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Jacques Berndorf
Eifel-Bullen

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Mords-Eifel (Hg.)
Der letzte Agent
Requiem für einen Henker
Der Bär
Tatort Eifel (Hg.)
Mond über der Eifel
Der Monat vor dem Mord
Tatort Eifel 2 (Hg.)
Die Nürburg-Papiere
Die Eifel-Connection
Eifel-Bullen

Jacques Berndorf ist das Pseudonym des 1936 in Duisburg geborenen Journalisten, Sachbuch- und Romanautors Michael Preute.

Sein erster Eifel-Krimi, Eifel-Blues, erschien 1989. In den Folgejahren entwickelte sich daraus eine deutschlandweit überaus populäre Romanserie mit Berndorfs Hauptfigur, dem Journalisten Siggi Baumeister. Dessen bislang jüngster Fall, Die Eifel-Connection, erschien 2011 als Originalausgabe bei KBV.

Berndorf setzte mit seinen Romanen nicht nur die Eifel auf die bundesweite Krimi-Landkarte, er avancierte auch zum erfolgreichsten deutschen Kriminalschriftsteller mit mehrfacher Millionen-Auflage. Sein Roman Eifel-Schnee wurde im Jahr 2000 für das ZDF verfilmt. Drei Jahre später erhielt er vom »Syndikat«, der Vereinigung deutschsprachiger Krimi-Autoren, den »Ehren-Glauser« für sein Lebenswerk.

Jacques Berndorf

Eifel-Bullen

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Inhalt

Widmug

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Originalausgabe
© 2012 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlagillustration: Ralf Kramp
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-942446-61-7
E-Book-ISBN 978-3-95441-113-9

für meine Frau Geli in Dankbarkeit für meinen Bruder Claus und seine Frau Traudi in Los Angeles für Helmut Lanio

»Und wenn ich Ihnen mal was sagen soll: Karla ist nicht gegen alles gefeit, denn er ist ein Fanatiker. Und wenn’s nach mir geht, dann kommt der Tag, an dem dieser Mangel an Mäßigung ihn zu Fall bringen wird.«

John le Carré, Dame, König, As, Spion
München 1994

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. / Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, / wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben / und wird in den Alleen hin und her / unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke, Herbsttag

1. Kapitel

Es gibt Tage, die so verquer beginnen, dass man sie am besten ausfallen lässt. Dies war so einer.

Das Telefon schrillte, ich linste auf die Uhr und stammelte irgendetwas. Es war 5.28 Uhr.

Rodenstock bestimmte mit seiner fiesesten Militärstimme: »Hör zu, du musst in drei Minuten in deinem Auto sitzen. Du fährst zu einer Familie namens Horst Walbusch in Daun-Boverath und stellst fest, wo die Ehefrau namens Nicole Walbusch, siebenunddreißig Jahre alt, heute Nacht war. Dann fährst du weiter nach Oberstadtfeld. Dort in der Kirchgasse 9 wohnt ein Mann namens Gerd Bludenz. Du stellst fest, wo der heute Nacht war und fragst ihn …«

»Moment, Moment! Diese Nacht ist doch noch gar nicht zu Ende, und ich muss schließlich wissen, was ich denn …«

»Keine Zeit, Junge«, schnarrte er und legte auf. So ist er nun mal, wenn die Pflicht ruft, unhöflich und beleidigend, impertinent und kulturlos.

Wie üblich schaltete ich meinen Heimatsender SWR 1 ein, und unser geliebter alter Barde Udo Nuschel Lindenberg kam mit Hinterm Horizont geht’s weiter. Für Sekunden fasste ich wieder Mut, wurde geradezu fröhlich, aber gleich darauf dachte ich wieder: Wenn Rodenstock um 5.28 Uhr auf der Matte steht, kannst du alle Hoffnung fahren lassen.

Ich war in jenen Tagen ohnehin etwas melancholisch, möglicherweise war es eine durchreisende Depression. Wahrscheinlich hatte das mit politischen Nachrichten zu tun, in die ich zuweilen hineinrutsche wie in einen bösen Film. Mein Landesvater hatte verkünden müssen, dass der Nürburgring endgültig pleite war. Es standen runde 330 Millionen staatliche Euro im Raum und das Versprechen, dass kein Cent davon den Bürgern aus der Tasche gezogen werde. Dann war die Rede von insgesamt über fünfhundert Millionen Hilfen. Jetzt bezahlten wir Bürger alles, der Eifel war im Grunde nichts zugutegekommen, nicht einmal eine Bretterbude, die Currywurst anbot. Ein paar Manager würden reiche Beute machen, und wahrscheinlich waren ihre Verträge so fein ziseliert, dass auch noch ihre Enkel absahnen könnten. So etwas macht missmutig.

Kam hinzu, dass die Nachrichten aus aller Welt auch keine Hoffnung machten. Ein Syrer namens Baschar al Assad mit erheblichem Fluchtkinn und dem kindlichen Benehmen eines erfolglosen Seelsorgers bombardierte und massakrierte seine Bürger mithilfe der eigenen Armee und der ständigen Behauptung, es handele sich um aus dem Ausland eingeschleuste Terroristen. Und als feststand, dass dieser Syrer über Unmassen an Senfgas verfügten, tönte unser Außenminister jeden Tag zweimal äußerst drohend: Jetzt aber! Und es geschah gar nichts, außer dass die Syrer voller Angst versuchten, in die Nachbarländer zu fliehen und in Zeltlagern unterzukriechen, in denen es kein Trinkwasser gab und keine medizinische Versorgung. Dann wurde, als aktueller Höhepunkt die »Entscheidungsschlacht um Aleppo« angeboten.

Sagen Sie selbst: Macht das hoffnungsfroh?

In der Küchentür stolperte ich beinahe über meinen Kater Satchmo, der beleidigt mit erhobenem Schwanz vor mir herdackelte und mich keines Blickes würdigte. Er war aus irgendeinem Grund gekränkt, wandte mir grundsätzlich den Hintern zu, gab keinen Ton von sich, erzählte auch nichts von seinem Leben. Schmal war er geworden, hager fast, buchstäblich nur Haut und Knochen.

»Hör zu, wir sind mittags bei der Tierärztin, und du wirst gründlich durchgecheckt. Also lass deine Allüren sein und benimm dich gut. Das Leben ist keine Südseeinsel. Versuch also erst gar nicht, mich mit schlechter Laune zu beeindrucken.«

Er drehte nur demonstrativ den Kopf weg, Katzen sind ekelhaft arrogant.

Unter Verzicht auf Wasser machte ich mich mit ein paar Kleidungsstücken schön und nahm den Weg zu meinem Auto über die Terrasse. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen in meine Bäume, und in diesen Strahlen tanzten unzählige Insekten, die im Morgenlicht wie Kometen aufblitzten. Das Pärchen Zaunkönige war schon wach und suchte nach Fressbarem, huschte pfeilschnell durch die Äste der Bäume. Der Dompfaff war auch da, auch das Pärchen Rotschwänzchen. Die Bachstelze demonstrierte wippend ihre ungeheure Schrittgeschwindigkeit im tiefen Gras an der Mauer. Die Amseln flogen ein, die im Frühjahr unter meinem Dach ihre Jungen großgezogen hatten.

Da atmete ich langsam aus und dachte: Also, hier ist die Welt noch in Ordnung. Ich hatte keine Ahnung, wie falsch das war. Hätte ich das gewusst, oder auch nur geahnt, wäre ich in der Einsamkeit einer Bohrinsel verschwunden.

Ich konnte mir lebhaft vorstellen, in welche Szenen ich geraten würde. Du klingelst bei einer Frau, sie steht völlig überrascht und halbwach im Negligé blinzelnd in der Haustür, und du fragst schelmisch: »Na, mein Liebe, wo waren Sie denn heute Nacht?« Sie wird eine Pfanne auf meinem Kopf zerbeulen, wenn sie zufällig eine in der Hand hat. Vom wirklichen Leben jedenfalls hat Rodenstock nicht die geringste Ahnung.

Ich fuhr also nach Daun-Boverath, suchte die Straße und die Hausnummer, stieg aus und stand vor einem weißverputzten, freundlichen Einfamilienhaus mit einem hübschen Vorgarten, in dem eine Menge rotblühender Stauden standen. Ich klingelte, ich klingelte noch einmal, ich klingelte weiter, es geschah nichts. Dann tuckerte ein kleiner, roter Renault heran, hielt hinter meinem Auto. Eine Frau stieg aus, füllig, das dunkle, lange Haar wild, aber ordentlich gekämmt. Fröhlich gekleidet war sie. Ein einfacher, schwarzer Pulli mit einem weiten Ausschnitt und einem bunten, langen Rock.

Sie fragte: »Was wollen Sie denn bei uns?« Ihr Gesicht war rundlich, mit freundlichen, braunen Augen, ohne das geringste Misstrauen, ein hübsches Gesicht.

Weil mir absolut nichts einfiel, fragte ich: »Haben Sie die Nacht woanders verbracht?« Es war die mit absoluter Sicherheit dämlichste Frage meines Lebens, zu einer eindeutig abartigen Tageszeit.

Sie antwortete: »Ja, ich habe bei einer Freundin geschlafen. Was kann ich für Sie tun? Oder kommen Sie von meinem Mann? Aber der ist ja noch auf Schicht.«

Ich dachte: Okay, sie war nicht hier in dieser Nacht. Und sie behauptet: bei einer Freundin. Also nehme ich das mal und verschwinde wieder.

Dann bemerkte sie unvermittelt lebhaft: »Wissen Sie was, ich mache uns erst mal einen Kaffee!«

»Das ist sehr nett!«, erwiderte ich zaghaft.

In diesem Moment kam eine sehr schmale, kleine Gestalt am Ende der Straße auf uns zu. Ein Mädchen oder ein Junge, vielleicht zehn, zwölf Jahre alt. Die Gestalt tanzte irgendwie, lief in Bögen, wirkte so, als wäre sie nicht von dieser Welt, als träumte sie.

Bei der Frau neben mir ging etwas Erschreckendes vor sich. Sie straffte sich mit einem Ruck, sie hob schnell den Kopf, sie bog ihren ganzen Körper, sie schrie: »Das darf doch nicht wahr sein! Julian, du gehörst doch ins Krankenhaus!«

Julian war blond, trug Wuschelhaare und einen reichlich zerbeulten, alten grünen Trainingsanzug. Er sagte sehr endgültig: »Krankenhaus ist scheiße, Mama!« Er war totenblass.

»Junge, das geht aber doch nicht! Du bist einfach abgehauen!«

»Ja, Mama«, sagte Julian und lehnte seinen Kopf an ihre Brüste.

»Ich komme später wieder«, bemerkte ich hastig.

»Da bin ich Ihnen dankbar«, sagte die Mutter und legte ihre Hände auf Julians Kopf. Sie setzte hinzu: »Dann ist auch mein Mann da, und wir können in Ruhe reden.«

»So machen wir das!«, nickte ich.

Ich wollte wütend Rodenstock anrufen und ihn darauf aufmerksam machen, dass seine Aufträge an mich geradezu idiotisch sind, aber ich dachte mir, dass er vermutlich nicht erreichbar sein würde. In derartig peinlichen Fällen war er niemals erreichbar.

Also Gerd Bludenz, Oberstadtfeld, Kirchgasse 9.

Es war nicht schwierig, das zu finden, aber die Adresse war eindeutig fragwürdig. Es war ein altes, vollkommen vergammeltes Bauernhaus mit anschließender, großer Scheune. Nach menschlichem Ermessen konnte niemand dort wohnen, denn die Gardinen in zwei Fenstern waren alt und gelb, und jemand hatte zwei Scheiben eingeworfen. Es gab keine Klingel, und die uralte Haustür war mit einem senkrecht über Tür und Zarge geschraubten Brett verschlossen. Die Tür stammte aus den Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts. Das Brett war uralt, die Schrauben waren uralt, der Putz am Haus war bröckelig. Das Scheunentor war mit zwei schräg über die Torhälften geschraubten Latten gesichert. Das Tor selbst war vielleicht zum letzten Mal vor dreißig Jahren geöffnet worden, vor der linken Hälfte hatte sich ein Holunder angesiedelt, stolze vier Meter hoch, die Blütenstände würden viele Beeren tragen.

Ich rief einige Male »Hallo!«, bekam aber kein Echo. Ich versuchte, das Haus von der linken Seite zu umrunden, hatte aber kein Glück. Der ehemalige Garten war ein Dschungel und unpassierbar. Ich versuchte es rechts und schaffte es immerhin zur Rückseite der Scheune und von dort hinter das kleine Wohnhaus.

Da hatte jemand den wildwuchernden Rasen auf einem Quadrat von drei Metern geschnitten und einen Plastiktisch mit einem alten Sessel aufgestellt. Als ich absichtslos auf die Rücklehne des Sessels drückte, lief Wasser heraus. Der letzte Regen war vor einer Woche gefallen, zeitnah war diese Spur also nicht.

Jemand hinter mir sagte krächzend : »Wat willste denn?«

»Ich suche Gerd Bludenz«, sagte ich.

Es war ein hagerer, misstrauischer, alter Mann, gebeugt von Arbeit und der Sorge ums Überleben. Er trug einen Blaumann über einem karierten Hemd und auf den weißen Haaren eine blaue Arbeitsmütze. Er sagte widerwillig: »Aber hier ist doch keiner.«

»Das sehe ich auch«, murmelte ich. »Ich muss den Mann aber finden.«

»Die Polizei sucht den bestimmt«, kommentierte er mit schmalen Augen.

»Das weiß ich nicht«, murmelte ich. »Wann war er denn zuletzt hier?«

»Oh, das weiß ich nicht. Aber das Haus soll dem ja gehören.«

»Also, wenn es ihm gehört, dann muss er ja manchmal hier sein, oder?«

»Na ja, aber da gibt es ja auch noch eine Frau«, überlegte er. »Aus Köln soll die sein. Und der soll er das Haus überschrieben haben.«

»Und wo ist die Frau?«, fragte ich.

Er breitete seine dünnen Ärmchen segnend aus. »Also, die habe ich seit Monaten hier nicht mehr gesehen. Die wär mir aber aufgefallen, ich wohne ja gleich schräg gegenüber.«

»Und wann war der Gerd Bludenz zuletzt hier?«

»Also, ich weiß das nicht«, versicherte er. »Kann Wochen her sein.«

»Aber in diesem Haus kann doch kein Mensch wohnen«, murmelte ich. »Fenster kaputt, uralte Lappen als Gardinen, Fensterrahmen faulen, Verputz bricht ab.«

Er kicherte hoch: »Da ist nicht mal Heizung drin. Das muss man sich mal vorstellen. Alles feucht, in den Wänden der grüne und schwarze Pilz. Nur ein alter Kanonenofen, sonst nichts. Nicht mal ein Herd. Da denkst du dir doch was bei, oder?« Er nahm die Kappe ab und kratzte sich am Kopf. Dann sah er mich listig an und fragte: »Du kriegst Geld von dem, oder?«

»Darüber darf ich nicht reden«, antwortete ich. »Wie sieht er denn eigentlich aus?«

»Ach, das weißt du nicht?«

»Nein. Wie alt ist er denn?«

»So um die vierzig, sage ich mal. Aber Genaues weiß ich nicht. Und seinen Pass habe ich nicht gesehen, wenn er überhaupt einen hat.« Das Grinsen dazu war eindeutig süffisant.

»Wann hat er denn das Haus gekauft? Und wem gehörte das früher?«

»Also, das war Jossens Mattes. Aber die Kinder wollten das nicht. Und dann starb seine Frau, und er ging ins Heim. Aber das ist lange her, so um die fünfundzwanzig Jahre. Wie man sagt, hat er dafür damals auch kaum was gekriegt. Ein Taschengeld vielleicht. Jedenfalls der, der es gekauft hat, hat es weiterverkauft an den Bludenz. Und der hat es vielleicht acht Jahre oder so. Aber er kommt selten in der letzten Zeit. Also seit der Geschichte mit der Polizei kommt er und ist gleich darauf wieder weg.«

»Hilf mir mal«, sagte ich freundlich. »Wann hast du den Bludenz zum letzten Mal gesehen? Und was war mit der Polizei?«

Er hielt den rechten Zeigefinger an seine Nase. »Drei Wochen würde ich sagen. Also, es muss ein Sonntag gewesen sein. Da kam er vorgefahren, ging kurz rein, eine Stunde vielleicht, und war dann auch wieder weg.«

»Und was war mit der Polizei?«

»Die Sache mit den Drogen«, sagte er merkwürdig tonlos mit schmalen Lippen. »Davon verstehe ich nichts. Aber er soll Drogen gekauft und weiterverkauft haben. Jedenfalls wurde er verhaftet und verhört, und die Polizei war hier und hat das Haus und alles durchsucht. Mindestens zwanzig Mann waren das. Aber ob sie was gefunden haben, weiß man nicht.«

»Hier ist alles verrammelt. Wie kam er denn überhaupt rein in den Palast?«

»Das ist die kleine Tür da, die schmale, grüne. Da geht es in den alten Gang zum Stall, also Schweinestall und dann rein ins Haus. Aber da hat er ja ein schweres Schloss drauf. Aber geschlafen oder so hat er da nie. Jedenfalls nicht in der letzten Zeit.«

»Dann sag mir, wozu er denn das Haus überhaupt benutzt hat?«

»Drogen?«, fragte er nach einer langen Pause. »Irgendwelche krummen Dinger? Junge, ich weiß es nicht.«

Ich nahm eine Visitenkarte und hielt sie ihm hin. »Kannst du mich anrufen, wenn er auftaucht? Soll dein Schaden nicht sein.«

Er sah die Visitenkarte an, nahm sie dann und murmelte: »Mal sehen, ob ich mich dran erinnere. Mal gucken.« Dann drehte er sich und ging langsam davon.

Gut und sauber geordnete Eifeler Verhältnisse.

Ich fuhr los und ließ es langsam angehen. Ich stellte mich in einen passenden Feldweg und rief Rodenstock an.

»Der ist nicht da«, sagte seine Frau Emma bedrückt. »Der hat diese furchtbare Katastrophe in Eisenschmitt. Du könntest mal wieder vorbeikommen.«

»Was ist so furchtbar in Eisenschmitt?«

»Das weißt du nicht? Also, ich weiß so gut wie gar nichts. Das soll er dir lieber selbst sagen. Ruf ihn einfach an.«

Also wählte ich Rodenstocks Handy an, und er meldete sich kühl und knapp.

»Rodenstock hier. Ich sehe, du bist es. Wie steht es mit der Ehefrau?«

»Die war heute Nacht bei einer Freundin, sagt sie.«

»Und Bludenz?«

»Das Haus ist verrammelt, feucht und unbewohnbar. Keine Spur von dem Mann. Was machst du in Eisenschmitt? Morgens um sechs Uhr fünfzig?«

»Komm her, dann siehst du es.«

»Und wo in Eisenschmitt?«

»Auf dieser schmalen Straße zu dem ehemaligen Jagdhaus. Unübersehbar und jede Menge Konkurrenz für dich. Ich habe wirklich keine Zeit, also bis gleich.«

Einen Augenblick lang fühlte ich mich so behandelt, wie man vor zweihundert Jahren mit einem Ladenschwengel umgegangen war, wie man Lehrlinge damals nannte. Irgendwann sollte ich Rodenstock sagen, dass ich seit geraumer Zeit erwachsen war und über so etwas wie ein eigenes Gehirn verfügte. Aber ich wusste auch aus langer Erfahrung: Wenn er ungewohnt sachlich und extrem kurz und ruppig mit mir umging, hatte es einen gewichtigen Grund.

Eisenschmitt, das Dorf, das die Schriftstellerin Clara Viebig zu einem sehr berühmten Handlungsort gemacht hatte, als sie vor nahezu hundert Jahren den Roman Das Weiberdorf schrieb. Eisenschmitt war damals tatsächlich ein Weiberdorf gewesen, denn die Männer waren in Zeiten eines geradezu wahnwitzigen industriellen Aufbruchs in das Ruhrgebiet gegangen, um dort Geld zu verdienen, in elenden Heimen zu hausen und tagtäglich so lange zu arbeiten, bis sie die Arme nicht mehr hochbrachten. Damals, es war im Jahr 1904, ließ ein jagdbegeisterter, reicher Mann aus Köln ein Jagdhaus in Eisenschmitt bauen, das seither vielgestaltig genutzt worden war. Als die Jäger verschwanden, zog ein Waisenhaus ein, im Zweiten Weltkrieg ein Lazarett, dann ein katholisches Heim für Waisen unter der Leitung von Nonnen. Es wurde später privat erworben und wohl auch genutzt, angeblich ein Verlag. Niemand wusste Genaues, es gab Gerüchte, dass nur noch eine alte Dame dort lebte, unbekannt und unbemerkt in den endlosen Räumen alt wurde und vollkommen verwirrt wie ein Geist durch den Bau schwebte, bis ein kluger Nachbar entschied, sie müsste schleunigst in ein Heim.

Jetzt wartete der Bau darauf, anderen Bedeutungen zugeführt zu werden. Das Haus lag verrammelt an einer langen, gewundenen Auffahrt, die durch ein hohes Eisengitter verschlossen war. Haus Bergfeld, so hieß es, dämmerte still auf einem Hügel über Eisenschmitt neuen Bedeutungen zu. Angeblich hatten sich Käufer gemeldet, keiner wusste, wer das war. Eisenschmitt hatte gelernt, mit dem Haus zu leben, aber eigentlich war es dem Dorf gleichgültig, wer dort hauste und arbeitete.

Das Dorf hatte zu Ehren der Schriftstellerin ein gut ausgestattetes Clara-Viebig-Zentrum eingerichtet, aber sie hatte dort niemals gelebt, wohl aber ausführlich recherchiert. Ihr Roman war vielschichtig, gut gelungen und beschrieb das Dorf der abwesenden Männer mit viel verstecktem Humor und guter Kenntnis der Eifel – noch heute ein Volltreffer.

Also machte ich mich auf, durch die endlosen Wälder über Manderscheid in das kleine, schöne Dorf zu kommen. Ehrlich gestanden trödelte ich, denn was kann man schon morgens um sieben in der Eifel verpassen? Eigentlich nichts, außer du gleitest langsam und begeistert durch endlose Wälder, in denen erstaunlich wenig Verkehr zu vermelden ist, und in denen du in jeder Einmündung eines Waldweges haltmachen kannst, um ein wenig zu schlendern und das Leben zu verlangsamen. Damit du auch lernst, ruhig auszuatmen und einen Eichelhäher nicht für einen Seeadler hältst. Ich gebe zu, ich hätte gern eine Stunde Wald eingelegt.

Es irritierte mich etwas, dass mir kurz hinter Manderscheid ein Kleinlaster von RTL und ein paar Meter weiter einer vom Sender SWR entgegenkamen. Aber die Fernsehleute trieben sich im Sommer so häufig bei uns herum, dass zu Unruhe kein Grund vorhanden war. Wahrscheinlich filmten sie Wanderer, oder Leute auf dem Mountainbike, oder die ganz großen Geräte beim Ernten.

Ich fuhr hinunter in den Ort und stellte verwundert fest, dass die Hauptstraße vollkommen zugeparkt war. Und die Autos trugen alle möglichen Kennzeichen, nicht von Wittlich oder Daun. Sie kamen von überall her, im Wesentlichen aus Mainz, aus Köln, aus dem Ruhrgebiet, aus dem Ballungsraum Frankfurt. Es sah aus wie auf einem Kongress.

In der scharfen Abbiegung der Hauptstraße nach links wollte ich nach rechts in die schmale Zufahrt in das Bachtal, konnte aber nicht, weil mich zwei gelangweilte Polizeibeamte weiterwinkten. Das Sträßchen war gesperrt, nichts ging mehr. Ich fuhr ein Stück weiter und parkte etwas schräg und unbeholfen, weil eigentlich kein Platz war. Dann ging ich zurück. Es standen kleine Grüppchen Leute zusammen und redeten miteinander, und sie sahen aus wie Eisenschmitter, nicht wie Kongressteilnehmer.

An der Einmündung des kleinen Sträßchens informierte einer der Polizeibeamten freundlich: »Das hier ist gesperrt.«

»Nicht für mich«, entgegnete ich und hielt ihm meinen Presseausweis unter die Nase.

»Klar«, nickte er und gab den Weg frei.

Vor den kleinen Häusern standen Frauen auf der Straße zusammen und schwätzten miteinander, Kinder waren neugierig und wurden zurückgehalten: »Tobias, nein, du darfst nicht dorthin! Wie oft habe ich das schon gesagt?!«

Dann öffnete sich das kleine Tal, links war der Bach, geradeaus ging es zur Anfahrt auf das Jagdschloss. Da wieselten unglaublich viele Leute herum, die meisten Männer. Und unglaublich viele aus meinem Gewerbe: Leute mit professionellen Fotoapparaten und großen Teleobjektiven, Frauen und Männer mit Fernsehkameras auf den Schultern, Frauen und Männer, die etwas aufschrieben, Frauen und Männer, die rechts und links auf den Grasrändern saßen und auf irgendetwas warteten.

Ich wollte etwas irritiert einfach in die Luft fragen: »Was ist denn hier los?«, als ich das rot-weiße Plastikband sah und die zwei Polizeibeamten davor. Ich ließ ungezielte Fragen sein und konzentrierte mich auf das Bild vor mir.

Das schmale Asphaltband sah auf den ersten Blick sehr verwirrend aus. Es gab viele Fahrzeuge in den Wiesenrändern neben dem Asphaltband, die meisten von der Polizei. Es gab den Wagen eines Bestattungsunternehmers, der einsam in der Sonne stand. Und es gab einen Polizeistreifenwagen mit weit geöffneten Türen, um den mehrere zivile Beamte der Kripo herumstanden oder irgendetwas taten, betrachteten, miteinander redeten. Es war unschwer zu erkennen, dass dieser Streifenwagen das Zentrum aller Bemühungen war.

Dann der Leiter der Mordkommission Kischkewitz, der auf einem etwas erhöhten Wiesenstreifen im Gras saß, den Kopf gesenkt. Ein paar Meter neben ihm Rodenstock, ebenfalls im Gras sitzend, den Kopf gesenkt. Sie schienen einfach in der Sonne zu sitzen und zu schweigen, weil sie mit irgendetwas nicht klarkamen. Sie wirkten sehr niedergeschlagen, wie zwei Inseln, die niemand erreichen kann.

Ich rief Rodenstock an.

»Ich bin hier und sehe dich!«

»Das ist gut. Aber du kannst nicht hierher.«

»Was ist denn los?«

»Zwei Polizeibeamte sind erschossen worden. Sieht aus wie eine Hinrichtung. Die Leichen kannst du von dir aus nicht sehen, sie liegen links und rechts neben dem Streifenwagen.«

»Wann ist das passiert?«

»Wahrscheinlich gegen Mitternacht, vielleicht ein bisschen später, sagt die Medizintante.«

»Und die Leichen liegen jetzt noch hier?«, fragte ich verblüfft.

»Ja. Es gab einen riesigen, internen Stunk. Kischkewitz hat den Tatort eingefroren, Politiker haben sich eingemischt, es war sehr schlimm. Und das alles mitten in der Nacht.«

»Ich will das sehen.«

»Wir bringen die Leichen jetzt weg, dann geht das.«

»Aber ich brauche Fotos von den Toten.«

»Die kannst du von mir haben, Junge. Hunderte. Warst du bei den beiden Adressen?«

»Ja. Aber gebracht hat es nichts. Diese Frau kam gerade nach Hause und sagte mir, sie habe bei einer Freundin geschlafen. Der Mann in Oberstadtfeld war wochenlang nicht in dem Haus, er ist verschwunden, jedenfalls nicht aufgetaucht. Was willst du von denen?«

»Es besteht die Möglichkeit, dass dieser Bludenz geplant haben könnte, diesen Polizeibeamten hier zu töten. Bei der Ehefrau besteht die Möglichkeit, dass sie irgendetwas weiß. Dass sie ahnt, weshalb ihr Mann erschossen wurde, dass sie möglicherweise darin verwickelt ist, dass …«

»Moment mal«, murmelte ich leise und stinksauer. »Heißt das, dass der Ehemann dieser Frau, die ich eben aufgesucht habe, einer der Polizeibeamten ist, die da tot neben dem Streifenwagen liegen?«

»Genau das«, antwortete er. »Horst Walbusch, fünfunddreißig Jahre alt, Polizeibeamter im Schichtdienst.«

»Und wer ist der andere?«

»Der andere ist eine Frau, eine Polizistin. Gaby Schirmer, zweiunddreißig Jahre alt.«

»Ich war also bei einer Frau, deren Mann erschossen wurde, und die davon noch nichts wusste?«

»Jetzt hast du es verstanden. Sie wird zurzeit informiert.«

»Da bin ich aber dankbar für so viel Fürsorge«, bemerkte ich mit triefendem Spott. »Und was soll ich sagen, wenn ich die trauernde Witwe irgendwann mal zufällig treffe?«

»Du kannst die Wahrheit sagen: Du hast es nicht gewusst.« Dann fluchte er: »Herrgott, wir mussten sofort jeder nur denkbaren Möglichkeit nachgehen, wir hatten nichts, nicht den Hauch eines Verdachtes. Und den haben wir noch immer nicht.«

»Also gut. Ein Mann, eine Frau, Polizeibeamte, stationiert in Wittlich, fahren in eine idyllische, kleine, behagliche Eifelgemeinde namens Eisenschmitt und werden dort in einer Nebenstraße erschossen und ...«

»Falsch!«, sagte er düster. »Ganz falsch! Diese beiden Toten hier gehören nicht in die Polizeistation Wittlich, sie kamen aus dem Landkreis Daun. Sie sind hier in Eisenschmitt im falschen Landkreis. Und wir haben keine Ahnung, was die beiden hier mitten in der Nacht wollten.«

»Sie sind euch also aus dem Ruder gelaufen?«

»Genau das«, sagte er. »Sie waren plötzlich von Daun aus über Digitalfunk nicht mehr zu erreichen, sie antworteten nicht. Im Notfall wird automatisch ein Alarm ausgelöst, dann werden sie über GPS angesteuert. Ein Hubschrauber steigt in Winningen an der Mosel auf, Streifenwagen rasen los. Und wir hatten sie relativ schnell wieder auf dem Schirm. Aber sie waren tot. Die Frau, die den Streifenwagen fuhr, lag neben dem offenen Wagenschlag links, der Mann neben der rechten, offenen Vordertür. Beide sind sie mit einem Neun-Millimeter-Geschoss getötet worden. Der Kopfschuss, der die Frau tötete, wurde aus einer Entfernung von etwa zwanzig bis dreißig Zentimetern abgegeben. Der Mann wurde aus etwa drei Metern mit einem Schuss in den Kopf getötet.«

»Und ihr hattet die Idee, dass die Ehefrau von Horst Walbusch irgendetwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun hat? Ist das nicht ein wenig abartig?«

»In der Ehe kriselte es seit Jahren, manchmal sehr schwer. Na schön, es war ein Strohhalm.«

»Und dieser Bludenz?«

»Auch ein Strohhalm, gebe ich zu. Hat immer schon mit Drogen gedealt. Der tote Polizist Horst Walbusch war seit zwei oder drei Tagen überzeugt davon, dass Bludenz seinem Sohn entweder Drogen geschenkt oder aber verkauft hat. Dieser Sohn liegt zurzeit im Krankenhaus in Daun, weil er schwere Symptome von Vergiftung zeigte. Wahrscheinlich hat der Junge sowohl eine Menge Haschischplätzchen gegessen als auch eine rein chemische Substanz genommen, irgendein Speed, irgendetwas Höllisches. Walbusch war überzeugt, dass es Bludenz war, der seinem Sohn das antat. Denn Bludenz ist von Walbusch zweimal wegen des Verdachts auf Drogenvergehen verhaftet worden.«

»Das klingt wie ein Groschenroman: Dealer versaut aus Rache Polizistenkind. Der Junge ist übrigens heute am frühen Morgen aus dem Krankenhaus abgehauen. Als ich bei der Ehefrau war, kam er gerade totenblass angetrabt und sagte, Krankenhaus sei scheiße.«

»Da sind wir aber von Herzen dankbar«, murmelte Rodenstock bitter.

»Ihr seid also im Zustand der völligen Ahnungslosigkeit?«

»Danke für diese klare Formulierung.« Er räusperte sich einige Male. »Wir ziehen hier ab, wir machen dicht. Kischkewitz gibt gleich eine Pressekonferenz. Hier in Eisenschmitt, in einem Restaurant. Und da ist noch etwas, was du wissen solltest: Es spricht einiges dafür, dass Horst Walbusch und seine Kollegin Gaby Schirmer ein Paar waren.«

»Das liebe ich so an meiner Eifel: klare, geordnete Verhältnisse!«

2. Kapitel

Ich schaute also zu, wie der Wagen des Beerdigungsunternehmers mit den zwei Leichen in Metallkübeln beladen wurde, wie die Fachleute der Mordkommission sich zaghaft bewegten, miteinander sprachen, wechselnde Grüppchen bildeten, sich scheinbar nicht vom Tatort trennen konnten, irgendetwas auf Klemmbrettern oder Notizblocks notierten. Ich sah, wie der Leiter der Mordkommission Kischkewitz sich mühsam aus dem Gras hochstemmte, auf den Streifenwagen losging, flüchtig die Windschutzscheibe berührte, als könnte sie ihm etwas erzählen, sich dann drehte, einem Kollegen etwas sagte, dann mit der Ärztin sprach, die als Erste den Tatort in Augenschein genommen hatte, um sich dann eingehend mit den Toten zu beschäftigen und auch jetzt noch in ein Diktiergerät sprach und dabei um sich blickte, als hätte sie Angst, irgendetwas zu übersehen, oder zu vergessen.

Dann fuhren die ersten Streifenwagen weg, ich zählte fünf. Die ersten zivilen Fahrzeuge lösten sich vom Tatort und fuhren an mir vorbei, Uniformierte sammelten die rot-weißen Plastikbänder ein und verstauten den Müll in den Kofferräumen.

Ein Mann hinter mir sagte leise und vertraulich: »Das da ist der Staatssekretär des Innenministeriums, der wird in den nächsten Tagen viel Scheiße an den Hacken haben. Jetzt sind wir gut genug, ihnen zu helfen. Sonst halten sie immer den Mund.«

Eine Frau entgegnete scharf: »Du gehst mir mit deiner ewigen Nörgelei auf den Geist, Freddie. Zwei erschossene Polizisten sind der Hammer, eine wahnwitzige Niederlage. Du könntest zurückhaltender sein.«

Eine zweite, ganz junge Frau links von mir bemerkte: »Da werden die Bullen alle zu Rächern, das ist wie im Wilden Westen.«

Ein junger Mann lachte belustigt. »Der Wilde Westen war immer schon eine Lüge.«

Wir mussten für Sekunden alle in die Wiesenränder ausweichen. Von der Straße her kam ein kleiner Tieflader des ADAC heran. Sie würden den Streifenwagen hinaufziehen und in die kriminaltechnische Untersuchung fahren.

Rodenstock stand jetzt mit einer elegant wirkenden, blonden Frau um die vierzig zusammen, von der ich wusste, dass sie von der Staatsanwaltschaft in Trier war. Sie hatten beide ganz verbissene Gesichter, und der lange Hals der Frau wirkte seltsam krass, in höchster Anstrengung in Muskelwülste und Sehnen geteilt, schrecklich verkrampft.

Ich hörte sie wütend zischen: »Das durfte nicht passieren, Rodenstock, das nicht!«

Rodenstocks Gesicht wirkte wie aus Stein, irgendwie lebte es nicht. Er sagte nichts.

Ich ging dicht an Rodenstock vorbei und blieb stehen. »Sag mir: Haben beide Beamten ihre Waffen nicht gezogen?«

»Nein. Beide Waffen gesichert, beide im Holster. Wir verstehen das nicht. Sie können nur von jemandem getötet worden sein, den sie gut kannten, und von dem absolut keine Gefahr ausging. Aber wieso ausgerechnet hier ist für uns auch nicht nachvollziehbar.«

»Sind Sie nicht der Siggi Baumeister?«, fragte die Frau von der Staatsanwaltschaft freundlich. Ihr Blond hatte eindeutig etwas Elitäres, und ihre Augen waren grün.

»Ja, das ist er«, sagte Rodenstock und lächelte schmal.

Ich nickte ihr freundlich zu und drängte mich durch die ganzen Menschengrüppchen hindurch und ging etwa zweihundert Meter weiter, bis zwischen den ersten Bäumen die Auffahrt zum Haus Bergfeld begann.

Das hohe, eiserne Tor war verschlossen, die beiden Flügel waren durch zwei schwere Schlösser auf zwei dicken Ketten gesichert. Die Ketten waren ebenso neu wie die Schlösser und nicht angetastet. Dorthin waren die zwei Polizeibeamten also wohl nicht unterwegs gewesen. Es sei denn, sie wollten den Menschen treffen, der die Schlüssel zu den Kettenschlössern besaß. Aber diese Spur war sicherlich schon verfolgt und ausgeschlossen worden. Also dachte ich: Irgendeine Information hat sie hierher gelockt. Dann erschien jemand auf dem schmalen Asphaltband und erschoss sie kaltblütig.

Ich konnte mir nur schwer vorstellen, wie das abgelaufen sein konnte. Es war Nacht, sie kamen mit eingeschalteten Scheinwerfern hierher. Wieso war Gaby Schirmer ausgestiegen? Oder war sie gar nicht freiwillig ausgestiegen? Hatte jemand sie aus dem Wagen gezogen, irgendwie gezwungen auszusteigen? Und wenn ja, wieso hatte Horst Walbusch nicht sofort reagiert, seiner Kollegin nicht geholfen, wieso hatte er nicht nach seiner Waffe gegriffen? War es mehr als ein Täter gewesen?

Ich drehte mich und ging zurück. Rodenstock sprach immer noch mit der Frau von der Staatsanwaltschaft. »Ich habe noch eine Frage«, sagte ich. »Waren beide Polizeibeamte komplett angezogen? Keine offenen Hosen, kein Hemd aus der Hose, Uniformjacke an, alles in Ordnung? Keine freiliegenden sekundären oder primären Geschlechtsmerkmale?«

»Mein lieber Mann«, sagte die Frau von der Staatsanwaltschaft mit heller Stimme und einem breiten Grinsen. »Sie schalten aber schnell.«

»Das hat er von mir«, murmelte Rodenstock nicht ohne Stolz. »Es ist bisher nur vage angedeutet worden, dass die beiden etwas miteinander hatten. Aber Liebesspiele im Streifenwagen haben vor ihrem Tod nicht stattgefunden. Übrigens: Emma lässt dich grüßen. Heute Abend essen wir zusammen bei uns. Ist das okay? Ich fahre nach Hause, ich muss ein paar Stunden ins Bett, ich bin ein alter Mann und brauche das. Machst du die Pressekonferenz gleich mit?«

»Ja, ich gehe dahin. Aber noch eine Frage, damit ich etwas weiterkomme. Wann waren die ersten Polizeikräfte hier?«

»Der Notruf wurde um etwa zehn Minuten nach Mitternacht ausgelöst. Die Zentrale in Daun rief die beiden und bekam keine Antwort. Und da ich deine nächste Frage schon kenne, beantworte ich die gleich mit: Ja, die beiden hatten vorher einen Einsatz. Und zwar auf dem Busbahnhof in Daun. Ungefähr um 22.30 Uhr. Da hatten sich junge Russlanddeutsche versammelt und machten Party mit Autoradio und viel, viel Wodka. So sind sie eben, sie feiern etwas anders. Die beiden lösten das in zehn Minuten freundlich auf und zogen dann ab. Sie fuhren gemütlich in Richtung Bitburg und wollten dann von Oberstadtfeld aus quer durch den Wald nach Üdersdorf. Sie stellten sich oben auf der Höhe in einen Feldweg und machten zehn Minuten Pause, vermutlich eine Zigarette lang. Und seither waren sie weg vom Schirm, es gab sie nicht mehr. Leider kam auch kein Alarmruf, häuslicher Streit, oder Verkehrsunfall, denn dann würden sie ja noch leben. Sie meldeten sich nicht mehr, der Beamte auf der Wache löste den Alarm aus. Der Ruf ging automatisch nach Trier. Die in Trier veranlassten sofort die Suche, der Hubschrauber stieg auf. Es kam der Zufall zu Hilfe: Gaby Schirmer, die ›schöne Blonde‹ genannt, hatte ihr Handy eingeschaltet, es konnte geortet werden. Das half natürlich. Aber auf dem Handy der Gaby Schirmer war kein Anruf, der in irgendeiner Weise ihre Fahrt nach Eisenschmitt erklären könnte. Nichts, einfach nichts.«

»Was war hier los? Warum dauerte die Aufnahme des Tatortes so lange?«

Er überlegte zwei Sekunden. »Kann ich dir das heute Abend schildern? Es ist eine miese Geschichte, Kischkewitz ist ausgerastet. Ich möchte nicht, dass deine Kollegen irgendetwas aufschnappen und falsch deuten. Es wird sowieso schon genug geredet.«

»Okay«, nickte ich. Dann wandte ich mich der Frau von der Staatsanwaltschaft zu und murmelte: »Ich wünsche gute Verrichtung.«

»Aber immer!«, sagte sie.

»Oh!«, bemerkte Rodenstock. »Ich habe euch nicht vorgestellt. Das ist Doktor Tessa Brokmann, eine bissige Staatsanwältin. Das ist Siggi Baumeister, ein bissiger Journalist.«

»Habe die Ehre«, murmelte ich. Dann schlenderte ich weiter und sah zu, wie sie den Streifenwagen auf den Transporter des ADAC zogen.

Fritz Dengen, der Fotograf der Mordkommission, behängt mit drei Kameras, kam vorbei und murmelte: »Grüß dich, Siggi. Das hier ist eine Schweinerei, was?« Er war ein schmaler Mann um die Dreißig, einer, der wirklich gut fotografierte, was heutzutage immer seltener wird, seit jedermann glaubt, er sei ein digitaler Weltmeister. Dengen war auch ein Spezialist für schnelle Fahndung.

»Hast du irgendetwas, was mich weiterbringt?«

»Nichts«, sagte er bitter. »Gar nichts. Gerüchte. Brauchst du Bilder? Ich nehme mal an, dass Kischkewitz nichts dagegen hätte.«

»Ist das okay, wenn ich dich anrufe? Im Augenblick weiß ich nicht, was ich daraus mache.«

»Aber das ist doch ein ganz dickes Ding!«, sagte er mit leichtem Vorwurf.

»Oh ja, das ist es. Aber ich weiß nicht genau, wem ich es anbiete. Kann ich dich anrufen, wenn ich mehr weiß?«

»Aber immer«, nickte er.

»Dann erzähl mir ein wenig von den Gerüchten«, bat ich sanft.

»Ich wusste, dass du darauf anspringst«, bemerkte er. »Logisch oder bunte Mischung?«

»Ich sehe bisher keinerlei Logik in diesem Fall, nur Brutalität.«

»Also, du hast gehört, dass Walbusch und Schirmer ein Paar gewesen sein sollen. Aber deswegen schießt wohl keiner. Nehmen wir einmal an: Walbuschs Ehe war kaputt, also könnte es sein, dass die beiden im Streifenwagen etwas miteinander hatten. Nicht vergessen, das ist ein Gerücht, niemand hat einen Beweis. Verdammt, ich kann mir überhaupt kein Motiv vorstellen, das ausreicht, zwei von uns hierher zu locken und zu erschießen.« Er hielt inne und starrte mich wütend an. »Irgendwie komme ich mir bei diesem Fall wie in einem Irrenhaus vor. Aber da gibt es die Frage, ob die beiden aus Zufall oder aber gezielt hinter Leuten aus dem kriminellen Milieu her waren. Das könnte durchaus sein. Sie waren gute Polizisten.«

»Das kriminelle Milieu ist ein weites Land. Aus welcher Gegend im Milieu denn?«

»Diebstahl hochwertiger Autos in Westeuropa. Porsche, Audi, BMW, Mercedes, Jaguar, Lexus, Bentley und alle derartigen Karren. Also Autos, die so teuer sind, dass du für den Preis ein Wohnhaus bauen könntest.«

»Aber hier in der Eifel gibt es doch zu wenig Leute, die diese hochwertigen Autos fahren.«

»Die Wagen werden nicht hier geklaut, heißt es, sondern überall in Westeuropa. Aber die Sache wird angeblich von hier aus gesteuert. Für den Diebstahl brauchst du Fachleute, weil die digitalen Absicherungen der Fahrzeuge, also die Computer in den Autos, geknackt werden müssen. Wenn die geklauten Fahrzeuge umfrisiert werden, inklusive neuer Lackierung, brauchst du Leute, die sich auskennen. Das erfordert eine ganze Gruppe von Spezialisten. Und diese Gruppen arbeiten auf Bestellung. Du kannst Kontakt aufnehmen und sagen: Ich hätte gern den neuesten Porsche GT.«

»Wer kauft diese Fahrzeuge?«

»Neureiche aus Bulgarien, Kroatien, Rumänien, der ganze Nahe Osten. Alle Golfstaaten. Und neuerdings sogar Chinesen. Angeblich gehen die Autos in deutschen und niederländischen, französischen und italienischen Häfen auf Schiffe. Wenn sie den Abnehmer erreichen, kosten sie nur noch etwa die Hälfte des Neupreises.«

»Also hat Horst Walbusch recherchiert und ...«

»Oh, nein! Das ist es ja eben. Das Gerücht besagt, dass Gaby Schirmer auf diesen Tatkomplex gestoßen ist und sich darum kümmern wollte.«

»Was heißt denn, sich darum kümmern? Das kann sie doch gar nicht, sie hat doch keinerlei Möglichkeit, international zu recherchieren.«

»Ja, ja, das habe ich auch gedacht. Vielleicht wusste sie mehr, vielleicht hatte sie jemanden im Auge. Vielleicht konnte sie im Internet in Programme gehen, die ansonsten verschlossen sind. Du weißt doch: Einmal Polizist, immer Polizist.«

»Moment mal: Von wem stammt denn das Gerücht? Es muss doch bei der Polizei jemanden geben, der das der Mordkommission gesagt hat. Wer war das?«

»Das ist das Verrückte. Das war ausgerechnet Horst Walbusch. Er hatte hier im Vulkaneifelkreis vor ein paar Wochen einen Verkehrstoten mit unklaren Papieren. Er musste deshalb in die Rechtsmedizin nach Mainz und hat das im Gespräch mit einem Pathologen erwähnt. Der Pathologe hat heute Nacht bei T-Online von den zwei erschossenen Polizeibeamten erfahren und hat sofort jemanden von der Mordkommission angerufen.«

»Woher stammt denn der Horst Walbusch?«

»Aus Waldkönigen. Der Vater hat sein Leben lang im Wald geschafft. Ein sehr solides Elternhaus.«

»Und die Gaby Schirmer?«

»Aus Daun. Mutter Apothekerin, Vater Lehrer am Gymnasium. Schöne Frau, diese Gaby. Wollte wohl Medizin studieren, aber etwas ging schief. Dann Polizeidienst. Wenn du Fotos hast, wirst du sehen, wie schön diese Frau war. Und sie war ein klasse Kumpeltyp.« Er starrte mit grauem Gesicht irgendwohin. »Den Kumpeltyp hat sie vorgeschützt, nehme ich an. Sonst wurde sie von morgens bis abends angemacht, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Verheiratet?«

»Nie gewesen. Ich habe gehört, sie hatte aktuell keinen Freund. Aber Genaues weiß ich nicht.«

»Passt denn dieses neugierige Verhalten zu Gaby Schirmer? Ist es erklärbar, warum sie ausgerechnet den Diebstahl von Luxusautos untersuchte?«

Er nickte heftig. »Das passt, mein Freund, das passt. Sie war eine sehr neugierige Frau, vor allem, wenn es darum ging, im Internet herumzusuchen und nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, jemanden zu finden, der möglicherweise mit der Organisation zu tun haben könnte oder eine Nähe zu solchen Tätern hat. Irgendetwas in der Art. Sie saß stundenlang vor dem Bildschirm, heißt es. Aber mehr weiß ich nicht.« Unvermittelt starrte er mich intensiv an. »Was hast du denn gedacht, als du diesen Tatort gesehen hast?«

»Ziemlich simpel«, antwortete ich ohne zu überlegen. »Es ist Nacht. Ein Streifenwagen kommt diese schmale Asphaltbahn entlanggerollt. Dann liegt wenig später die Fahrerin bei offener Tür tot auf dem Gesicht. Auf der rechten Wagenseite dasselbe Bild: Der Mann liegt erschossen neben seiner Autotür. Da bleibt nur die Feststellung, dass es eine Hinrichtung war. Jemand hat hier auf sie gewartet, noch genauer: Jemand hat sie hierher bestellt. Hat niemand im Dorf die Schüsse gehört?«

»Fehlanzeige. Kischkewitz geht von Schalldämpfern aus. Also Profis. Ich muss los, ich muss jetzt die Pressekonferenz fotografieren. Soll ich dir Porträts von ihnen schicken?«

»Das wäre gut«, sagte ich. »Möglichst groß und ohne Uniform.«

Er nickte, schlenderte davon und hielt dabei den Kopf gesenkt, als würde die Welt um ihn herum nur stören.

Ich setzte mich auf einen Stein und stopfte mir eine Pfeife, eine von dem Dänen Poul Winslow. Dann qualmte ich eine Weile, sah dem Rauch nach und wurde ein wenig ruhiger. Ich konnte langsam die sprachlose Wut dieser Polizisten begreifen – und die graue, krankmachende Atemlosigkeit, mit der sie reagierten.

Da kümmern sie sich um das Gemeinwesen, achten darauf, dass die Spielregeln eingehalten werden, müssen die zerstückelten Opfer des Straßenverkehrs möglichst diskret aus dem Weg räumen, und stehen dann mit schmalen Lippen vor Eltern, denen sie mitzuteilen haben, dass der Sohn niemals mehr zu Hause ankommen wird. Sie kümmern sich um die Beladenen, um die Gefährdeten und spenden Müttern Trost, die niemals hätten Mütter werden dürfen. Sie sind Mitglieder der Gruppe, die immer und ewig da zu sein hat, die nicht sonderlich gut bezahlt wird, und die sich groteskerweise häufig dafür entschuldigen soll, dass sie gelegentlich eingreift.

Ein Schatten fiel auf mich, eine Frau sagte etwas heiser: »Grüß dich Siggi. Schlimm, was?« Sie schrieb gute Reportagen für dpa in Trier.

»Ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, was hier abgelaufen ist«, antwortete ich.

»Irgendetwas daran sieht irgendwie geschäftlich aus«, murmelte sie und ging weiter. Dann drehte sie sich herum. »Du hast doch gute Verbindungen. Hat jemand eine Vorstellung davon, mit welcher Waffe sie getötet wurden?«

»Es heißt nur, das Kaliber war neun Millimeter. Mehr weiß ich nicht. Aber jeder Hersteller bietet so etwas an.«

»Scheißdinger!«, sagte sie verächtlich.

Ich war nicht neugierig auf die Pressekonferenz, aber möglicherweise hatte Kischkewitz etwas Neues zu sagen. Also machte ich mich auf den kurzen Weg in das Dorf, um seiner Hilflosigkeit zuzuhören.

Vor einem der kleinen, schmalen Häuser stand eine alte Frau, siebzig vielleicht, verknotete Hände von der Arbeit, ganz helle, wache Augen.

Ich ging auf sie zu. »Kann ich etwas fragen?«

»Na ja«, murmelte sie gedehnt.

»Was hat Sie heute Nacht geweckt? Die vielen Autos sicher.«

»Nee, die doch nicht. Das war der Hubschrauber, der flog niedrig, ich dachte, der will auf meinem Dach landen. So was von laut! Und dann das Licht. Das war ja heller als am Tag, der hat ja Scheinwerfer unten dran, Und er stand in der Luft und hat alles beleuchtet. Gegen eins war das, glaube ich, ich dachte, die Welt geht unter. Und der hörte ja auch nicht auf mit dem Fliegen.« Sie lächelte nicht einmal. Dann setzte sie ohne jede Betonung, aber mit leicht verkniffenem Mund einen Satz dahinter: »Und man kannte ja auch diese Polizisten da nicht.«

»Schüsse haben Sie nicht gehört?«

»Nein, habe ich nicht.« Sie wollte nicht reden, da war etwas passiert, mit der ihre Welt nichts zu tun hatte und auch nie zu tun haben wollte.

Ich bedankte mich und ging weiter.

Der Gastraum des Restaurants war hastig all seiner menschlichen Wärme beraubt worden, die Tische waren verschwunden, die Blumen nicht zu sehen. Die Stühle waren ordentlich nebeneinander aufgereiht, und diese Stühle waren besetzt von nahezu allen Redaktionen der wichtigen Medien, die normalerweise in der freundlichen Einsamkeit der Eifel nicht zu finden sind. Nur Kischkewitz hatte einen kleinen Tisch vor sich, auf dem viele Mikrofone aufgebaut waren. Neben ihm saß die Frau von der Staatsanwaltschaft Trier. Beide scheinbar ruhig, wie aus Stein.

Eine Weile noch herrschte kaum wahrnehmbares Gemurmel, dann sprach Kischkewitz.