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Freudsche Verbrechen

Eva Rossmann

Freudsche

Verbrechen

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Ein Mira-Valensky-Krimi

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Lektorat: Franz Schuh

Erste Auflage 2001

Graphische Gestaltung: Dall’O & Freunde

ISBN 3-85256-163-9

[ 1. ]

Ich rührte ein Stück eiskalte Butter in die Fischsauce. Gismo sah interessiert zu. Der Duft des Branzino trieb mir das Wasser im Mund zusammen. „Du kriegst die Gräten“, versprach ich meiner Katze.

Das Telefon läutete. Ein paar Beschäftigungen gibt es schon, bei denen ich nicht unterbrochen werden will. Eine davon ist Kochen. Ich ignorierte das Geklingel. An diesem Abend hatte ich mir Ruhe und ein gutes Essen verdient. Die Serie „So wohnen Österreichs Prominente“ war abgeliefert. Meine gemütliche Küche hatte so gar nichts von dem bemühten Hochglanz, den ich in den meisten der Promi-Wohnungen gefunden hatte. Ob sie immer so lebten? Ob sie sich extra für meine Story Mühe gaben, ihre Wohnungen aussehen zu lassen wie Ausstellungskojen in einem Einrichtungshaus? Eigentlich war es mir egal. Als Lifestyle-Journalistin zu arbeiten hat Vorteile. Einer davon ist, dass sich die meisten Aufträge ohne allzu großes Engagement erledigen lassen.

Es läutete immer noch. Zwei Minuten, mehr nicht, schwor ich mir und nahm den Hörer ab.

„Ich bin’s, Ulrike“, klang es atemlos vom anderen Ende.

Ulrike? Ich konnte mich an keine Ulrike erinnern.

„Ja?“

„Ich weiß nicht, wer mir sonst helfen kann. Du musst kommen, sofort, du hast ja Erfahrung mit solchen Dingen.“

Das brachte mich auch nicht weiter. Ich schwieg.

„Ulrike, deine Schulfreundin, wir haben uns beim Klassentreffen …“

Ulrike, mit der ich sogar einige Jahre in einer Bank gesessen war. In einem Mädchengymnasium, an das ich mich nicht mehr so genau erinnern wollte. Zwanzig Jahre Abstand. Daran konnte auch kein Klassentreffen etwas ändern.

„Bei uns liegt eine Tote. Und ich bin ganz allein. Die Polizei habe ich schon angerufen. Aber weil du ja mit den Volksmusik-Morden zu tun gehabt hast …“

„Wo ist das, bei ‚uns’?“

„Im Freud-Museum. Ich arbeite im Freud-Museum. Das habe ich dir ja erzählt.“

„Wo ist das?“

„Du warst noch nie im Freud-Museum?“

Ich fand, es war nicht der Zeitpunkt, um über meine Bildungslücken zu diskutieren. Ich drehte die Gasflamme ab, stellte die Pfanne noch warm in den Kühlschrank, ignorierte Gismos beleidigten Blick und lief wenig später die acht Treppen von meiner Altbauwohnung nach unten. Eine Tote im Freud-Museum. Mein kleiner Fiat stand zum Glück nur ein paar Meter vom Hauseingang entfernt. Vor meinem inneren Auge sah ich eine Frau auf Freuds Couch liegen, mit leeren Augen, einer dramatischen Fülle von langem, rotem Haar, das sich mit dem Weinrot der Liege schlug, und einem Einschussloch mitten auf der Stirn. Ich sollte meine Phantasie zügeln. Es war viel wahrscheinlicher, dass eine alte Amerikanerin einen Herzanfall bekommen hatte. Egal, ich würde sehen, ob ich meiner Schulfreundin helfen konnte. Und wenn zu meiner Motivation auch etwas Sensationsgier und ein klein wenig berufliches Interesse gehörte, was war dabei? Mein schöner Branzino in eigener Sauce. Eigentlich war ich ja für ein bequemes, beschauliches Leben.

Ulrike erwartete mich schon am Eingangstor zum Museum.

„Ich habe es nicht mehr ausgehalten mit der Toten allein. Die Polizei ist noch immer nicht da. Und ich muss dich ohnehin hereinlassen. Das Tor ist zugesperrt, man kann natürlich auch mit der Gegensprechanlage öffnen, aber …“

Ich folgte meiner verstörten Schulfreundin in den ersten Stock. Ein gutbürgerliches Stiegenhaus, etwas eleganter als das in meinem Wohnhaus, aber durchaus vergleichbar. Sie schloss die Museumstüre auf.

„Sie liegt im Vorzimmer.“

Ich sah mich um. „Wo?“

„Nicht im Museumsvorzimmer, in Freuds Vorzimmer. Komm.“

Lindgrünes Holz, Bastbespannung an der abgewohnten Garderobe, einige Hüte und Mützen, ein Spazierstock. Der Raum sah aus, als hätte ihn Doktor Freud gerade eben für einen kurzen Besuch bei einem Patienten verlassen. Ulrike stand hinter mir und flüsterte: „Da ist sie.“ Auf dem ledernen Überseekoffer an der Schmalseite des Vorzimmers saß eine schlanke junge Frau in Jeans, einem blauen Sweatshirt und Turnschuhen. Sie schien auf ihn zu warten. Ihr Kopf war nach vorne gesunken, offenbar war ihr die Zeit zu lang geworden. Die blauen und grünen Teile des butzenscheibenartig zusammengesetzten Glasfensters hinter ihr zauberten Lichtreflexe auf ihren brünetten Pferdeschwanz. Die Arme lagen locker rechts und links vom Körper, sie schienen sie in ihrem Schlaf zu stützen. Neben ihr stand ein kleiner Rucksack, gelb und mit Sicherheit um Jahrzehnte jünger als das Vorzimmer.

„Sie ist sicher tot?“ Ich flüsterte auch.

„Ich habe sie geschüttelt und dann habe ich gesehen, dass sie ganz blau am Hals ist. Und dann habe ich sie wieder hingelehnt. Und dann habe ich …“

Ich ging ganz nahe zu der jungen toten Frau hin. Eine unwirkliche Szene. Teil einer Inszenierung. Erlebnismuseum. Heutzutage will man ja aus allem ein Erlebnis machen, egal ob im Schwimmbad, beim Essen, im Urlaub oder eben in einem Museum. Es fiel mir leicht, sie zu betrachten. Blaue Flecken am schlanken weißen Hals, erst dann sah ich ihre weit geöffneten Augen. Braune Augen wie aus Glas.

Mir wurde kalt, überdeutlich nahm ich wahr, wie sich an Rücken und Armen jedes kleine Härchen aufstellte. Der Eindruck des Unwirklichen war verschwunden. Realität war, dass diese junge Frau bis vor kurzem noch gelebt hatte.

„Wer ist sie?“

Ulrike zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, ich habe sie, glaube ich, schon einmal im Museum gesehen, aber keine Ahnung, wer sie ist. In den letzten Tagen lief hier ein japanisches Kamerateam herum, und das war neben dem Normalbetrieb schwierig genug.“

Ich kramte nach einem Taschentuch und öffnete vorsichtig den Zippverschluss ihres Rucksacks.

„Das darfst du nicht“, protestierte Ulrike.

„Wir müssen wissen, wer sie ist. Wir müssen die Angehörigen verständigen. Wer weiß, wann die Polizei auftaucht.“ Vorsichtig sah ich mir das wenige, das sich im Rücksack befand, an. Ein Stadtplan. Sie war wohl keine Wienerin gewesen. Eine Haarbürste. Eine angebrochene Packung Taschentücher. Ein Lippenstift, der schon lange in dem Rucksack zu liegen schien. Keine Geldtasche. Kein Terminkalender. Kein Ausweis. Vorsichtig zog ich den Zipp wieder zu. „Du warst ganz allein, als du sie entdeckt hast?“

Ulrike lehnte in der Türe zum Museumsvorraum und ich bemerkte erst jetzt, wie bleich sie war. Ich führte sie nach draußen. „Können wir uns irgendwo hinsetzen?“

Sie deutete auf einen Nebenraum. Der Museumsshop. Sie ließ sich auf den Sessel hinter der Kassa fallen, ich zog mir den zweiten Sessel heran.

„Also“, begann sie, „wir haben hier im Shop Inventur gemacht. Wir sind länger geblieben als üblich. Zu dritt. Das Museum sperrt ja schon um fünf. Und als wir fertig waren, ist mir eingefallen, dass mich ein Student gebeten hatte, ein paar Seiten aus unserem Katalog für ihn zu kopieren. Also gingen die zwei anderen und ich versprach ihnen, die Schlussrunde zu machen. Ich habe kopiert und dann bin ich durch die Museumsräume gegangen. Und da habe ich sie gefunden.“

„Und mich gleich angerufen?“

„Nein, zuerst habe ich versucht, unsere Chefin zu erreichen. Aber sie war nicht da. Dann habe ich die Polizei angerufen und dann dich. Gefunden habe ich sie um 19 Uhr 44. Ich habe auf die Uhr gesehen, ich weiß, dass so etwas wichtig ist.“

Ich nickte. Keine Ahnung, ob das wichtig war. „Und es war niemand mehr im Museum? Niemand hatte die Chance, das Museum durch einen anderen Ausgang zu verlassen? Oder sich zu verstecken?“ Liebe Güte, vielleicht war der Mörder jetzt noch im Haus.

Aber Ulrike schüttelte den Kopf. „So groß ist das Museum nicht. Nach fünf ist jedenfalls niemand mehr gekommen. Kann sein, dass ein paar Besucher länger geblieben sind, weil wir noch da waren. Wir haben nicht darauf geachtet. Aber verstecken kann man sich hier fast nicht. Am ehesten noch in der Toilette, aber da habe ich nachgesehen. Und wir haben eine Alarmanlage, die auf Bewegungen reagiert. Ich habe sie für einige Minuten eingeschaltet. Nichts.“

Also war sie doch nicht so durcheinander. In der Schule war sie dafür berühmt gewesen, bei jeder Kleinigkeit die Nerven wegzuwerfen. Gut, Menschen verändern sich. Ich konnte nun nichts anderes tun, als mit ihr auf die Polizei zu warten.

„Gibt es irgendwo ein Fenster, das auf die Straße hinaus geht?“

Ulrike führte mich in einen anderen Ausstellungsraum. Bilder einer jungen Frau mit intelligentem, lebendigem Gesicht. „Anna Freud“, las ich. Durch die hohen Fenster sah ich auf die Berggasse.

„Ich habe einen Bekannten bei der Kriminalpolizei. Zuckerbrot. Er ist Leiter der Mordkommission. Ich rufe ihn an.“

Ein roter Renault, der mit quietschenden Bremsen in zweiter Spur hielt. Dahinter ein Golf Kabrio. Zu allem Überfluss auch noch schwarz. Den Typen, der aus dem Renault sprang, kannte ich. Zu prähistorischen Zeiten hatte ich ihn sogar einmal näher gekannt, jetzt arbeitete er als Kriminalreporter beim „Blatt“. Dem größten Sudelblatt, das es in unserem schönen Land gab. Der andere war eindeutig sein Fotograf. Der Ton der Türklingel ließ uns beide zusammenzucken. „Nicht aufmachen“, sagte ich, „die Medien sind vor der Polizei da.“ Ulrike sah mich fragend an. „Das ist üblich, sie hören den Polizeifunk ab. Und manchmal sind sie eben schneller. Da kommen sicher bald noch ein paar.“ Ich hatte Recht. Die nächsten drei Kollegen trafen gleichzeitig mit der Polizeitruppe ein. Der Dauerklingelton riss ab. Blaulichter, Blitzlichter, eine kurze, aber heftige Diskussion zwischen den Reportern und den Polizeibeamten. Dann wieder die Türklingel. Ulrike ging zur Gegensprechanlage.

„Polizei, Mordkommission. Sie haben uns angerufen. Bitte machen Sie auf.“

„Ich will aber keine Medien.“

„Die bleiben draußen. Versprochen.“

Ulrike drückte auf den Summer. Wir gingen den Polizeibeamten entgegen.

Es war Zuckerbrots Kommission. Schon wollte ich erleichtert auf Zuckerbrot zugehen und ihm das wenige, das ich bisher wusste, erzählen. Da sah ich, wie sein Gesicht förmlich erstarrte. „Was machen Sie hier?“

„Ich bin eine Schulfreundin.“

Er wandte sich an Ulrike. „Sie ist vom ‚Magazin’. Wissen Sie das?“

Ulrike sah ihn mit erhobenem Kinn an. „Ja. Und sie ist meine Schulfreundin. Und da Sie so lange nicht gekommen sind und ich ganz allein war, habe ich sie angerufen. Sie kennt sich ja aus mit Mord und solchen Sachen.“

Zuckerbrot seufzte. „Zeigen Sie mir die Tote.“ Und zu mir gewandt: „Sie warten im Vorzimmer. Wenn Sie nicht gehen wollen. Was besser wäre.“

„Die Tote liegt im Vorzimmer.“

Zuckerbrot sah sich um.

„In Freuds Vorzimmer.“

„Sie jedenfalls bleiben in diesem Vorzimmer.“

„Also im Museumsvorzimmer“, kommentierte Ulrike.

Offenbar hatte sie sich von ihrem Schock ganz gut erholt. Zuckerbrot dirigierte sein Team zum Tatort. Ich hatte die Tote ohnehin schon gesehen. Und seit meiner Story über das Leben und das Sterben der Stars der volkstümlichen Unterhaltungsmusik kannte ich mich aus mit der Spurensicherung. Die Prozedur würde lange dauern und jedenfalls für mich keinen unmittelbaren Sinn ergeben. Ich schlenderte durch die Räume. Viele Bilder von alten Männern. Oder sahen sie mit ihren steifen Krägen und ernsten Gesichtern älter aus, als sie waren? Bücher, Gruppenfotos. Sigmund Freud mit Frau, mit Kollegen. Würdig und mit weißem Bart. So, als hätte es einen jungen Sigmund Freud gar nicht gegeben. Warum nur wollte man sich immer an die alten Männer erinnern? Oder hatten sie sich als junge Männer bloß nicht bedeutend genug gefühlt, um ständig für Porträtfotos zu sitzen? Ich gebe zu, viel wusste ich nicht über Freud. Natürlich, er war „der Vater der Psychoanalyse“ und es gab freudsche Versprecher und er musste als Jude in der Nazizeit fliehen. In dieser Wohnung also hatte er gelebt und gearbeitet. Heute war in dieser Wohnung eine junge Frau ermordet worden. Ein Zufall? Oder hatte jemand den Ort bewusst gewählt? Als eine Art psychoanalytischer Inszenierung vielleicht?

Besser, an das Nächstliegende zu denken. Ich sollte mit meinem Chefredakteur telefonieren. Mord im Freud-Museum. Allemal eine Doppelseite in unserer nächsten Ausgabe wert. Natürlich meldete er sich bereits nach dem zweiten Klingeln. Mobiltelefone waren für Menschen wie ihn erfunden worden.

„Aha, Sie sind wieder über einen Mord gestolpert“, ließ er vernehmen. So als ob ich vor mich hin spazierte und dabei dauernd auf Leichen stieße.

„Meine Schulfreundin hat sich an die Volksmusikmorde erinnert.“

„Lassen Sie mich morgen wissen, was es mit dem alten Freud und der jungen Toten auf sich hat.“ Das klang selbst für seine Verhältnisse übertrieben lässig. Schmierenschauspieler, der einen Chefredakteur mimt. Sicher war er in Gesellschaft. Wahrscheinlich in einem der Wiener In-Lokale. Ich dachte kurz an meinen Branzino. Keine Zeit für Hunger. Für Genuss schon gar nicht.

Ich setzte mich wieder in den Museumsshop und sah mich um. Bücher in hohen Regalen, in Deutsch, Englisch, Französisch. Einige wenige Souvenirs. Wer war die Tote? Gerade als ich aufstehen wollte, um ein paar der Bücher näher zu betrachten, kam Ulrike. „Ich soll auch warten.“

„Was haben sie dich gefragt?“

„Das, was du mich auch schon gefragt hast. Außerdem habe ich ihnen eine Liste mit den Museumsmitarbeiterinnen gegeben. Sie wollen sie morgen vorladen. Und ich soll auch ins Präsidium.“

Ulrike versuchte wieder, die Leiterin des Museums zu erreichen. Aber die hatte offenbar noch keinen Handy-Tick. Beim Vorsitzenden der Freud-Gesellschaft hatte sie mehr Glück. Aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung. Nur zwanzig Minuten später war er da. Primarius für Hals-, Nasen- und Ohrenerkrankungen am Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Offenbar mit einem Faible für die Psychoanalyse. Auf seinem Gebiet jedenfalls galt er als Koryphäe. Sein Museum, sein Freud, sein Mord. Er nahm das alles sehr persönlich. Zuckerbrot reagierte genervt und zog ihn von uns weg. „Wir hätten Sie ohnehin verständigt“, versuchte er den Primararzt zu beruhigen. „Kannten Sie die Frau?“ Wir lauschten. Keine Antwort. Wahrscheinlich hatte der Vorsitzende der Freud-Gesellschaft den Kopf geschüttelt. Sehen konnten wir ja von unserem Exil im Museumsshop aus nicht, was im Vorzimmer vorging.

Es dauerte geraume Zeit, bis die Tote abtransportiert wurde. Die Journalistenmeute auf der Straße wartete. Viel mehr als den üblichen Blechsarg und seine Träger würden sie nicht zu Gesicht bekommen. Da war ich im Vorteil. Und ich legte keinerlei Wert darauf, dass sie dahinter kamen. Die nächsten zwei Stunden lang durchsuchten Zuckerbrots Leute Raum für Raum des Museums. Groß war es ohnehin nicht. Gegen Mitternacht begannen sie den Tatort im Vorzimmer zu versiegeln. Der Protest des Primarius war unüberhörbar. „Denken Sie an unser Publikum. Wir können nicht sperren. So tragisch der Mord auch ist. Haben Sie nicht ohnehin schon alle Spuren? Ich bitte Sie, was macht das für ein Bild? ‚Freud-Museum wegen Mordes geschlossen.‘ Das darf nicht sein.“

„Sie können den Rest aufsperren. Aber das Vorzimmer müssen wir uns morgen noch einmal genau ansehen. Sie wollen doch sicher, dass der Mord aufgeklärt wird?“

„Natürlich, aber …“

„Was, aber?“

„Der Hauptteil des Museums ist ja nur durch den Vorraum zugänglich. Und die Toiletten auch.“

„Tut mir Leid.“

Zuckerbrot kam in den Museumsshop. „Sie beide können jetzt auch gehen.“

Ich sah ihn an. „Mich wollen Sie gar nichts fragen?“

„Sie sind keine Zeugin.“

Er hatte noch einen kleinen Wutanfall, als ich ihm von der Rucksack-Untersuchung erzählte. Ulrike schaltete die Alarmanlage ein und schloss ab.

„Sie fahren jetzt am besten heim, da können Sie wahrscheinlich am wenigsten anrichten“, sagte Zuckerbrot zu mir, als wir alle gemeinsam die Treppe mit dem reich verzierten schmiedeeisernen Geländer hinuntergingen. Ich würde nun wohl doch meinen Kollegen begegnen.

Blitzlichtgewitter, ein paar erstaunte Ausrufe, als sie mich entdeckten. Gut, mein Chefredakteur hatte es also doch der Mühe wert gefunden, eine unserer Fotografinnen zu verständigen. Sie war die einzige Frau im Journalisten- und Fotografenpulk. Kriminalberichterstattung war immer noch weitgehend Männersache. Dass ihnen ausgerechnet eine Kollegin aus dem Lifestyle-Ressort zuvorgekommen war, schien einige von ihnen daher doppelt zu treffen. Und diesen Anblick hatte ich mir entgehen lassen wollen? Ich grinste triumphierend, winkte Zuckerbrot lässig zu und zog Ulrike um die nächste Straßenecke. „Komm, wir gehen was trinken.“

Im neunten Bezirk kannte ich mich nicht gut aus. Aber schon fünfzig Meter weiter war ein kleines Kebab-Haus, das noch offen hatte. Die Wirtin kehrte den Boden. „Nur auf ein Glas“, sagte ich, „wir haben es notwendig.“

Sie lächelte. „Geht in Ordnung. Was wollen Sie?“

Wir bestellten zwei Achtel Rotwein. Er war besser, als ich befürchtet hatte. Ich fragte Ulrike noch einmal, wer die Tote sein könnte.

Sie schüttelte ratlos den Kopf.

„Was kann sie bei euch gewollt haben?“

„Na das Museum besichtigen. Es gibt Leute, die interessieren sich für das Freud-Museum. Allerdings sind wenige aus Wien darunter.“ Das war eindeutig gegen mich gerichtet.

„Ich wusste, dass es das Museum gibt. Aber ich war eben noch nie dort.“

„Die meisten Besucher kommen aus dem Ausland. Aus den USA, aus England. Dort ist Freud ein Begriff und nicht bloß der freudsche Versprecher. Österreich und Psychoanalyse … das sind nahezu Gegensätze.“

„Also war sie aus dem Ausland?“

„Woher soll ich das wissen? Ich glaube allerdings, dass ich sie schon einmal bei uns gesehen habe.“

„Gibt es Leute, die öfter kommen?“

„Ja, auch wenn du es nicht glaubst.“

„Könnten deine Kolleginnen sie kennen?“

„Woher soll ich das wissen?“ Sie seufzte.

Wir tranken und sahen durch die große Scheibe auf die Straße. Fast kein Verkehr mehr.

Plötzlich packte mich Ulrike beim Arm. „Sie kann in der Bibliothek gewesen sein.“

„War Zuckerbrot dort?“

„Nein, ich bin in der Aufregung nicht auf die Idee gekommen. Sie ist nicht im Museumstrakt, sondern in der ehemaligen Privatwohnung Freuds. Und sie hat heute offen gehabt.“

„Wir gehen zurück.“

Zehn Minuten später schaltete Ulrike die Alarmanlage wieder aus und führte mich durch einen engen Gang in die Bibliothek. Bücher bis zur Decke und in der Mitte ein langer Tisch mit harten Sesseln. Kein Buch lag herum, kein Blatt Papier. Kahle Sauberkeit. Fehlanzeige.

Ulrike deutete auf einige gestapelte Bücher. „Das sind die Exemplare, die sich unsere Besucher zum Weiterlesen auf die Seite legen lassen. Jetzt müssten wir nur mehr wissen, falls sie da war, welches Buch sie gelesen hat und ob sie darin weiterlesen wollte.“

„Und es gibt niemanden, der das weiß?“

„Diese Woche hat Tomas Dienst. Wenn die Bücher bloß hier in der Bibliothek gelesen werden, verlangen wir keinen Ausweis. Wir wissen nicht, wer da kommt und liest. Aber vielleicht hat er mit ihr geredet. Wir sind ja kein Massenbetrieb.“

„Also weiß er, wer sie ist?“

„Keine Ahnung. Wir hatten bis heute das japanische Kamerateam, das hat uns ganz schön auf Trab gehalten.“

„Ruf ihn an.“

„Jetzt?“

„Meinst du, dass ihm ein Mord im Museum egal ist?“ Ich streckte ihr mein Mobiltelefon entgegen. Sie blätterte in ihrem Telefonbuch und wählte. Tomas konnte sich erinnern, zwar nicht an einen Namen, aber an ihr Äußeres. Doch schon bei der Nationalität war er sich unsicher. Englischsprachig sei sie gewesen, vermutete er. Aber vielleicht sei er auch nur deshalb der Meinung, weil sie sich ein englischsprachiges Buch ausgeliehen habe. „Freud’s Women“. Da sei er sicher. Dann folgte ein wahres Feuerwerk an Fragen.

„Vielleicht eine Amerikanerin“, sagte ich, als mir Ulrike das Telefon zurückgab.

„Nicht unbedingt. Viele lesen originalsprachige Bücher. Aber es kann schon sein.“

Wir fanden den Band als drittobersten im Bücherstoß. Ich suchte wieder einmal nach einem Taschentuch, wickelte es um meine Hand und blätterte vorsichtig. Ich weiß nicht, was ich zu finden gehofft hatte. Enttäuscht wollte ich das Buch schon wieder zur Seite legen, als ich die Ecke eines eingelegten Zettels bemerkte. Mit spitzen Fingern schlug ich es auf der markierten Seite auf.

„Birkengasse 14“ stand auf dem Zettel. Und darunter: „Birkengasse 14?“ Und darunter noch einmal „Birkengasse 14“ mit ein paar Schnörkeln. Als Abschluss gab es eine ganze Reihe von Fragezeichen. Wir sahen einander an.

„Der Zettel kann schon lange im Buch liegen“, meinte Ulrike.

Ich konnte sie dennoch nicht davon abhalten, Zuckerbrot jetzt und auf der Stelle von unserem Fund zu erzählen. Morgen früh wäre mir früh genug erschienen. Ausnahmsweise war Zuckerbrot einer Meinung mit mir. Er versprach, sich die Sache morgen anzusehen und gab Ulrike den Auftrag, bis zu seinem Eintreffen niemanden in die Bibliothek zu lassen. Das hatte sie davon.

Ich brachte Ulrike heim und sah im Stadtplan nach. Birkengasse, eine Gasse in Währing, einem der Bezirke am nordwestlichen Stadtrand, mit immer mehr Grün, je näher man der Stadtgrenze und dem Wienerwald kam. Wenigstens ansehen wollte ich mir das Haus mit dieser Adresse.

Die Birkengasse war eine ruhige, schmale Wohnstraße, links und rechts vollgeparkt mit Autos. Die Straßenlaternen warfen ein mildes Licht auf die hohen Bäume vor den Bürgerhäusern. Drei-, vierstöckige Gebäude, meist von einem kleinen Garten umgeben. Dahinter lagen die Ausläufer des Erzherzog-Karl-Parks. Eine gute Wohnadresse. Vor einigen Jahren hatte ich in dieser Gegend eine Mietwohnung besichtigt. Sie war mir dann aber doch zu teuer gewesen. Birkengasse 14. Ich hielt in zweiter Spur und stieg aus. Ein dreistöckiges Gebäude, gelb verputzt. Ein gepflegter Vorgarten mit einem Beet voller Frühlingsblumen, ein grün gestrichener Metallzaun mit einem großen Tor vor der Garageneinfahrt und einer kleineren Tür, von der ein gepflasterter Weg zum Hauseingang führte. Alles strahlte Wohlstand und Sauberkeit aus. Das Garagentor war geschlossen. Längst waren die Bewohner des Hauses heimgekommen. Kein Mensch zu sehen. Auf dem Mülleimer hinter dem Zaun saß eine große rote Katze mit dickem Kopf. Ich lockte sie und sie starrte mich unbewegt an. Es war ein milder Abend für Mitte April, gerade richtig für einen abenteuerlustigen Kater. Ich drehte an dem Türknopf der kleinen Gartentüre. Sie war versperrt. Diskret eingelassen in einem gemauerten Pfeiler ein Klingelbrett mit Namen. „Rosa Nawratil“ stand da. Der ursprüngliche Name daneben war mit „Fallada+Zitz+Mayer“ überklebt. Offenbar eine Wohngemeinschaft, wahrscheinlich Studenten. Vielleicht hatte die Tote eine Wohnung gesucht? Ich las weiter: „Mag. Obermüller“, „Fam. Fleischmann“ und dann, doppelt so groß wie die anderen Schilder, „Ministerialrat Bernkopf“. Der Herr Ministerialrat hatte also, wenn ich rechnen konnte, gleich zwei Wohnungen.

Im Erdgeschoss brannte noch Licht, sonst waren alle Fenster dunkel. Kein Wunder, es war halb zwei in der Nacht. Über dem Hauseingang prangte ein Löwenkopf mit aufgerissenem Maul, die hohen Fenster waren mit glatten Stuckwülsten verziert. Der Kater sprang geräuschvoll von der Mülltonne auf einen umgedrehten Metalleimer. Ich zuckte zusammen. Was wollte ich hier? Höchste Zeit, heimzufahren.

Morgen würde ich die Leute aus der Wohngemeinschaft fragen, ob jemand von ihnen den Zettel im Freud-Buch vergessen hatte. Oder ob sie eine junge Frau kannten, die vielleicht ein Zimmer gesucht hatte. Und dann würde ich meine Story schreiben und damit Ende. Mehr konnte ich zur Aufklärung des Mordes im Freud-Museum nicht beitragen. Dafür war schließlich die Polizei zuständig, Zuckerbrots fleißige Mordkommission. Auch wenn sie heute Abend ganz schön lange gebraucht hatte, bis sie am Tatort erschienen war.

Am kommenden Wochenende sollte der Tanzpalast eröffnet werden. Das waren meine Geschichten. Ein riesiges Tanzlokal, in das niemand unter fünfunddreißig eingelassen werden sollte. Eine Marktlücke, mit Sicherheit. Da beinahe die gesamte Prominenz und erst recht die Schickimickis von Wien das Zulassungsalter schon überschritten hatten, würde die Eröffnungsparty zu einem unvermeidlichen Objekt meiner Berichterstattung werden. Man denke sich bloß: Der ehemalige Bürgermeister, Burgtheaterschauspielerinnen, die Gattin des größten Wurstfabrikanten und jede Menge Menschen, die nach Publicity gierten, auf einer Tanzfläche.

Leider aber war ich neugierig. Wer, verdammt noch einmal, war die Tote in Freuds Vorzimmer?

[ 2. ]

Mein Herz raste. Ich schreckte aus dem Schlaf auf. Die Beine waren verkrampft. Es ist nichts, Mira, sagte ich mir, gar nichts. Ich war schweißgebadet. Der Radiowecker stand auf 4 Uhr 55. Durchatmen. Das war kein Herzanfall, ich war viel zu jung für einen Herzanfall. Aber das Herz klopfte immer schneller. Und die Beine waren vor Anspannung fast gelähmt. Wenn es dich jetzt erwischt, wird es Tage dauern, bis dich jemand findet. Ruhig durchatmen. Ich kannte das ja schon und noch nie war ernstlich etwas passiert. Und die Zeit war auch immer dieselbe: fünf Uhr in der Früh. Durchatmen. Und aufstehen. Auf und ab gehen, bis das Herz wieder normal schlägt.

Ich kletterte vorsichtig aus dem Bett, jeden Moment gewärtig, dass ich zusammenbrechen könnte, dass die Beine nachgeben, dass das Herz von hundert auf null geht, dass mir eine Ader im Hirn platzt und vor meinen Augen alles schwarz wird.

Ich tappte zitternd ins Wohnzimmer und nahm einen großen Schluck aus der Whiskey-Flasche. Mein Lieblingswhiskey, irischer Jameson. Ich ging im Licht der ersten Dämmerung im Zimmer umher, noch immer mit heftig schlagendem Herzen. Ich sah aus dem Fenster um mich abzulenken. Dass um diese Uhrzeit schon Menschen auf der Straße waren … Ich nahm noch einen Schluck. Warm rann mir der Whiskey in den Magen. Ich entspannte mich allmählich. Warum hatte ich das, was ich „meinen Zustand“ nannte, ausgerechnet heute Nacht wieder bekommen? Die Tote im Freud-Museum. Wahrscheinlich. Aber ich hatte gar nicht den Eindruck gehabt, dass mich die Sache sonderlich aufgeregt hätte. Ich war doch robust, konnte leicht mit etwas fertig werden. Und so wollte ich auch weiterhin erscheinen. 39 Jahre alt, Single, mit langem schwarzen Haar, einen Meter zweiundsiebzig, vierundsiebzig – manchmal auch sechsundsiebzig, aber das ging ja niemanden was an – Kilo schwer. Immer bereit für einen Scherz, ein gutes Essen und mit einem Faible für die Verlockungen der Umgebung von Venedig. Das war ich, nicht dieses bibbernde Elend um fünf Uhr morgens.

Ich drückte meine Stirn an die Scheibe. Das Zittern ließ langsam nach. Irgendwann würde ich zum Arzt gehen. Meine Skepsis gegenüber Ärzten war ungebrochen. Und außerdem wollte ich lieber nicht so genau wissen, welche Krankheiten ich vielleicht hatte. Nichts hast du, Mira. Du hast in letzter Zeit viel gearbeitet und heute zu wenig geschlafen. Und da war die Tote mit dem brünetten Pferdeschwanz.

Ich ließ mich auf einen Sessel fallen. Alles in Ordnung. Herz wieder normal, das letzte Zittern würde nach einem weiteren Schluck Whiskey vergehen. Ich kroch ins Bett und las. Die Augen wurden mir schwer. Und während draußen endgültig der Tag anbrach, schlief ich bei brennender Nachttischlampe über meinem Buch ein.

Gegen zehn betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Tränensäcke unter den Augen, ein roter Fleck links unter der Nase. Ich fühlte mich wie gerädert und sah auch so aus. Ich streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus. Manchmal half das, aber nicht heute. Gismo schmierte um meine Beine, am liebsten hätte ich sie weggetreten.

Als Wiedergutmachung für meine aggressive Laune fütterte ich sie noch bevor ich meine vollautomatische Kaffeemaschine einschaltete.

Ich rief in der Redaktion an und sagte, ich sei bis Mittag auf Recherchen. Als ich gerade wieder ins Badezimmer schlurfen wollte, läutete es an der Tür, unmittelbar danach wurde aufgesperrt.

Vesna sah mich aufmerksam an. „Du siehst nicht gut aus, Mira Valensky“, sagte sie mit einem strafenden Unterton.

„Ich fühle mich auch nicht gut“, sagte ich zu meiner Putzfrau und fühlte mich schon etwas besser. Hätte ich doch einen Herzanfall gehabt, wäre ich immerhin schon am nächsten Morgen gefunden worden.

„Lange Nacht?“

„Zuerst eine Tote im Freud-Museum. Und dann konnte ich nicht schlafen.“

Vesna nickte weise. „Das macht der Tod.“

Ja, allgemein betrachtet war das schon richtig.

Und dann hatte ich ohnehin keine Zeit mehr, mir Leid zu tun. Denn Vesna ließ nicht locker, bevor sie nicht alle Details über den Mord im Museum erfahren hatte. Vesna war im Gegensatz zu mir die geborene Abenteurerin. Ohne sie hätte ich die eine oder andere meiner Recherchen nicht so glimpflich überstanden. Aber das wusste sie ohnedies.

„Du brauchst mich“, sagte Vesna, „ohne mich wirst du das nicht schaffen. Das ist ein komplizierter Fall. Mit Psyche.“

„Ich werde gar nichts schaffen, dafür ist die Polizei zuständig. Niemand kann in diesem Fall leugnen, dass es Mord war. Und sie ermitteln. Und ich schreibe meine Story und damit Schluss.“

„Ich kenne dich gar nicht, Mira Valensky“, erwiderte Vesna mit schmalem Mund.

Ich zuckte mit den Schultern und schlurfte endgültig ins Bad. Nicht einmal Vesna würde ich die Freude machen, mich mehr als nötig in die Sache einzumischen. Für sie wäre es ohnehin besser, sich ganz unauffällig zu verhalten. Angemeldet waren ihre Putzjobs nicht und ihr Aufenthaltsrecht war auch eher schwebend. Und dann hatte sie auch noch ihre unsägliche Maschine. Ein Motorrad mit einem viel zu starken und viel zu lauten Motor, das sie noch vor ihrer Flucht aus Bosnien gemeinsam mit ihrem Lieblingsbruder aus unterschiedlichsten Einzelteilen zusammengebaut hatte. Kein Wunder, dass dafür in Österreich keine Genehmigung zu bekommen war. Unsere Behörden waren flink, wenn sie jemanden aus dem Land werfen konnten. Vesna sollte etwas mehr an mich denken und sich ruhig verhalten. Als Putzfrau war sie bei meinem Chaos beinahe unersetzlich, als Freundin wollte ich sie schon gar nicht verlieren.

Ich putzte mir die Zähne, duschte lange und fühlte mich beinahe schon wieder lebendig.

„Okay“, sagte ich zu Vesna. Wir saßen in der Küche und tranken schwarzen, starken, süßen Kaffee. „Ich fahre noch einmal in die Birkengasse und versuche herauszubekommen, wer die Tote ist. Und ich werde nachfragen, warum die Mordkommission so lange gebraucht hat, bis sie im Museum war. Aber dann ist Schluss.“

„Vielleicht brauchst du Putzfrau mit guten Beziehungen zu anderen Putzfrauen und Hausmeistern und solchen Leuten.“

„Vesna, ich brauche jemanden, der meinen Saustall aufräumt.“

„Aber dabei ist Denken nicht verboten, oder? Außerdem weißt du: Ich bin Putzfrau, keine solche Bedienerin, die Dienstbote ist. Ich putze deinen Dreck und ich denke, was ich will. Und es ist gut für dich, mir zuhören.“

„Zuzuhören.“

„So genau auch nicht. Oder doch. Auf alle Fälle“, sie sah mich eindringlich an, „spüre ich schon, dass etwas faul ist mit dem Mord.“

„An jedem Mord ist etwas faul, Vesna.“

Ich ließ sie in der Küche stehen, schlüpfte in meine Turnschuhe, packte eine dünne Jacke und meine Handtasche und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen.

Jedenfalls hatte mir Vesna meine Energie wieder gegeben.

Ich läutete bei „Fallada+Zitz+Mayer“.

„Ja?“, fragte eine Frauenstimme.

„Ich komme wegen eines Zimmers.“

„Bei uns ist alles voll.“

„Könnte ich trotzdem einen Moment hereinkommen?“

Die Antwort war ein elektrisches Summen, ich drückte die Gartentüre auf. Blitzsauber war alles hier, da hatte das Licht der Straßenlaternen nicht getrogen. Keine einzige verblühte Blume, kein Blatt Papier, kein noch so kleiner Riss in der Fassade. Ich ging unter dem Löwenmaul durch die Eingangstür, dann einige Stufen nach oben. In der offenen Tür stand eine Frau, etwa zwanzig Jahre alt. Sie sah mich fragend an.

Ich lächelte entschuldigend. „Können wir drinnen reden?“

„Ich sag es Ihnen lieber gleich, Geld, um uns irgend etwas andrehen zu lassen, haben wir nicht.“

Im Vorraum lehnten zwei Fahrräder, der Boden war mit einem Kunstgrasteppich belegt. Diese grüne Idee gefiel mir.

Ich beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie war sich sicher, die Tote nie gesehen zu haben. Um ein Zimmer habe auch niemand gefragt. Ihre beiden Mitbewohnerinnen seien zur Zeit auf Studienaufenthalt in Spanien. Alle drei studierten Kunstgeschichte.

„Und dass sonst eine Wohnung oder ein Zimmer im Haus frei ist?“

Sie schüttelte energisch den Kopf. „Auf keinen Fall. Untervermieten ist streng verboten. Die Hauseigentümer wohnen auch hier, Ministerialrat Bernkopf. Außerdem geben sie Wohnungen ausschließlich an gute Bekannte. Wir haben die Wohnung nur bekommen, weil Susis Vater Sektionschef im Landwirtschaftsministerium ist. Sein unmittelbarer Vorgesetzter also.“ Sie grinste. „Da traut er sich nicht viel zu sagen, zumindest nicht zu Susi.“

Fehlanzeige also. Ich wollte es trotzdem noch bei den anderen Hausparteien probieren. „Die meisten sind jetzt nicht zu Hause“, half mir die Studentin. „Unsere Nachbarin ist schon über neunzig. An einem guten Tag ist sie völlig klar und man kann wunderbar mit ihr reden. Aber sie hat nicht viele gute Tage. Sie ist ziemlich verkalkt.“

„Und die im oberen Stock?“

„Der Obermüller ist ein Dozent an der Technischen Universität. Geschieden. Und fast nie daheim. Die Fleischmanns sind ein älteres Ehepaar, das seit ein paar Wochen in Italien auf Kur ist.“

„Haben sie Kinder?“

„Falls ja, sind sie schon groß und leben nicht bei ihnen. Die Eigentümer wollen keinen Krach im Haus. Der eigene Sohn ist inzwischen auch schon erwachsen. Er ist ein Wunderknabe. Verdient jede Menge Geld, fährt einen offenen BMW und hält sich für unwiderstehlich.“ Sie verzog das Gesicht.

„Und er wohnt da?“

„Nein, er hat in der Innenstadt irgendein schickes Penthouse.“ Sie kicherte. „Er hat versucht, Susi damit zu beeindrucken. Aber das ist gründlich schief gegangen. Susi ist auf der Anti-Kapitalismus-Welle. Ich nicht, aber mich turnt ein solcher Idiot auch nicht an. Immerhin ist unsere Wohnung gut, wirklich gut. Das schon.“ Sie schien es zu bereuen, mir so viel erzählt zu haben.

Trotzdem: „Was ist mit den Bernkopf-Eltern? Außer dass sie keine Kinder mögen, keine Fremden ins Haus nehmen und offenbar ziemlich viel Wert auf Sauberkeit legen?“

Sie kicherte wieder. „Was wollen Sie noch mehr? Das ist eine perfekte Beschreibung der Bernkopfs. Tüchtig, sauber, anständig, selbstgerecht. Sie ist Hausfrau, stammt aus guter Familie und kümmert sich ständig um irgendwelche karitativen Projekte. Er ist Ministerialrat im Landwirtschaftsministerium und tut so, als ob er Minister wäre. Würdig. Aber irgendwie sind die beiden auch ganz in Ordnung. Wenn man sie nicht aufregt, dann lassen sie einen in Ruhe. Und mit den Mietabrechnungen ist auch immer alles ganz korrekt. Soll ein jeder leben, wie er will.“

„Sind sie zu Hause?“

„Wahrscheinlich ist sie einkaufen. Oder in der Kirche. Oder sonst wo. Er kommt erst gegen Abend.“

Ich bedankte mich, ließ ihr für alle Fälle meine Visitenkarte da und lobte die Idee mit dem Kunstgrasboden. Sie steckte die Karte in ihre Jeans und lächelte zum Abschied. „Die alte Frau Nawratil ist sicher zu Hause. Sie kann nur mehr mit ihrer Heimhilfe außer Haus gehen. Aber wie gesagt: Die Frage ist, ob sie einen klaren Tag hat.“

Ich atmete tief durch und läutete vis-à-vis. Ich war kein grundsätzlich schüchterner Mensch. Aber wildfremde Leute um Auskünfte zu bitten verlangte immer wieder etwas Überwindung. Und mit den Auswirkungen von Verkalkung hatte ich wenig Erfahrung. Noch, fügte ich in Gedanken hinzu und grinste.

Ich läutete noch einmal. Wahrscheinlich war die alte Frau Nawratil auch schon schwerhörig.

„Ja“, rief es drinnen, „ich komme ja schon und hören Sie auf Sturm zu läuten, ich bin ja nicht schwerhörig.“

Das allerdings hatte meine Großtante auch immer behauptet. Drei Schlüssel wurden im Schloss bewegt, dann zeigte sich ein Gesicht mit einer Haut wie zerknittertes Seidenpapier, hellblauen Augen und umgeben von kurz geschnittenem, schütterem weißem Haar.

„Mira Valensky“, sagte ich und streckte ihr meine Visitenkarte entgegen. Sie nahm sie, schloss die Tür auf und öffnete sie zehn Sekunden später weit.

„Kommen Sie herein. Ich habe zwar schon eine Zeitung, aber kommen Sie herein.“

Sie schien offenbar zu glauben, dass ich ihr ein Abo des „Magazins“ andrehen wollte. Warum glauben alle Menschen zwischen zwanzig und über neunzig, dass es nur ums Verkaufen gehen kann, wenn eine Unbekannte vor der Tür steht? Ist das nur in Wien so oder gibt es dieses Phänomen auch sonst wo?

„Haben Sie in den letzten Tagen eine junge Frau gesehen, zirka zwanzig Jahre alt, brünette mittellange Haare, schlank?“

„Ich bin ja nur immer im Haus.“

„Ja, eben. Haben Sie so eine Frau hier im Haus oder vor dem Haus gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Wissen Sie, ich bin nicht mehr so gut auf den Beinen. Früher schon, aber jetzt nicht mehr. Also sitze ich die meiste Zeit in meinem Sessel und schau nicht mehr so viel aus dem Fenster.“

„Vielleicht war die junge Frau ja auch bei Ihnen? Überlegen Sie: Vielleicht haben Sie eine junge Verwandte, die so aussieht?“

„Liebe junge Frau, ich weiß ja nicht genau, was Sie von mir wollen, aber ich wüsste es, wenn jemand bei mir gewesen wäre. Zu mir kommt nur die Hilfe und auch die kommt nicht immer oder sie kommt zu spät. Pünktlichkeit ist keine Tugend mehr, so scheint es. Und junge Verwandte habe ich nicht. Meine Verwandten sind alle tot. Bis auf eine Nichte, aber die ist schon alt. Und sie ist verkalkt. Muss in einem Altersheim leben. Bevor ich in ein Altersheim gehe, stelle ich mich mitten auf die Straße und lasse mich von der Tramway niederführen.“

Das alles kam in einem sehr gepflegten Wiener Hochdeutsch. „Sie haben ein Telefon?“

„Was glauben Sie denn? Ich habe seit den Zwanzigerjahren ein Telefon.“

„Wenn Sie sich an etwas im Zusammenhang mit der jungen Frau erinnern, rufen Sie mich bitte an.“ Ich drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand.

„Ich erinnere mich an alles. Wahrscheinlich haben Sie mit der Ministerialratsfrau geredet. Sie lügt. Ich bin nicht vergesslich. Sie will bloß die Wohnung frei bekommen. Ich erinnere mich an alles.“ Sie sah mich stolz an.

„Hervorragend“, erwiderte ich. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.

„Also wollen Sie mir jetzt Ihr ‚Magazin‘ verkaufen?“

Ich verabschiedete mich höflich von der alten Dame und sah gerade noch, wie sie meine Visitenkarte in einen Blumentopf steckte. Warum auch nicht?

Bei allen anderen Hausparteien hatte ich Pech. Niemand reagierte auf mein Klingeln. Egal, heute Nachmittag musste ich meine Story schreiben, morgen ging sie in Druck. Und wenn ich auch nicht herausgefunden hatte, wer die Tote war, so hatte die Geschichte vielleicht gerade dadurch ihr gewisses Etwas. Eine unbekannte Tote war meist interessanter als eine Tote, die Mizzi Huber hieß und halbtags im Schuhgeschäft um die Ecke arbeitete. Gearbeitet hatte. Aber dann wäre sie freilich wohl nicht ausgerechnet im Freud-Museum ermordet worden, sondern daheim von ihrem eifersüchtigen Freund.

Jetzt blieb nur noch zu klären, warum die Mordkommission gestern Abend so lange gebraucht hatte. Ich war zehn Minuten nach Ulrikes Anruf im Museum gewesen, die Polizei war erst zwanzig Minuten später gekommen. Absurd, die zentralen Polizeidienststellen waren vom Museum in der Berggasse bloß einige hundert Meter entfernt.

Mittagszeit. Vielleicht hatte ich Glück. Ich parkte in der Nähe der Rossauer Kaserne, sicherheitshalber ordnungsgemäß in der Kurzparkzone und mit Parkschein. Dann spazierte ich mit einem lässigen Winken an den beiden Wachebeamten des Sicherheitsbüros vorbei. Auch den Portier passierte ich so, als ob ich dazugehörte. Niemand hielt mich auf, Selbstbewusstsein hilft. Auch wenn es bloß vorgetäuscht war, denn mein Herz klopfte schon etwas rascher. Aber kein Vergleich zu heute Nacht. Ich wusste, wo die Kantine war. Den Gang entlang, zweimal abbiegen und dann schon immer der Nase nach. Es schien Kohlgemüse zu geben. Arme Polizei. Kein Wunder, dass der eine oder andere Bulle einmal wild wurde. Meiner ganz persönlichen Theorie zufolge macht zu viel fades Gemüse unzufrieden, frustriert und schließlich wild. Fleisch hingegen macht friedlich und träge, man hat genug mit sich und seiner Verdauung zu tun.

Ich blieb in einer der Eingangstüren zur Kantine stehen und sah mich um. Mit Glück erkannte ich jemanden von der Mordkommission oder einen der Streifenwagenfahrer. Mein Personengedächtnis ist nicht besonders gut. Schließlich fand nicht ich einen der Beamten, sondern einer fand mich. „Was machen denn Sie hier?“, fragte mich ein junger, großer Polizist in Uniform.

Ich lächelte. „Ich warte auf Zuckerbrot.“ Der war glücklicherweise nicht da. „Gestern ist es ganz schön spät geworden, was?“

Er nickte. „Dabei hätte ich schon um zehn Dienstschluss gehabt.“

„Eine mühsame Sache, der Polizeidienst.“

„Hören Sie, ich sollte mit Ihnen gar nicht reden.“

„Wir reden ja nicht über etwas Dienstliches.“

„Ist auch wahr. Geht es Ihrer Freundin wieder besser?“

„Ich denke, schon. Die Arme. Dabei ist sie so lange mit der Toten allein gewesen. Und es war die erste Tote, die sie überhaupt gesehen hat.“

„So lange hat es auch wieder nicht gedauert.“

„Mir ist es ja egal, aber hoffentlich fragt da niemand nach. Sie wissen ja, wie das ‚Blatt‘ reagiert, wenn die Polizei nicht sofort zur Stelle ist. Nicht mein Fall. Ich sage immer, Polizeibeamte sind auch Menschen.“

„Wir sind sofort los, es war nur ein dummes Missverständnis. Die Frau aus dem Freud-Museum hat angerufen und ich bin mit meinem Kollegen einfach losgefahren, weil Museen kennt man ja. Unterwegs sind wir draufgekommen, dass wir nur wissen, dass es irgendwo bei uns im neunten Bezirk ist. Aber nicht mehr. Dann habe ich per Funk die Anweisung bekommen, dass ich unseren Chef von zu Hause abholen und mitnehmen soll. Er weiß sicher, wo das Museum ist, habe ich mir gedacht. Ich war mit meinen Kindern bloß einmal im Naturhistorischen Museum, aber das ist ja auch mitten in der Stadt und nicht zu verfehlen. Der Chef steigt also ein und dann stellt sich heraus, dass auch er nicht weiß, wo das Museum ist. Und das, obwohl Freud doch so berühmt ist. Unseren Stadtplan habe ich in der Sicherheitsdirektion liegen gelassen. Bis wir nach Büroschluss jemanden aufgetrieben hatten, der uns nachgeschaut hat, sind einige Minuten vergangen. Dann sind wir quer durch den Bezirk zurückgerast. Dabei hätten wir zu Fuß gehen können. Theoretisch.“

Ich hatte meine Antwort, da war also kein Geheimnis dahinter, sondern nur das offenbar weit verbreitete Desinteresse und die übliche Konfusion gegenüber Freud und der Psychoanalyse. Wer war ich, um die Ahnungslosen zu verurteilen? Ich verabschiedete mich unter einem Vorwand, nickte den Wachposten am Eingang wieder zu und fuhr in die Redaktion.

Ich hatte gerade die Handtasche auf meinen Schreibtisch gestellt, da kam auch schon die Lifestyle-Ressortleiterin auf mich zu. „Das mag ich nicht so gerne, wenn du Kriminalberichterstatterin spielst. Ich brauche dich hier. Für alles Kriminelle sind die Chronik-Fritzen zuständig. Alles klar?“

Ich sah sie beschwichtigend an. „Meine So-wohnen-Promis-Serie ist fix und fertig, das weißt du. Wenn mich eine Schulfreundin anruft, weil in ihrem Museum ein Mord passiert ist, dann schicke ich ihr niemanden aus der Chronik.“ Wäre sie nicht immer so sehr auf ihren Einfluss und ihre Zuständigkeiten bedacht, es wäre geradezu angenehm, mit ihr zu arbeiten. Der Verlag hatte sie vom Fernsehen eingekauft, sie war Chefin vom Dienst bei der beliebtesten Klatschsendung gewesen. Aber als die Leitung neu besetzt wurde, hatte man ihr einen jungen Schnösel mit guten Beziehungen zum Intendanten vorgezogen. Sie war gerne gekommen, und so hatte ich seit einigen Monaten eine Ressortleiterin.

„Die Tanzpalast-Sache wartet auf dich.“

„Alles klar. Ich schreibe den Museumsmord für die morgige Ausgabe und dann ist für mich Schluss damit. Aber ich hoffe, du kannst dich erinnern: Du hast mir versprochen, dass ich mir ein, zwei Wochen freinehmen kann. Immerhin hast du mit der Serie Stoff für die nächsten sechs Wochen.“

Sie verzog den Mund. „Es gibt eine ganze Menge …“, sie beschloss den Satz mit dem durch die Nase gesprochenen Wort „Events“.

Eigentlich seltsam: Ich bin eine so genannte „freie Journalistin“, ohne fixe Anstellung, arbeite bloß auf Honorarbasis und trotzdem darf das „Magazin“ über meine Zeit verfügen. Wenn ich nicht mehr will, kann ich ja gehen. Aber der Mensch muss schließlich von etwas leben. Meine Schildpattkatze Gismo auch.

„Eine Woche?“, bettelte ich. „Ich muss dringend ins Veneto. Mein seelisches Gleichgewicht ist in Unordnung.“ Ich dachte an die gestrige Nacht, mehr aber noch an ausführliche venetische Abendessen und Spaziergänge durch mittelalterliche Städte.

„Dein Körpergewicht würde es dir danken, wenn du dabliebst.“

„Ich brauche eben eine solide Lebensbasis.“

Die Ressortchefin vom „Lifestyle“ wog maximal fünfzig Kilo und war dabei annähernd so groß wie ich. Eine Figur, wie geschaffen für Designerfetzen. Mein Körper kam mir billiger. Bei mir taten es Jeans und, wenn es feierlich zugehen sollte, ein Sakko darüber.

„Wir werden sehen.“

Ich verdrängte meine Müdigkeit und griff zum Telefon. Ein letzter Versuch, noch jemanden im Haus in der Birkengasse zu erreichen. Bei Obermüller und Fleischmann hatte ich wie erwartet Pech. Bei Bernkopf meldete sich nach langem Läuten eine Stimme mit leichtem polnischen oder tschechischen Akzent. „Hier bei Bernkopf.“

„Ist Frau Bernkopf zu sprechen?“

„Die gnädige Frau, Frau Ministerialrat Bernkopf, ist außer Haus.“

„Die gnädige Frau“, dass es das noch gab. Das musste ich Vesna erzählen. Wie konnte ich mir erlauben, sie einfach mit Bernkopf und ohne den Titel ihres Mannes anzusprechen? „Also wann kommt Frau Ministerialrat Bernkopf wieder?“

„Mit wem spreche ich?“

„Mira Valensky, vom ‚Magazin‘.“

„Sie wird erst gegen Abend zurückerwartet.“

Die Gute hatte eindeutig zu viele alte Gesellschaftskomödien gesehen.

„Vielleicht können auch Sie mir helfen: Haben Sie in den letzten Tagen im oder vor dem Haus eine junge Frau gesehen, um die zwanzig, brünette mittellange Haare, schlank?“

„Ich gebe keine Auskünfte.“

„Hören Sie, vielleicht stehen die Bernkopfs schon morgen in der Zeitung. Ziemlich sicher, dass sie mit mir reden wollen. Hat Frau Bernkopf ein Mobiltelefon?“

„Nein, sie sagt, so etwas braucht sie nun wirklich nicht.“

Ich legte nach einer eher kühlen Verabschiedung auf und probierte es bei Herrn Ministerialrat Bernkopf im Landwirtschaftsministerium. Man teilte mir mit, dass er bei einer interministeriellen Sitzung sei. Das klang wichtig, und auf meine Nachfrage, wann denn diese interministerielle Sitzung vorbei sein werde, meinte die Sekretärin: „Das weiß niemand. So etwas kann ewig dauern.“

Herzlichen Dank auch. Es sah ohnehin nicht so aus, als ob die Bernkopfs etwas über die Tote wüssten. Und wenn, war es zweifelhaft, ob sie es zugeben würden. Herr Ministerialrat nebst Gattin wurde sicher nicht gerne mit einem Mordfall in Verbindung gebracht. Aber genau das würde passieren. Und ich gebe zu, ich hatte gar kein schlechtes Gewissen dabei.

Ich schaltete den Computer ein und machte mich nun endgültig an die Story. Die Tageszeitungen hatten die Geschichte zwar bereits in der aktuellen Ausgabe auf den Chronik-Seiten groß aufgezogen, ihre Informationen aber waren gleich null. Ich konnte zumindest das Mordopfer ausführlich beschreiben und das Ambiente rundum auch. Und dann konnte ich fröhlich drauflos spekulieren. Außerdem hatte ich den Zettel mit „Birkengasse 14“. Und das Buch, in dem sie zuletzt gelesen hatte: „Freud’s Women“. Gar nicht schlecht, Mira. Auch wenn ich nicht viel dafür konnte. Aber Glück zu haben gehört eben auch dazu. Am Abend würde ich Ulrike anrufen. Ganz privat, nur um zu sehen, wie es ihr ging.

In einer Woche war ich vielleicht schon in meinem Lieblingshotel im Veneto. Gianni würde mich mit seinem Campari-Prosecco verwöhnen, Armando und seine Frau mit einem acht- oder auch zehngängigen Menü, und dann konnte ich endlich einmal so richtig ausschlafen.

[ 3. ]

Die neue Ausgabe des „Magazins“ war erst einige Stunden auf dem Markt, als der Ministerialrat aus der Birkengasse anrief. Er beschwerte sich erwartungsgemäß, mit dem Mord in Zusammenhang gebracht worden zu sein. „Ich lasse uns und unser Haus nicht diffamieren. Wir haben mit derartigen Vorfällen nichts zu tun.“