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Lektorat: Franz Schuh

Erste Auflage 2002

Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde

ISBN 3-85256-220-1

Gewidmet allen Supermarktkassiererinnen

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Danke!

1.

Grete sah verstohlen auf die Uhr. Zwei Minuten nach halb acht. Sie zog eine Packung Frischmilch, zwei Becher Erdbeerjoghurt, einen Tube Senf, eine Schale mit Hühnerkeulen über das Glasfeld der Scanner-Kasse.

Die anderen elf Kassen waren schon geschlossen. Warum immer sie am Ende übrig blieb? Ihr Rücken tat weh. Wechselgeld. Auf Wiedersehen.

Nach diesem Kunden würde sie das große, gläserne Eingangsportal abschließen müssen. An sich war das Sache des Filialleiters, aber der hatte ihr wie so oft den Schlüssel anvertraut und dabei getan, als handle es sich um eine Auszeichnung. Die Hintergrundmusik hatte Grete wie jeden Tag erst im Nachhinein wahrgenommen, dann, als die Berieselung pünktlich zu Geschäftsschluss aufgehört hatte. Die Lichter, die keine andere Funktion hatten, als zum Kauf zu animieren, gingen aus. Die Regale mit den Süßwaren, denen Grete vis-a-vis saß, lagen nun im Halbdunkel. Ihre Kolleginnen rechneten bereits die Einnahmen der Schicht ab. Irgendwo, ganz oben bei der Frischfleischabteilung, wurde gerade die große Nassreinigungsmaschine abgeschaltet. Ob Hans zu Hause sein würde?

Sie seufzte, als noch ein Kunde auftauchte. Sie hörte zuerst gar nicht hin, sondern grüßte nur freundlich, so, wie sie es gelernt hatte. Es lag bloß ein Ultrakauf-Plastiksack auf dem Förderband, dahinter stand eine Flasche Bier. Der Mann räusperte sich. »Hören Sie nicht? Das Bier ist mir egal, ich will Ihr Geld. Und zwar schnell.«

Sie sah ihm ins Gesicht, noch ohne Angst, einfach ungläubig. Er hatte den Rollkragen bis zu den Augen hochgezogen. Helle, wässrige Augen. Jung. Er sah sich gehetzt um und drückte ihr eine Pistole an den Hals.

»Schwarz«, ging es ihr durch den Kopf, »ich dachte, sie seien silbern.« Dann war noch die Angst da und sonst nichts. Nichts von dem, was sie gelernt hatte, falls sie in eine Situation wie diese geraten sollte. Nichts von dem, was Kolleginnen im Pausengespräch für die beste Reaktionsmöglichkeit gehalten hatten – rein theoretisch. Schweiß brach ihr aus. Sie starrte ihn an.

»Geben Sie mir Geld, und ich geh. Schnell. Wenn wer kommt, sind Sie tot.«

Grete drückte die Knöpfe, mit einem Schnapper sprang die Kasse auf. Er presste die Pistole fester an ihren Hals und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Plastiksack. Sie hatte zu viel Spucke im Mund, konnte nicht schlucken. Sie schaufelte das Geld hinein. Fünfhunderter, Hunderter, Fünfziger, so schnell, als würde sie selbst es stehlen wollen. Zwanziger, Zehner.

»Her damit«, befahl er. Sie reichte den Sack hinüber. Fast wirkte er leer. »Papiergeld hat wenig Gewicht«, dachte sie.

»Hast du verstanden?«, herrschte er sie an.

Sie sah erschrocken auf.

»Blöde Nuss. Du sagst zehn Minuten kein Wort. Ich finde dich.«

Er rannte nach draußen. Die Bierflasche stand immer noch auf dem Förderband. Gutes Bier, die Lieblingsmarke ihres Vaters. Jetzt erst schluckte Grete und wollte schreien. Aber daraus wurde nichts als ein gedämpftes Schluchzen. Sie hatte das Gefühl, wieder einmal alles falsch gemacht zu haben. Und sie hatte Angst, der Mann im braunen Rollkragenpullover würde wiederkommen.

Schritte. Sie duckte sich.

Es war die rote Karin. »Was ist? Bist du eingeschlafen?«

Grete schüttelte den Kopf.

»Was ist los? Ist dir schlecht?«

»Überfall«, krächzte Grete. Sie begann zu weinen.

Die rote Karin bombardierte sie mit Fragen. Wann, wer, wie viel? Doch Grete schüttelte nur weiter den Kopf und weinte.

»Ich hol den Feinfurter«, sagte die rote Karin und verschwand.

Für Grete schienen Stunden zu vergehen. Endlich kamen die rote Karin, Filialleiter Feinfurter und drei Kassiererinnen.

Karin nahm ein Fläschchen Weinbrand vom Kassenregal, schraubte es auf und befahl: »Trink!«

Grete trank. Noch immer saß sie hinter ihrer Kasse. Langsam konnte sie erzählen.

»Wir müssen wissen, wie viel fehlt«, sagte Feinfurter.

Die Chefkassiererin bat Grete, ihr Platz zu machen. Grete nickte, stand auf und taumelte. Die rote Karin fing sie auf und hielt sie am Arm fest. »Schweinerei«, knurrte Karin in Richtung Filialleiter, »wir müssen die Polizei verständigen.«

»Ich muss Heller verständigen. Und man muss wissen, was fehlt. Der ist über alle Berge, der Räuber. Wann ist das gewesen? Wann?« Wenn Feinfurter erregt war, neigte er dazu, Worte zu wiederholen. Anders als sonst, grinste heute aber niemand darüber.

»Kurz nach halb acht.«

»Das ist mehr als eine Viertelstunde her. Sinnlos. Was haben Sie so lange gemacht? So lange?«

»3042,75 Euro müssten in der Kasse sein«, sagte die Chefkassiererin, »kein besonders starker Tag.«

Feinfurter drückte hektisch die Tasten seines Mobiltelefons. Der dünne, beinahe farblose Schnurrbart zitterte.

»Ist dir etwas passiert?«, fragte die rote Karin erst jetzt.

Grete schüttelte langsam, so als ob sie erst selbst darüber nachdenken müsste, den Kopf.

Eine weitere Viertelstunde warteten sie auf Regionaldirektor Heller. »Vorerst keine Polizei«, hatte er befohlen. Grete saß wieder auf dem Drehstuhl hinter der Kasse, die anderen standen um sie herum und diskutierten, wie sie sich verhalten hätten. »Die Waffe war sicher nicht echt«, meinte die eine, die erst seit einigen Wochen in der Filiale arbeitete. »Ich hätte sie ihm aus der Hand geschlagen.«

»Wir brauchen einen Notrufknopf, genau so einen wie in der Bank«, befand die Kollegin mit den kurzen grauen Haaren, die bis vor einiger Zeit noch als Kellnerin gejobbt hatte.

Grete sagte nichts. Ihr war schlecht.

»Du musst doch noch irgendetwas bemerkt haben«, insistierte die rote Karin.

Grete schüttelte den Kopf. Dann murmelte sie halblaut: »Ich glaube, er hat seine Stimme verstellt. Aber vielleicht hat das auch nur der Rollkragen über dem Mund gemacht.«

Alle hoben den Kopf. Ein schwarzer Porsche war mit quietschenden Reifen stehen geblieben. Die Autotür fiel mit dem elegant-dunklen »Plopp« teurer Autos ins Schloss. Mit energischen Schritten kam Heller auf die Glasfront zu. Er klopfte gegen die Scheibe. Feinfurter rannte hin.

»Dass jemand im Rennen buckeln kann«, sagte die rote Karin laut genug, dass Feinfurter es hören konnte.

Die anderen grinsten.

Feinfurter hielt Heller die Tür auf.

»Warum haben Sie nicht abgeschlossen, was ist das für eine Sauerei?«, empörte sich Heller. Auf seiner beigen Freizeitjacke war deutlich das Label »Cerruti« zu sehen.

»Wicht«, murmelte die rote Karin.

Tatsächlich war Hellers Gestalt gegen die von Karin wenig eindrucksvoll. Sie: einen Meter achtzig groß, hundertfünf Kilo, leuchtend rot gefärbte Haare, Anfang fünfzig. Er: knapp eins siebzig, schmächtig, sechsundzwanzig Jahre alt. Aber er war ihr Chef. Er war genau genommen sogar der Chef ihres Chefs.

Mit seinen genagelten Schuhen kam er auf Grete zu. Sie starrte ihn angsterfüllt an.

»Was muss ich hören? Was war hier los?« Sein Auftritt wirkte seltsam unecht, Bühnengehabe.

Feinfurter sprang ein und erzählte.

»Und wer sagt, dass ihre Geschichte stimmt?«, fragte Heller.

»Was glauben Sie denn?«, fuhr die rote Karin empört dazwischen. »Dass sie sich selbst eine Pistole an den Kopf gehalten hat?« Sie drehte Gretes Kopf so, dass Heller den Hals sehen konnte. »Da hat er ihr die Pistole hineingedrückt.«

Grete nickte erschöpft. Sie wollte nur weg. Heim.

»Keine Polizei. Was geschehen ist, ist geschehen. Alles andere wirbelt nur unnötigen Staub auf. Ultrakauf kann solche Schlagzeilen nicht brauchen. Ultrakauf wird ausnahmsweise für den Fehlbetrag aufkommen.«

»Das wär ja auch noch schöner, wenn nicht«, meinte die rote Karin.

»Warum sind Sie eigentlich überall dabei, wo es Ärger gibt?«, fauchte Heller mit zusammengekniffenen Augen.

Sie straffte sich, sah auf ihn herunter und sagte: »Wahrscheinlich liegt das am Ärger.«

Einen Moment lang war Heller irritiert, dann befahl er: »Und damit klar ist: Je weniger darüber geredet wird, desto besser. Zeit, heimzugehen. Ihre Arbeitszeit hat vor …«, er schob den Ärmel seiner Freizeitjacke nach oben und ließ eine Calvin-Klein-Uhr sehen, »… vor fünfunddreißig Minuten geendet.«

»Wenn das Freizeit ist, jemandem nach einem Überfall zu helfen«, gab Karin zurück.

»Hatten Sie eine dienstliche Anweisung, länger zu bleiben?«

»Und was ist mit Grete Berger?«

»Sie soll froh sein, dass wir den Schaden übernehmen.« Damit ging er.

Grete saß da wie eine lebensgroße Puppe, und genau so fühlte sie sich. Wie aus massivem, hartem rosa Plastik. Sie nahm nicht wahr, was die rote Karin hinter Regionaldirektor Heller herschimpfte. Sie nahm nicht wahr, dass Filialleiter Feinfurter die letzten zehn Minuten stumm in einer Ecke gestanden hatte. Sie bemerkte auch nicht, wie sich ihre drei Kolleginnen anstießen und auf die Uhr deuteten.

2.

Ich habe davon erst ein paar Wochen später erfahren. Es war ein Donnerstag, und ich hatte es geschafft, noch knapp vor Geschäftsschluss in den Ultrakauf zu hetzen. Milch, Sauerrahm, Crème fraîche, Butter, Eier. Dann Ananassaft, für Gismo Hühnerkrägen, ein Biobaguette, standhaft vorbei an dem Regal mit den frisch gebackenen Torten, weiter zum Fleisch. Das meiste war schon ausverkauft. Da, ein Stück Kalbslungenbraten. Passt. Frischer Ziegenkäse. Ein Blick auf die Uhr. Drei Minuten vor halb acht. Irgendetwas fehlt noch. Keine Ahnung, wird schon nicht so wichtig sein. An der Kasse anstellen. Ich atmete durch. Andere ließen sich mehr Zeit, schlenderten noch durch die langen Regalreihen, so als ob es keinen Ladenschluss gäbe.

Mich hatte ein lästiger Anruf beinahe zu lange in der Redaktion des »Magazins« festgehalten. Eine der jungen, schicken, schlanken, gut gekleideten PR-Frauen, die in Werbeagenturen und Öffentlichkeitsabteilungen wie Gemüse sprießen. Manchmal hatte ich den Verdacht, sie seien auch nicht viel intelligenter als Broccoli, aber das war wohl nur der Neid auf ihr knackiges Aussehen und ihre simpel-positive Sicht der Welt. Jedenfalls hatte mir die Öffentlichkeitsarbeiterin wortreich erklärt, warum ein Benefiz-Landhockey-Match der österreichischen Meisterinnen gegen eine Riege von Promi-Frauen ein Ereignis war, an dem unsere Wochenzeitung einfach nicht vorbeigehen könne. Landhockey, du meine Güte, das würde alle von den Stühlen reißen. Und die meisten aus der angeblichen Prominentenmannschaft kannte nicht einmal ich.

Lifestyle-Reporterin zu sein hat seine netten Seiten. Man hat den Kopf für andere Dinge frei. Man verdient das nötige Geld, um sich selbst und auch Katze Gismo zu erhalten. Auch wenn es Menschen gab, die fanden, das sei kein Job für eine fast vierzigjährige promovierte Juristin, mir machte die Sache Spaß. Zumindest wenn mir nicht irgendwelche aufgedrehten Werbetussis absurde Veranstaltungen einreden wollten und mich daran hinderten, rechtzeitig einkaufen zu gehen.

Ich nickte der Kassiererin zu. Sie war wohl schon mehrere Jahre bei Ultrakauf, doch mehr als Grußworte hatten wir nie gewechselt. Sie wirkte schüchtern, zurückhaltend, fast abweisend. Irgendwann würde ich ihr sagen, dass sie den Friseur wechseln sollte. Ihre kinnlangen Haare waren nicht blond, sondern gelb, die Dauerwelle hatte nur dazu geführt, dass ihr die Haare vom Kopf abstanden wie Stroh. Als ich mit der Bankomatkarte zahlen wollte, sprach mich die Kassiererin an. Sie musste sich räuspern, bevor herauskam, was sie mir sagen wollte.

»Kann ich mit Ihnen reden? Ich kenne Sie, ich meine, ich weiß, wer Sie sind. Und dass Sie mit solchen Sachen schon zu tun gehabt haben.«

»Was für Sachen?«

»Kriminelle Sachen. Sie haben in Ihrer Zeitung darüber geschrieben. Nicht, dass es um so was wie Mord geht. Aber bei uns läuft da etwas komisch. Und die rote Karin, ich meine Karin Frastanz, die Stärkere, Rothaarige, meine Kollegin, die Leiterin der Fleischabteilung, ist fast erschlagen worden.«

Nicht, dass ich deren Namen gekannt hätte, aber mit der Rothaarigen hatte ich mehr Kontakt. Die Rote war schlagfertig, immer zu Späßen aufgelegt, mit einem Mundwerk wie ein Schwert. »Worum geht es?«

»Kann ich es Ihnen erzählen? Jetzt gleich? Ich meine, ich kann aufhören, in fünf Minuten, wenn Sie …«

Um neun wollte Oskar mit den Fotos aus New York vorbeikommen. Eigentlich hatte ich in Ruhe duschen und dann kochen wollen. Trotzdem nickte ich. »Aber ich hab heute leider noch etwas vor.«

»Ich will Sie nicht …«

»Wir treffen uns am Parkplatz, ist das in Ordnung?«

Die Kassiererin zögerte. »Geht es, dass wir uns weiter oben in der Mayerlinggasse treffen? Bei der Ampel? Ich will nicht, dass die Leute hier …«

»Ist okay.« Ich packte meinen Einkaufswagen und schob ihn durch die geöffnete Glastür ins Freie. Schon bereute ich, dass ich die Gelbgefärbte nicht auf morgen vertröstet hatte. Was wollte sie überhaupt von mir? Ihre Kollegin war beinahe erschlagen worden, das war entweder ein Fall für die Polizei, oder es war ein Unfall gewesen. Und wenn es die Polizei bequemerweise als Unfall sehen wollte? Ich sollte endlich lernen, meine Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken. Aber es hatte die Kassiererin sicher einige Überwindung gekostet, mich anzusprechen. Und vielleicht hatte sie ja sonst wirklich niemanden, an den sie sich wenden konnte.

»Mira Valensky«, sagte ich zu mir, »genau auf diese Art bist du schon einige Male in Schwierigkeiten geschlittert. Denk daran, dass damals im Park nur Glück das Ärgste verhindert hat.« Die andere Mira freilich widersprach: »Das war nicht Glück, sondern Vesna. Und Oskar. Und Zuckerbrot. Und auch dein Verstand.«

Wahrscheinlich wurde ich schizoid. Auch eine Möglichkeit, sich nicht verwickeln zu lassen, indem man sich in sich selbst verwickelte.

Ich sperrte die beige Leineneinkaufstasche in den Kofferraum meines kleinen Fiat, ging über den beinahe leeren großen Parkplatz vor zur Mayerlinggasse, hinauf bis zur nächsten Ampel. Es dauerte keine drei Minuten, da stand die Kassiererin keuchend neben mir. Ich erkannte sie nur an ihren Haaren. Die blau-gelben Uniformkittel von Ultrakauf machten ihre Trägerinnen schwer unterscheidbar, anonym.

»Ganz schnell, wenn ich Ihnen erzählen darf … Ich weiß gar nicht, wie Sie dazu kommen … Ich meine …«

Ich war peinlich berührt. Die Frau war mindestens Mitte dreißig und stotterte herum, als ob längst klar sei, dass sie auch bei dieser Prüfung jedenfalls durchfallen würde. Gleich hinter der Kreuzung war ein Espresso. »Gehen wir dort hinein, in Ordnung?«

Sie nickte. »Ich möchte Ihre Zeit nicht …«

Die Ampel stand auf Rot, das nächste Auto war weit genug entfernt. »Kommen Sie«, sagte ich, und wir gingen bei Rot über die Straße. Im »Espresso Evi« war es dunkel, es roch nach einer Mischung aus abgestandenem Bier, kaltem Zigarettenrauch und Pissoir. Kein Ort, an dem ich alt werden wollte. Keiner, an dem man jung bleiben konnte. Ohne die Kassiererin zu fragen, bestellte ich zwei Gläser Weißwein.

Wir ließen uns in einer Nische mit orange-braun gepolsterter Eckbank nieder. Der Wein kam, und die Kassiererin wollte wieder zu reden beginnen.

»Zuerst trinken Sie. Vorausgesetzt, der Wein ist trinkbar. Und dann erzählen Sie.« Schlimmstenfalls würde ich mit Oskar auswärts essen gehen.

Sie nahm brav einen Schluck. Vielleicht tat sie immer das, was man ihr befahl. Aber mich um Rat zu fragen, hatte ihr wohl niemand bei Ultrakauf angeschafft.

»Also?«

»Ich weiß nicht«, seufzte sie und legte die Hände in den Schoß.

Langsam wurde ich ungeduldig. »Sie wollen mir etwas erzählen. Ich bin da. Ich höre zu.«

»Ich weiß nicht …«, sagte sie wieder, »aber irgendwas ist nicht in Ordnung. Sie kennen die rote Karin? Wir nennen sie so wegen ihrer roten Haare. Und weil sie bei der Gewerkschaft ist. Überhaupt schnell auf hundert. Sie hat mir ziemlich geholfen bei der Sache mit dem Überfall. Deswegen glaube ich, dass ich ihr auch helfen muss. Sie liegt im Krankenhaus, jetzt wenigstens nicht mehr auf der Intensivstation. Letzte Woche ist sie im Lager fast erschlagen worden. Ein ganzer Stapel mit Getränkekartons ist auf sie draufgefallen. Die rote Karin ist immer in dieses Eck im Lager gegangen, wenn sie in Ruhe eine Zigarette rauchen wollte. Rauchen darf man bei uns im Gemeinschaftsraum nicht mehr, und im Fleischraum geht es natürlich auch nicht. Wenn sie eine Besprechung gehabt hat, war sie auch dort. Gewerkschaftssachen und so. Das hätte sie während der Dienstzeit nicht dürfen. Aber diesmal war sie allein, als der Stapel umgekippt ist. So ein Stapel, das sage ich Ihnen, der kippt nicht von allein. Das sagen alle bei uns. Sie hätte tot sein können. Sie wäre sicher tot gewesen, wenn da nicht ganz vorne ein paar leere Kartons gewesen wären. So ist man dann auch dahinter gekommen, dass der Cognac aus den Kartons geklaut worden ist. Das war aber sicher nicht sie, auch wenn es der Heller vermutet. Da bin ich mir ganz sicher. So etwas würde sie nicht machen, und so dumm noch dazu schon gar nicht. Die leeren Kartons haben ihr jedenfalls das Leben gerettet. Na ja, und die Geschäftsleitung wollte keine Polizei, aber das geht automatisch, wenn die Rettung kommt. Auf alle Fälle sagen die jetzt in der Geschäftsleitung, dass es ein Unfall gewesen ist, und sie beschuldigen die Lagerarbeiter, nicht richtig gearbeitet zu haben, oder sagen, dass die Diebe da etwas umgestapelt haben. Und außerdem soll die rote Karin auch selbst dran schuld sein, weil es ja verboten ist, im Dienst ins Lager eine rauchen zu gehen. Aber da ist irgendetwas faul. Ich bin sonst keine, die sich einmischt, aber das hat die Karin nicht verdient, dass sie fast tot ist und dann auch noch selbst dran schuld sein soll. Wo sie mir beim Überfall so geholfen hat und wo sie eh in der Geschäftsleitung nicht gut angeschrieben ist, weil sie uns alle mobilisieren will. Gewerkschaftlich. Ich hab da nie mitgetan, weil was kann unsereins schon groß ändern? Besser, man legt sich nicht mit denen da oben an. Aber sie war Feuer und Flamme, dass wir gemeinsam stark sind und so. Sie ist ja auch Abteilungsleiterin und eine gelernte Kraft, auf die können sie nicht so leicht verzichten, gerade beim Fleisch nicht.«

Jetzt, da die Schleusen einmal geöffnet waren, konnte ich sie kaum mehr stoppen. Ich wedelte schon geraume Zeit mit der rechten Hand vor ihrem Gesicht herum.

»Der Heller ist ein Bösartiger, aber es ist eben schon so, dass die rote Karin ihn auch nie ernst nimmt. Und ihm das zeigt. Auch wenn er erst sechsundzwanzig ist, er ist nun einmal der Chef. Und dass sie doppelt so viel wiegt, sagt auch nicht viel. Ich glaube schon, dass sie gescheiter …«

»Was ist mit dem Überfall?«

»Der Überfall …«, sie zögerte und fuhr sich durchs strohige Haar. »Da soll ich nicht darüber reden und die anderen auch nicht, hat der Heller gesagt. Er ist unser Regionaldirektor, hat alle Ultrakauf-Filialen in Wien unter sich. Obwohl es mir nach dem Überfall gar nicht gut gegangen ist. Immer wieder hab ich mir gedacht, der nächste Kunde zieht seinen Rollkragenpullover über den Kopf und drückt mir eine Pistole an den Hals. Ich weiß, dass das Unsinn ist, aber dagegen kann man schwer an. Und erst, wenn es gegen Geschäftsschluss geht und nur mehr wenige Menschen da sind. Immer, wenn sie um Punkt halb acht die Musik abdrehen, bekomme ich einen Schweißausbruch. Auch jetzt noch. Die rote Karin hat wirklich versucht, mir zu helfen. Dass ich eine psychologische Betreuung bekomme, aber das hat die Geschäftsleitung abgelehnt. Da hat die rote Karin dann wenigstens auf dem informellen Weg dafür gesorgt, dass ich nicht mehr als Letzte an der Kasse Dienst tun muss. Das würde ich wirklich nicht aushalten. Ja, und jetzt liegt sie im Krankenhaus.«

Eine Weile später wusste ich, wie sich der Überfall abgespielt hatte und was unmittelbar danach passiert war. Die Kassiererin hatte sich erschöpft an die dünne Kunststoffpolsterung gelehnt. Die Eckbank sah genau so aus, wie es in dem Espresso roch.

Da fiel mir ein: »Ich weiß nicht einmal Ihren Namen.«

»Oh«, sie schreckte auf, »wie unhöflich, entschuldigen Sie. Ich heiße Grete, eigentlich Margarita Berger.«

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann«, sagte ich langsam, »ich bin beim ›Magazin‹ für etwas ganz anderes zuständig. Und …«

»Aber Sie haben doch diese Fälle geklärt. Das mit der Volksmusik-Hitparade, und dann war da noch was, die Sache mit dem Mord in dem Psycho-Museum.«

»Dem Freud-Museum.«

»Richtig, eben.« Sie spielte mit ihren Händen. Sie waren groß, leicht gerötet, rissig. Seltsame Hände für eine Supermarktkassiererin. Sie musste meinen Blick wohl gesehen haben, sie ließ die Hände links und rechts von ihrem Körper auf die Sitzbank fallen. »Ich muss sie wieder einschmieren. Aber man greift eben immer wieder mit bloßen Händen hin, und dann nützt es nicht viel.«

»Im Supermarkt?«

»Nein, wo denken Sie hin? In der Landwirtschaft«, erwiderte sie irritiert. »Ich arbeite auf dem Hof meiner Eltern, zumindest zwei, drei Tage die Woche. Die können selbst nicht mehr so. Dann schlaf ich auch bei ihnen und nicht in Wien bei meinem Mann.« Sie stoppte abrupt. »Aber das wird Sie wohl nicht so interessieren.«

Ich seufzte. »Was soll ich tun?«

»Vielleicht könnten Sie die rote Karin besuchen und mit ihr reden? Mir sagt sie nicht viel, mich will sie schonen, wegen dem Überfall und so. Es ist etwas faul bei uns.« Das sagte sie mit erstaunlich fester Stimme und sah mir dabei direkt in die Augen. Vielleicht hatte ich sie falsch eingeschätzt. Verstohlen sah ich auf die Uhr. Kurz vor halb neun. Gut möglich, dass sich Oskar ohnehin verspätete. Außerdem hatte er einen Schlüssel. »Wo finde ich sie?«

»Im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern. Pavillon 3, erster Stock, Zimmer 17. Besuchszeiten sind zwischen neun und elf und dann wieder zwischen fünfzehn Uhr und achtzehn Uhr, aber man kann telefonisch auch etwas anderes vereinbaren. In der kommenden Woche habe ich an den Nachmittagen Dienst, Freitag hab ich frei. Sofern sie den Dienstplan nicht wieder umstoßen.«

Ich notierte mir alles und stellte mit Verwunderung fest, dass die Kassiererin mich genau dort hatte, wo sie wollte. Schon in der Tür sagte ich: »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber Sie sollten sich einen anderen Friseur suchen.«

»Friseur? Das mach ich mir selber. So kommt es billiger.«

»Dann wechseln Sie die Farbe.«

»Das hat die rote Karin auch schon gesagt, aber mein Mann mag blonde Haare. Deswegen sind sie eben blond. Man muss ihn ja nicht extra dazu bringen, sich nach anderen Blonden umzusehen.«

Ich nickte. Oder hätte ich ihr etwa einen Vortrag über Eigenständigkeit und selbst bestimmtes Frauenleben halten sollen?

Kurz vor neun keuchte ich die acht Treppen zu meiner Altbauwohnung hinauf. Ich sollte mehr Sport treiben. Aber war das nicht Sport genug? Besser, die Hauseigentümer ließen endlich wie versprochen einen Lift einbauen. Gismo lauerte schon hinter der Türe. Ihr flammend orangeroter Streifen quer über der Brust leuchtete, die gelben Augen waren erwartungsvoll aufgerissen. Sie wummerte mir den Kopf in die Kniekehle und hätte mich damit beinahe zu Fall gebracht. »Schleich dich«, sagte ich zu meiner Schildpattkatze. Sie wusste, dass ich es nicht ernst meinte. Und wenn: Es hätte sie wenig gestört. Sie tänzelte vor mir, bis ich die Hühnerkrägen aus der Einkaufstasche genommen hatte. Dann setzte sie sich auf ihr nicht eben zierliches Hinterteil und starrte die Beute regungslos und gebannt an. Ich entfernte das Plastik und stellte die Styroporschale auf Gismos Futterplatz. Jetzt hatte ich Ruhe. Aus der Ecke war das Knacken von Knochen zu hören, begleitet von einem tiefen Schnurrlaut.

Vielleicht stand die Kassiererin, diese Grete Berger, noch unter dem Eindruck des Überfalls und fantasierte sich etwas zusammen. Spätestens morgen Mittag müsste meine Reportage über die New Yorker In-Lokale fertig sein. Am Nachmittag könnte ich die rote Karin besuchen. Ich hasse Krankenhäuser. Noch nie war ich als Patientin in einem gewesen, und als Besucherin ging ich nur hin, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Schon allein der Geruch nimmt mir den Atem. Wenn es leicht geht, dann blende ich Krankheit, Leid und Tod aus.

Ich öffnete den Kühlschrank, fand noch ein Fläschchen Campari Soda und goss den Inhalt in ein hohes, dickwandiges Glas. Herb und erfrischend.

Die New-York-Reise mit Oskar war schön gewesen. In den letzten Jahren war ich lieber alleine gereist, man kann tun, was man will, muss sich nach niemandem richten, braucht nur für sich selbst Pläne zu machen, oder man macht eben keine Pläne und schaut, was sich ergibt. Oskar war sensibel genug, mir genug Raum zu lassen. War ich das umgekehrt auch? Vielleicht war er für einen Anwalt etwas zu gutmütig. Auf alle Fälle hatten wir die meiste Zeit in New York gemeinsam verbracht, nur weniges hatten wir getrennt unternommen.

Ob ich noch kochen sollte? Es war gegen halb zehn. Dass er immer zu spät kam, nervte. Andererseits: Wir hatten bloß vereinbart, uns ungefähr um halb neun zu treffen, er hatte gesagt, dass sein letzter Termin auch länger dauern könnte. Was für ein Termin? Welcher Rechtsanwalt empfing um diese Zeit noch Klienten? Oder war es eine Klientin? Ich musste grinsen. Womöglich wurde ich auf meine alten Tage noch eifersüchtig.

Ich würde uns ein einfaches Trüffelsoufflé machen und danach überbackenen Kalbslungenbraten. Als ich die Packung mit dem Fleisch öffnete, war Gismo wie ein Blitz neben mir. Ich schaute auf ihre Schüssel. Nichts war von der üppigen Portion Hühnerkrägen noch übrig. Oder sie hatte, während ich in Gedanken war, einige der Hühnerkrägen für schlechte Zeiten versteckt. Ich zuckte mit den Schultern. Spätestens in ein paar Tagen würde ich es riechen, wenn sie einen zu fressen vergessen hatte. Wahrscheinlicher war, dass Vesna ihn vorher finden würde. Vesna ist meine Putzfrau, aber sie ist eigentlich viel mehr als das. Freundin, Partnerin in heiklen Situationen und dazu eben auch, was man in Wien »Bedienerin« nennt. Das Wort behagt Vesna gar nicht. Sie sei kein Dienstbote, keine Dienerin, sondern putze Dreck weg, korrigiert sie, wenn sie jemand so nennt. Was sie wohl von der Sache im Supermarkt halten würde?

Ich versuchte Gismo zu ignorieren, heizte das Backrohr an, schnitt den Kalbslungenbraten in dicke Scheiben, salzte und pfefferte sie, gab Butter und Öl in eine Pfanne und briet die Stücke bei maximaler Hitze auf beiden Seiten an.

Wahrscheinlich hatte die rote Karin einfach Pech gehabt. Ein schlecht aufgebauter Stapel, in dem vorne ein paar Cognacflaschen fehlten, und schon konnte so etwas passieren. Oder war sie etwa hinter den Cognacdieben her gewesen? Aber das hätte sie ihren Kolleginnen wohl erzählt. Spätestens im Krankenhaus.

Noch einmal etwas frisches Öl und Butter in eine Keramikpfanne, dann die Fleischstücke und darauf etwas vom cremigen Ziegenkäse. Pfeffer. Das Ganze würde später für zehn Minuten ins nicht allzu heiße Rohr kommen.

Offenbar war Ultrakauf sehr darauf bedacht, Polizei und sicher auch Medien draußen zu halten. Ein Wunder? Ein Überfall zu Geschäftsschluss, die Leiterin der Fleischabteilung wird fast erschlagen, Cognacdiebstähle. Das passte nicht zur schönen, heilen Einkaufswelt.

Gismo gab spitze, bittende Laute von sich. Ich schob sie mit dem Fuß zur Seite. Ob ich auf den Ziegenkäse etwas von der Trüffelpaste geben sollte? Oder war das dann zu viel Trüffel? Es war Oktober, es war kalt, Trüffel tröstete zumindest etwas darüber hinweg. Oder eben Trüffelpaste als Ersatz.

Die Kassiererin färbte sich ihre Haare blond, weil ihr Mann auf blonde Frauen stand. Ob er auch gelbhaarige Frauen attraktiv fand? Was wäre ich für Oskar bereit zu tun? Vielleicht sollte ich zehn Kilo abnehmen? Ausgerechnet. Oskar hatte um die hundertzehn Kilo, allerdings war er auch einen Meter dreiundneunzig groß. Ein Mann zum Anlehnen. Unterordnung war nicht nötig. Und Anpassung? Nicht mein Fall, zumindest bisher nicht.

Ich gab Crème fraîche, ein ganzes Ei, Salz, Pfeffer und ausreichend viel Trüffelpaste in ein Gefäß, verquirlte alles mit dem Stabmixer, schmierte eine passende Form mit Butter aus und goss die Masse hinein.

Es war kurz vor zehn. Ich schob die Form ins Rohr. Entweder Oskar war in zwanzig Minuten da, oder ich würde alleine essen.

Es klingelte, ich raste zu Gismos Schreck zur Gegensprechanlage.

»Es ist später geworden.«

»Komm rauf.«

Oskar hatte zwar seit einiger Zeit einen Wohnungsschlüssel, läutete aber trotzdem regelmäßig, bevor er sich an den Aufstieg machte. Wahrscheinlich fand er es höflicher, mich nicht zu überraschen. War ja schließlich meine Wohnung. Auch wenn bereits eine zweite Zahnbürste im Badezimmerregal stand.

Ich hörte ihn die Treppen heraufkommen, hatte wieder einmal Schmetterlinge im Bauch, überlegte kurz, ob ich mit meinen vierzig nicht schon zu alt für derartige Zustände sei, strahlte, sah durch den Spion, wie er noch einmal kräftig durchschnaufte, und öffnete die Türe. Er küsste mich, und wieder einmal war ich überwältigt von seiner Größe und Masse.

Gismo drängte sich dazwischen und brüllte. Oskar stellte seine dicke braune Aktentasche auf den Boden, streichelte die Katze, gurrte: »Ich hab dir etwas mitgebracht, du Schöne.« Er zog ein Plastiksäckchen mit einigen schwarzen Oliven heraus.

Wäre es Gismo möglich gewesen, sie hätte Pirouetten gedreht und Saltos geschlagen. Schwarze Oliven sind ihre Leidenschaft. Sie sah Oskar verliebt an und tanzte um ihn herum, bis sie die erste Olive bekam.

Mein neues Familienidyll? Idyllen sind mir verdächtig, vielleicht auch nur, weil ich sie für allzu vergänglich halte. »Du sollst sie nicht so verwöhnen«, sagte ich.

»Dir hab ich auch etwas mitgebracht.«

»Mich kannst du verwöhnen, auf meinen starken Charakter hat das keinen schlechten Einfluss.« Besser locker vor sich hinquatschen, als zu viel Sentimentalität aufkommen lassen.

Er grinste und holte ein weiteres Päckchen aus der Tasche. »Das ist der Roquefort, der dir so gut geschmeckt hat.«

»Mit Käse will er mich locken.«

Jedenfalls ein perfekter Nachtisch. Wir harmonierten eben gut miteinander. Besonders, wenn es ums Essen ging. Oskar bestätigte mir das, als er das Trüffelsoufflé roch.

3.

Blumen oder Pralinen? Ich stand vor dem Krankenhauskiosk und überlegte. Blumen muntern auf, aber Pralinen auch. Ich nahm Blumen und Pralinen, holte tief Luft und machte mich auf zum Pavillon 3. Kiesbestreute Wege. Eine alte Frau, unter deren Mantel die Beine einer beigen, zerknitterten Schlafanzughose zu sehen waren, wurde von einer jüngeren am Arm geführt.

Gefängnisse und Krankenhäuser lösen bei mir das gleiche Gefühl von Freiheitsberaubung aus. Manche Häftlinge wissen wenigstens, dass sie selbst schuld an ihrem jetzigen Aufenthalt sind. Rund um Krankenhäuser aber schwebt eine beklemmende Dunstglocke aus Schicksal, Zufall, Leid und Hoffnung. Kein Wunder, dass Ärzte »Götter in Weiß« genannt werden und sich gewisse auch so fühlen.

Ich hielt den zu großen Blumenstrauß wie eine Waffe in meiner rechten Hand und beobachtete verstohlen die wenigen anderen Menschen, die hier unterwegs waren. Patienten? Mit welcher Krankheit? Besucherinnen? Zu wem gingen sie? Bestand noch eine Überlebenschance?

Pavillon 3 war ein Gebäude aus der Gründerzeit. Angegrautes Weiß, aber sichtlich renoviert und nun den technischen Erfordernissen des einundzwanzigsten Jahrhunderts entsprechend ausgestattet. Die breite Glastür glitt von selbst zur Seite, ich trat in die hohe Eingangshalle, fand eine Wegweistafel, atmete vorsichtig, vorbereitet auf den unvermeidlichen Geruch von Desinfektionsmitteln und Angst. Erster Stock. Zimmer 17. Ich wickelte die Blumen aus dem Papier, klopfte und trat ein. Seltsam, die Supermarktfleischerin zu besuchen, bei der ich sonst nach besonders abgehangenem Roastbeef gefragt hatte.

Vier Betten standen im Zimmer, zwei davon waren leer. Viel Weiß, es wirkte nicht sauber, auch nicht hell, sondern bloß unpersönlich steril. Im Bett näher zu mir las eine junge Frau in einer Modezeitschrift. Ihr Bein war eingegipst und hing an einem Seilzug. Ich hätte mich anmelden sollen. Aber Grete Berger hatte gemeint, ihre Kollegin werde sich jedenfalls freuen.

»Ich pack’s nicht«, hallte es aus dem Bett am Fenster, als ich noch unschlüssig in der Tür stand. »Wen suchen Sie denn? Die Hornweger ist gestern entlassen worden. Oder haben Sie sich im Zimmer geirrt?«

Ich ging auf die rote Karin zu. Rot war an ihr momentan allerdings gar nichts, sie trug einen voluminösen Kopfverband. Beide Beine waren geschient, der linke Arm war mit einer Infusionsflasche verbunden.

»Ich wollte Sie besuchen«, sagte ich. »Wohin kann ich die Blumen tun?« Auf ihrem Nachtkästchen standen schon ein großer Strauß bunter Rosen und eine Vase mit Tulpen. Neben ihrer Farbenpracht wirkte mein gemischter Strauß zwar groß, aber gleichzeitig einfallslos und mickrig.

»Schon wieder Blumen«, sagte sie mit einem Seufzer. »Ich läute einer Schwester wegen einer Vase.« Sie drückte den Klingelknopf und fragte dann: »Warum?«

»Warum? Na ja, ich habe auch Pralinen mitgebracht.«

»Pralinen? Wunderbar, das ist eine wirkliche Freude. Aber ich habe gemeint, warum Sie mich besuchen kommen. Wenn mich auch nur ein Bruchteil meiner Kundinnen besuchen käme, wäre es hier ziemlich überfüllt. Ich meine, ich freue mich, aber: warum?«

Ich zog umständlich die Bonboniere aus meiner übergroßen Handtasche.

»Legen Sie sie einfach auf das Bett. Das ist schon in Ordnung. Meine rechte Hand ist zum Glück unverletzt.«

»Soll ich das Zellophan wegtun?«

»Ja, das wäre fein. Ich hab ohnehin noch den faden Geschmack des Mittagessens im Mund, und meine Schokoladevorräte sind aufgebraucht.«

Sie nahm nach einem zufriedenen Kennerinnenblick ein Stück und schob es in den Mund. Noch lutschend wiederholte sie: »Warum?«

Ich nahm mir einen Sessel, zog ihn näher zum Bett, warf einen Blick auf ihre Zimmernachbarin.

»Vergessen Sie sie«, wisperte die rote Karin, »die interessiert sich für gar nichts außer für ihre dämlichen Modehefte.«

Ich räusperte mich. »Eigentlich hat mich eine Kollegin von Ihnen geschickt«, begann ich dann leise. »Grete Berger.«

»Das ist eine Liebe und Gute, viel zu gut ist sie und viel zu brav. Der haben sie bei dem Überfall schlimm mitgespielt. Wissen Sie davon?«

Ich nickte. »Und Sie sind nur ein paar Wochen später beinahe von einem Stapel mit Getränkekartons erschlagen worden.«

»Da besteht kein Zusammenhang. Grete ist wegen dem Überfall noch etwas durcheinander.«

»Sie hat auch nicht gesagt, dass sie einen direkten Zusammenhang vermutet. Aber sie hat immer wieder gesagt, dass in der Filiale etwas faul ist.«

Die rote Karin lachte und verzog dann schmerzhaft den Mund. »Rippenbrüche. Mit so was sollte man nicht lachen. Aber zum Lachen ist es schon. Etwas faul bei Ultrakauf? Kommt darauf an, was sie meint. Wenn sie meint, dass immer wieder Arbeitsstunden einfach vergessen und nicht bezahlt werden oder dass Leute eine mündliche Zusage haben, nur am Vormittag arbeiten zu müssen, und dann trotzdem für den Nachmittag und Abend eingeteilt werden, dann ist da eine Menge faul. Von unseren Gehältern gar nicht zu reden.«

»Sie sind bei der Gewerkschaft, hat Ihre Kollegin mir erzählt.«

»Ich bin sogar Betriebsrätin, aber darum geht es nicht. Die wenigsten bei uns haben den Mumm, sich zu organisieren, sie nehmen lieber alles hin.«

»Könnte es da einen Zusammenhang mit Ihrem Unfall geben?«

»Was weiß man? Aber wahrscheinlich hab ich einfach Pech gehabt. Stehe nichts ahnend in meiner Ecke, rauche eine – auch so etwas, das sie uns verboten haben – und: bumm. Na ja, wie es aussieht, werde ich es überleben. Aber was interessiert Sie an der Sache?«

»Mich hat Ihre Kollegin angesprochen, und ich habe ihr versprochen, mit Ihnen zu reden.«

»Lassen Sie es, nicht böse sein, ich freue mich über Ihren Besuch, aber das, was bei uns faul ist, können wir nur intern regeln. Indem wir uns auf die Füße stellen.«

»Und die Gewerkschaftsspitze?« Ich musste den Mund verzogen haben, ich kannte einige der Spitzenfunktionäre aus den Medien. Bei Society-Events tauchte seit einiger Zeit ein neuer Gewerkschafts-Shootingstar auf, der etwas von Mitden-Unternehmern-an-einem-Strang-Ziehen, Flexibilität und Wohlstand für alle faselte.

»Na ja«, erwiderte sie, »ein Männerverein eben, was willst du da schon groß? Die denken, dass für uns ein Taschengeld schon reicht. Jedenfalls die meisten. Brauchen tun wir sie trotzdem, wäre nur an der Zeit, dass dort andere Typen sitzen würden.«

»Sie waren allein, als der Unfall geschah?«

»Ich sage nicht, dass es ein Unfall war. Ich weiß nur nichts anderes, und letztlich ist es auch nicht so wichtig. Ja, ich war allein.«

»Was ist mit den Cognacdiebstählen? Waren Sie hinter den Dieben her?«

Ihr Lachen ging in ein Grunzen über. »Hören Sie auf, mich zum Lachen zu bringen. Warum sollte ich Cognacdiebe jagen wollen? Ich hab davon erst im Krankenhaus gehört, wenn die Diebe gefunden werden, werde ich mich bei ihnen bedanken. Vielleicht haben sie mir das Leben gerettet. Wegen der leeren Kisten vorne.«

»Wissen Sie, wer den Cognac geklaut hat?«

»Weiß ich nicht, aber es werden wohl welche aus unserem Lager gewesen sein oder ein paar der Zulieferer. Blöd, wie sie sich offenbar angestellt haben. Einfach aus den vordersten Kisten die Flaschen herausnehmen, dort, wo es am schnellsten auffällt. Wissen Sie, Diebstähle werden bei uns meistens aufgeklärt. Wareneingang und Warenausgang sind computerisiert, da wird dauernd verglichen, und Fehlbestände werden so sofort sichtbar. Außerdem beschäftigen sie für so etwas hin und wieder Privatdetektive, zur Abschreckung. Auf der anderen Seite steht alles offen herum. Wenn das für gewisse Idioten keine Einladung ist …«

»Ultrakauf ist also selbst schuld?«

»So weit würde ich nicht gehen … Aber in gewisser Weise. Sie können es verkraften, glauben Sie mir.« Nach sorgfältiger Überlegung nahm sie eine Praline mit einer aufgesetzten Mandel und deutete dann auf die Schachtel. »Nehmen Sie sich auch eine, die sind köstlich.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Mögen Sie nicht?«

»Ich mag Pralinen zu sehr, das ist das Problem.«

Sie musterte mich kritisch. »Sie haben eine tadellose Figur, also was spricht dagegen?«

»Ich habe zehn Kilo zu viel.«

»Wer sagt das?«

Ich verstummte und nahm eine Praline mit dunklen und hellen Schichten. Ja, wer sagt das?

»Richten Sie Grete vielen Dank aus, es ist nett, dass sie sich so um mich kümmert. Muss für sie gar nicht so einfach gewesen sein, Sie anzusprechen. Schüchtern, wie sie ist. Aber: In einer Woche oder in zwei bin ich zurück. Die Sache ist abgehakt. Wer weiß, vielleicht bekommt unsere Gewerkschaftsgruppe sogar neuen Auftrieb.«

»Wer ist eigentlich dieser Regionaldirektor Heller?«

Sie sah mich aufmerksam an. »Wie kommen Sie auf den?«

»Na ja, scheint so etwas wie Ihr Lieblingsfeind zu sein.«

»Der Wicht? Er ist in erster Linie unser Personalchef. Er genehmigt Dienstpläne und Stundenabrechnungen, er teilt ein, wie viele Menschen pro Filiale beschäftigt werden. Dafür musst du nicht viel können – nach oben buckeln und nach unten treten, das reicht. Und das kann er.«

»Waren Sie immer schon so …?«

»Sagen Sie es nur: rabiat.«

»Kämpferisch, wollte ich sagen.«

»Nein, war ich nicht. Eigentlich, auch wenn Sie es nicht glauben werden, war ich früher sehr schüchtern. Hab mir meinen Teil gedacht, mich aber nichts zu sagen getraut. Ich war schon als Kind groß und fett. Man wird gehänselt, wissen Sie. In der Schule war ich gut, aber meine Mutter ist immer an die falschen Männer geraten, und so haben wir fast jedes Jahr die Wohnung und die Schule gewechselt. Ich glaube, ich bin eine der ganz wenigen Wienerinnen, die sich in allen Bezirken auskennen. Bin ja dann zwischendurch einmal auch Taxi gefahren. Sie würden es allerdings gar nicht glauben, wie viele Taxifahrer sich nicht auskennen. Auf alle Fälle hab ich nicht eben ein überwältigendes Selbstbewusstsein gehabt. Dass ich den Mund aufmache, ist ganz plötzlich gekommen. Ich war damals in einer Großfleischerei angestellt. Dort hat es eine Kollegin gegeben, die mit ein paar Anhängerinnen alle anderen terrorisiert hat. Sie hat mich immer nur ›das Fett‹ genannt, und ihre Freundinnen haben gelacht. Dabei war sie selbst hässlich wie die Nacht. Irgendwann einmal hab ich dann, ohne viel nachzudenken, gesagt: ›Wer so deppert und hässlich ist, sollte lieber seinen Mund halten.‹ Sie war total verdattert. Das war eine Befreiung, und von da an hab ich zurückgeredet und mir gedacht, dass ich auch stark genug bin, um zurückzuschlagen, wenn es sein muss. Sie hat mich nie mehr ›Fett‹ genannt und war auch sonst vorsichtig im Umgang mit mir. Wäre ja auch dumm für sie gewesen, sich beim Chef zu beschweren, dass sie eine Kollegin deppert und hässlich genannt hat. Seither denk ich mir immer wieder: Was soll mir schon groß passieren? Schlimmstenfalls werfen sie mich hinaus beim Ultrakauf, aber ich bin eine ausgebildete Fleischerin, ich kriege schon wieder einen Job. Wenn nicht, hab ich immer noch die Pension von meinem verstorbenen Mann. Ich lass mir nichts mehr gefallen. Gerade beim Fleisch könnte ich Ihnen Geschichten erzählen … Na ja, das sollte man einer Kundin gegenüber wahrscheinlich nicht, aber wenn ich daran denke … Früher hab ich ja auch mitgemacht, wenn hin und wieder Fleisch umgepackt oder Knackwürste abgewaschen worden sind. Wenn das Ablaufdatum vorbei ist, muss alles ins Zentrallager zurückgeschickt werden. Je mehr man zurückschickt, desto geringer wird natürlich der Gewinn. Also wird von oben eben etwas Druck ausgeübt. Es stimmt ja, bei uns sind die Ablauffristen recht streng, anders als bei irgendwelchen Billigketten, die verkaufen Fleisch noch legal, wenn es schon ziemlich alt ist. Aber ich wollte diese Umpackerei eben nie. Nicht, weil ich mich vor dem Lebensmittelinspektorat gefürchtet hätte, weil essbar waren die Sachen allemal, aber warum soll ich illegale Sachen machen, nur damit ein paar Hunderter mehr in der Kasse sind? Also hab ich mich gewehrt. Seit zwei Jahren, seit ich mich vom Tod meines Otto wieder etwas erholt habe, verweigere ich solche Aktionen. Und, siehe da, jetzt gibt es sie nicht mehr. Also«, sie hob ihre rechte Hand, »reiße eben ich meinen Mund auf und spiele nicht überall mit. Vielleicht nutzt es ja etwas. Und wenn nicht, hab ich’s wenigstens probiert.«

Sie hatte Recht, wir machten uns alle ständig viel zu viele Sorgen, was passieren könnte. Andererseits: Sie war fast erschlagen worden. »Könnte der Stapel Getränkekartons von einem umgestoßen worden sein, der sich an Ihnen rächen wollte?«

»Was weiß ich? Glaube ich kaum, ich bin bei unseren Leuten gut angeschrieben, zumindest bei den meisten. Und glauben Sie ernsthaft, der Herr Generaldirektor würde kommen und mir eigenhändig im Lager eines überbraten, nur weil ich aufmüpfig bin? Zu viel der Ehre. Ich weiß, dass mir Grete dankbar ist. Wenn sie etwas für mich tun will, dann soll sie der Gewerkschaft beitreten.«

»Ich werde es ihr ausrichten.« Ich starrte auf die prächtigen Blumen und überlegte, wie ich mich verabschieden könnte. Wenngleich dieser Krankenbesuch viel unterhaltsamer gewesen war, als ich befürchtet hatte.

Die rote Karin deutete meinen Blick falsch. »Prächtig, nicht wahr? Die sind von den Kollegen meines verstorbenen Mannes. Im Allgemeinen halte ich zwar von den Männern nicht viel, aber er war ein Goldstück. War bei der Wiener Müllabfuhr, ein sicherer Job, und dann von heute auf morgen: Herzinfarkt und tot.« Sie seufzte. »Das ist jetzt schon drei Jahre her, sechsundfünfzig war er erst. Sein Hobby war es, Blumen zu fotografieren. Mit ein paar von seinen Kollegen bin ich heute noch in Kontakt. Und was bringen sie? Natürlich Blumen. Die dämlichen Schwestern haben vergessen, für Ihre Blumen eine Vase zu bringen. Das heißt, die Schwestern sind okay, aber eben total überlastet. Nicht nur bei Ultrakauf wird gespart.«

»Tja dann …«

»Bis in ein, zwei Wochen. Ich nehme ja nicht an, dass Sie mich jetzt täglich besuchen kommen.«

Ich grinste. »Täglich wäre zu viel, aber vielleicht komm ich noch einmal vorbei.«

»Würde mich freuen, aber ich sage Ihnen, ich bleib keinen Tag länger hier, als ich muss. Die Gehirnerschütterung klingt schon ab, Unkraut vergeht nicht.«

Als ich ging, las die junge Frau im Nebenbett immer noch in ihrer Modezeitschrift.

Ich stoppte beim Supermarkt, parkte und blieb im Auto sitzen. Es war vier oder fünf Jahre her, dass die Ultrakauf-Filiale in der Mayerlinggasse aufgesperrt worden war. Ich hatte mich über die Eröffnung gefreut. Endlich ein großer Supermarkt mit einem guten Warenangebot und einem Parkplatz nicht allzu weit von meiner Wohnung. Erst heute fiel mir auf, dass der flache Bau mit seiner futuristischen Alufassade und der Glasfront auf der Seite der Eingangstüren nur zum Teil für die Öffentlichkeit zugänglich war. Gut ein Viertel seiner Fläche bestand offenbar aus Lagerräumen. Dort waren die Cognac-Kartons. Hatte ich mir je über die Kassiererinnen oder Verkäuferinnen Gedanken gemacht? Mir waren einige sympathischer, einige weniger sympathisch. Immer wieder schienen neue Gesichter dazuzukommen. Der Filialleiter war ein Mann, und das fand ich irgendwie absurd. Politiker sprachen immer wieder gerne von der »Supermarktkassiererin«, vor allem dann, wenn über Sozialpolitik gestritten wurde. Die »Supermarktkassiererin« diente ihnen als statistisches Ausstellungsstück. Man sollte sie einen Monat von dem leben lassen, was eine Kassiererin verdiente. Oder eine Fleischerin. Ich kramte nach einer Münze für den Einkaufswagen.

Nieselregen hatte eingesetzt. Ein typischer Oktobertag. Ich sehnte mich fort. In New York hatten die Supermärkte rund um die Uhr geöffnet. Nachtschichten, weil irgendein Spinner den Zucker vergessen hatte oder kurz nach Mitternacht Lust auf Pastrami bekam. Ich saß immer noch im Auto, sah den feinen Regenschlieren zu, die über die Windschutzscheibe nach unten glitten, und reiste im Kopf ins Veneto. Bei Armando war Pilzsaison, allein die Vorstellung seiner Menüs trieb mir das Wasser im Mund zusammen. Im Hotel bei Gianni würde schon das Feuer im großen offenen Kamin prasseln. Das Veneto war eine Gegend für alle Jahreszeiten, etwas, das man von Wien nun wirklich nicht behaupten konnte. Wien hatte ich am liebsten, wenn es im Sommer wie ausgestorben wirkte. Oder wenn frischer Schnee gefallen und auf den Straßen liegen geblieben war. Dann war Wien verwunschen leise, alles stand still, und selbst die Flüche der Autofahrer hatten nichts von ihrer üblichen Aggressivität.

Ich stieg aus, ging rasch die paar Meter durch den Regen, nahm einen Einkaufswagen, schob ihn durch die gläserne Drehtüre, vorbei an dem Werbeplakat mit den Sonderangeboten der Woche, und sah den Kassiererinnen aufmerksamer als sonst ins Gesicht.

4.

Oskar war ein einfühlsamer Liebhaber, ich genoss seine Zärtlichkeit und sein überraschendes Temperament. Es gab für mich einige Gründe, nicht ohne Mann zu leben, guter Sex war einer davon. Trotzdem war ich heute nicht voll bei der Sache. Er musste es bemerkt haben, runzelte die Stirn und fragte. »Was ist los? Willst du mich nicht mehr?« Ich schüttelte den Kopf, drehte mich dennoch etwas weg von ihm und sah aus dem Fenster. »Natürlich will ich dich. Nur: Die Supermarktfrauen gehen mir nicht aus dem Sinn. Weißt du, dass sie nicht einmal billiger einkaufen können? Sie bezahlen dasselbe wie ich.«

»Viel kann ich als Lover nicht taugen, wenn dich so was ablenkt.«

Sein Mangel an Selbstwertgefühl verblüffte mich immer wieder. »Was willst du hören?«, sagte ich sanft und streichelte über seinen Nasenrücken, »dass du großartig bist? Du bist großartig. Du hast sogar bemerkt, dass ich abgelenkt bin. Ich möchte eine Story über die Frauen im Supermarkt schreiben. Als Aufhänger könnte ich ja vielleicht den vertuschten Überfall nehmen oder den Unfall im Lager.«

»Du hast mir doch erzählt, dass über den Überfall nicht gesprochen werden darf. Woher solltest du also davon wissen, ohne dass die Frauen Probleme mit der Geschäftsleitung bekommen?«

Ich seufzte. »Ob die Frauen fair behandelt werden?«

»Was heißt schon ›fair‹?«

»Was heißt ›fair‹?«, fragte mich Vesna, als wir am nächsten Morgen in der Küche bei einem Espresso saßen. »Arbeit im Supermarkt ist nicht so schlecht. Außerdem: Frauen sind auch selber schuld. Was lassen sie sich Kinder machen und alle Arbeit umhängen? Dann müssen sie schlechte Jobs nehmen. Und: Was kümmern sie sich nicht um anderen Job, wenn sie den nicht mögen? Können sie auch putzen gehen oder sonst was tun.«

Es galt, etwas nachzulegen. »Grete Berger vermutet, dass die Cognac-Kartons nicht zufällig umgefallen sind, man wollte ihre Kollegin erschlagen, weil sie aufgemuckt hat.«

Vesna sah mich nun aufmerksam an. »Aber Beweise gibt es nicht? Und welchen Verdacht?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie sich das auch alles bloß zusammengereimt. Wer versucht schon jemanden wegen ein bisschen Gewerkschaftsarbeit umzubringen?«