IN DEN MÜHLEN DER DIENSTE
IN DEN MÜHLEN DER DIENSTE
33 SCHICKSALE DES KALTEN KRIEGES
Behling, Klaus:
In den Mühlen der Dienste –
33 Schicksale des Kalten Krieges
1. Auflage — Berlin: Berlin Story Verlag 2012
eISBN 978-3-86368-710-6
© Berlin Story Verlag
Alles über Berlin GmbH
Unter den Linden 40, 10117 Berlin
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Umschlag: Stephanie Hönicke
Satz: Norman Bösch
WWW.BERLINSTORY-VERLAG.DE
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE – EIN PROLOG
ABGEHOLT
BIERCHEN MIT MOLLE
ALEMANITA MIA
DER GESTOHLENE BEETHOVEN
LEICHENSACHE B.
EINE ERFUNDENE AFFÄRE
VERBRANNT UND FALLEN GELASSEN
IN TREUE FEST
EIN UNVERDROSSENER KUNDSCHAFTER
DAS ZERSETZTE GENIE
DER TRAUM VOM GOTTHARD
RADIO RASENDES EUROPA
IM FADENKREUZ
EIN STRAHLENDER VERDACHT
»DANN GEHT DOCH RÜBER ...«
DER GRENZGÄNGER
KAINSMAL
KALTES HERZ
HONIGFALLE
STERNENKÄMPFER
ZERMITTELT
ATOM-SPION A. D.
GENOSSE ROMEO
TÖDLICHER URLAUB
GRAUER WOLF IN BAUTZEN
LACHEN UND WEINEN
DIE WALDLÄUFER
LIEBE IM TOTEN WINKEL
ENDSTATION IRRENHAUS
DER STURZ DER ALTEN DAME
ABGESCHOSSEN
IN DUBIO
»BILANZSUIZID«
MÄNNER HINTER SONNENBRILLEN – EIN ENDE IM KLISCHEE
Geschichte ist ein Roman, der stattgefunden hat, der Roman ist Geschichte, wie sie hätte sein können.
Edmond und Jules de Concourt
Idées des sensations, 1866
Wir leben mit den Abbildern unserer Geschichte. Jeder hat das seine, in der Summe sollten sie ein Bild ergeben. Doch Bilder sind trügerische Dokumente. Sie verschönern Hässliches, lassen Irrtümer zu Tatsachen werden oder vergolden einfach nur Vergangenes.
Deshalb ist das Erzählen von Geschichten aus der Geschichte auch immer ein Kampf um die Bilder.
Pessimisten geben diesen Kampf von vornherein verloren und meinen, Geschichte sei die Lüge, auf die man sich geeinigt hat. Diese Weisheit wird gern Napoleon zugeschrieben, manchmal mit einem Hinweis auf die angeblichen Urheber der Lüge – die »jeweils Herrschenden« –, ein anderes Mal mit dem Zeithorizont: »nach dreißig Jahren« versehen.
Ein Zitat mit offenbar unklaren Wurzeln also. Und was nicht fest gemauert in der Erden unserer Klassiker steht, scheint ohnehin zweifelhaft. Woran also die fremden und eigenen Abbilder messen? Vielleicht am Umgang der Mächtigen mit ihren Untertanen, der Herrschenden mit den Beherrschten. Gewiss, er ist von Regeln bestimmt, doch allein das damit verbundene Verb reglementieren hat den Beigeschmack von Unterdrückung und Missachtung.
Das wird bei einem Blick auf die Untergründe staatlicher Macht deutlich – zum Beispiel im Umgang der Geheimdienste mit den Menschen, die sie »bearbeiten« und die ihnen freiwillig oder unfreiwillig anvertraut sind.
Ob diese Geheimdienste einer vermeintlich guten oder angeblich schlechten Sache dienen, scheint unerheblich. Solange sie funktionieren, sind sie Instrumente der Macht, und jede Macht meint, die beste aller Welten aufbauen zu wollen und diese dann verteidigen zu müssen. Dabei sind ihr viele Mittel recht.
Der Umgang der Geheimdienste mit den Menschen als Beispiel für das, was zwar nicht die Welt, aber doch die jeweilige Herrschaftsstruktur im Innersten zusammenhält, legitimiert sich aus einem anderen Aspekt: Die Dienste handeln weitgehend unkontrolliert, oft archaisch. Dabei gibt es zweifellos Unterschiede zwischen Diktaturen und Demokratien, doch nirgendwo sind die Apparate transparente Machtinstrumente geworden.
So bleibt nur die Suche nach Mosaiksteinchen zu den Schicksalen Betroffener. Auch sie ergeben kein Bild, sondern wieder nur ein Abbild – doch dieses Abbild illustriert, was jemandem geschieht, der in die Mühlen der Dienste gerät. Ob in Ost oder West, oft wird das »In dubio pro reo«, das Grundprinzip jeder Rechtssprechung, auf den Kopf gestellt. Nicht die Verdächtigenden beweisen die Schuld des Verdächtigten, sondern der ins Zwielicht Geratene muss seine Unschuld beweisen. Selbst wenn ihm das gelingt, bleibt meist ein Makel. Deshalb wurde hier bei fast allen Protagonisten der Name verfremdet. Das mag bei manchen, die als Personen der Zeitgeschichte relative Bekanntheit erlangten, merkwürdig erscheinen, weil sie durch authentische Daten und Geschehnisse für den einen oder anderen zu erkennen sind. Trotzdem: Ihr Schicksal gehört ihnen, genauso wie allen anderen weniger Bekannten auch.
Sicher ließe sich mancher Umstand im Leben der Menschen, von denen hier erzählt wird, durch einfache Fragen bei jenen klären, die in die persönlichen Schicksale der Betroffenen eingegriffen haben, manchmal brutal, manchmal subtil. Doch ein Geheimdienst wäre wohl nicht geheim, würde er solche Fragen beantworten.
So bleiben die Zeugen und die Akten – bei der Stasi in schier unübersehbarer Menge öffentlich, beim BND oft auch noch nach Ablauf der gesetzlichen Archivfristen geschlossen und nur lückenhaft von meist ebenso frustrierten wie wagemutigen Informanten zu erlangen. Und es bleibt die Phantasie, auf die Löcher im Netz der gesicherten und nachweisbaren Tatsachen Flicken zu nähen.
Aus Gesprächen, die ich mit den Betroffenen geführt habe, oftmals aus Akten zu ihren kritischen Lebensphasen, manchmal auch unter Nutzung ihrer Selbstzeugnisse und meist durch Befragungen von Menschen aus ihrem Umfeld sind in den letzten Jahren 33 Geschichten von geheimdienstlichen Verstrickungen aus der Zeit des Kalten Krieges entstanden. Einige stehen auf dem festen Fundament gesicherter Beweise, andere erzählen, wie es gewesen sein könnte. Alle sind Abbilder von Fußnoten einer Geschichte, die gerade dabei ist, tatsächlich Geschichte zu werden.
Klaus Behling
April 2012
Onkel Konrad hat Glück gehabt. Erst gewinnt er eine Viertelmillion im Lotto, und nach dem Krieg liegt sein Haus auch noch im Westen, in Berlin-Tegel. Einen einzigen Artillerietreffer ins Dach hat es abbekommen, sonst nichts. Jetzt fürchtet Konrad nur noch die Kommunisten im Osten. Aber natürlich hat er vorgesorgt. In dem Büro in seinem Häuserblock, in dem bis vor sieben Jahren die NSDAP ihre Ortsgruppe verwaltete, sitzt jetzt die Sozialistische Einheitspartei Westberlins.
Man weiß ja nicht, was kommt, aber bei der Luftbrücke vor vier Jahren haben die Russen doch den Schwanz eingezogen.
Die Russen. Deswegen waren die Mädchen aus Stralsund da: Helga, Brigitte und Monika. Nun ja, eigentlich nicht wegen der Russen, sondern wegen ihres Vaters, Konrads Bruder. Die Russen hatten Otto im Februar 1947 abgeholt. Seither war er verschwunden. »Soll ich das Jackett überziehen?«, hatte Otto noch gefragt. »Nein, zum Mittag bist du ja wieder zurück«, hieß es. Das ist nun gut fünf Jahre her.
Die Mädchen waren damals vierzehn, sechzehn und achtzehn. Inzwischen sind sie junge Damen. Sie wollen wissen, was aus ihrem Vater geworden ist. Onkel Konrad lässt sie mit seinem neuen Mercedes 300 nach Zehlendorf fahren. »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« nennt sich der Verein in der Limastraße. Die kümmern sich um so was.
»Sie können Herr Vogt zu mir sagen«, stellt sich der Mann vor. »Ich sage ihnen gleich, das ist ein Tarnname. Wir müssen aufpassen. Der SSD! Ihnen ist doch niemand gefolgt?«
Monika, die älteste der drei Proske-Schwestern, nimmt das Wort. »Gefolgt?«
»Entführungen durch den Staatssicherheitsdienst aus dem Ost-Sektor sind bei uns an der Tagesordnung.« ›Herr Vogt‹ merkt, dass die drei ein Kichern kaum unterdrücken können. »Das ist ein harter Kampf, den wir hier gegen das Zonenregime führen. Ich bitte Sie um mehr Ernsthaftigkeit!«
Helga, Brigitte und Monika sehen sich erschrocken an. Natürlich. Sie wollen den Mann von der »Kampfgruppe« ja um Hilfe bitten. Wegen Vater!
Herr Vogt ist wieder verbindlich. »Nun erzählen Sie mal.«
Die drei jungen Frauen nehmen kein Blatt vor den Mund. Herr Vogt macht einen netten Eindruck. Immerhin hat er gleich Straalsund gesagt, mit langem »a«, so wie es richtig ist – nicht diese blöde Betonung auf der zweiten Silbe, an der man sofort die Fremden erkennt. Er scheint überhaupt gut Bescheid zu wissen, wirft hin und wieder eine Bemerkung ein, über den Hafen, den Bau des Rügendamms, damals, 1936. Sogar daran, dass vor dem Krieg das Wasserflugzeug nach Kopenhagen auf dem Strelasund zwischengelandet ist, erinnert er sich. Zuerst will er aber wissen, was Otto Proske so für ein Mensch war.
Die Mädchen berichten die über den Vater gehörten Familiengeschichten. Geboren 1900, er »ging mit dem Jahrhundert«, wie man früher in ihrer ostpreußischen Heimat so sagte. Und er war wohl ein ziemlicher Abenteurer. Jedenfalls wollte Otto unbedingt in den Krieg, das war oft erzählt worden. Doch als er alt genug war, siebzehn, war der Krieg fast aus. Für Otto kein Hindernis. Er klaute seinem Vater ein Pferd und ritt nach Russland. Dort kämpfte er mal für die Roten, mal für die Weißen. Als er zurückkam, gab’s richtig Ärger. Sein Vater hatte ihn angezeigt, und auf Pferdediebstahl standen hohe Strafen. Natürlich nahm Opa die Anzeige zurück, doch das war gar nicht so einfach. Jedenfalls lagen sich die beiden danach immer mal wieder in den Haaren, und Otto ging dann auch bald aus dem Haus. Bis nach Vorpommern, damit der richtige Abstand zu seinem Alten gewahrt war.
Herr Vogt macht sich Notizen. »Wie ging es weiter?«
Die Mädchen erinnern sich an ihre Kindheit. »Zur Geburt von Helga trug Vater zur Feier des Tages seine SA-Uniform«, erzählt Monika. »Da war er ziemlich stolz drauf, ›alter Kämpfer‹ nannte man das«, weiß Brigitte. »Parteimitgliedsnummer unter Tausend, hieß es immer.«
Herr Vogt ist beeindruckt. »Ihr Vater war also in der NSDAP aktiv?«
»Aktiv, das kann man so nicht sagen.« Brigitte ergreift wieder das Wort. »Er hat eben die Zeit genutzt, um seine Geschäfte zu machen. Mit dem Fahrrad über die Dörfer ist er, und wer noch kein Hitler-Bild hatte, dem hat er eins verkauft. Da traute sich natürlich keiner abzulehnen, auch wenn der Preis etwas höher war. Da haben doch damals alle mitgemacht!«
»Ja – so waren die Zeiten. Ich beurteile das nicht, aber wenn ich Ihnen helfen soll, muss ich alles wissen!« Herr Vogt strafft sich. »Was war im Krieg? Wehrmacht, Dienstgrad, wo gekämpft?«
»Vater war bei der Organisation Todt. Die haben rings um Stralsund solche Scheinflugplätze gebaut, in Ladeburg ...«
Herr Vogt rümpft unmerklich die Nase: »Dann war die Familie ja wohl gut versorgt!«
Die Mädchen bemerken seinen höhnischen Unterton nicht. Und dass er ein »D« für »Drückeberger« notiert, sieht keine der drei.
»Wir haben alles gehabt. Speck, Kartoffeln, Eier – und das Wichtigste war: Als der Krieg zu Ende ging, war Vater zu Hause!« Monikas Gesicht glänzt vor Stolz. »Da kamen dann die Russen zu uns. Die brachten Wodka mit, und es wurde gefeiert. Bisschen Russisch konnte Vater ja!«
»Das ging gleich so nahtlos weiter?« Herr Vogt ist gespannt.
»Sicher, Vater konnte ja alles besorgen. Außerdem galt er bei den Russen als Spezialist.« Brigitte kichert. »Die haben doch überall die Radios geklaut, wussten aber nicht, dass wir in Stralsund in der Innenstadt Gleichstrom hatten. Wegen der Straßenbahn.«
Helga fällt ihr ins Wort: »Außerhalb von Stralsund spielten die Volksempfänger dann natürlich nicht. Sie kamen zu Vater, der machte bisschen Hokuspokus, und schon ging es. Die großen Schlagerstars von damals, Rosita Serrano mit ihrem ›Roter Mohn‹ – da standen sie darauf!«
Herr Vogt sieht leicht genervt auf die Uhr: »Und dann?«
»Eines Tages wurde Vater abgeholt. Mehr wissen wir nicht.«
Der Mann von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit bittet die Mädchen, einen Moment zu warten, und geht in ein Nebenzimmer. Von den Russen abgeholt, das kam in den Jahren nach dem Krieg täglich vor. Manche Leute wurden von den Russen verdächtigt, Nazis gewesen zu sein, andere wurden einfach denunziert. Vielleicht hatte sich irgendjemand darüber geärgert, dass Otto Proske so einen Druckposten im Krieg hatte. Oder dass er erst in SA-Uniform herumstolzierte und dann gleich wieder mit den Russen im Geschäft war?
Herr Vogt sucht auf einem alten Stralsunder Stadtplan die Adresse der Mädchen. Heilgeiststraße. Nicht uninteressant. Natürlich würden sie Otto Proske in die Kartei aufnehmen, aber viel mehr war da sowieso nicht zu machen. Doch die Mädchen, die waren Gold wert. In Stralsund wurde gerade die »Volkspolizei See« aufgebaut, die später einmal das Kernstück der ostzonalen Marine werden sollte. Alles junge Männer, die am Wochenende Bräute suchten. Und hier gab es gleich drei ... Da müsste sich doch was drehen lassen! Das wollte gut organisiert sein. Erst einmal brauchte man Zeit.
»Meine Damen, selbstverständlich kümmern wir uns um das Schicksal Ihres Vaters.« Herr Vogt ist zurück bei Helga, Brigitte und Monika. »Sie wissen ja, eine Hand wäscht die andere ...«
»Ja, natürlich. Wir können jederzeit nach Berlin kommen.«
»Das lassen Sie mal. Es gibt da einen viel besseren Weg, wie Sie uns helfen können. Sie haben ja selbst erzählt, wie die Russen Radios geklaut haben. Das machen sie jetzt im großen Stil, ganze Fabriken gehen in den Osten! Ich gebe Ihnen eine Adresse. Dort schreiben Sie alle sechs Wochen hin, ›liebe Tante‹, ganz unauffällig, und im Text notieren sie die Namen der Schiffe, die aus Stralsund nach Russland abgehen. Das ist völlig ungefährlich. Was soll schon passieren, wenn jemand seiner Tante schreibt: ›Gestern war der Himmel so klar, dass wir die Wega sehen konnten. Ich habe extra in einem Buch von Professor Koroliow nachgeschlagen‹ – so in dieser Richtung.«
Natürlich wollen die Schwestern Herrn Vogt helfen. Und es scheint ja wirklich ungefährlich zu sein; Wega, Professor Koroliow, schon sind zwei Schiffe genannt – kein Problem. Schließlich ist es für Vater!
Acht Wochen später sitzen Helga, Brigitte und Monika streng voneinander isoliert jede in einer Zelle des Staatssicherheitsdienstes. Sie werden nicht geschlagen, nur angebrüllt. Sie sollen sich schämen, sich wegen eines Nazis im Westberliner Agentensumpf zu verdingen! Zum Glück sind die Sicherheitsorgane der Arbeiterklasse wachsam. Mit Feinden wird kurzer Prozess gemacht. Rübe ab. Das geht ganz schnell.
Ob es Tag oder Nacht ist, wissen sie bald nicht mehr. Auch nicht, was sie eigentlich getan haben sollen. Natürlich erzählen sie alles. Von Onkel Konrad und dem Haus in der Limastraße, von Herrn Vogt, von ihrem Vater, der verschwunden ist. Verschwunden dürfen sie allerdings nicht sagen, dann haut der Vernehmer mit der Faust auf den Tisch. »In der Deutschen Demokratischen Republik verschwinden keine Menschen! Das sind impralistische Lügen. Lügen von solche Leute, bei die Sie sich ihnen als Agenten verdingt haben.« Der Mann spricht ein schauderhaftes Deutsch, doch keine der drei traut sich, ihn zu korrigieren. Er ist »die Arbeiterklasse«, und die hat die Macht.
Im Sommer 1953 werden die drei Proske-Mädchen vom Bezirksgericht Rostock wegen Spionage verurteilt. Helga bekommt vier Jahre, Brigitte sechs und Monika acht Jahre.
Vom Schicksal ihres Vaters ist vor Gericht nicht die Rede. Auch über die Mädchen wird bald schon selbst in der Familie kaum noch gesprochen. Und wenn, dann ganz leise. Man weiß ja nie. Nur einmal im Jahr, immer zu Weihnachten, wird ein Gnadengesuch an Wilhelm Pieck geschickt. Der Präsident der DDR antwortet nicht. Als Helga 1956 entlassen wird, fragt sie bei den Behörden wieder nach ihrem Vater. Es geht um den Totenschein für die Rente der Mutter. Otto Proske sei 1955 »in der Sowjetunion verstorben«, wird amtlich mitgeteilt.
Auch Brigitte und Monika müssen ihre Strafe bis zum letzten Tag absitzen. Monika ist zweiunddreißig, als sie als Letzte entlassen wird, eine verhärmte, alt wirkende Frau. Gemeinsam mit der Mutter gehen alle drei in den Westen. Noch gibt es keine Mauer.
Etwa vierzig Jahre lang geschieht nichts. Dann ist eine neue Zeit angebrochen. Einer ihrer großen Vorteile: Man darf fragen. Ob es auch Antworten gibt, will ein Journalist herausfinden.
In Moskau wird er schnell fündig. Die damals noch sowjetische Militärhauptstaatsanwaltschaft hat Otto Proske bereits zehn Jahre zuvor, im Oktober 1991, rehabilitiert und 2003 dazu einen Bescheid ausgestellt. Darin steht, dass der Stralsunder am 16. Februar 1947 verhaftet und am 17. Oktober des gleichen Jahres von einem sowjetischen Militärgericht nach Paragraph 58/2 des Strafgesetzbuches der RSFSR zu 25 Jahren Haft und Vermögenseinzug verurteilt wurde.
Dieser Paragraph nennt unter anderem das »Eindringen von bewaffneten Banden in das Sowjetgebiet in konterrevolutionärer Absicht« als Straftatbestand. Vielleicht war Proske sein Ausflug in den Bürgerkrieg vor nun inzwischen fast neunzig Jahren zum Verhängnis geworden. Aber Proske war auch Nazi gewesen, und die Russen hatten nach dem Krieg allen Grund, Nazis zu verfolgen. Ein reiner Willkürakt – so, wie ihn viele erleiden mussten – war seine Verhaftung nicht.
Dann die Überraschung: Seine Strafe verbüßte Otto Proske im »Speziallager Bautzen«. Am 8. oder 9. August 1948 – es fanden sich zwei Totenscheine mit unterschiedlichen Angaben – starb er dort, angeblich an »tuberkulöser Meningitis«.
Otto Proske war also niemals in der Sowjetunion, und 1955 dort gestorben ist er schon gar nicht. Er wurde vermutlich am Karnickelberg in Bautzen verscharrt, wie Dutzende andere auch. Wahrscheinlich verhungert. Krankheiten als Todesursache anzugeben gehörte damals zum üblichen Repertoire.
Das aber heißt: Als seine Töchter 1952 bei der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit um Hilfe bei der Suche nach ihrem verschollenen Vater baten, war der schon vier Jahre lang tot. Hätte es auch nur einen einzigen Menschen gegeben, der ihnen in damals die Wahrheit gesagt hätte, wäre ihnen ihre dilettantische Spionageübung und die darauf folgende viel zu hohe Strafe erspart geblieben. Achtzehn Jahre verlorenes Leben, für nichts.
Sicher hatten sich die drei im Sinne der damaligen DDR-Gesetze strafbar gemacht. Doch ebenso sicher waren die Urteile gegen sie politisch. Stalin postulierte nach dem Krieg die »Lehre« vom »sich ständig verschärfenden Klassenkampf«, seine ostdeutschen Paladine hatten die »Beweise« dafür zu erbringen.
Dass ihr Vater in Bautzen starb, sollten Helga, Brigitte und Monika, inzwischen ältere Damen, zumindest wissen, meinte der Journalist. Doch wo sollte er sie finden?
Auf eine erste Spur stößt er mit Hilfe einer freundlichen und glücklicherweise indiskreten Justizbeamtin. In einem abgegriffenen »Gefangenenkontenregister« in der Haftanstalt Bützow sind Helga und Brigitte mit kleinen Summen vermerkt, die im Sommer 1956 an das Gefängnis »Roter Ochse« in Halle überwiesen wurden. Man hatte sie also verlegt.
Der Journalist schreibt nun Briefe über Briefe. Es geht um eine einzige Frage: Er braucht die Geburtsdaten der Frauen, denn nur über sie wäre der Weg ins Register der Notaufnahmeverfahren im Westen und dann weiter die Suche über die Standes- und Einwohnermeldeämter möglich. Doch im Land der Payback-Karten und des Handels mit persönlichen Datensätzen für Werbezwecke unterliegen Geburtsdaten allerstrengstem »Datenschutz«, wenn eine Behörde die Hand darauf hat. Und so lautet der abschließende Bescheid: »In der Zentralen Auskunftsstelle des Justizvollzuges des Landes Sachsen-Anhalt liegen die Gefangenenpersonalakten der Brigitte und Monika Proske vor. Da von beiden keine Einverständniserklärung zur Auskunftserteilung vorliegt, sehe ich mich außer Stande, weitere Auskünfte zu erteilen bzw. einer Akteneinsicht zuzustimmen.«
Alle weiteren Bemühungen belegen nur noch, dass es offenbar ein deutsches Beamtengehirn überfordert, zu begreifen, dass jemand erst gefunden werden muss, bevor er befragt werden kann – auch nach seinem eventuellen Einverständnis, Akten über ihn zu lesen. Aber selbstverständlich ist der Gebrauch solcher Akten auch ohne das Plazet des Betroffenen geregelt: dreißig Jahre nach seinem Tod. Ab etwa Mitte 2055 dürfte es keine Probleme mehr geben, an die Akten zu gelangen.
Auch wenn der Journalist dann rüstige hundert ist: Fragen sterben nicht. Nicht mehr. Nicht noch einmal.
Vom Bier spricht Werner Henze wie von einem guten Freund. Er nennt ihn »Bierchen«. Beide wohnen in »Molles Bierstube« in Andernach. Sie sind ständig beieinander. Zapft Werner den Gerstensaft und irgendjemand – es kann nur ein Ignorant sein – hat tatsächlich nur »ein Bier« bestellt, murmelt er spätestens dann, wenn der Strahl ins Glas vom gelben Getränk zu dessen weißen Schaum wechselt, sein »chen« dazu. Und beim Servieren hat er dann ohnehin wieder das Sagen: »Ein Bierchen, der Herr!«
Früher hieß das Bierchen Molle. Damals. In Berlin.
Werner Henze ist fünfzehn, als er in die zerbombte einstige Reichshauptstadt kommt. Den Krieg und das Kriegsende hat er im Dörfchen Belitz im Landkreis Güstrow erlebt. Er sah, wie sein Großvater den russischen Zwangsarbeitern Essen zusteckte, weil er den Rassenwahn der Nazis ablehnte. Und er war Zeuge, wie russische Soldaten ein zwölfjähriges Mädchen, das auf dem Hof half, immer und immer wieder vergewaltigten.
Wie soll ein junger Mann mit solchen Erfahrungen ins Leben starten und wo? Werner Henze will es beim Ost-Berliner Zirkus »Barlay« schaffen. Er hat sich seine ersten Meriten als Rummel-Boxer verdient, ist geschickt und anstellig und nicht der einzige Entwurzelte im bunten Artistenvölkchen. »Damals wollte ich unbedingt Geld verdienen und auf eine Boxschule gehen. Noch’n Bierchen?«, sagt Molle. »Den Namen hamse mia späta in Balin jejeben, jefiel ma.«
Barlay, Boxen, Berlin? Aus dem Jahr 1954 stammt der Defa-Film »Alarm im Zirkus.« Die Story: Klaus und sein Freund, beide so um die sechzehn, kommen aus ärmlichen Verhältnissen und träumen von einer Boxer-Karriere. Um sich Boxhandschuhe fürs Training kaufen zu können, lassen sie sich von einem Kneipenwirt aus West-Berlin für ein krummes Geschäft anheuern – dem Zirkus Barlay sollen die Pferde gestohlen werden. Dort im Zirkus hat Klaus aber gerade neue Freunde gefunden. Er will deshalb nicht mitmachen, und die tapfere Volkspolizei verhindert das Schlimmste. All das basiert auf einer wahren Geschichte.
War Werner Henze damals Vorbild für die Filmstory? »Kann sein, kann nicht sein – weeß ick nich. Aba uff jeden Fall war ick Widastandskämpfa. Natürlich nich für die Ssone, für die Freiheit!« Molle schüttelt energisch seinen dünnen Pferdeschwanz.
Er erzählt von seiner Zeit beim Zirkus. Erst Barlay, später dann Busch. Da kamen sie überall in der DDR herum, und überall waren die Russen. »Ick hab die Nummern von den Fahrzeugen aufgeschrieben, die Achsen gezählt und solche Sachen.« Unwillkürlich spricht Werner Henze hochdeutsch. Er scheint zu spüren, dass das in jenen Jahren doch wohl irgendwie eine ernste Sache war. Damals rollten Köpfe, wenn jemand selbst bei solch banaler Spionage erwischt wurde.
Dann zischt wieder ein Bierchen ins Glas, und Molle wiegelt ab: »Kindakacke war det, nüscht als Kindakacke.« Wer der Auftraggeber war? »Sare ick nicht, haick für unterschrieben. Aba ick war Widastandskämpfa, haick schriftlich.« Er holt aus dem Schrank hinter der Theke ein speckiges Album, in dem ein im Laufe der Jahre braun gewordenes DINA4-Blatt liegt, an den Falträndern gebrochen. Darauf bestätigt ihm »Der Leiter des Notaufnahmeverfahrens in Uelzen« am 31. August 1955, dass er ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet nehmen könne, weil er im Osten »aktive Widerstandsarbeit« geleistet habe.
Das ist ein weiteres Bierchen wert. Wie war Werner Henze eigentlich in den Westen gekommen?
Er holt weit aus. Da war der Abend in einer Berliner Kneipe und der Streit um ein Mädchen. Vor der Tür dann eine Schlägerei. Einer der Männer holt eine Pistole raus. Staatssicherheit. Molle knockt ihn mit einem linken Haken aus, nimmt die Waffe und haut ab. Zum Glück wirft er sie unterwegs in einen Teich, denn am nächsten Morgen holt ihn die Stasi aus seinem Zirkuswagen. »Imma wieda uff’n Hintakopp ham se mir jeschlagen. Wo die Pistole is, wollten se wissen, aba die war ja weg.« Die Männer müssen ihn freilassen, aber wenn Werner Henze überhaupt vor irgendetwas in der Welt Angst hat, ist es das Gefängnis. Deshalb zögert er nicht lange, als er erfährt, dass einige seiner Spionage-Kollegen aufgeflogen sind und auch nach ihm gefahndet wird. Ein Kollege hat ihn gewarnt. Henze geht über die offene Sektorengrenze. Ein Volkspolizist kontrolliert. »Dem haick meinen Zirkusausweis vorgezeigt. Da stand ›Stellvertretender Zeltmeister‹ drin, aba das ›Z‹ war so verschnörkelt, dass es wie ein ›W‹ aussah. Da hat der Kerl dann nur noch salutiert!«
Der Neuanfang im Westen fällt Werner Henze schwer. Beim Zirkus hatte er sich hochgearbeitet, vom Hilfsarbeiter und angelernten Helfer beim Zeltaufbau über den starken Untermann bei den Akrobaten bis zum Raubtierdompteur. Er ließ die Eisbären Männchen machen und küsste den Leoparden.
Und dann war da noch ein Sohn, Ergebnis einer heißen Nacht in einer Tanzbar mit der Tochter eines Zirkuskollegen, einer einzigen heißen Nacht.
Für die Geschichte muss ein frisches Bierchen her: »Det war im Winta drauf, wir standen direkt am Roten Rathaus, und ich schrubbte gerade den Eisbärenkäfig. Da stand der Vata da, mit’n Piepel uff’m Arm! Mein Sohn.« Sie machen einen Deal: Keinerlei Kontakt, dafür auch keine Alimente.
»Mit meine Kinda haick sowieso kein Glück gehabt. Livia hat sich mit achtzehn in Balin den joldenen Schuss jesetzt. Det war 1978. Sie war Stripperin, klar, dass da die Zeitungen drauf abjefahren sind.« Er kramt ein paar Blätter aus einem alten Stern hervor. »Jeder Tag kann der letzte sein«, lautet die Schlagzeile. Darüber die Leiche eines Mädchens, die Beine noch in einer Toilettenkabine.
Damals interessierte sich auch die Stasi wieder für Werner Henze, denn es war bereits das zweite Mal, dass die große Illustrierte über ihn berichtete. Das erste Mal gab’s im Oktober 1961 einen Artikel. Molle erinnert sich: »Da war ick in Balin. Det war damals der aufrejendste Ort der Welt, wejen der Maua. Erst hatte ick bisken Schiss, von wejen SSD. Von Kumpels hatte ick jehört, dass mia die Stasi auch im Westen nicht aus’m Ooge jelassen hat.«
Aber ein Freund hatte um Hilfe gebeten. Er wollte seine Freundin nach West-Berlin rüberholen. Werner Henze ist achtundzwanzig und will trotz seiner Angst vor einer Entführung helfen. »Erkannt hamse mich ja schon uff hundat Meta Entfernung in meine Lederol-Jacke noch ausse Ssone – ›Jehst du Lederol jekleidet, jeder Westler dich beneidet‹, hieß es damals. Außadem haick ja meine Elvis-Ente jetragen.« Trotzdem traut er sich damals in Reinickendorf bis auf zwei Meter an einen Grenzwächter heran. Molle schneidet den Stacheldraht auf, dann geht alles ganz schnell: Ein paar junge Leute stürmen heran, kriechen durch den Zaun und sind im Westen. Ein Mädchen hat sich am Draht geritzt, Molle nimmt sie in den Arm und tröstet sie. Ein Kamerateam hat die Szene gefilmt. Seither flimmert sie immer und immer wieder über den Bildschirm. Molle hat sie Dutzende Male gesehen, jetzt hat er genug. »Ich wollte mit der ganzen Stasi-Kacke nichts zu tun haben. War doch klar, dass die mia nach dem Ding in Reinickendorf wieda uff’n Schirm hatten. War ick och noch Fluchthelfa, wa.«
Ende der Siebzigerjahre zieht Werner Henze nach Andernach und eröffnet »Molles Bierstube«. Der alte Abenteurer ist er geblieben. »Hier hätte ick Spion sein müssen, was denkste, was die Jungs von Radio Andernach allet beim Bierchen azählen. Die machen ja och det Soldaten-Radio in Afjanistan. Dafür kriejen se sämtliche Informationen brühwarm jeliefert.«
Afghanistan. Das ist wieder so eine Geschichte. »1968 war det. Da sind wia dahin.« Ein Freund Werner Henzes hatte eine Freundin dort unten; sie studierte in Deutschland. Als ihre Brüder von der Liaison erfuhren, zwangen sie das Mädchen, in die Heimat zurückzukehren. Werner Henze und sein Freund fliegen hin, sie wollen die Braut befreien. Sicherheitshalber steckt sich jeder eine Pistole in den Hosenbund. Die Geschichte von damals spricht sich rum, »Molles Bierstube« ist schließlich kein Beichtstuhl, der Geheimnisse bewahrt.
Als die Bundeswehr Soldaten an den Hindukusch schickt, tauchen zwei Männer am Tresen auf. Molle: »Vafassungsschutz. Wollten wissen, wie et da unten so is. Nu haick bei denen wohl ooch noch ne Akte. Noch’n Nettes?«
Werner Henze geht vom vertraulichen »Bierchen« zum offiziellen Namen des hiesigen Gerstensaftes über. Der heißt hier tatsächlich »Nette Pils« nach dem Flüsschen, mit dessen Wasser es gebraut wird.
Die Bierchen mit Molle sind getrunken, die Audienz ist beendet. Werner Henze stirbt im Januar 2008.
Im Februar 1959 steht die nunmehr junge Frau auf der Brücke eines weißen Passagierschiffs, das in der Bucht von Havanna ankert. Vielleicht träumt sie von der Liebe, denn immerhin wurde das Schiff knapp dreißig Jahre zuvor einmal als »Gripsholm« getauft, benannt nach Kurt Tucholskys bittersüßem, melancholischen Sommermärchen.
Jetzt heißt das Kreuzfahrtschiff »Berlin«, und der Vater des jungen Mädchens, Heinrich Lorenz, ist der Kapitän. Er will noch in der Nacht dieses 23. Februar auslaufen und hat sich deshalb ein bisschen aufs Ohr gelegt. Seine Tochter Marita sorgt dafür, dass er Ruhe hat.
Plötzlich nähern sich zwei Boote mit bewaffneten, bärtigen Männern der »Berlin« und entern das Schiff. Marita empfängt sie an der Gangway. »Mein Name ist Dr. Castro, Fidel, bitte – ich bin Kuba, ich bitte Sie, Ihr großes Schiff besichtigen zu dürfen!« Vor gerade einmal fünf Wochen haben die Rebellen Diktator Fulgencio Batista verjagt. Die Karibik-Insel gehört ihnen. Auf den Straßen Havannas wird getanzt, ein Tango weht vom Malecon, der Uferpromenade, herüber.
Die 19-Jährige nimmt den Männern die Waffen ab und sagt zu deren Erstaunen, sie vertrete den Kapitän. Dann wird der Kreuzfahrer gründlich besichtigt. Die revolutionären »Barbudos«, die Bärtigen, hatten solch ein großes Schiff wie den 18 000-Tonner noch nie gesehen. Marita geht auf ein Bier mit Ihnen in die Alligator-Bar an Bord. Sie erinnert sich: »Fidels Männer nahmen zum Schrecken der US-Touristen an den Tischen Platz, stumm vor Staunen über den nie gesehenen Luxus.«
Kuba ist in jenen Jahren ein glitzernder Hinterhof der USA. Die Insel lebt von Schmiergeldern aus Spielcasinos und Prostitution, von Geldwäsche und ihren weißen Stränden. Marita Lorenz hat sie noch gesehen, die »Männer mit Panamahüten und Anzügen, in denen sie wie weiße Haie aussahen«. Von der Kehrseite der Medaille, den Slums, der Armut und dem Hunger, erzählt ihr nun der Revolutionär. Er hat eine Vision: »Ich werde dieses Land befreien.«
Das Mädchen ist beeindruckt. Und es erlebt zum ersten Mal, dass es von einem Mann begehrt wird. »Unter dem Tisch spürte ich plötzlich Fidels linke Hand auf meiner. Er lächelte, blieb aber ernst. Als er meine Hand drückte, fühlte ich Schmetterlinge im Bauch.« Nach dem Abendessen bei Kapitän Heinrich Lorenz fragt Castro, ob Marita bei ihm auf Kuba bleiben dürfe, als Sekretärin für seine englischsprachige Korrespondenz. Der Vater lehnt ab.
Vierzig Jahre später erfährt der Bremer Filmemacher Wilfried Huismann von der Geschichte. Er recherchiert jahrelang und stößt auf ein Drama wahrhaft klassischen Ausmaßes.
Marita Lorenz erblickt am 18. August 1939 in Bremen das Licht der Welt. Ihre Mutter ist eine amerikanische Tänzerin, die in Europa Karriere machen will. Auf der Überfahrt – auch sie ist damals neunzehn – verliebt sie sich in den Kapitän, und die beiden heiraten. In Deutschland hält Alice June Lorenz für die Amerikaner die Augen offen, nach Kriegsausbruch wird sie deshalb im KZ Bergen-Belsen als Spionin interniert. Dorthin kommt auch ihre fünfjährige Marita, ohne auch nur zu ahnen, dass ihre Mutter im selben Lager ist. Wärme und Geborgenheit erfährt sie in ihrer Kindheit nicht.
Beide überleben das Lager, doch das kleine Mädchen wird mit sieben Jahren von einem der Befreier, einem US-Soldaten, vergewaltigt. »Das hat mich stärker gemacht und böse zum Leben«, sagt sie später. Sie spricht Deutsch inzwischen nicht mehr ohne Mühe und mit Akzent und meint, sie habe das Leben nur als feindliche Bedrohung kennengelernt.
Doch zunächst folgen auf die Schrecken in Deutschland unbeschwerte Jahre auf dem Schiff ihres Vaters. Das junge Mädchen reist mit ihm rund um die Welt; die Mutter lebt in Heidelberg und arbeitet wieder für den US-Geheimdienst. Dass die CIA bald auch in Maritas Leben die wichtigste Rolle übernehmen würde, ahnt die junge Frau nicht, als sie im Februar 1959 aus Havanna auslaufen.
Ein paar Tage nach der Begegnung vor Havanna klingelt in Maritas Apartment in der 87. Straße in New York das Telefon. Fidel Castro. Er schicke sofort ein Flugzeug, um die »Alemana« nach Kuba zu holen, teilt er mit, keinen Widerspruch erwartend. Marita folgt. Sie will es auch.
Im »Havanna Hilton«, wenige Wochen zuvor noch von amerikanischen Mafia-Bossen bewohnt, hat jetzt der Revolutionsführer sein Hauptquartier. Marita bekommt die Suite 2406 im 24. Stock. Fidel verspricht: »Ich mache dich zur Königin Kubas.« Marita: »Unten in der Lobby und überall, wo mein Geliebter hinging, lungerten Dutzende von Frauen aus aller Welt herum, die nur ein Ziel vor Augen hatten: Fidel.«
Dennoch bleibt Marita Lorenz die Nummer eins für Castro. Neun Monate lang. Sie fährt mit ihm durchs Land und lernt ihn kennen, wie kaum jemand sonst. »Fidel war überfordert mit seiner Arbeit. Er war besessen davon, Kuba in ein Paradies zu verwandeln. Aber ihm fehlte es an Disziplin und Diplomatie. Er wurde völlig von seinen Gefühlen beherrscht und plante nur für einen Tag im Voraus.«
Im Osten wie im Westen rätseln Politiker, in welche Richtung sich die Revolution in der Karibik in den kommenden Monaten wenden wird. Die Geheimdienste treten in Aktion. Die CIA hat ihren Agenten Frank Sturgis an der Seite Castros platziert. Sturgis hat an den Kämpfen in der Sierra Maestra teilgenommen, und Fidel machte ihn zum Chef des Geheimdienstes seiner Luftwaffe. Moskau bekommt möglicherweise Informationen über Tamara Bunke, die DDR-Freundin von Castros engstem Vertrauten Che Guevara, dem ersten Industrie- und Finanzminister Kubas. Dass sie »Kundschafterin« gewesen sei, bestritt ihre bis zum Tod in der DDR lebende Mutter. Inzwischen hat jedoch der Politikwissenschaftler Helmut Müller-Enbergs herausgefunden, dass Tamara Bunke bei der Stasi unter der Nummer 430/60 seit 1960 als Agentin registriert war. Bis zu ihrem Tod am 31. August 1967 in Bolivien lebte sie mit Che. Gemeinsam wollten sie die Revolution nach Lateinamerika tragen, gemeinsam scheiterten sie.
Kuba hingegen bewegt sich in Richtung eines Sozialismus Moskauer Prägung. Marita Lorenz kümmert das nicht. »Ich liebte Fidel und fertig. Ich hatte keinen Respekt vor seiner Macht.« Sie wird schwanger. »Wir freuten uns auf unser Kind, schließlich wollten wir es beide.«
Doch die Genossen meinen, der Revolutionsführer dürfe seine Kraft nicht an eine Familie verschwenden. Am 15. Oktober 1959 nutzen Fidels Berater um Jesus Yanez Pelletier die Abwesenheit des Commandante und betäuben die junge Frau. Sie erinnert sich: »Erst Tage später war ich wieder bei vollem Bewusstsein … Mein Bauch war flach und leer. Das Baby war weg.« Lange danach erfährt sie, dass man keine Abtreibung vorgenommen, sondern die vorzeitige Geburt eingeleitet hatte. Ein Junge, Sechsmonatskind. Er hat überlebt und wuchs als angebliche Waise auf Kuba auf.
Marita fühlt sich verraten. Sie will zu ihrer Mutter und reist in die USA.
Dort herrscht inzwischen die Furcht, Fidel Castro und damit Kuba könnten außer Kontrolle geraten. Der Revolutionsheld soll verschwinden. Im Auftrag der CIA schmiedet Frank Sturgis einen Mordplan, bei dessen Durchführung er auf Marita setzt. Fast dreißig Jahre danach bekennt er in dem einzigen Interview, das es über seine Rolle in Kuba gibt: »Sie war schön, neunzehn Jahre alt. Fidel wäre über eine Schlange gekrochen, um sie zu kriegen. Aus geheimdienstlicher Sicht war sie eine ideale Agentin. Und ich war entschlossen, alles zu tun, um diesen Mann zu töten. Ich züchtete sie heran, bis sie bereit war, Castro zu vergiften.« Der Geheimdienstler weiß, dass kaum jemand außer ihr jemals nahe genug an Fidel Castro herankommen würde.
Mutter Alice June hilft der CIA, Marita anzuwerben. Die einfache Begründung, mit der man Marita zu gewinnen versucht: Wer Bergen-Belsen überlebt hat, schafft es auch, für die CIA zu arbeiten. Es folgen eine internationale Medienkampagne, in der »Beweise« vorgelegt werden, dass Fidel Castro die junge Frau vergewaltigt und unter Drogen gesetzt habe, und eine wochenlange Gehirnwäsche durch den Geheimdienst. Marita Lorenz ist dem Gemisch aus Drohungen und Versprechungen nicht gewachsen. Nach und nach lässt sie sich in das Mordkomplott hineinziehen. Die CIA verbündet sich mit der Mafia, die immer noch gute Kontakte nach Havanna hat, und im Frühjahr 1960 reist Castros enttäuschte Geliebte auf die Zuckerinsel. Sie hat zwei Gifttabletten im Gepäck.
Dank ihrer früheren Verbindungen kann sie ein persönliches Treffen mit Fidel arrangieren. Im Hotel Colina zieht sie ihre alte kubanische Rebellenuniform an, und dann sind alle Erinnerungen plötzlich wieder da. Marita spürt, dass sie den Revolutionsführer noch immer liebt. Noch bevor sie ihn trifft, wirft sie die Todespillen ins Bidet. Ihr Liebe ist stärker als der Hass, den man ihr eingeimpft hat.
Dann erscheint Fidel Castro. Er ist allein, und seine ersten Worte sind: »Was machst du hier? Bist du etwa gekommen, um mich zu töten?« Sie sagt: »Ja, mein Lieber, so ist es«, und bricht in Tränen aus. Castro liegt auf dem Bett, eine Zigarre im Mund, und gibt ihr seinen Revolver. Der 45er ist geladen. Fidel dreht sich um und sagt: »Du kannst mich nicht töten – niemand kann mich töten.« Dann schwört er ihr, mit der erzwungenen Frühgeburt nichts zu tun gehabt zu haben. Der verantwortliche Arzt sei auf seinen Befehl hin erschossen worden. Castro bietet Marita ein Leben auf Kuba an, doch sie hat Angst. »Ich wusste, dass die Agenten der CIA überall waren, auch hier in Kuba. Ich wäre meines Lebens nicht mehr sicher, sollte ich nicht zurückkehren.«
Zurück in Miami, toben ihre Auftraggeber. Sie wird eingesperrt und geschlagen, dann verschwindet sie in einer CIA-Einheit, die Anti-Castro-Aktionen durchführt. Zu den harmloseren gehören Flugblattabwürfe über Havanna. Marita schreibt auf die Zettel: »Fidel, te quiero. La Alamana« – Fidel, ich liebe dich. Die Deutsche.
Als einzige Frau lebt sie in der Schattenwelt der antikubanischen Söldner in Florida. Marita Lorenz weiß, dass sie keinen Ausweg hat: »Man kommt leicht in die CIA hinein, raus aber zumeist nur im Leichensack. Ich wusste zu viel, kannte die Undercover-Agenten in Florida. Ich war eine Gefahr und musste also bleiben. Mit der geheimen Attentatstruppe OP 40 übten wir in den Everglades Sabotageaktionen und Mordanschläge. Meine Spezialität war es, Jachten von reichen Amerikanern zu stehlen und damit Waffen nach Mittelamerika zu transportieren. Manchmal setzte ich eine Jacht absichtlich auf Grund, um Fidel zu helfen.«
Sie heiratet den venezolanischen Diktator Marcos Pérez Jiménez und hat mit ihm eine Tochter. Es folgt die Scheidung und eine zweite Hochzeit mit einem FBI-Agenten; ein Sohn wird geboren. Marita und ihr Mann arbeiten als Hausmeisterehepaar in einem Apartmenthaus in Washington D. C. und spionieren dort lebende Ostblock-Diplomaten aus. Es ist ein eher ruhiges Leben, bis Marita 1963 in den Sog des Kennedy-Mordes gerät. »Lee Harvey Oswald lernte ich bei den Exilkubanern in Florida kennen. Im November 1963 nahmen wir beide an einem Autokonvoi nach Dallas teil. Ich dachte, es ginge darum, Waffen abzuholen. Noch vor dem Anschlag auf den Präsidenten verließ ich Texas. Ob unsere Gruppe an dem Mord beteiligt war, weiß ich letztlich nicht.«
Über diesen Zusammenhang berichtet sie 1978 vor dem Senatsausschuss »Politische Morde«. Der ist nicht öffentlich, aber es sickert doch einiges durch. Nun wird sie zur Gejagten. Marita und ihre Kinder entgehen nur knapp mehreren Mordanschlägen.
Doch die Aussage hat auch einen Vorteil: »1978 bekam ich Immunität für alle Verbrechen, die ich im Namen der nationalen Sicherheit begangen habe. Aber weder CIA noch FBI zahlen mir eine Rente. Sie verzeihen mir wohl nie, dass ich Fidel am Leben gelassen habe.«
Nach dem Ausstieg aus der CIA wird Hollywood auf das Schicksal von Marita Lorenz aufmerksam. Oliver Stone plant eine Verfilmung ihres Lebens und zahlt ein paar zehntausend Dollar, doch das Vorhaben scheitert. Das Geld verbraucht sie für den täglichen Lebensunterhalt. Marita bricht sich die Hüfte und kann nicht mehr arbeiten. Nach einem halben Jahr Prüfung werden der Invalidin 411 Dollar Sozialhilfe bewilligt. Ihre Miete beträgt allein 750 Dollar, der Eigenanteil der Operationskosten liegt bei 3000 Dollar. Im Herbst 1998 ist Marita Lorenz finanziell am Ende, ihr droht Obdachlosigkeit. Diesmal hilft eine Sammlung der jüdischen Gemeinde in Queens. Ende 1999 kommen dann aus Deutschland 70 000 Dollar Haftentschädigung für die Zeit im KZ Bergen-Belsen. Prompt wird ihr die Sozialhilfe gestrichen.
Als der Filmemacher Wilfried Huismann Marita Lorenz im Zuge seiner Recherchen findet, lebt sie in bitterster Armut in einer New Yorker Hinterhofwohnung, ihre Souvenirs aus der glücklichen Zeit mit Fidel Castro hat sie in einer Seekiste verwahrt. Huismann kann die Frau überreden, noch einmal mit ihm nach Havanna zu fahren.
Im früheren Hilton, das längst »Habana Libre« heißt, wartet sie auf Fidel Castro. Doch der Staatschef lässt durch seinen Privatsekretär absagen, er sei zu beschäftigt. Marita Lorenz ist sich sicher, Fidel hört heimlich im Nebenzimmer zu. Sie hat alle Zeit der Welt und will geduldig warten. »Ich werde ihn noch einmal sehen, das weiß ich ganz genau. Immerhin habe ich mit ihm noch ein paar Dinge zu regeln … Es ist gut möglich, dass er mich sechs Monate warten lässt. Schließlich ist er der König, und alle müssen auf ihn warten. Schon aus Neugier wird er kommen. Es spielt auch keine Rolle mehr, wie ich aussehe. Die wilden Zeiten sind vorbei. Wir sind beide alt.«
Marita nutzt den Aufenthalt in Havanna, um alte Freunde zu treffen. Sie wird überall mit Respekt und Herzlichkeit empfangen. Und sie gibt das Warten nicht auf. »Fidel wird kommen. Wahrscheinlich im Morgengrauen mit seinem Jeep. Er wird durch die Hintertür eintreten, sich neben mich setzen, meine Hand nehmen und sagen: ›Alemanita mia, wie geht es dir?‹ Und ich werde vor Glück weinen. Fidel ist in meine Seele eingebrannt, genauso wie Bergen-Belsen.«
Der Buchtitel Die graue Hand aus dem Jahr 1960 verspricht nicht gerade seriöse Information, wenn auch der Autor Julius Mader auf 238 inzwischen vergilbten Seiten »Eine Abrechnung mit dem Bonner Geheimdienst« betreibt. Das ist sein Job als »Offizier im besonderen Einsatz« der Stasi.
Der Kalte Krieg wird im Osten wie im Westen mit provokativen Propagandasprüchen geführt. Da wird der jüdische Auschwitz-Überlebende und SED-Funktionär Hermann Axen in einer Broschüre des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen schon mal als »neuer Goebbels« bezeichnet und seine Politik mit dem Satz beschrieben: »Ein paar Leichen können nicht schaden …« Im Gegenzug ereifert sich Mader: »So ist fast jeder Schreibtisch des Bundesnachrichtendienstes mit einem Kriegsverbrecher besetzt, wollte man sie alle vorstellen, könnte man ganze Bände mit ihren Verbrechen füllen.«
Für Jahrzehnte scheint der Zeitgeist den Geist der Zeit und dessen Vernunft besiegt zu haben.
Doch selbst in diesen hasserfüllten und unsachlichen Publikationen finden sich Informationsbrocken. Bei Julius Mader klingt das so: »Neben diesen Spitzbuben und Dirnen gehören auch Gauner ›von Format‹ zur Gehlen-Armee. Trotz Gehlens Eingreifen und der Bemühungen des westdeutschen Rechtsanwalts Saathoff kam ein weiterer Beweis dafür an die Öffentlichkeit. Am 24. März 1960 stand Jochen Karger, geboren am 10. Februar 1910 in Jerichow bei Magdeburg, als Angeklagter vor dem erweiterten Göttinger Schöffengericht … Karger dürfte aus westdeutschen Bibliotheken bibliophile Kostbarkeiten im Werte von über 20 Millionen Mark gestohlen haben.«
Gut ein Jahr später, am 14. Mai 1961, bekommt die Ost-Berliner Akademie der Künste vom Beethoven-Haus in Bonn in aller Stille ein Konvolut von handschriftlichen Konversationsheften des Komponisten zurück, das zum Bestand der Staatsbibliothek Unter den Linden gehört. Wie sie nach dem Krieg an den Rhein gelangt sind, wird verschwiegen.
Eine Spurensuche.