomen kann die Ein- und Zuordnung unbekannter Sequenzen überhaupt gelingen. Nur weil die Sequenz eines Bakterienrhodopsin-Gens bekannt war, konnten die Forscher (oder ihre Computer) die neuen Varianten im Dateneinerlei ihrer Metagenome erkennen.

Die Sequenzierung chaotischer DNA-Gemische fällt mit den neuen Methoden relativ leicht, und schon heute sind die einschlägigen metagenomischen Datenbanken mit ungeheuren Mengen von mikrobiellen Erbsequenz-Fragmenten aus den unterschiedlichsten Lebensräumen gefüllt. Das Problem besteht darin, sie in den richtigen Kontext zu stellen und ihnen Bedeutung und Funktion zuzuweisen. Je mehr Gene und Genome die Wissenschaftler kennenlernen – und Tausende von Forschern in der ganzen Welt arbeiten daran –, desto leichter wird ihnen diese Aufgabe fallen.

Deshalb ist es so wichtig, dass nicht nur die von Craig Venters Team gesammelten, sondern alle in Labors oder im Freiland gewonnenen DNA-Sequenzen in Datenbanken gespeichert werden, die zu Vergleichszwecken jederzeit zugänglich sind. Weltweit versuchen Forscher ein gigantisches Puzzle zusammenzusetzen, eine Aufgabe, die nur mit vereinten Kräften zu bewältigen sein wird. Denn eines ist schon jetzt überdeutlich geworden: Die Vielfalt der kleinen und kleinsten Lebensformen in den Ozeanen der Erde ist überwältigend.

  

Das Gleiche kann man ohne Zweifel auch von den ganz anders gearteten und viel kleineren Biotopen sagen, die uns hier im Besonderen interessieren: von den Körpern vielzelliger Lebewesen, ob Pflanze, Tier oder Mensch. Zusammengenommen sind sie einer der größten Lebensräume auf diesem Planeten und wegen ihres üppigen Nährstoffangebots und der bei Warmblütern konstant hohen Körpertemperatur für Mikroben überaus interessant.

Dass auch der Mensch von Mikroben bewohnt wird, wissen wir seit den Kindertagen der Mikrobiologie. Der im niederländischen Delft lebende Tuchhändler Antoni van Leeuwenhoek (1632  1723) hatte genug Muße, sich neben seinen Handelsgeschäften und der Tätigkeit als Kammerherr am städtischen Gerichtshof auch dem Bau von neuartigen Mikroskopen zu widmen. Sie hatten kaum Ähnlichkeit mit den heute gebräuchlichen Geräten, und ein Mensch des 21. Jahrhunderts, dem ein solches wie eine Verbindung aus Lupe und Türschloss aussehendes Gebilde in die Hand fiele, wüsste vermutlich kaum etwas damit anzufangen. Van Leeuwenhoek hatte einen Weg gefunden, winzige perfekte Linsen herzustellen, mit denen er eine bis zu 270-fache Vergrößerung erreichte. Wie er diese Linsen anfertigte, hat der Tuchhändler auf Abwegen nie verraten, seine Entdeckungen und Beobachtungen schrieben jedoch Wissenschaftsgeschichte. Die Qualität seiner Mikroskope sprach sich bis zur damals noch jungen Royal Society nach London herum, die bald Übersetzungen seiner in Niederländisch geschriebenen Briefe in ihrer berühmten Zeitschrift Philosophical Transactions veröffentlichte.

Was für ein unvergleichlicher Moment, die Entdeckung eines von unbekannten lebenden Wesen wimmelnden Mikrokosmos! Eine neue Welt tat sich auf. Van Leeuwenhoek nannte diese Wesen »animalcules« (Tierchen). Er war der erste Mensch, der tierische Einzeller beobachtete, und von ihm stammt auch eine der ersten Beschreibungen lebender Bakterien, die er in einem Abstrich seines Zahnbelages aufspürte. In einem auf den 17. September 1683 datierten Brief an die Royal Society heißt es: »Ich sah dann immer, mit großem Erstaunen, dass in dem besagten Material viele sehr kleine lebende animalcules waren, die sich sehr hübsch bewegten. Die größte Sorte zeigte eine starke und flinke Bewegung und schoss durch das Wasser (oder den Speichel) wie ein Hecht durchs Wasser.« Auch als er den Zahnbelag zweier Frauen untersuchte, vermutlich seiner Gattin und seiner Tochter, wurde van Leeuwenhoek fündig. Im Zahnbelag eines alten Mannes, der im Leben noch nie seine Zähne gereinigt hatte, stieß er »auf eine unglaublich große Gesellschaft lebender animalcules, die wendiger schwammen, als ich es bis zu diesem Zeitpunkt je gesehen habe. […] Andere animalcules traten in so großer Zahl auf, dass das ganze Wasser […] lebendig erschien.«12

Möglicherweise war die zur damaligen Zeit übliche – oder besser: unübliche – Zahnreinigung an dem Gewimmel schuld, das van Leeuwenhoek so beeindruckte. Doch auch im Mund heutiger Menschen herrscht ein reges Mikrobenleben. Wie lebendig es in unseren bestens gepflegten Mundhöhlen zugeht, kann man zum Beispiel der Human Oral Microbiome Database entnehmen.13 Etwa 280 mundbewohnende Bakterienarten wurden bisher kultiviert, nach allen Regeln der mikrobiologischen Kunst untersucht und mit einem wissenschaftlichen Namen versehen. Sie heißen Streptococcus, Leptotrichia, Mycoplasma, Gemella oder schlicht Bacillus, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Hälfte der etwa 700 Arten, die in der Datenbank geführt werden, ist aber noch namenlos, und ein Drittel erwies sich gegenüber allen Kultivierungsversuchen als widerborstig und kann bislang nur anhand der vollständigen Sequenz eines bestimmten bakterienspezifischen Gens14 charakterisiert werden. Doch das sind nur die häufigen Arten.

Als niederländische Wissenschaftler den Lebensraum Mundhöhle im Jahr 2008 erstmals mit modernen Sequenzierungsverfahren untersuchten, stießen sie auf eine Bakteriengesellschaft, die um Größenordnungen artenreicher ist als bisher gedacht.15 Ihre »radikal neue Einsicht in die Vielfalt der menschlichen oralen Mikroflora« verdanken die Forscher dem Speichel und Zahnbelag von etwa einhundert gesunden Menschen, die zum Zeitpunkt der Probennahme noch nicht gefrühstückt und seit mindestens drei Monaten keine Antibiotika eingenommen hatten. Nicht einige Hundert, sondern einige Tausend verschiedene Bakterien lebten in ihren Mündern. Mit 7000 bis 10 000 Arten war das Mikrobengewimmel im Zahnbelag, der sogenannten »Plaque«, wesentlich größer als in den Speichelproben, die durch eine Mundspülung gewonnen wurden. Da die Zahl der unterschiedlichen Bakterien mit der Anzahl der untersuchten Sequenzen steil anstieg und kein Plateau erreichte, gehen die Experten davon aus, dass die in der menschlichen Mundhöhle lebenden Mikroben, das orale Mikrobiom16, auch mit dieser Studie noch nicht vollständig erfasst wurden. Dazu müsste man noch mehr Menschen möglichst unterschiedlicher Herkunft untersuchen. Am Ende, so die Hochrechnung der Forscher, dürfte man bei etwa 25 000 Arten ankommen.

25 000 verschiedene Bakterienarten in einem Raum, der gerade groß genug ist, um darin kleine Kartoffeln zu zermalmen oder ein Bonbon zu lutschen. Dazu kämen noch Protisten, also tierische und pflanzliche Einzeller, sowie Pilze, die gar nicht erfasst wurden. Im Mund eines einzelnen Menschen findet sich natürlich nur ein Teil davon, so wie in einem bestimmten See nur ein Bruchteil aller seebewohnenden Fisch- oder Krebsarten der Erde leben.

Vergleicht man die Mundflora des Menschen mit der von Hunden, so stimmen beide nur zu gut 16 Prozent überein, ein überraschend niedriger Wert, hatte man doch bislang bei Tieren gefundene Bakterien, die den vom Menschen bekannten Formen ähnelten, mit dem gleichen Namen belegt. Die Erbgutanalyse zeigte nun, dass es sich in vielen Fällen und aller Ähnlichkeit zum Trotz um eigenständige Spezies handelt.17 Nur jede fünfte Bakterienart des Hundemauls findet sich auch beim Homo sapiens wieder. Jede Säugetierart scheint demnach eine eigene charakteristische Zusammensetzung der Bakterienflora aufzuweisen. Und da auch Vögel, Frösche, Echsen, Schlangen, Krebse oder Insekten Nahrung aufnehmen müssen und zu diesem Zweck Mäuler, Schnauzen, Schnäbel oder Kieferzangen mit dem entsprechenden anatomischen Drumherum besitzen, ist die Zahl verschiedenartiger Bakterien, die sich daraus allein für die Mundhöhle von Tieren ergibt, schwindelerregend hoch. Weder van Leeuwenhoek noch Generationen von Mikrobiologen, die ihm folgten, hätten sich eine solche Fülle an Lebensformen auch nur vorstellen können. Zum Vergleich: Auf der Erde leben nur etwa 5500 Säugetierarten.

Zweifellos ist der Mundraum ein mikrobieller Hotspot im Ökosystem Mensch und er ist für die Forscher von besonderem Interesse, weil durch ihn der wichtigste Zugang ins Körperinnere führt. Doch mit der Mundflora ist nur ein kleiner Teil des gesamten Mikrobioms eines Säugetierkörpers erfasst. In uns gibt es Regionen und Schlupfwinkel, die eine noch größere Vielfalt beherbergen. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass jede mit der Außenwelt in Kontakt stehende Oberfläche unseres Körpers von Bakterien und anderen Mikroben besiedelt ist. Sogar in Regionen, die lange Zeit als steril galten, in den Lungen oder im ungeborenen Fötus, leben Bakterien.

Keine einzige Art ist überall auf und im menschlichen Körper zu finden, obwohl es, wie in der großen Natur, durchaus anspruchslose Generalisten gibt, die sich in mehreren Körperregionen niederlassen können. Typischer ist jedoch eine extrem kleinräumige Differenzierung, gerade im Mund.18 Nicht nur »jeder Zahn«, sondern »jede Seite jedes Zahns hat eine eigene Kombination von Spezies«, staunte die New York Times19, und Gaumen und Zunge sind Mikrobenwelten für sich. So wie auf einer Lichtung andere Pflanzenarten wachsen als im Wald, gedeihen in der dunklen, feuchten Achselhöhle andere Hautbewohner als nur Millimeter entfernt auf dem Oberarm. Könnten wir die verschiedenen Bakteriengruppen, die auf den 1,8 Quadratmetern unserer Hautoberfläche siedeln, farbig markieren, würden wir als bunt gescheckte Paradiesvögel durch die Welt laufen, mit unterschiedlichen Farbmustern auf nahezu jeder Körperregion.20

Der Mensch entpuppt sich als hochdiverses Ökosystem, in dem sich je nach den lokal herrschenden Bedingungen spezielle Interessenten einfinden. Ändern sich die Verhältnisse, etwa durch eine Beschneidung des Penis, hat das auf der Ebene der Mikroben dramatische Konsequenzen. Anaerobe Bakterien, die sich unter der Vorhaut wohlfühlen, sind nach deren Entfernung kaum noch zu finden und werden durch aerobe Arten ersetzt, also durch Bakterien, die Sauerstoff benötigen.21 Am größten ist das Gewimmel dort, wo die meiste Nahrung zu finden ist: im Darm. Und auch hier, in diesem meterlangen Schlauch, wechselt die Mikrobengemeinschaft quasi im Zentimetertakt, wie in einem Fluss, dessen Quellen, Stromschnellen, Ufer, Sedimente und Mündungsgebiet von jeweils anderen typischen Lebensgemeinschaften bewohnt wird.

An sich ist das keine neue Erkenntnis. Dass der Mensch eine Darmflora besitzt, wussten wahrscheinlich schon unsere Großeltern, und Mikrobiologen sind unseren Körpermikroben seit Jahrzehnten auf der Spur. Hätten sie einige davon nicht genauestens unter die Lupe genommen, säßen die Forscher jetzt vor ihren Metagenomen wie die Archäologen seinerzeit vor den Hieroglyphen altägyptischer Artefakte. Da man aber nur einen Teil kultivieren konnte, blieb lange Zeit unklar, wie groß die Zahl und Vielfalt unserer mikrobiellen Untermieter wirklich ist. Um dies zu ändern, riefen die US-amerikanischen National Institutes of Health im Jahr 2007 ein mehrjähriges Forschungsprojekt ins Leben, das mit über hundert Millionen Dollar finanziert wurde und 2012 in einer Reihe von Veröffentlichungen erste Ergebnisse präsentierte: das Human Microbiome Project.22 Die Ähnlichkeit in der Namensgebung zum Human Genome Project ist nicht zufällig. Die Initiatoren sahen darin dessen logische Fortsetzung. »Um die Bandbreite der genetischen und physiologischen Diversität des Menschen zu verstehen«, betonten sie, »müssen die Mikrobiome und die Faktoren charakterisiert werden, die die Verteilung und Evolution der Mikroorganismen beeinflussen, aus denen sie bestehen.«23

In zwei klinischen Zentren, dem Baylor College of Medicine im texanischen Houston und der Washington University School of Medicine in St. Louis, wurden 300 auf Herz und Nieren geprüfte gesunde Erwachsene ausgewählt, die anschließend 15 Proben ihrer Körperbesiedlung ablieferten: neun aus dem Mundraum (zum Beispiel Speichel, Zahnbelag oberhalb und unterhalb des Zahnfleischrandes, Wange, Zunge etc.), eine aus der Nase, vier verschiedene Hautpartien (hinter beiden Ohren und in beiden Ellenbeugen) und eine Stuhlprobe, die den unteren Verdauungstrakt repräsentierte. Bei Frauen wurden zusätzlich drei verschiedene Stellen der Vagina untersucht. Um auch einen Eindruck von den zeitlichen Veränderungen der Mikroflora zu erhalten, wurde die Probennahme bei einem Teil der Versuchspersonen zwei Mal im Abstand von einigen Monaten wiederholt.

Doch dies war nur ein Standbein des Projektes. Um die Unmengen an metagenomischen Daten auch zuordnen und interpretieren zu können, sollte gleichzeitig der Fundus an bekannten Referenzsequenzen verbreitert werden. Deshalb planten die Forscher zusätzlich, das Erbgut von bis zu 3000 Mikrobenarten vollständig zu sequenzieren.

Das Human Microbiome Project ist das bislang größte Vorhaben dieser Art, aber keineswegs das einzige. Dutzende von Arbeitsgruppen in der ganzen Welt arbeiten an ähnlichen Fragestellungen. Unter Beteiligung Chinas startete auch die Europäische Gemeinschaft ein solches Vorhaben, das sich aber auf die Untersuchung der menschlichen Darmflora konzentriert: Metagenomics of the Human Intestinal Tract, kurz MetaHIT. Gegenstand der Forschung waren Stuhlproben von 124 Europäern, darunter auch übergewichtige und fettleibige Probanden sowie Menschen, die unter chronischen Darmentzündungen24 litten, um gegebenenfalls Unterschiede in der Darmflora gesunder und kranker Menschen erkennen zu können. Auch dieses Großvorhaben, an dem dreizehn wissenschaftliche Einrichtungen in acht Ländern beteiligt sind, hat mittlerweile erste Ergebnisse präsentiert.25

Es ist kein Vergnügen, sich durch diese langen, mit Fachausdrücken, Abkürzungen und kryptischen lateinischen Namen gespickten Aufsätze zu kämpfen. Für Laien ist es nahezu unmöglich. Kein Wunder, dass daraus nur einige wenige Zahlen den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben, vor allem eine mit sehr vielen Nullen, die in kaum einem Pressebeitrag zum Thema fehlen durfte – eine Zahl, wie man sie bislang nur von Astronomen kannte, die sich mit den unvorstellbaren Dimensionen des Universums abmühen. Wenn es um die kleinen Mikroben geht, ist das Hantieren mit großen Zahlen unvermeidlich.

Auf unserer Haut sind es »nur« ein paar Milliarden, eine Zahl, die ungefähr der menschlichen Weltbevölkerung entspricht. Auf einem Quadratzentimeter können sich bis zu zehn Millionen der Winzlinge tummeln, doch ein einziges Gramm Darminhalt enthält bis zu einer Billion Bakterien. Noch hundertmal mehr, nämlich hundert Billionen (1014) Mikroben sollen sich nach Erkenntnissen der Forscher an und in einem einzigen menschlichen Körper befinden. Möglich ist diese unsichtbare Existenz, weil Bakterienzellen um das 100- bis 10 000-Fache kleiner sind als die Bausteine unseres Körpers.

Hundert Billionen – das sind zweifellos exorbitant viele Zellen. Unsere Heimatgalaxie enthält mindestens 100 Milliarden oder 1011 Sonnen. Auch das sind sehr viele, aber die Zahl der Mikroben, die jeder von uns mit sich herumträgt, übertrifft die der Sonnen in der Milchstraße noch um das Tausendfache.

Bemerkenswert ist diese Zahl vor allem deshalb, weil sie zehnmal größer sein soll als die Zahl der menschlichen Körperzellen, so steht es zumindest in nahezu jeder Veröffentlichung zum Thema. Eine solche Aussage setzt natürlich voraus, dass man die Zahl unserer Zellen kennt. Doch woher weiß man, aus wie vielen Zellen ein Mensch besteht? Nachgezählt hat mit Sicherheit niemand, denn das würde, wie der bekannte amerikanische Wissenschaftsjournalist Carl Zimmer erst kürzlich in einem lesenswerten Beitrag seines Blogs »The Loom« vorrechnete, selbst bei optimistischen Annahmen einige Zehntausend Jahre dauern, von unüberwindlichen methodischen Problemen ganz zu schweigen.

Es muss sich also um eine Schätzung handeln, und Schätzungen sind nur so gut wie die Annahmen, auf denen sie beruhen. Macht man sich die Mühe, nach bisher veröffentlichten Angaben zur Zellzahl eines Menschen zu suchen, findet man Werte, die erheblich voneinander abweichen. Sogar in seriösen Quellen schwanken die Angaben immerhin um den Faktor zehntausend, von einer Billion (1012) bis zehn Billiarden (1016), wobei die Autoren meistens nicht näher begründen, wie sie auf diese Zahlen gekommen sind. Eine Gruppe südeuropäischer Wissenschaftler26 wollte es nun genauer wissen, und ihr Vorhaben war mehr als nur Spielerei, denn für moderne Computermodelle von Körperprozessen oder Organen sind möglichst realistische Größenangaben erforderlich. Die Forscher gingen deshalb sehr gründlich vor und legten ihrer Abschätzung nicht einfach nur Durchschnittswerte zugrunde. Sie nahmen sich stattdessen jedes einzelne Organ und Gewebe vor, berücksichtigten die Größe und Dichte der dort vorkommenden Zellen und kamen in der Addition schließlich auf gut 37 Billionen oder 3,72 × 1013 Zellen.

Na bitte. Wenn ein Mensch von 100 Billionen Mikroben bewohnt wird, wären das demnach nicht zehn-, sondern nur knapp dreimal so viele wie Körperzellen, und sage niemand, dieser Unterschied sei bedeutungslos. Die Aussage, nur jede zehnte Zelle in unserem Körper sei menschlich, rüttelt doch erheblich an unserem Selbstverständnis. Wer will schon eine Minderheit im eigenen Körper sein? Es liest und lebt sich doch wesentlich angenehmer, wenn wir wenigstens von ungefähr gleichgroßen Zellpopulationen oder, besser noch, von einer geringen zahlenmäßigen Überlegenheit ausgehen könnten. Natürlich stellen auch die Angaben zum Umfang unserer Mikrobenlast nur eine Schätzung dar, die auf der Dichte beruht, in der die Winzlinge die verschiedenen Körperregionen besiedeln. Wenn wir Glück haben und die Mikrobenzahl etwas kleiner ausfällt als geschätzt, würden wir sogar weiterhin Herr im eigenen Körper bleiben. Lassen wir uns also von den Zahlenspielereien der Mikrobiologen nicht verrückt machen.

Im Ernst, ob wir nun zehn- oder dreimal so viele Bakterien in und an uns tragen wie Körperzellen oder ob es am Ende sogar ein paar weniger sind, an der Tatsache, dass wir in unseren Körpern alles andere als einsam und allein sind, ändert das nichts. Die Mikroben, die uns bevölkern, sind so klein, dass beim Blick in den Spiegel nichts auf ihre Anwesenheit hindeutet. Wir sehen sie nicht, könnten sie aber wiegen, denn in derart großen Mengen haben selbst unsichtbare Winzlinge ein beachtliches Gewicht. Gäbe es sie nicht, wären wir um einige Hundert Gramm leichter, manche sagen sogar, dass ein bis anderthalb Kilo unseres Körpergewichts auf das Konto des Mikrobioms gehen.

Was Sie im Spiegel, auf Familienfotos, den Titelbildern der Illustrierten oder auf der Straße sehen, sind also nicht einfach nur Menschen. Jeder von uns ist nicht einer, sondern sehr, sehr viele. Sie sehen Superorganismen, jeweils bestehend aus einem Menschen und, so eine Schätzung des Human Microbiome Consortium, mindestens 10 000 verschiedenen Bakterienarten, von Pilzen und Protisten gar nicht zu reden.

  

Eine der wichtigsten Fragen, die sich die Forscher stellen, zielt auf die Zusammensetzung dieser Körpermikrobengesellschaft. Ist sie zufällig oder bei allen Menschen gleich? Der Homo sapiens 27