GIANCARLO
DE CATALDO
MIMMO
RAFELE
ZEIT DER WUT
Die Schauplätze des Romans sind real.
Personen und Handlung sind frei erfunden. Die Autoren können völlig unbefangen behaupten, dass jede Ähnlichkeit mit Vorfällen und Personen, die es in Wirklichkeit gibt oder gegeben hat, rein zufällig ist.
GIANCARLO
DE CATALDO
MIMMO
RAFELE
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Die Originalausgabe dieses Buches ist erstmals 2009 unter dem Titel La forma della paura bei Giulio Einaudi editore, Turin, erschienen. © der Originalausgabe: Giulio Einaudi editore, Torino 2009
Lektorat: Christiane Keller
© der deutschprachigen Ausgabe
FOLIO Verlag Wien • Bozen 2012
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: © Patrick Zachmann, Magnum Photos
Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart
Printed in Austria
ISBN 978-3-85256-592-7
eISBN 978-3-99037-027-8
www.folioverlag.com
Prolog
Erster Teil
Marco
Zweiter Teil
Rossana
Dritter Teil
Lupo
Vierter Teil
Der Kommandant
Fünfter Teil
Guido
Sechster Teil
Alissa und Rossana
Siebter Teil
Alle auf die Bühne!
Achter Teil
Vorhang!
Neunter Teil
Das Theater der Angst
Epilog
An dem Tag, an dem das offizielle kroatische Heer Knin zurückeroberte und die Operation Sturm die Republik Serbische Krajina hinwegfegte, an diesem Tag erschoss der Kommandant vier seiner besten Männer. Während seine und Pilićs Bande die versprengten bewaffneten Serben verfolgten, die sich den Truppen Franjo Tudjmans nicht ergeben wollten, hatten sie sich in den Hügeln rund um die Stadt aus den Augen verloren. Der verzweifelte Widerstand der Serben flößte dem Kommandanten Bewunderung ein. Auch wenn er aufgrund der komplizierten Umstände gezwungen gewesen war, sich auf die Seite Zagrebs zu schlagen, galten seine Sympathien diesen Kämpfern, die gleichzeitig unbarmherzig und loyal waren und im Grunde nur ihr Leben verteidigten. Pech für sie, dass die weit gestreuten Interessen des Kommandanten in diesem Augenblick keine Kollaboration mit den Serben aus der Krajina zuließen: sonst hätte sich die Geschichte ganz anders entwickelt.
Aber nicht aus politischem Kalkül oder gar aufgrund einer humanitären Regung hatte sich der Kommandant vier fähiger Männer entledigt. Seit vier Jahren tobte auf dem Balkan ein erbarmungsloser Krieg. Und weil es im Krieg darum geht, dem Feind überlegen zu sein, sind Vergewaltigungen, Massendeportationen, Blutbäder und über das Ziel hinausschießende Grausamkeiten, der Soldaten aus allen Lagern frönen, legitime militärisches Mittel. Wenige Wochen davor hatten die Serben unter General Mladić Tausende Frauen und Männer massakriert, nur weil sie Muslime waren. Gewisse Exzesse sind im Krieg nicht nur unvermeidlich, sondern sogar nützlich. Man muss nur begreifen, wann es an der Zeit ist aufzuhören.
Der Kommandant hatte sich zu einer derart extremen Geste gezwungen gesehen, weil er die Notwendigkeit verspürte, eine Grenze zwischen Soldat und Mörder, zwischen Kämpfer und Söldner zu ziehen: Kein Kommandant trennt sich leichten Herzens von den Jungs, mit denen er den herben Geruch der Schlacht und Todesgefahr geteilt hat. Auch wenn ein Soldat keinem offiziellen Heer angehört, auch wenn er keine Uniform trägt, fügt er sich widerspruchslos den Befehlen. Der Mörder, der Söldner verkörpert den anarchischen Aspekt des Krieges. Eine gewisse Nützlichkeit kann man ihm nicht absprechen. Aber wenn er beginnt in eigener Sache zu arbeiten und das große Ganze zu vernachlässigen, muss er unweigerlich bestraft werden.
Der Kommandant hatte seine vier Männer – die Brüder Dorin, italienische Faschisten aus Mali Lošinj, Mate und Carlo, Ustascha aus Sisak – in einer Höhle auf dem Weg nach Graćac gefunden. Einer von Pilićs Jungs hatte sich ihnen angeschlossen, ein versprengter Söldner, der immer besoffen war. An der Brutalität, mit der sie über das Mädchen hergefallen waren – den zarten Zügen und der verschreckten Schönheit nach zu schließen eine Serbin –, war nichts, was man rechtfertigen konnte, nichts Militärisches. Man hatte die Schlacht gewonnen. Das Gejammer der Pazifisten und der humanitären Organisationen würde bald zu einem ohrenbetäubenden Chor anschwellen. Weitere Grausamkeiten waren unangebracht, sofern sie nicht von einer konkreten und unmittelbaren Notwendigkeit diktiert wurden. So war es noch immer sinnvoll, Männer von Frauen zu trennen, oder aus Rache für die erlittenen Verluste, die Feinde zu erschießen, die man mit der Waffe in der Hand überraschte. Ein kleines Mädchen zu vergewaltigen, war jedoch nicht nur eine überflüssige, sondern mit Blick auf die Zukunft auch eine kontraproduktive Geste.
Der Kommandant befahl ihnen, Haltung anzunehmen. Die Männer würdigten ihn keines Blickes.
– Hört auf oder ich bringe euch um!
Nach wie vor ignorierten die Männer den Befehl. Einer der beiden Italiener lachte und forderte ihn auf, mitzumachen. Der Kommandant legte das Maschinengewehr an und machte sie kalt, einen nach dem anderen. Dann ging er in die Höhle. Ekelerregender Geruch empfing ihn. Nach Blut, Staub, Sperma und Verwesung. Ein paar Schritte von dem Mädchen entfernt, lag die Leiche eines Zivilisten. Den Arm noch nach ihr ausgestreckt, als wolle er sie beschützen. Der Vater vielleicht oder ein Verwandter. Oder vielleicht nur irgendein unglücklicher Serbe. Mit einem Tritt stieß der Kommandant die Leiche des Ustaschas von dem Mädchen. Der Tod hatte einen verblüfften Ausdruck auf seinem Gesicht hinterlassen. Der Ustascha hatte nicht geglaubt, dass der Kommandant seine Drohung wahr machen würde. Er war ein Söldner, kein Soldat. Ein Soldat hätte verstanden. Ein Soldat hätte gehorcht.
Das Mädchen war blutüberströmt, und als der Kommandant sich über sie beugte, zuckte sie zusammen und drehte sich weg. Ihre Augen waren weit aufgerissen. An Körper und Seele verletzt, aber das junge Herz schlug noch immer. Der Kommandant flüsterte ihr tröstende Worte zu, das Mädchen schien sich langsam zu beruhigen. Sie war kaum älter als fünfzehn. Sie würde überleben. Sie würde nie vergessen. Der Kommandant wischte ihr den Dreck ab, flößte ihr ein paar Schlucke Schnaps aus seiner Feldflasche ein, hüllte sie in seine Jacke, schulterte sie und trug sie aus der Höhle.
Es war ein heißer Sommerabend, die Sonne ging gerade unter. Sie versengte die Hügel der Krajina. Der Kommandant blieb ein paar Meter vor dem Eingang der Höhle stehen, legte den Körper ins weiche Gras und warf rasch hintereinander vier Granaten ins Innere. Bei der letzten Explosion stürzte das Gewölbe ein, und ein Felssturz begrub die aufgedunsene Leiche und die fünf Söldner unter sich, die sich für Soldaten gehalten hatten. Dann legte er sich das Mädchen wieder über die Schulter und ging zum Lager. Als er in der Dämmerung dort ankam, war die Schlacht vorüber. Präsident Tudjman hatte vor laufenden Fernsehkameras der ganzen Welt erklärt: „Endlich ist der serbische Tumor aus dem kroatischen Fleisch herausgeschnitten worden.“
Pilić reichte ihm eine Flasche Sliwowitz, warf einen Blick auf das Mädchen und machte eine vage Geste.
– Kriegsbeute, sagte der Kommandant.
Pilić stellte keine weiteren Fragen. Er hätte auch keine Antwort gegeben.
Zwei Tag später brachte der Kommandant Alissa – so hieß das Mädchen – zum Flughafen von Zagreb. Beide hatten Diplomatenpässe mit falschen Namen. Pilić blieb in Kroatien. Als sie sich verabschiedeten, hatte er ihm einen heimlichen Wunsch anvertraut.
– Ich glaube, sie werden mich zum Minister oder etwas Ähnlichem machen.
– Alles Gute. Aber wenn es schiefgehen sollte, denk daran, dass du in Italien einen Freund hast, auf den du dich verlassen kannst.
– Es wird nichts schiefgehen. Nicht bei mir.
Pilić war ein Träumer. Die Zukunft hielt höchstens ein internationales Gericht oder eine Kugel in den Nacken für ihn bereit. Aber er war und blieb ein Mann mit tausend Möglichkeiten. Vielleicht konnte er ihm eines Tages nützlich sein.
In der Menschenschlange vor dem Gate warteten sie auf den Flug nach Venedig. Alissa schmiegte sich schweigend an den Kommandanten, zuckte bei jeder Bewegung zusammen, sah ihn mit ihren großen, grünen Augen an.
– Ich werde dich nie verlassen, sagte er immer wieder zu ihr, bei mir bist du in Sicherheit, immer.
Das Mädchen zeigte auf jemanden hinter ihr.
Der Kommandant drehte sich um und sah einen drahtigen Mann in den Vierzigern mit schmalem Bärtchen und schütterem Haar. Er sah ihn durch die Glaswand an, die die Ankunfts- von der Abflughalle trennte. Der Kommandant grüßte ihn mit einer ironischen Geste. Sein alter Freund Lupo wandte den Blick ab und ging zum Ausgang.
Während sie an Bord gingen, dachte der Kommandant, dass er wie immer um ein Haar der Katastrophe entgangen war. Lupo in Zagreb bedeutete, dass ein Haufen braver Jungs, die auf der richtigen Seite Blut vergossen hatten, Schwierigkeiten bekommen würden. Wenn Lupo kam, bedeutete das immer Schwierigkeiten.
Aber mittlerweile hatte er nichts mehr mit dem Ganzen zu tun.
Er beugte sich über Alissa, um sie aufzumuntern.
Sie lächelte ihn an. Zum ersten Mal. Der Kommandant verlor sich in diesem strahlenden Lächeln und empfand ein völlig neuartiges und unverständliches Gefühl, halb Sehnsucht nach einem Neuanfang, halb zartes Bedauern. Sie schloss die Augen. Das Flugzeug hob ab.
Es begann ganz zufällig, mit einer Bemerkung, die Monica Marino wie nebenbei fallen ließ, während sie sich, eben aus der Dusche kommend, die x-te Zigarette anzündete.
– Bald tut sich was.
Marco Ferri, der sich noch in den rosa Laken räkelte, warf ihr einen zerstreuten Blick zu und beschwerte sich über den Zigarettenrauch. Monica kuschelte sich an ihn.
– Nun komm schon, Marco. Sag mir nicht, dass du nichts davon weißt.
– Offensichtlich ist es nichts Ernstes.
– Was redest du? Morgen fassen wir Pilić.
Marco spitzte die Ohren. Seit drei Jahren liefen sie Pilić und seiner Kroatenbande hinterher. In seiner Heimat galt dieser Pilić als Kriegsheld. In einem Film war er bei einem Angriff auf einen Tschetnik-Posten zu sehen. Man sah einen blonden Kerl mit grauen Augen, der seine Kalaschnikow schwenkte, den Kameramann anlächelte und Tuče Thompson, Kalšnjikov a i Zbrojevka, baci bombu, goni bandu preko izvora sang, „Entsichere die Thompson und die Kalaschnikow, zünde die Bombe, jag die Banditen“ … Seit er mit drei Ex-Söldnern in Rom aufgetaucht war, gingen bereits acht Raubüberfälle, vier Tote und ungefähr zwanzig Verletzte auf sein Konto. Für den Leiter der Kriminalpolizei Alessio Dantini, Marcos und Monicas Chef, waren die vier mit Kokain zugedröhnten Psychopathen zu einer Obsession geworden. Brutal. Entschlossen. Blutrünstig. Und vor allem nicht zu fassen.
Moncia küsste ihn und begann sich anzuziehen. Mit der Zigarette zwischen den Lippen, der Rauch kräuselte sich in der Luft.
– Mastino hat einen Tipp bekommen, fügte sie hinzu.
Aldo Mastino. Der Chef des Überfallkommandos. Marco kannte ihn kaum. Er hatte den Ruf eines Bullen mit Eiern. Aber Dantini mochte ihn nicht. Marco öffnete das Fenster, um den Zigarettengestank zu vertreiben, und rief seinen Chef auf dem Handy an. Dantini hörte ihm schweigend zu, dann seufzte er leise.
– Ich lass dich in Mastinos Einheit versetzen.
– Der wird keine Freudensprünge machen.
– Ist mir egal. Wenn ich nicht zu diesem verdammten Kongress müsste, würde ich mich persönlich darum kümmern.
– Ich werde mein Bestes tun.
– Klar. Denk daran, dass ich sie lebendig haben will, Marco.
Er legte das Handy auf das Nachtkästchen und schlüpfte in ein T-Shirt. Monica Marino blickte ihn mit verschränkten Armen und besorgtem Blick an.
– Du gehst hin, nicht wahr?
– Ich pass schon auf.
Sie trafen sich im Morgengrauen in der Garage des Hauptquartiers. Aldo Mastino aus Caserta, Hauptkommissar, klein und gedrungen, spitzes Gesicht, Zigarettenstummel im Mundwinkel. Sandro Perro, Hauptkommissar, fett und schlaff, schiefe Boxernase, legendärer Mundgeruch. Die Polizisten Corvo, Rainer und Sottile. Muskelprotze, kampfbereit. Begeisterte Schützen. Die Falken des Überfallkommandos. Mastino begrüßte Marco ironisch – „da ist ja der Mann des Großen Chefs!“ – und zeigte auf das Auto mit den Panzerglasscheiben, das mit dem Logo einer Geldtransportfirma getarnt war.
– Der Coup soll um sieben Uhr stattfinden, wir brauchen zwei Stunden, um uns zu postieren. Wir werden drinnen auf sie warten. Pilić und die Seinen glauben, es handle sich um einfache Beute, um einen Routineüberfall … Sie haben keine Ahnung von dem, was sie erwartet, wir zählen also auf den Überraschungseffekt. Los, nimm die.
Marco blickte die Beretta an, die Mastino ihm reichte, und schüttelte den Kopf.
– Mir ist mein Glücksbringer lieber, antwortete er und zeigte ihm seine Heckler & Koch, die ihm Avram geschenkt hatte, ein Israeli, den er beim Nato-Kurs kennengelernt hatte. Der erste Jude, mit dem er Brot, Salz und eine willige Kollegin geteilt hatte. Mastino nahm ihm die Maschinenpistole ab und wog sie in der Hand, dann gab er sie ihm zurück und nickte überzeugt.
– Du weißt, dass das keine Dienstpistole ist, nicht wahr?
– Dantini hat mir erlaubt, sie zu tragen.
– Ach, ja Dantini … hat er dir einen Sonderbefehl erteilt, Junge?
– Kein Blutvergießen.
– Unseres oder ihres?, mischte sich Pietro ein und gab ein unangenehmes polterndes Lachen von sich.
Marco antwortete nicht.
– Und was ist das?
Er stellte fest, dass Mastino wie hypnotisiert die runde Narbe an seinem Haaransatz betrachtete.
– Mein drittes Auge, antwortete Mario todernst.
– Wie ist das passiert?
– Eine lange Geschichte.
– Wolltest du damit vielleicht einen Nagel in die Wand schlagen, wie es die Carabinieri machen?
Marco blickte Perro an, der eine sarkastische Miene aufgesetzt hatte. Gut, er war ehemaliger Boxer. Und sein Vorgesetzter. Aber seiner, Marcos, Schnelligkeit hätte er nichts entgegenzusetzen gehabt. Er hätte ihn mit zwei Schlägen zu Boden strecken können, vielleicht sogar mit einem. Er atmete langsamer, um die WUT zu kontrollieren. Du hast einen Auftrag, sagte er zu sich, Dantini vertraut dir. Enttäusch ihn nicht.
Mastino legte ihm die Hand auf die Schulter.
– Es reicht, befahl er, an die anderen gewandt. – Ferri ist einer von uns. Begrüßen wir ihn, wie es sich gehört.
Die Jungs schauten sich verwundert an. Mastino runzelte die Stirn. Alle, sogar Perro, hoben ihre Waffe und stießen einmütig einen wilden Schrei aus.
Marco schloss die Augen, während ein Schauer durch seinen Körper lief. Es war wie zur Zeit der Zulus, wie in Birmingham und Newcastle. Derselbe Gestank von verschwitzten Körpern und Rasierwasser, Schreichöre und Testosteron, derselbe Schub von Adrenalin, der in den Venen zirkulierte. Gewalt, Gewalt, die die WUT besänftigte. Aber es war keine sinnlose Gewalt. Es war das harte und unbarmherzige Gesicht der Gerechtigkeit. Er spürte, dass er Mastino mochte. Er spürte, dass er diese Leute mochte. Er fühlte sich wie zu Hause. Sein mächtiger und erregter Schrei gesellte sich zu jenen der Einheit.
Pilić schloss die Augen und atmete tief durch.
– Ich hatte einen Traum …
Valentin nahm ihm den Spiegel aus der Hand und wischte mit den Fingerkuppen etwas weißes Pulver auf.
– Du solltest mit dem Zeug nicht übertreiben, Chef.
– Willst du nicht wissen, was ich geträumt habe?
– Träume bringen Unglück.
– Du wirst alt, Valentin.
– Vielleicht. Wir sind bereit, Chef.
Seufzend schlug Pilić die grauen Augen auf und lächelte den Männern zu. Die Zwillinge Rade und Ante saßen bereits im 5er-BMW. Valentin war drauf und dran, sich ans Steuer des Audi A6 zu setzen. Entschlossen streifte er sich die Sturmhaube über, unmittelbar gefolgt von den anderen. Pilić war müde. Er schwor, dass dies der letzte Coup sein würde. Der Italiener würde verstehen. Irgendwann kam im Leben der Augenblick, „es reicht“ zu sagen. Letzte Nacht hatte er vom Bauernhof seines Vaters geträumt, von den Ziegen, die bei Sonnenuntergang meckernd zurückkamen, von dem Jungen, der Priester werden wollte, die Illusion gehegt hatte, Minister zu werden, und als Bandit geendet hatte. Vielleicht hatte Valentin recht. Vielleicht bringen Träume tatsächlich Unglück. Aber Pilić war müde und er hatte Sehnsucht nach den Küsten und den Bergen seiner Heimat. Als er sich neben Valentin setzte, stimmte er leise ein trauriges Lied an. Die Zwillinge waren schon unterwegs.
Mastino hatte den Jungen ans Steuer des Lieferwagens gesetzt. Die beste Position, um ihn im Auge zu behalten. Sicher und mit gleichmäßiger Geschwindigkeit fuhren sie über die Cristoforo Colombo.
– Wir fahren zur Hölle, ins Infernetto-Viertel …, hatte Perro kurz davor gescherzt.
Mastino hatte dem Jungen erklärt, dass sich die Kroaten in Ostia versammelten.
– Warum nehmen wir sie nicht dort hops?
– Ostia ist groß. Meine Quelle hat keine genaue Adresse genannt …
– Und nicht einmal die Handynummer!, hatte Corvo oder vielleicht auch Sottile hinzugefügt.
Der Junge hatte versucht herauszufinden, wer die Quelle war. Ein scharfer Blick hatte gereicht, um ihn zum Schweigen zu bringen. Der Junge hatte sich sogar entschuldigt. Er war ein Mann Dantinis, klar, sein Augapfel. Aber er war auch ein Bulle. Bulle durch und durch. Das sah man an seinen Bewegungen, man spürte es an seinem Geruch. Der junge Ferri hatte große Lust, die Fäuste zu schwingen. Für gewöhnlich wollte Dantini mit solchen Wildfängen nichts zu tun haben. Er zog bedächtige Typen vor, Polizisten mit Samthandschuhen. Die hatte er besser in der Hand. Mastino beobachtete ihn weiterhin verstohlen. Dieses Loch mitten auf der Stirn … Der Junge machte ihn neugierig. Vielleicht konnte man was aus ihm machen.
– Dantini is’ ’n guter Bulle, sagte er, um das Terrain zu sondieren, bloß denkt er manchmal wie ein Soziologe … Ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausdrücke, er macht sich zu viele Probleme, ja …
– Ich verdanke ihm alles, flüsterte Marco entschlossen.
Na gut. Loyal. Treu. Mutig. Aber bis zu welchem Punkt?
– Ach, aber er verehrt dich! Er sagt, du bist einer, der nicht lockerlässt, und aus seinem Mund ist das gewiss ein Kompliment …
Marco wandte einen Augenblick lang den Blick von der Straße ab und warf ihm einen finsteren Blick zu. Mastino versteckte sich hinter einer Zigarette. Dem Jungen war der spöttische Tonfall nicht entgangen. Er bestand also nicht nur aus Muskeln. Er hatte auch Hirn. Gespür. Hervorragende Eigenschaften für einen Bullen. Und Gewaltbereitschaft natürlich. Das hatte er in seinen Augen gelesen, zuvor in der Garage. Als Perro ihn provoziert hatte. Vielleicht sollte er ihn einfach machen lassen. Sehen, wie weit er gehen würde. Die Sache wurde langsam interessant. Es ging darum, die richtige Saite zu erkennen und sie im richtigen Augenblick anzuschlagen.
– Im Übrigen wirst du von einem Haufen Kollegen geschätzt. Sie sagen, du bist wie ich … ein Mastino … ein Bluthund …
– Ich hatte tatsächlich mal einen Hund. Er hieß Killer. Ich hielt ihn an einer Kette im Zwinger. Nur ich durfte mich ihm nähern.
– Und dann?
– Dann hat ihn jemand vergiftet.
– Hast du herausgefunden wer?
– Ja.
– Und hast du dich gerächt?
Marco gab keine Antwort. Er beschränkte sich auf eine vage Geste und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Aber Mastino hatte seine Entscheidung bereits getroffen. Er mochte diesen Jungen. Er mochte seine ungezügelte Kraft. Willkommen an Bord, Marco Ferri. Es ist kein Zufall, dass ich und du in diesem Lieferwagen sitzen und nicht dein großer Chef. Er wollte ihn gerade fragen, woher er stammte, weil er in seiner Stimme den schleppenden Tonfall des Nordens erkannt hatte, doch da tauchten auf der Gegenfahrbahn plötzlich die Kroaten auf.
Als Alessio Dantini am Ort des Blutvergießens ankam, war die Truppe bereits vollständig versammelt: Rettungsautos, Gerichtsmedizin, Spurensicherung, der diensthabende Staatsanwalt und die Presse. Der Chef der Kriminalpolizei warf einen verzweifelten Blick auf die beiden Limousinen der Kroaten, auf die dunkle Silhouette des Lieferwagens mit den Panzerglasscheiben, auf den glänzenden Lauf der Bazooka, die gerade von zwei Sprengmeistern untersucht wurde, auf die Männer im weißen Kittel, die Patronenhülsen einsammelten und Fotos schossen. Ein Kordon uniformierter Polizisten schirmte den Tatort von dem Grüppchen Journalisten und Kameramännern ab, die verzweifelt versuchten, einen Blick auf die vier von schwarzen Tüchern verhüllten Leichen zu erhaschen.
Zwei Schritte von den Leichen entfernt nahm Mastino die Glückwünsche einiger Lackaffen in Zivil entgegen („Eine wunderbare Operation! Kompliment, Herr Doktor, keiner hat einen Kratzer abbekommen …“). Perro hob die Hand zum Handschlag mit den drei anderen Falken. Marco stand etwas abseits. Er hielt noch die Maschinenpistole in der Hand. Dantini ging zwei weiteren Totenvögeln aus dem Weg, die das Massaker in fettem römischen Akzent kommentierten („Das habn se sich verdient, die Zigeuner!“), ging zu dem Jungen und berührte ihn leicht an der Schulter. Bei der flüchtigen Berührung zuckte Marco zusammen. Dantini blickte ihn mit seinen kleinen dunklen Augen an. Hinter ihm im Stamm einer Pinie waren zwei Einschusslöcher zu sehen.
– Ich hatte doch gesagt, kein Blutvergießen, sagte er in ruhigem Tonfall. Dantini verlor nie die Ruhe. Dantini schickte dich mit einem Lächeln in den Himmel und tötete dich mit einem Einsilber.
– Es war die Hölle …
– Etwas genauer bitte.
Marco nahm den Kopf in die Hände. Er versuchte dem Bilderchaos in seinem Kopf eine Ordnung zu geben. Aber die Bilder waren ungenau, verschwommen. Und es gab da etwas, was er nicht erzählen wollte, schon gar nicht Dantini.
– Ich warte, Ferri.
Also. Sie hatten plötzlich gebremst und die Fahrtrichtung gewechselt. Sie hatten den Audi gerammt, ihn von der Straße gedrängt, dann waren sie ins Buschwerk gerast, gefolgt von dem BMW. Sie hatten die Lichtung erreicht und darauf gewartet, dass die beiden, die zurückgeblieben waren, nachdem sie den Audi gerammt hatten, nachkamen. Die Autotür war aufgegangen. Perro hatte das Feuer eröffnet. Pilić hatte irgendetwas geschrieen. Alle hatten geschrieen. Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert.
– Und du?
– Ich habe geschossen. Wie alle anderen auch. Ich sagte ja, Herr Doktor, es war die Hölle. Entweder wir oder sie, Herr Doktor …
– Red weiter.
Noch mehr Bilder im Kopf. Pilić, der Mastino hasserfüllt anblickte und einen Fluch in seiner Sprache hervorstieß. Pilić, der von den Schüssen, die der Kommissar abfeuerte, zerfetzt wurde. Perro ging zu einem hin, der röchelnd am Boden lag – er hatte einen Bauchschuss abbekommen, vielleicht hatte er selbst, Marco, ihn getroffen – und nach der Bazooka griff, die Pilić hatte fallen lassen, und erledigte ihn mit einem Kopfschuss. Dann …
– Ich habe mich auf dich verlassen, Ferri!
Marco senkte den Kopf. Dantinis Enttäuschung machte ihn wehrlos. Und er hatte nicht den Mut, ihm zu sagen, dass ihn die Sache ziemlich erregt, aufgewühlt, innerlich leer gemacht hatte … dass es wie ein Rausch gewesen war. Es war aufregend gewesen, mittendrin zu sein. Es war aufregend gewesen, die Arschlöcher zu erschießen. Das Blutvergießen war aufregend gewesen. Und seine WUT hatte insgeheim applaudiert, hatte endlich ein Ventil gefunden. Dantini hätte es nicht verstanden. Mastino schon. Nach der Aktion hatten sie sich die Hand geschüttelt. Und die anderen hatten wieder die Waffen gehoben, von einer unbändigen Freude erfasst. Dantini hätte es nicht verstanden.
– Der Junge ist in Ordnung, Dantini. Sei ihm nicht böse, er hat ausnahmsweise das Richtige getan!
Und jetzt kam ihm auch noch Mastino lächelnd zu Hilfe. Kopfschüttelnd wandte Dantini sich ab. Einen Augenblick lang, einen kurzen Augenblick lang leuchtete echter Hass in seinem Blick auf. Dann erlangte er die übliche Fassung zurück, er nickte und sein dünner Mund verzog sich zu einem wissenden Lächeln.
– Du hast recht, Mastino. Der Junge hat Talent.
Mastino schnaufte überrascht.
– Ehrlich gesagt, hab ich nicht gedacht, dass du es so gut aufnehmen würdest.
– Hätte ich nicht sollen?
– Es ist uns nicht gelungen, das Schlimmste zu verhindern, ich weiß, dass der Befehl anders lautete, aber …
– … aber angesichts der Umstände hattet ihr keine andere Wahl. Ich verstehe schon. Es wäre besser, viel besser gewesen, sie lebendig zu schnappen. Wir hätten aus ihnen rauskriegen können, wie sie uns so lange entwischen konnten. Ob sie von jemandem gedeckt wurden … Aber wie ihr schon gesagt habt, war es die Hölle, entweder wir oder sie. Alles klar. Gehen wir, Ferri, ich bringe dich nach Rom zurück …
Das war jetzt ein wenig zu viel Fair Play, dachte Mastino, während Dantinis Alfa davonfuhr. Er an seiner Stelle hätte Zeter und Mordio geschrieen. Gut, Dantinis Phlegma war legendär, aber zweifellos hatte der Bastard den Braten gerochen. Im Augenblick war die Situation zwar unter Kontrolle, aber man konnte ja nie wissen. Vielleicht sollte er Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, sich mit dem Kommandanten beratschlagen. Der hatte das letzte Wort. Inzwischen kam Perro auf ihn zu, dicht gefolgt von einem Journalisten mit einem kleinen Aufnahmegerät in der Hand, dem es gelungen war, die Sperre zu durchbrechen.
– Was sollen wir dem erzählen, Chef?
Mastino betrachtete den Journalisten. Er war ein alter Fuchs. Er schrieb für eine Tageszeitung, die immer die Partei des Stärkeren ergriff. Der Kommandant hatte ihnen stundenlange Vorträge gehalten, wie wichtig Propaganda war. Mit einem freundlichen Lächeln hängte er sich bei dem Schreiberling ein und führte ihn zu den Leichen.
– Schauen Sie sie an. Das waren herzlose Mörder, unbarmherzige Verbrecher. Sie haben unsere Sicherheit gefährdet. Jetzt haben sie für all das bezahlt, was sie angerichtet haben. Das macht natürlich die armen Opfer nicht mehr lebendig, aber … Schreiben Sie, die Stadt ist gerettet und die Bürger können wieder ruhig schlafen. Dank der Staatspolizei!
Sie waren bereits auf der Höhe des EUR, als Marco die gespenstische Stille durchbrach.
– Ich habe versucht ihm zu erklären, wie der Befehl lautete …
– Sprechen wir nicht mehr darüber. Es war ein Fehler, dass ich zu diesem verdammten Kongress gefahren bin. Immerhin handelte es sich nur darum, den Justizminister zum Teufel zu jagen, ein Dutzend Staatsanwälte und genauso viele angesehene Journalisten … Nimm dir ein wenig Urlaub, Ferri, ich sehe, du bist gestresst …
– Sie vertrauen mir nicht, Herr Doktor.
– Was zum Teufel willst du damit sagen?
– Erzählen Sie mir alles. Ich habe Sie beobachtet, als Mastino zu uns gekommen ist. Ihr Gesichtsausdruck …
– Was für ein Gesichtsausdruck?
– Keine Ahnung … als ob Sie ihn an der Gurgel packen wollten … im letzten Augenblick haben Sie sich zurückgehalten. Aber ich kenne Sie, Herr Doktor. Sie machen nie einen Rückzieher.
Dantini seufzte. Der Junge war sauber. Er zweifelte nicht an seiner Loyalität. Aber er war gewalttätig. Hin und wieder hatte er sich nicht unter Kontrolle. Die Aktion hatte ihn erregt. In seinen Augen hatte Mastino das Richtige getan. Er konnte ihm nicht mehr vertrauen. Nicht ohne Beweise. Es lieber bleiben lassen. Er würde mit Lupo sprechen. Gemeinsam würden sie entscheiden, was zu tun war.
– Kein Problem, Ferri, glaub mir. Es ist alles in Ordnung … soll ich dich irgendwo absetzen?
Marco blickte sich um. Sie waren nur einen Katzensprung von Monica Marinos Wohnung entfernt.
– Lassen Sie mich hier aussteigen, Herr Doktor.
– Na gut. Und … nimm dir Urlaub, Junge, du hast es verdient!
Monica öffnete ihm im Unterrock, mit der üblichen Zigarette. Marco umarmte sie so heftig, dass sie einen Schrei ausstieß.
– Entschuldige, flüsterte er und ließ sie los.
Sie blickte ihn überrascht an, als ob sie ihn zum ersten Mal sähe. Dann versuchte sie eine Rechtfertigung.
– Ich verstehe dich. Es ist nicht der richtige Abend.
Nein, es hatte nichts mit dem Abend zu tun. Und nicht einmal mit Monica, der Ärmsten. Alles war falsch, alles. Nur eine einzige Frau wäre imstande gewesen, die WUT zu besänftigen. Aber auch sie hatte irgendwann einmal aufgeben müssen.
Später holte Marco den Portier Pierino aus dem Schlaf, ließ sich das Fitnessstudio im Tufello aufschließen und malträtierte methodisch den Boxsack.
Im selben Augenblick führte Dantini im Hof von San Vitale, dem Sitz des Ersten Polizeidistrikts, ein Telefongespräch.
– Hallo Lupo. Ja, es war Pilićs Bande. Alle tot. Wir sehen uns, sobald du nach Rom kommst. Nein, ich möchte dich unter vier Augen sprechen. Gegebenenfalls sende ich dir ein E-Mail an jene Adresse …
Er schaltete das Handy aus und betrachtete das Blaulicht auf dem Dach des Dienstwagens, mit dem er gleich nach Hause fahren würde. Ja, er würde Lupo noch an diesem Abend schreiben. Er wusste, dass irgendetwas Hässliches passieren würde. Oder bereits passiert war. Und er hatte ein komisches Gefühl, das der Angst sehr ähnlich war.
Salah war Ägypter. Klein, korpulent, und seine Beine waren so krumm, dass sie ihn kaum trugen und er sich mit den muskulösen Armen festhalten musste, um vom Gerüst zu steigen. Der Affe, wie sie ihn auf der Baustelle nannten. Der Partieführer hatte ihm diesen Namen angehängt, und die anderen Arbeiter hatten ihn sofort übernommen. Der Partieführer hasste Salah. Der Partieführer hasste alle, die mit ihm arbeiteten. In seinen Augen waren sie nur Abschaum. Einwanderer, die nur klauten und ihre Frauen vergewaltigten. Für Salah war das nichts Neues. Er war in Frankfurt gewesen, in Marseille, er war in ganz Europa gewesen. Und überall war er demselben Hass begegnet, derselben Gleichgültigkeit. Salah zog den Kopf ein und lachte über die freundlicheren Beleidigungen. Salah tat so, als würde er die brutaleren Beleidigungen nicht verstehen. Die Bösartigkeit glitt an ihm ab. Er brauchte ja nur noch ein Jahr durchzuhalten. Dann würde sich alles ändern. Es kam nur darauf an, dass die Brüder keinen Verdacht schöpften.
– Salam aleikum, Bruder!
– Aleikum Salami, Bruder!
Hamid wartete am Eingang der Baustelle. Hamid war zwanzig Jahre alt und hatte sich an die Grausamkeit der Menschen noch nicht gewöhnt. In Damietta war er Fischer gewesen, ein tüchtiger Fischer, Sohn eines Fischers, Enkel von Fischern, ein treuer Jünger seines Herrn und Propheten. Ein Sturm hatte ihn zur Waise gemacht, aufgrund eines weiteren Sturms war er in Mubaraks Gefängnis gelandet. Hamid war ein Kämpfer. Hamid glaubte tatsächlich, das Schwert der Gerechtigkeit würde eines Tages die unreine Ordnung des Universums hinwegfegen und die Regierung der Gerechten wieder einsetzen. Er bereitete sich auf diesen Tag vor, indem er wie besessen den Koran studierte. Salah hatte den Jungen ins Herz geschlossen. Es hätte ihm leidgetan, ihn opfern zu müssen.
Gemeinsam gingen sie in die Baracke, die als Garderobe diente, zogen sich um, verließen die Baustelle, ohne dass es jemand der Mühe wert fand, sich von ihnen zu verabschieden. Salah hörte, wie Hamid flüsterte: „Eines Tages …“ und schüttelte den Kopf. Ich wünsche dir, dass dieser Tag nie kommt, Bruder, ich wünsche es dir aus ganzem Herzen.
Die Moschee befand sich in der Via della Bufalotta, fast auf der Höhe des Grande raccordo anulare, der ringförmigen Autobahn, die die Hauptstadt der Christen umschließt. Die Moschee war in einer alten Garage mit abgeblätterten Wänden untergebracht. Wer an die eigene Seele glaubt, dachte Salah in einem Anflug von Bedauern und Neid, wer mit Aufrichtigkeit und Hingabe an die eigene Seele glaubt, gibt sich mit wenig zufrieden. Vor langer Zeit hatte auch er geglaubt. Vor sehr langer Zeit.
Am Eingang zogen sie die Schuhe aus, gingen hinein, suchten sich einen Platz zwischen den Brüdern, die auf dem mit Gebetsteppichen bedeckten Boden knieten. Im Augenblick des Gebets richteten alle den Blick auf den Imam.
– Bruder Mamoud ist verhaftet worden!, verkündete er feierlich.
Ein Beben ging durch das kleine Grüppchen der Gläubigen. Salah blickte sich um. Hamids Augen füllten sich mit Tränen. Wenn er nicht predigte, arbeitete der Imam bei einem Reifenhändler auf der Aurelia. Er war ein großer dicker Mann mit einem imposanten Hisbollah-Bart, einem rötlichen, durchaus nicht asketischen Gesicht. Je länger er predigte, desto lauter wurde seine Stimme, und die Empörung übertrug sich auf die Gemeinde, entzündete die Seelen, pflanzte ihnen schreckliche Absichten ein.
– Es sind traurige Tage für die Gemeinde. Die Brüder werden bespitzelt und verfolgt. Bruder Mamoud ist verhaftet worden, er wird verdächtigt, ein Terrorist zu sein. Sicher wird er den amerikanischen Henkern ausgeliefert, sicher wird er gefoltert, vielleicht sogar getötet werden. Die Knechte Israels wollen uns vernichten, aber der Heilige Krieg wird sie vernichten.
Bewegt hörte Hamid zu. Salah strengte sich gewaltig an, eine den Umständen entsprechende Miene aufzusetzen. Ein Jahr, ein Jahr noch lügen, dann würde er frei sein. Frei und reich für immer.
Als der Imam die Faust gen Himmel reckte, erfüllte ein mächtiger, bedrohlicher Schrei die Moschee: „Dschihad! Dschihad!“
Der Junge wartete vor der Moschee auf sie. Er lehnte an einem großen Motorrad, rauchte eine Zigarette und fuhr sich mit der Hand durch das bereits schüttere Haar. Er hatte einen Bart, und auf seiner rechten Wange befanden sich die Reste einer alten Narbe. Die beiden Araber gaben ihm die Hand. Salah blickte den Jungen an und auf seinem Gesicht machte sich der Ausdruck demütiger Dankbarkeit breit.
– Der Imam bedankt sich für alles, was ihr für uns machen werdet.
– Kommt heute Abend in den Zirkel, antwortete der Junge. Es gibt eine Versammlung anlässlich von Mamouds Verhaftung. Wir überlegen, ob wir eine Demo organisieren sollen.