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Buch

Ein Augusttag im hübschen Jeetzeburg an der Elbe: Die 42-jährige Apothekerin Antonia liebt ihre Arbeit, ihre beiden Töchter und ihren Mann Monty. Und doch plagt sie die Midlife-Crisis: Das Privatleben kommt zu kurz, die pubertierenden Töchter nerven, und Monty scheint jegliches erotische Interesse an ihr verloren zu haben. Als nach einem Unwetter der Fluss über die Ufer tritt und halb Jeetzeburg unter Wasser setzt, räumen die Einwohner die Untergeschosse leer, dichten Türen und Fenster ab und stapeln Sandsäcke. Doch Antonia hat Glück, ihre Apotheke ist nicht gefährdet. Gerade will sie ihre Erleichterung mit ihrer besten Freundin Helen, der Stammkundin Petra und ihrer Angestellten Carolin teilen, da ruft die verzweifelte alte Frau Lilienthal an: Bei ihr fließe das Wasser schon ins Wohnzimmer und sie wisse nicht, wie sie ihre Sachen retten könne. Kurzentschlossen beschließen die Frauen, der alten Dame zu Hilfe zu eilen. Bei der gemeinsamen Hochwasser-Rettungsaktion kommen sich die sehr unterschiedlichen Frauen näher. Und endlich machen sie ihren Problemen Luft. Als die Frauen schließlich erschöpft, aber auch erleichtert bei einem humorvoll improvisierten Kaffeekränzchen in Frau Lilienthals wasserdurchflutetem Haus zusammensitzen, sieht jede von ihnen die Lösung für die eigenen Sorgen klarer.

Informationen zu Martha Sophie Marcus

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Martha Sophie

Marcus

Kaffeeklatsch

mit Goldfisch

Roman

GOLDMANN_Seite_3.eps

1. Auflage

Originalausgabe März 2015

Copyright © 2014 by Martha Sophie Marcus

Copyright © dieser Ausgabe 2015

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung

der Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Gestaltung des Umschlags: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: © GettyImages/sudo takeshi; FinePic®, München

Redaktion: Eva Wagner

BH · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-14449-4

www.goldmann-verlag.de

Antonia

Draußen vor dem Haus hupte jemand zweimal kurz. Antonia schob die Gardinen zur Seite, um besser aus dem kleinen Fenster ihrer Gästetoilette sehen zu können.

Ein mattschwarzer Leichenwagen mit lilafarbenen Vorhängen parkte quer vor dem Carport ein. Der Wagen war ein älteres Modell, und er hatte ein paar Beulen. Außerdem waren die Vorhänge nicht zugezogen, und sie konnte sehen, dass kein Sarg auf der Ladefläche stand. Deshalb machte Antonia sich keine Gedanken über mögliche Todesfälle unter ihren Nachbarn.

Mit einem Seufzen verließ sie die Toilette, um die Haustür zu öffnen. Antonia wusste, wie es war, eine Mutter zu haben, die einem nichts anderes übrigließ, als gegen sie aufzubegehren. Deshalb hatte sie sich Mühe gegeben, ihre Töchter nicht auf dieselbe Weise in die Enge zu treiben.

An diesem Morgen zeigte sich wieder einmal, dass sie damit gescheitert war.

Ein weißblond gefärbter Igelhaarschnitt zu schwarz geschminkten Augen, Tüllröcke über zerrissenen Netzstrümpfen, Nasenring, schwarz lackierte Fingernägel und düstere Musik – das war alles nicht neu, und es war auszuhalten. Wegen solcher Kleinigkeiten fing sie keinen Streit mit ihrer Großen an. Auch hatte sie weder erwartet noch es sich gewünscht, dass Mickies erster Freund sich im fleckenlosen Poloshirt und mit höflichem Handschlag vorstellen würde. Dass er sich als fünf Jahre älter erwies und zwei Schuljahre wiederholt hatte, machte sie allerdings doch nervös.

Sie öffnete die Tür und verschärfte ihr Urteil noch einmal. Am ersten Morgen nach den Sommerferien nach Alkohol und Zigaretten stinkend an ihre Haustür zu kommen, um ihre Tochter mit einem ausrangierten Leichenwagen zur Schule abzuholen – das ging entschieden zu weit.

»Morg’n. Mickie schon fertig?« Das war alles, was der Typ herausbrachte, als er ihr gegenüberstand. Sein dunkelgraues T-Shirt hing traurig an seiner schlaksigen Gestalt, seine schwarzen Locken wirkten fettig. Durch die mit Nieselregen besprenkelten Gläser der Nickelbrille waren seine Augen nicht deutlich zu erkennen.

Ja, Mickie war schon fertig, und sie wäre wieselflink an Antonia vorbei aus dem Haus geschlüpft, wenn die nicht ihren eisenharten Arm hätte vorschnellen lassen, um ihr den Weg zu versperren. »Geh schon mal vor, Felix. Ich muss noch etwas mit Mickie besprechen.«

Antonias Tonfall ließ Felix nur übrig, einen Blick mit seiner Angebeteten zu tauschen und dann schulterzuckend zu gehorchen. Krampfhaft lächelnd schloss Antonia die Haustür von innen und wandte sich ihrer Tochter zu.

Mickie verengte die Augen und kniff den Mund zu einer Linie zusammen, die besagte, dass sie alles, was Antonia sagen wollte, bereits wusste und im Voraus genervt davon war. Also reduzierte Antonia den Wortschwall, der aus ihr hervordrängte, vorerst auf das Nötigste. »Ist er betrunken? Er riecht danach. Du hast mir versprochen, zu niemandem ins Auto zu steigen, der getrunken hat.«

Die eine Hand hatte Mickie in den Schultergurt ihres Rucksacks gehakt, den anderen Unterarm legte sie sich quer vor den Bauch. »Felix säuft sich doch keinen an, bevor er in die Schule geht.«

»Woher weißt du das so sicher? Du kennst ihn erst seit zwei Wochen näher, wenn ich es richtig verstanden habe.«

»Stell dir vor, er und ich reden miteinander. Kann ich jetzt los?«

Antonia biss die Zähne zusammen. Mickie hätte jeden Außerirdischen die Bedeutung des Wortes »schnippisch« an einem einzigen Beispiel lehren können. »Dass ihr miteinander redet, freut mich«, log sie in ihrem sanftesten Tonfall, obwohl sie sich weit mehr gefreut hätte, wenn ihre Tochter Felix weder gesprochen noch gesehen hätte. »Dann möchte ich dich bitten, ihn jetzt gleich zu fragen, ob er heute Morgen schon Alkohol getrunken hat oder nicht. Und wenn die Antwort ›Ja‹ ist, dann kommst du wieder her und lässt dich ausnahmsweise von deinem Vater zur Schule fahren, damit du nicht zu spät kommst.«

Mickie starrte sie mit fassungsloser Miene an, ihre Wangen wurden rosig. »Du kannst doch nicht im Ernst so peinlich sein.«

Antonia spürte, wie ihr eigenes Gesicht heiß wurde. Hatte sie in Mickies Alter irgendwann einmal denselben Satz zu ihrer Mutter gesagt? Und was hatte die geantwortet?

Das Telefon blökte seine aggressive Dreitonmelodie, der Geruch von verbranntem Toast stieg ihr in die Nase, ihre jüngere Tochter Annika stieß in der Küche ein lautes »Ach, verdammt!« aus. Das Telefon klingelte weiter. Mickie starrte Antonia an, den Mund verkniffen.

»Oh doch, ich kann«, brachte Antonia hervor und erkannte im selben Augenblick, dass sie damit die Worte ihrer eigenen Mutter genau wiedergegeben hatte.

Mickie riss die Tür auf und stampfte nach draußen, wo die Beifahrertür des schwarzen Mercedes für sie offen stand. Sie legte die Hand aufs Autodach und beugte sich hinunter. Ihre fransigen Ponyhaare fielen ihr vors Gesicht, schon nach Sekunden feucht vom stetigen Nieselregen. »Meine Mutter will wissen, warum du nach Alkohol stinkst«, fragte sie extra laut.

Antonia zuckte peinlich berührt zusammen. Aber was hatte sie erwartet? Diplomatie?

Aus dem Inneren des Autos kam eine Antwort in gedämpfter Lautstärke, die nicht bis an Antonias Ohr drang. Mickie machte eine schwungvolle Kehrtwende und marschierte mit undurchdringlicher Miene zurück zum Haus, auf Antonia zu. »Kannst Papi sagen, dass ich mit ihm fahre«, sagte sie.

Antonia blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen.

Mickies linker Mundwinkel verzog sich verächtlich. »War ’n Scherz. Felix hat die Autoscheiben geputzt und seine Hose mit Glasreiniger bekleckert. Der riecht so. Zufrieden? Darf ich jetzt endlich in die Schule?«

Womit ihre sechzehnjährige Kratzbürste sie entwaffnete. Antonia zog die widerstrebende Gothic Queen zu sich heran, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. »Pass auf dich auf.«

Mickie war schon wieder auf dem Weg zum Leichenwagen, als sie antwortete: »Klar doch. Übrigens sehen deine Haare scheiße aus, Muttchen. Dagegen solltest du mal was tun.«

Antonia holte Luft zu einer erbosten Antwort und schloss dann doch nur kopfschüttelnd die Tür. Über diese Frechheit und über ihr Verhältnis zu Felix würde sie später noch mit ihrer Tochter sprechen. Für den Moment war es wichtiger, dass Mickie pünktlich zur Schule kam.

Sie warf einen Blick in den Garderobenspiegel, vergaß das Ergebnis jedoch gleich wieder, denn ihre jüngere Tochter Annika kam aus der Küche auf den Flur. In der einen Hand hielt sie ein angebissenes Toastbrot mit Tofuwurst, mit der anderen streckte sie Antonia das Telefon entgegen. »Oma Inge.«

Wenn das nicht der passende Augenblick war! Stirnrunzelnd übernahm Antonia das Telefon. Was wollte ihre Mutter um diese ungewöhnliche Zeit? »Guten Morgen, Inge. Ist etwas nicht in Ordnung?«

Die Stimme ihrer Mutter klang gleichzeitig verschlafen und aufgeregt. »Nein, nein. Mir geht’s gut. Ich wollte nur fragen … Toni, wann war doch gleich euer Hochzeitstag? Nicht morgen, oder?«

So simpel die Frage schien, beschleunigte sie doch Antonias Puls. »Dasselbe hast du mich letzten Donnerstag schon gefragt. Er ist am Freitag in zwei Wochen. Am Sechzehnten. Und am Sonntag, dem achtzehnten August, feiern wir. Kannst du dir das nicht aufschreiben?«

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung ließ sie ihre Ruppigkeit gleich wieder bereuen.

»Toni, wie du weißt, halte ich die Ehe für ein schreckliches Konzept. Wäre es nicht so, stünde dein Hochzeitstag natürlich seit zwanzig Jahren rot in meinem Kalender, und ich hätte nie vergessen, dir zu gratulieren. Da es aber nicht so ist, hat sich mir das Datum eben nicht eingeprägt. Meinst du nicht, dass es nach zwanzig Jahren ein wenig zu spät ist, deshalb auf einmal beleidigt zu sein? Das warst du doch früher auch nicht.«

Während ihre Mutter sprach, war Antonia in die Küche zurückgekehrt und hatte den lauwarmen Kaffeerest aus ihrem Becher in den Ausguss gekippt. Ein Foto von ihren Töchtern im Alter von vier und sechs Jahren war auf den Becher aufgedruckt, vom häufigen Spülen so ausgeblichen, dass die beiden darauf geisterhaft durchscheinend wirkten. Entzückende kleine, in Blümchenshirts gekleidete Mädchen, die es nicht mehr gab. Bei aller Liebe zu den beinah ausgewachsenen Versionen ihrer Töchter bedauerte Antonia das manchmal. Ebenso, wie es sie bei aller Liebe zu der bald siebzigjährigen Frau am Telefon zunehmend beunruhigte, dass die patente Person zu verschwinden schien, die ihre Mutter einmal gewesen war.

»Inge –«, versuchte sie sie zu unterbrechen.

»Nein, lass mich ausreden! Ich habe mich immer bemüht, Toleranz für deine seltsam konservative Lebenseinstellung aufzubringen, auch wenn es mir nicht leichtfiel. Ich dachte –«

»Mutti! Darum geht es doch gar nicht. Ich bin nicht beleidigt. Hör zu, ich muss jetzt zur Arbeit. Wir sprechen später darüber. Notier dir einfach den Achtzehnten für die Feier, ja?«

Wenigstens was Zeitnot betraf, war ihre Mutter einsichtig.

Als Antonia auflegte, hörte Annika auf, angebrannte Krümel von einem zweiten Toast auf den Tisch zu schaben, und sah sie nachdenklich an.

Antonia setzte sich nicht wieder, sondern goss sich einen letzten frischen Schluck Kaffee ein. »Was ist?«, fragte sie.

Ihre Tochter fegte die schwarzen Krümel von ihrer rosa Jeans auf den Boden und strich sich dann auf irritierend langsame Art die Haare hinter das Ohr. Ihr ganzer Stolz auf die lange, blonde Pracht lag in der Geste. »Oma sagt, ich soll mich auf keinen Fall darauf einlassen, künstliche Vitaminpräparate zu nehmen, auch wenn du die über die Apotheke günstig bekommst. Es gäbe da ausgezeichnete natürliche Alternativen. Was meint sie denn damit? Muss ich als Vegetarierin irgendwelche Vitamine schlucken?«

Antonia hörte, wie ihr Ehegatte aus dem Fitnesskeller kam und direkt ins Bad verschwand. Einen Moment später rauschte schon die Dusche. Also wieder kein Abschiedskuss.

»Hast du mir zugehört, Mama?«, fragte ihre Tochter.

Antonia stellte ihren Becher in die Spülmaschine. »Aber ja. Und: nein. Du brauchst keine extra Vitamine, solange du isst, was Papi oder ich kochen. Wir sprechen später darüber. Ich muss los.«

Ihr riesiger weißer Regenschirm trug auf seinen Flächen abwechselnd das rote Apothekenlogo mit der um einen Kelch gewundenen Äskulapnatter und die grüne Werbung eines Pharmakonzerns. Sie hatte ihn von einem Vertreter geschenkt bekommen – das ideale Werbegeschenk für diesen Sommer.

Fein und weich fielen die Regentropfen, als Antonia aus der Tür trat. Später am Tag sollte es trotz des Regens warm werden, hatte der Wetterbericht angekündigt. Antonia klebte ihre weiße Bluse schon nach den zehn Minuten Fußmarsch zur Arbeit am Rücken, obwohl der Riesenschirm den Regen nicht durchgelassen hatte.

Als sie ihr Ziel erreichte, hielt sie inne und warf einen Blick auf Fassade und Schaufenster ihres Arbeitsplatzes. Das Hübscheste an der Weinberg-Apotheke waren die alte Weinrebe und die rote Kletterrose, die sich links und rechts vom Schaufenster und von der davor stehenden Sitzbank an der cremefarben verputzten Wand festhielten. Sie wuchsen unbeirrt seit der Erbauung des Hauses. Die Rose blühte jedes Jahr, obwohl sie wechselnd unter allen erdenklichen Rosenkrankheiten litt, und die Rebe trug gelegentlich kleine, blaue Trauben. Als Kind hatte Antonia sie manchmal gepflückt und sich vorgestellt, dass sie eine besondere Art von Medizin wären – lange bevor sie geahnt hatte, dass die Apotheke einmal ihr gehören würde. Sie lächelte wehmütig, als sie vor dem Seiteneingang ihren nassen Schirm ausschüttelte. Nicht ganz zwei Jahre führte sie die Apotheke jetzt. Eine lächerliche Zeit im Vergleich zu den vierzig Jahren, die der Vorbesitzer geschafft hatte.

Das Lächeln verging ihr schlagartig, als Dr. Elke Kosewitz ihr im Vorübergehen kühl einen guten Morgen wünschte. Die Allgemeinmedizinerin stolzierte mit zackigen Bewegungen, die zu ihrer kantigen Körperform passten, über die zur Straße hin gelegenen Parkplätze zu ihrem Praxiseingang auf der anderen Seite des Hauses.

Für Doktor Kosewitz stand Antonia mit ihren Mitarbeiterinnen nur knapp auf der Stufe über Analphabeten. Ihre Arroganz wäre vielleicht dennoch zu ertragen gewesen, wenn sie nicht außerdem noch die Eigentümerin des Apothekengebäudes gewesen wäre. Antonia hatte reichlich Grund, sich über sie zu ärgern, beschloss aber, sich nicht gleich ihren ersten Arbeitstag nach dem Urlaub davon verderben zu lassen.

Genießerisch sog sie den Duft ihrer Apotheke ein. An diesem Morgen hatte das Aroma von Menthol, Kamille, Fenchel, Desinfektionsmittel, Alkohol und Salbengrundlagen eine starke Note von Süßholz. Offenbar hatte jemand Lakritztaler abgepackt.

Ihre Mitarbeiterinnen Beate und Ulrike, die während ihrer Urlaubswoche für sie eingesprungen waren, hatten ihr im Büro eine Liste von Dingen hinterlassen, die sie persönlich erledigen musste. Außerdem stapelte sich die Post von den Krankenkassen, die oft für unangenehme Überraschungen sorgte. Von den Rechnungen ganz zu schweigen.

Nur der letzte Punkt auf der Liste war ungewöhnlich. Der Enkelsohn einer ihrer Stammkundinnen bat um ein Gespräch. Sie war gespannt, was er von ihr wollte.

Noch ehe Antonia die üblichen morgendlichen Handgriffe erledigt hatte, hörte sie jemanden zur Vordertür hereinkommen. Der Türgong war ein Geschenk ihrer Mutter zu ihrem Eröffnungstag gewesen. Er sollte klingen wie eine sanft angeschlagene tibetische Klangschale, war jedoch defekt und unterbrach seinen Wohlklang häufig mit dem knarzenden Störgeräusch eines schlecht eingestellten Radiosenders. Antonia hätte ihn gern ersetzt, konnte sich aber noch nicht dazu durchringen.

An diesem Morgen bedeutete der knarzende Gong, dass der erste Kunde wieder einmal vor ihrer neuen Mitarbeiterin Carolin eintraf. Zwei Monate lang sah sie das schon mit an und ließ Entschuldigungen gelten. So gern sie die junge PTA hatte – nun wurde es doch Zeit, dass sie ein ernstes Wort mit ihr sprach.

Mit diesem unerfreulichen Gedanken im Sinn trat sie ihrem ersten Kunden entgegen. Walter Hartmann war fünfundsechzig, seit dem zwei Jahre zurückliegenden Tod seiner Frau Stammkunde in der Apotheke und seit vier Monaten in Rente. Mittlerweile kam er zwei-, manchmal dreimal in der Woche. Hätte Antonia nicht bereits geschlussfolgert, dass es ihm dabei nicht nur um die Teststreifen für sein Blutzuckermessgerät, ABC-Pflaster oder Hühneraugentinktur ging, hätte sie es spätestens an diesem Tag erkannt.

Herr Hartmann trug dasselbe graue Jackett, das er außer im kältesten Winter immer trug, hatte seine weißen Haare sorgfältig frisiert und hielt sich mit beiden Händen einen Strauß kleiner Sonnenblumen vor die Brust.

»Guten Morgen, Herr Hartmann.«

Bevor Antonia mehr sagen konnte, präsentierte er ihr mit einer eleganten Bewegung die Blumen. Seine Lippen lächelten nicht, doch in seinen Augen blitzte ein Funkeln auf, das sie davon abhielt, ihn allzu ernst zu nehmen.

»Liebe Frau Kronenberg, ich freue mich, dass Sie aus dem Urlaub zurück sind. Zwar beherrschen auch Ihre Mitarbeiterinnen zweifellos ihr Handwerk, aber diese besondere … Ich habe darüber nachgedacht, wie ich es nennen will: Diese besondere heilende Zuversicht, die verbreiten nur Sie. Wissen Sie, warum ich Ihnen diese Sonnenblumen schenken möchte? Weil Sonnenblumen ihre Blüten und Blätter der Sonne folgen lassen. Diese Blumen wenden sich bewusst dem Hellen und Schönen im Leben zu, so wie Sie es Ihren Kunden raten. Deshalb erinnern sie mich an Sie. Allerdings endet da der Vergleich, denn so schön wie Sie sind diese Pflanzen nicht.«

Nun lächelte er flüchtig und streckte ihr den Strauß so entgegen, dass sie ihn annehmen musste.

Obwohl sie überzeugt war, dass der Flirt mit ihr für den frischgebackenen Rentner nur ein Zeitvertreib war, fühlte sie sich berührt und geschmeichelt.

Sie verbarg ihre Verlegenheit hinter einem Lachen. »Na, Sie verstehen es ja, eine Frau glücklich zu machen. So etwas Nettes hat mir schon lange kein Mann mehr gesagt.«

»Was denn! Auch nicht Ihr Gatte?«

Antonia lachte wieder, dieses Mal weniger fröhlich. »Ach, Sie wissen doch, wie das ist. Wir feiern am Sechzehnten dieses Monats unser zwanzigjähriges Jubiläum. Da hat man die Liebesschwüre schon eine Weile hinter sich gelassen.«

Er zeigte ihr seinen warnend wackelnden Zeigefinger. »So sollte es aber nicht sein. Glauben Sie mir das. Ich weiß Bescheid. Aber je nun.«

Aber-je-nun bedeutete, dass er das Thema wechseln wollte – so gut kannte Antonia ihn. Und richtig: »Warum ich eigentlich komme … Ich habe da etwas in der Apotheken-Rundschau gelesen. Und zwar stand da, dass es ein Blutzuckermessgerät gibt, für das die Teststreifen viel billiger sind. Warten Sie, ich habe den Artikel mitgebracht. Hier …«

Die nächsten zehn Minuten diskutierte Antonia mit Herrn Hartmann über Blutzuckermessgeräte. Dann musste sie rasch seine Tube Handcreme abrechnen, um sich einer neuen Kundin widmen zu können.

Inzwischen war der Himmel dunkler geworden und der Sprühregen in einen Wolkenbruch übergegangen. Carolin hatte noch immer nichts von sich hören lassen. Doch trotz ihrer Verspätung hoffte Antonia nun, dass sie sich mit ihrem Fahrrad irgendwo untergestellt hatte und nicht völlig durchnässt wurde.

Helen

Helen Arnold stand mit dem Telefon in der Hand im Flur und blickte die Treppe ins Obergeschoss ihres gepflegten Landhauses hinauf, als könne noch ein Wunder geschehen und ihr den Anruf ersparen. Halbherzig legte sie sich die richtigen Worte zurecht, damit sie nicht ins Stottern geriet, wenn sie schließlich sprechen musste.

Ihr älterer Sohn Sebastian kam oben aus seinem Zimmer und auf eine Art die Treppe heruntergeschlurft, die jeden Beobachter über seine Sportlichkeit hinweggetäuscht hätte.

Helen verschob es noch einmal, die Telefonnummer zu wählen. »Morgen, Basti. Willst du nicht lieber ein sauberes T-Shirt anziehen?«

»Morgen. Hab keins mehr.«

»In der Jackenschleuse im Wäschekorb.«

»M-hm.«

Er schlurfte in die Küche und weiter zur Waschmaschine. Helen warf einen letzten Blick nach oben und gab die Hoffnung auf ein Wunder auf. Sie wählte und zog sich mit dem Telefon ins Wohnzimmer zurück, wo ihre Söhne sie nicht hören konnten.

»Spedition Bäumler, Abteilung Qualität, Tracking und Tracing. Maibach. Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Guten Morgen, Frau Maibach. Arnold hier. Ich rufe für meinen Mann an. Er hat leider wieder seine Migräne und musste starke Medikamente nehmen. Ich fürchte, er wird heute nicht ins Büro kommen können.«

Frau Maibach schwieg. Eine Stubenfliege krabbelte über die Fensterscheibe, stieß auf den Rahmen, kehrte um. Warum schwieg Frau Maibach so lange? Helen lockerte ihre verspannten Schultern und holte Luft, um eine weitere Erklärung oder Entschuldigung nachzuschicken.

Glücklicherweise kam Frau Maibach ihr doch noch zuvor. »Ist gut, Frau Arnold, danke für Ihren Anruf. Ich habe gerade einen Blick in den Terminkalender geworfen. Da ist nur eine Besprechung heute Nachmittag eingetragen. Ich gebe den Herren Bescheid, und die werden dann entscheiden, ob sie allein zurechtkommen oder den Termin verschieben. Bestellen Sie Ihrem Mann gute Besserung von mir.«

Als Helen auflegte, waren ihre Handflächen feucht, und ihr Herz hämmerte. Erst jetzt nahm sie wahr, dass einer der Stühle am Esstisch umgefallen war und die zerknautschte Hose ihres Mannes auf dem Boden lag. Sie richtete den Stuhl auf und ging nach einem prüfenden Blick auf den Rest des Zimmers mit der Hose in die Küche zu ihren Söhnen.

Sebastian hatte sein T-Shirt gewechselt und beugte sich mit dem Sportteil der Zeitung vor der Nase über eine Schüssel Cornflakes. Sein kleiner Bruder Sid war gerade damit fertig, die dezent bunt gestreifte Wachstuchtischdecke abzuwischen, und brachte den Lappen zur Spüle. Die offene Spülmaschine zeigte Helen, dass er vorher das saubere Geschirr weggeräumt hatte. Im Vorübergehen nahm sie ihren Elfjährigen in den Arm, was er sich bisher noch gern gefallen ließ. »Bist ein Schatz, Siddie. Danke schön.«

Ihrem Blick ausweichend, hängte er den Lappen weg. »Was ist mit Papa?«

Sie zuckte mit den Schultern, ging in ihren »Jackenschleuse« genannten Hauswirtschaftsraum und warf Toms Hose zur schmutzigen Wäsche. Als sie die Küche wieder betrat, war Sid dabei, sich seine Trinkflasche mit Wasser aus der Leitung zu füllen. Sebastian musterte sie ausdruckslos und wandte sich wieder seiner Lektüre zu.

Helen packte Sids gefüllte Brotdose in seinen Star-Wars-Ranzen. »Können wir los?«

Sid verstaute die Wasserflasche. »Yep.«

Obwohl sie wusste, dass ihr sechzehnjähriger Großer im Gegensatz zu Sid mütterliche Zärtlichkeiten nicht mehr schätzte, fuhr sie ihm noch schnell mit den Fingern durch die ungekämmten Haare. »Sieh zu, dass du nicht zu spät loskommst. Und fahr vorsichtig.«

Sebastian blickte nicht einmal auf. »M-hm. Tschüss.«

Nur ein Gemurmel und ein Wort, und doch klang beides feindselig. Ein ungutes Gefühl schnürte ihr die Kehle zu, und sie räusperte sich. »Ist irgendetwas?«

Sein Blick blieb auf die Zeitung geheftet. »Was soll schon sein? Ist doch alles wie immer. Ich frage mich nur, warum es dich nicht stört, dauernd für ihn zu lügen.« Er zeigte mit dem Finger nach oben, um deutlich zu machen, um wen es ging.

Helen nahm den Autoschlüssel von ihrem liebevoll restaurierten, weiß gestrichenen Küchenschrank. Sie zeigte nicht, dass sie betroffen war, obwohl sie innerlich zitterte. Mit einem solchen Vorwurf von seiner Seite hatte sie nicht gerechnet. Waren sie sich nicht stillschweigend einig gewesen, wie man mit der Lage umging? Warum griff ihr Sohn sie plötzlich deshalb an? Als könne er überhaupt darüber urteilen, was sie tat!

»Das ist meine Sache, Basti. Ich glaube, das verstehst du noch nicht.«

»Das muss man nicht verstehen«, murmelte er zwischen geschlossenen Zähnen hindurch, ohne sie anzusehen.

Sie tat, als hätte sie es nicht gehört, und folgte Sid aus der Hintertür zum Auto. Mit der freien Hand rieb sie sich den Nacken. Sie musste in der Apotheke vorbeifahren und sich Salbe holen, sonst würden ihre schmerzenden Schultern sie verrückt machen.

Wortlos stiegen sie ein. Im Rückspiegel konnte Helen sehen, wie Sid sie von hinten beobachtete.

»Weißt du, was mit Basti los ist?«, fragte sie.

Sid blickte aus dem Fenster. »Nö. Aber ich glaube, er hat ’ne neue Freundin. Eine richtige.«

»Ach so. Na dann.« Diese Neuigkeit von Sid zu erfahren statt von Sebastian selbst verbesserte ihre Laune nicht. Sie fühlte sich wie eine Versagerin, wenn ihre Söhne ihr solche wichtigen Neuigkeiten nicht anvertrauten.

»Wann kommst du heute von der Arbeit?«, wollte Sid wissen.

»Ich mache um halb zwei Schluss, fahre aber noch bei Antonia in der Apotheke vorbei. Gegen drei Uhr müsste ich zu Hause sein.«

Sid schwieg. Schon wieder dieses Schweigen. Als würden alle ständig Dinge über sie denken, die sie ihr nicht ins Gesicht sagen wollten. War Sid der Meinung, dass sie zu spät nach Hause kommen würde? Sollte sie lieber doch nicht bei Antonia vorbeifahren, sondern direkt nach Hause, damit sie mehr Zeit für ihn hatte?

Sie wollte es ihrem Sohn gerade vorschlagen, da rückte er mit seinem eigenen Plan heraus.

»Kann ich nach der Schule mit zu Timo, falls er Zeit hat? Könntest du mich heute Abend abholen?«

Wie zaghaft er fragte. Auch das tat ihr weh. »Na klar. Entweder ich oder Papi.«

Der Scheibenwischer quietschte über die nur feuchte Scheibe. Schweigen. Sids Blick schweifte durchs Seitenfenster ins Leere.

»M-hm. Prima«, sagte er schließlich. Doch Freude hätte anders geklungen.

Petra

Petra Ziegler hatte schon vor langer Zeit entdeckt, dass jede noch so lästige Arbeit auch eine Seite hatte, die Spaß machen konnte. Was die Reparaturen an dem baufälligen Haus anging, das sie mit ihren Kindern zur Miete bewohnte, machten sie ihr besonders viel Freude, wenn das Material dafür sie nichts gekostet hatte.

Sie setzte sich auf ihre Fersen zurück und betrachtete zufrieden die neue Türschwelle ihres Wohn- und Schlafzimmers, die einmal eine Tischplatte vom Sperrmüll gewesen war.

»Mamili, kommst du jetzt?«, fragte Isabell, ihre Jüngste. Ganz leise fragte sie, weil sie hoffte, so weniger zu stören. Alle fünf Minuten war sie angehüpft gekommen, um nachzusehen, welche Fortschritte Petra machte.

»Ja, jetzt komme ich.« Petra packte Schraubendreher und Schleifpapier in ihre Werkzeugkiste zurück.

Teil für Teil hatte sie das Werkzeug von dem Geld angeschafft, das sie einsparte, weil sie keinen Kaffee mehr trank. Sie liebte ihre Werkzeugkiste, und sie war stolz darauf, dass sie alle kleinen Reparaturen im Haus selbst erledigen konnte. Manchmal musste sie in die Stadtbücherei gehen und nachlesen, wie man etwas machte, aber dann bekam sie es hin. Fragen tat sie ungern, denn meistens waren es Männer, die sich mit Reparaturen auskannten, und die wollten es entweder gleich selbst machen oder erklärten es so, dass sie es nicht verstand.

Isabell hatte sich ein ausgeblichenes gelbes Trägerkleidchen angezogen, das auch ihre ältere Schwester schon gern und viel getragen hatte. Für die Kinder war es Sommer, ganz gleich, wie viel es regnete.

Petra warf einen Blick aus dem Fenster und stellte fest, dass es gerade wenigstens nicht wie aus Kübeln schüttete. In der kleinen Abstellkammer suchte sie nach dem Körbchen mit Wurzelstöcken, die sie gegen Ableger von ihren Stauden eingetauscht hatte. Es waren verschiedene Sorten von Schwertlilien, deren rüschige, rosa- und lilafarbene Blüten ihre Jüngste besonders mochte. Petra hatte ihr versprochen, sie mit ihr zusammen einzupflanzen. Isabell hatte aus Eisstielen Schildchen für jede Sorte gebastelt.

Der Garten war klein – eigentlich zu klein, um als Spielplatz für sechs Kinder und gleichzeitig als Revier für eine leidenschaftliche Gärtnerin zu dienen. Petra hatte sich immer wieder etwas einfallen lassen müssen, um den einen oder anderen Winkel dennoch zur Blumenschutzzone zu erklären. Allerdings spielten inzwischen ohnehin nur noch ihre beiden Jüngsten im Garten.

Kurze Zeit später kniete Isabell in dem Beet, das sie gemeinsam vorbereitet hatten, und versenkte hingebungsvoll die Wurzelstöcke samt zugehörigen Schildchen im Boden. An ihrer Seite rekelte sich – lang auf dem Bauch ausgestreckt – der rot-weiß getigerte Kater, der ihnen einige Monate zuvor zugelaufen war. Petra hatte im Tierheim angerufen und wochenlang die Suchanzeigen der Wochenzeitung gelesen, doch niemand schien das Tier zu vermissen. Inzwischen hieß der Kater Konrad, und Petra brachte es nicht übers Herz, ihn wieder fortzugeben, obwohl sie sich ein Haustier eigentlich nicht leisten konnte. Wenn nicht ein unbekannter, großzügiger Spender alle zwei Wochen eine Plastiktüte voll Katzenfutter an ihre Gartenpforte gehängt hätte, dann hätte sie die Kosten für den Kater an anderer Stelle wieder einsparen müssen. Und weil sie diese Rechnung schon oft durchgegangen war, konnte sie damit nicht mehr viel herausholen.

Da Isabell mit den Iriswurzeln beschäftigt war, widmete Petra sich ihrem Staudenbeet. Sie lockerte den Boden und sog den Geruch der nassen, warmen Erde ein. Lange hatte sie in ihrem erlernten Beruf nicht gearbeitet, bevor sie Kinder bekam und zu Hause blieb, doch sie wusste noch genau, warum sie sich für die Gärtnerlehre entschieden hatte. Dreck unter den Fingernägeln und schmerzende Knie störten sie nicht, solange sie etwas zum Wachsen und Blühen brachte.

Die Weinbergstraße herauf kamen auf dem Bürgersteig Schritte näher, begleitet vom regelmäßigen Klacken eines Gehstocks. Petra strich mit dem Handrücken den Nieselregen aus ihrem Gesicht und blickte auf. »Guten Morgen, Frau Lilienthal«, sagte sie.

Ihre alte Lehrerin kam noch ein Stück näher und blieb dann vor der Gartenpforte stehen. »Guten Morgen, Frau Ziegler.«

Bis Petra achtzehn wurde, hatte Frau Lilienthal sie geduzt, dann war sie zum »Sie« übergegangen. Petra stand auf, wischte sich die Hände an der Hose ab und trat ebenfalls zur Pforte. Frau Lilienthal drückte ihre Hand nur kurz und sanft, aber mit der Bestimmtheit, die sie auch früher im Unterricht bewiesen hatte.

Sie war immer noch größer als Petra, wirkte aber zerbrechlicher als zu ihrer Grundschulzeit. Die zartblau und indigo gemusterte Wollfilzweste, die sie trug, war eines ihrer Lieblingsstücke. Doch die alte Dame wirkte zunehmend verloren darin, als würde sie aus dem Kleidungsstück herausschrumpfen, so wie umgekehrt Kinder in ihre hineinwuchsen. Auch die Einkaufstasche, die an ihrem Arm baumelte, wirkte zu groß für sie.

Ihr ungleichmäßig gewelltes dunkles Haar stand um einen Wirbel herum lustig zu Berge, und der graue Ansatz verriet, dass sie es lange nicht mehr hatte färben lassen.

»Wie geht es Ihnen? Nutzen Sie die Regenpause für einen Spaziergang?«, fragte Petra.

»Mir geht es gut. Ganz gut. Ja, der Regen. Ist es nicht, als hätten wir den ganzen Sommer lang April gehabt? Aber Ihre Rosen blühen wunderbar.«

Petra musste kurz überlegen, um zu verstehen, welche Blüten Frau Lilienthal meinte. Wohin ihre alte Lehrerin blickte, blühten keine Rosen, sondern Dahlien. Aber sie hatte schon bei einer früheren Begegnung vermutet, dass Frau Lilienthals Sehkraft nachließ, und beharrte deshalb nicht darauf. »Ja, die sind gut gediehen.«

»Ist das Ihre kleine Isabell, die da so fleißig ist? Isabell, komm doch mal her.«

Isa vergewisserte sich mit einem raschen Blick, ob ihre Mutter wollte, dass sie auf die alte Frau hörte. Dann kam sie heran und schmiegte sich an Petras Seite.

»Guten Tag, junge Dame. Deine Mutter hat mir letzte Woche erzählt, dass du am Samstag eingeschult wirst. Ist das wahr?«

Nun leuchteten Isabells Augen, und sie nickte eifrig. »Ich habe einen eigenen Ranzen. Der ist neu gekauft. Mit Katzen drauf.«

»Das ist gut. Du musst ja jeden Tag eine Menge Pausenbrote mitnehmen. Wer hat ihn dir denn ausgesucht?«

»Das war ich selber.«

»Na, so was! Magst du Katzen?«

»Na klar! Ich mag alle Tiere. Und alle Blumen. Wie Mami.«

Frau Lilienthal lächelte. »Deine Lehrerin wird bestimmt ihre Freude an dir haben. Warte, ich habe dir etwas für deinen ersten Schultag mitgebracht.«

Sie lehnte ihren Gehstock aus knotigem Holz an die Hecke, nahm eine Mini-Schultüte aus ihrer Einkaufstasche und reichte sie Isabell über den gemauerten Torpfosten hinweg.

Petras Tochter strahlte. »Danke schön. Muss ich sie bis Samstag aufbewahren? Oder darf ich schon reingucken?«

Frau Lilienthal nahm ihren Stock wieder an sich und wandte sich zum Gehen. »Das entscheidet deine Mami. Ich wünsche dir viel Spaß in der Schule. Wenn ich nächste Woche hier vorbeikomme, frage ich dich, was du schon gelernt hast.«

»Lesen lerne ich bestimmt ganz schnell. Sagt Mami. Ein bisschen kann ich’s schon. Jenni und Nadine haben es mir beigebracht.«

Frau Lilienthal hielt inne. »Wirklich? Das heißt, es ist zu etwas gut, wenn man große Geschwister hat? Möchtest du mir erzählen, wie gut du schon lesen kannst? Ich gehe zur Apotheke. Vielleicht erlaubt Mami, dass du ein Stück mitgehst?«

Isa holte Petras Erlaubnis mit einem fragenden Blick ein. Gleich darauf spazierte sie plappernd mit Frau Lilienthal in Richtung Apotheke, wo sie – darauf wollte Petra wetten – von Antonia Kronenberg einen Traubenzucker und das neueste »Junior«-Heft bekommen würde.

Bevor Petra sich wieder ihren Beeten zuwenden konnte, hielt das Postauto an ihrer Pforte. Sie kniff beim Anblick des gelben VW angewidert die Lippen zusammen. Post bedeutete selten etwas Gutes, und mit Papierkram tat sie sich allgemein schwer.

Die Zustellerin drückte ihr neben einem Bündel überflüssiger Werbeprospekte einen von den weißen Umschlägen mit Sichtfenster in die Hand, die Petra am meisten fürchtete, weil sie am häufigsten Ärger mit sich brachten. Die Prospekte warf sie gleich in die Altpapiertonne, den Brief steckte sie in die Tasche ihrer Sweatjacke, um den Ärger noch ein wenig aufzuschieben.

Solange Petra im stärker werdenden Nieselregen ihr Staudenbeet jätete, weißen Phlox und lila Glockenblumen abstützte und die Ranken ihrer Kletterrose neu befestigte, konnte sie den Brief tatsächlich für eine Weile vergessen. Doch als Isabell zur Pforte hereintänzelte, ein von der Feuchtigkeit gewelltes »Junior«-Heft schwenkte und fragte, ob sie ihr etwas daraus vorlesen würde, fiel er ihr wieder ein.

Mit einem Seufzer vertröstete sie ihre Tochter auf später, setzte sich auf die Eingangstreppe, die sie im Frühjahr neu gepflastert hatte, und öffnete den Umschlag.

Das Schreiben kam vom Eigentümer ihres Hauses. Winzige Regentröpfchen fielen auf das Papier und ließen es aussehen wie die gesprenkelte Schale eines Vogeleis. Grundsätzlich hatte Petra kein Problem mit dem Lesen. Nur bei offiziellen Briefen, Formularen und Anträgen begann ihr Puls zu rasen, und sie musste all ihre Konzentration zusammennehmen, damit die Wörter einen Sinn ergaben.

Sehr geehrte Frau Ziegler,

hiermit kündigen wir Ihnen das Mietverhältnis im Haus Weinbergstraße 12 fristgemäß zum 01. 10. dieses Jahres aus Gründen des Eigenbedarfs nach § 573 (2). Wir weisen Sie darauf hin, dass Sie vertraglich zur Übergabe des besenreinen Hauses in raufaserweiß tapeziertem Zustand verpflichtet sind und zur Schadensbegleichung herangezogen werden, falls die Räumung des Gebäudes und aller Nebengebäude Ihrerseits nicht pünktlich erfolgen und die anstehenden notwendigen Sanierungsmaßnahmen dadurch behindert werden sollten.

Mit freundlichen Grüßen …

»Was ist denn, Mamili?« Isabell hockte sich vor sie und hielt sich an ihrem Hosenbein fest, damit sie nicht umfiel.

Zweimal hatte Petra den Brief nun gelesen. Verstanden hatte sie den Inhalt, doch fassen konnte sie ihn nicht.

Seit zwölf Jahren wohnte sie mit ihren Kindern in dem Häuschen, seit drei Jahren ohne Mann. Sie hatte jeden Cent dreimal umgedreht und jeden erdenklichen Spartipp ausprobiert, um hier wohnen bleiben zu können. Die Miete war gerade so hoch, dass das Amt sie ihr noch zugestand. Etwas Ähnliches, was sie sich leisten konnte, würde sie nicht wieder finden. Sie würde mit den Kindern in einen der Häuserblocks am Stadtrand ziehen müssen. Falls es für sechs Personen überhaupt etwas Passendes gab. So gesehen war es gut, dass sie keinen Mann mehr im Haus hatte und dass ihr Ältester schon ausgezogen war. Billige Mietwohnungen für acht Personen wurden ihres Wissens gar nicht gebaut.

»Sag doch was«, drängelte Isa.

Petra faltete den Brief zusammen, und dann faltete sie ihn noch kleiner, bis er völlig in ihrer Jackentasche verschwand. »Ist schon gut, mein Schatz. Ich musste das nur erst mal lesen. Ist nicht wichtig.«

»Guckst du dann jetzt, wie ich die Iris eingepflanzt habe? Dann können wir sie zudecken und gießen. Wann bekommen sie Blüten?« Isabell zwirbelte einen losen Faden ihres Kleidchens zwischen den Fingern und sah sie mit erwartungsvoller Miene an.

Petra wurde das Herz noch schwerer. »Erst im nächsten Jahr, Isa. So lange dauert das.«

Carolin

Seine Lippen waren so heiß, so aufregend, dass Carolin Pfeiffer beinah gegen ein parkendes Auto fuhr. In letzter Sekunde riss sie den Lenker herum. Zu ihrem Glück hatte der Radfahrer hinter ihr die Bewegung vorausgeahnt und konnte ausweichen.

»Pass doch auf, du Tusse! Penn zu Hause!«, maulte er sie an.

Carolin wurde heiß vor Scham, und Tränen traten ihr in die Augen. Der Typ hatte ja recht, sie hatte geträumt. Aber mussten immer alle gleich so unfreundlich werden? Und mussten überall Autos an den Straßenrändern stehen?

Obwohl ihr die Stimmung verdorben war, bog sie in die Meistergasse ab und ließ ihr Rad rollen. Ein Stück voraus stand Stefans Haus. Oder zumindest das Haus, in dem er wohnte.

Sie hatte ihn morgens schon einmal von Weitem mit dem Fahrrad aus der Ausfahrt kommen sehen und war ihm dann hinterhergeradelt. Doch er fuhr schneller als sie und hatte sich nicht umgedreht. Schließlich bog er in eine Einfahrt ab.

Obwohl es in Strömen geregnet hatte, war sie ganz langsam an dem Bürogebäude vorbeigefahren, in der Hoffnung, er würde zu Fuß wieder zum Vorschein kommen. Dabei hatte sie die Firmenschilder mit ihren nüchternen Aufschriften studiert und überlegt, wo er wohl arbeitete. An dem Tag war sie durchnässt und so spät in die Apotheke gekommen, dass Antonia sich richtig aufgeregt und sie zu einem peinlichen Gespräch ins Büro gebeten hatte. Carolin hatte ihr danach versprochen, in Zukunft morgens besser auf die Zeit zu achten. Und dieses Versprechen wollte sie halten.

Heute war sie extra früh losgefahren. Schließlich würde sie auf die Art womöglich auch zur Stelle sein, wenn Stefan losfuhr, und ihn direkt vor seinem Haus treffen. Dann würde er sie wiedererkennen, sie konnten sich begrüßen, und sie würde ihm erzählen, dass sie zufällig auch in Jeetzeburg Arbeit gefunden hatte. Sie würden ins Gespräch kommen, und vielleicht ergab es sich, dass er Lust bekam, sich mit ihr auf einen Kaffee zu treffen. Wo sie doch beide fremd in der Stadt waren. Sie hatte sich schon ausgedacht, wie sie ihm das Café Elbufer vorschlagen würde.

Beim Kaffeetrinken konnten sie von der Terrasse aus die Binnenschiffe und Motorboote beobachten. Ihr war die Vorstellung von Bootsfahrten zwar eher unheimlich, weil sie nicht gut schwimmen konnte, aber ihm gefiel das sicher. Und später würden sie einen Spaziergang am idyllischen Flussufer machen. Er würde ihre Hand nehmen. »Ich mochte dich schon die ganze Schulzeit über.« So oft hatte sie sich diese Szene vorgestellt, dass sie genau seine Stimme und die Betonung der Worte im Ohr hatte.

Mit einem glückseligen Lächeln auf den Lippen stellte sie fest, dass der nächste Pedalentritt sie an seinem Haus vorbeibefördern würde. Ohne diese Pedalumdrehung blieb ihr allerdings nur die Wahl, umzufallen oder anzuhalten, denn langsamer konnte man mit einem Fahrrad beim besten Willen nicht fahren.

Mit klopfendem Herzen hielt sie an, schob ihr Rad auf den Bürgersteig und drehte das Ventil des Vorderrads heraus.

Was für ein unglaublicher Zufall, dass sie gerade vor seiner Wohnung einen Platten hatte!

Umständlich schraubte sie das Ventil wieder in die Hülse und löste ihre Pumpe aus der Halterung.

Sie hatte noch nicht angefangen zu pumpen, da erschien Stefan. Dieses Mal ohne Fahrradhelm. Ihr Herz machte einen Satz und fing an zu rasen. Gott, sah er gut aus – noch besser, als sie ihn in Erinnerung hatte.

Einen Schritt hinter ihm trat eine junge Frau aus der Haustür. Erschrocken senkte Carolin den Kopf und fummelte die Pumpe aufs Ventil. Die Frau war blond und extrem hübsch.

»Neunzehn Uhr, habe ich meiner Mutter gesagt. Also muss ich dich um achtzehn Uhr abholen«, sagte sie zu Stefan.

Er antwortete mit einem Murmeln, das Carolin nicht verstand, und stieg auf der Beifahrerseite in den blauen Golf, der vor dem Carport stand.

Die Frau schritt auf ihren hohen Absätzen ums Auto herum zur Fahrertür und entdeckte Carolin auf dem Gehweg. »Guten Morgen. Alles in Ordnung? Können wir Ihnen helfen?«, fragte sie.

Carolin spürte, wie ihre Wangen glühten. Wahrscheinlich hätte sie Berufsaussichten als Warnboje gehabt. Hektisch winkte sie ab und starrte dabei auf die hässlichen rauen Betonplatten zu ihren Füßen, statt die Frau anzusehen. »Nein, nein, geht schon«, sagte sie.

»Na dann.«

Die Autotür knallte zu, der Golf fuhr an, und Carolin pumpte nun ernsthaft.

Der Reifen füllte sich nicht. Sie drehte das Ventil fester, pumpte, was das Zeug hielt, und erntete nur ein Zischen an der Stelle, wo Ventil und Pumpe zusammentrafen. Ein Blick auf die Uhr ließ sie zusammenzucken. Ihr kamen die Tränen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, die Luft aus dem Reifen zu lassen?

Lieber Himmel, wenn Stefan sie gerade gesehen hätte! Nichts hätte peinlicher sein können. Hektisch drehte sie das Ventil noch einmal heraus, reinigte es, fing von vorne an.

Ihre Hände waren schmutzig und ein Fingernagel abgebrochen, als ihr Rad endlich wieder fahrbereit war. Vor Ärger über sich selbst, aber auch vor Enttäuschung, hatte sie die ganze Zeit über weinen müssen. Nun wischte sie sich mit einem alten Taschentuch sauber – dem einzigen, das sie bei sich trug – und trat schniefend in die Pedale, als hätte es noch Sinn, sich zu beeilen. Dabei würde sie so viel zu spät kommen, dass Antonia sie nur feuern konnte.

Durchs Schaufenster der Apotheke sah Carolin, dass bereits Kunden warteten, weil ihre Chefin allein bedienen musste. In aller Eile stellte sie ihr Rad ab und stürzte zum Seiteneingang hinein. Selbst wenn sie am Ende des Tages entlassen wurde, wollte sie den Ärger jetzt nicht noch schlimmer machen. Denn das hatte ihre Chefin nicht verdient.

Kurz darauf zog sie ihren weißen Kittel zurecht, der ihr in der Regel etwas mehr Selbstvertrauen verlieh, und betrat den Verkaufsraum. Antonia befand sich im Beratungsgespräch und beachtete sie nicht, daher wandte sie sich sofort dem nächsten wartenden Kunden zu.

»Guten Tag. Was –« … kann ich für Sie tun?, wollte sie fragen, doch es blieb ihr im Hals stecken. Vor ihr stand ein junger Mann, was schon schlimm genug war. Aber er hatte auch noch Ähnlichkeit mit Stefan, sodass sie die Erinnerung an die morgendliche Katastrophe nicht verdrängen konnte.

Außerdem hatte sie für einen Augenblick gedacht, eine höhere Macht hätte eingegriffen und ihre große Liebe zu ihr in die Apotheke geschickt.

Auch in dem Fall wäre sie verloren gewesen.

Nicht, dass sie sich diese Situation noch nie ausgemalt hätte – im Gegenteil, sie hatte Stefan schon vor schlimmen medizinischen Fehlern bewahrt, indem sie ihn in letzter Minute davon abhielt, das falsche Medikament zu nehmen. Bei diesen Träumereien hatte sie es allerdings versäumt, sich eine gewöhnliche Begrüßung zurechtzulegen.

Und wer wusste, was sie gerade an diesem Morgen für Blödsinn von sich gegeben hätte? Hallo, Stefan, tut mir leid, dass ich zu spät zur Arbeit gekommen bin und du warten musstest, aber ich habe zu lange vor deinem Haus herumgetrödelt, um dich zu sehen, und dann …

Aber es war ja nicht Stefan, sondern ein Unbekannter.

Lieber Himmel, wie wohl ihr Gesicht aussah? Wahrscheinlich war sie total verheult. Sie fühlte, wie sie rot wurde, und zwang sich, es noch einmal zu versuchen: »Was kann ich –« Ihre Stimme brach. Lächerlich! Schon wieder kamen ihr die Tränen. Am liebsten wäre sie ins Büro geflüchtet und hätte sich unter dem Tisch versteckt.

»Patrick Lilienthal«, sagte der Kunde. »Ich wollte etwas für meine Oma abholen. Waltraud Lilienthal.«

Erleichtert nickte Carolin und wandte sich der Schublade mit den Bestellungen zu.