Spätlese
Tyrolia-Verlag · Innsbruck–Wien
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© 2012 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung und Layout: Tyrolia-Verlag, Innsbruck
Foto am Schutzumschlag: © Eric Lichtenscheidt, Bonn, anlässlich der Verleihung des
ökumenischen Predigtpreises 2010
Lithografie: Artilitho, Lavis (I)
Druck und Bindung: Gorenjski Tisk, Kranj
ISBN 978-3-7022-3235-1 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3236-8 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Vorwort
Das Lied der Lieder
Als die Zillertalbahn nach Ramuschewo fuhr …
Heizmaterial
Die Goldene Stadt
Ein altes Lied berührt mich noch immer
Das Trauma
Die stille Reise in das weite Land des Geistes
Das Schwindelmanöver
Ich bin bei Kindern in die Schule gegangen
Kinderzeichnungen
Einiges haben mir Jugendliche beigebracht
Wienaktion
Fenster in die Welt
Schatten gibt es immer
Die Lawine
Balkongedanken
Dieses kleine Buch ist eine Spätlese. Ich lasse auf den herbstlichen, stillen Wassern bunte Blätter vorüberziehen, wie sie im Lauf des Lebens von den Bäumen gefallen sind.
Da sind die dunklen, schwarzbraunen der Not und des Elends, bei deren Anblick man froh ist und verwundert, dass man’s überlebt hat und dass in allem Frust immer etwas da ist, das größer ist als alle Verhängnisse des Lebens.
Und da sind die vielen, vielen hellen Blätter freundlicher Erinnerungen, die das Leben reich und erfüllt gemacht haben, in völlig unverdienten Begegnungen und Fügungen, und immer wieder flüstern die Wellen der Zeit, die sie tragen, dass alles Gnade ist.
Und da sind manchmal auch die grell-bunten übermütigen Blätter, die Erinnerung an Heiteres und Skurriles, um die man auch so froh sein muss, weil der Humor ein Gruß ans Dasein ist.
Es geht uns allen gleich. Viele Leserinnen und Leser werden Ähnliches, Schwereres und Bedeutsameres als ich erlebt haben. Und in einer stillen Stunde des Daseins oder einer rückblickenden Spätlese kann man doch erfahren, dass das Leben ein Geschenk ist.
Eine der schönsten Dichtungen der Bibel ist das Schir ha-Schirim, das Hohe Lied der Liebe. Ich möchte es für die „Spätlese“ als Ouvertüre wählen.
Die markante Spitze des Brandjochs stand im letzten Abendlicht. Ich kannte ihn gut, diesen Eckpfeiler der Nordkette, mit dem weiten Blick über die Stadt und das Tal. Und jetzt war dieser stolze Gipfel in der verglühenden Sonne wie ein steinernes Symbol der Freiheit und der Hoffnung, der einzige Fleck meiner lieben Heimat, den ich sah. Und dieser winzige Ausschnitt grüßte durch die Gitter des winzigen Kerkerfensters des Gestapogefängnisses. Und ich habe an diesem Abend wirklich geglaubt, dass ich das Brandjoch zum letzten Mal sehen durfte. Denn unmittelbar vorher hatte man mir mitgeteilt, dass ich am nächsten Tag für den Transport ins Konzentrationslager Dachau eingeteilt sei. Der Freitag war immer der gefürchtete Tag der Transporte. Da wurde man zu zweit zusammengefesselt, auf den Bahnhof transportiert und dann in einem Viehwaggon verliefert.
Nach dem Krieg hatten ja viele gesagt, sie hätten von den Konzentrationslagern nichts gewusst oder nur verschwommenharmlose Vorstellungen gehabt. Bei manchen mag das stimmen – ihr Gewissen surfte nur noch auf den Riesenwellen der allgegenwärtigen Propaganda –, aber für eine sehr große Anzahl stimmte das nicht. Sie wussten sehr wohl, dass Menschen auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Man wusste von Zügen mit Juden, die an den allgemeinen Bahnsteigen vorbeigeschleust wurden und deren Fracht in diesen Lagern verschwand. Aber man wollte es andererseits nicht wissen. Es war ja „eine so große Zeit“. Und wenn sich da wer entgegenstellte – nun ja, dann flogen eben Späne. Und so hat man weggesehen und verdrängt und vergessen und am Schluss nichts mehr gewusst.
Sonne über dem Brandjoch
Aber wir haben damals genau gewusst, was das KZ ist. Wir – die Studenten der Theologie in den ersten Semestern und Mitglieder der geheimen Jugendgruppen. Mein Volksschulkatechet Otto Neururer war schon ermordet worden. Und wenn man – selten – einen sah und kannte, der vom KZ zurückkam, dann war er ein verhärmter, abgemagerter Mann und ein großer Schweiger, den man auch nicht fragen durfte. Jede Auskunft hätte für ihn den Tod bedeutet.
Nein, wir hatten keine Illusionen. Wir wussten: Dachau und Buchenwald, das sind Orte des Schreckens. Und jetzt hatte ich dieses Schicksal vor mir, weil man mir vorwarf, ich hätte mich an der Organisation einer Wallfahrt beteiligt.
Und dann wurde ich zum Eingang hinuntergeholt und durfte dort – zum ersten Mal in meiner Einzelhaftzeit – ein paar Worte mit meiner Mutter sprechen. Ich musste ihr die Wahrheit sagen. Sie ist verzweifelt weggegangen.
Und nun war ich wieder in meiner Zelle und starrte zum Brandjoch hinauf, das sich verabschiedete. Auch wenn man sich sagte, man sei schließlich für die gerechte Sache in dieser Lage – ich hatte keine heroisch-erhabenen Gefühle. Viel später habe ich mir die Frage vorgelegt, was nun schwerer sei, das KZ vor Augen zu haben oder die nächste Panzerschlacht. Ich habe beides erlebt. Das Zweite ist leichter. Die Aussicht, von einer Granate zerrissen zu werden, mit der leisen Hoffnung, vielleicht doch durchzukommen, ist viel leichter zu ertragen als die Erwartung, zu Tode gequält zu werden. Es wurde dunkel. Auch über mein kleines Zellenfenster fiel die Nacht.
Auf der Straße drunten, vor dem Polizeigefängnis, standen damals ein paar Bäume. Und als nun aller Verkehr erlosch, tönte auf einmal von der Straße herauf ein Pfeifen, ein sehr ungewöhnliches Pfeifen, denn es ging um eine Melodie, die damals bei unseren Jugendmessen aufgekommen war und die nicht einmal das Kirchenvolk kannte. Der Gestapo und der SS war diese Musik natürlich völlig fremd, denn ihre liturgische Ausbildung war sicher dürftig. Und so kam nun diese kleine Melodie über die Baumkronen herauf, drang durch das Gitterfenster und berührte mich, während ich mit meinen trüben Gedanken auf der Pritsche hockte. Diesen Refrain hatten wir oft gesungen, meistens bei der heiligen Kommunion. Es war ein Text aus dem Hohen Lied des Alten Testaments, das hebräisch „Schir ha-Schirim“ heißt, „Lied der Lieder“.
Es war die Idee eines Dreizehnjährigen aus der Jugendgruppe, der um unsere Verhaftung wusste und zu Recht vermutete, dass wir – meine zwei Komplizen und ich – da droben hinter den winzigen Fenstern saßen. Der Lauser hat sich unten an einen Baum gelehnt und hat diese Kennmelodie gepfiffen, so wie eben ein Bub mit den Händen im Hosensack manchmal pfeift.
Ich kann nicht ausdrücken, was diese Melodie mit diesem Text damals für mich bedeutete:
„Stark wie der Tod ist die Liebe,
ihr Licht ist wie Leuchten des Feuers,
das können die Wasser nicht löschen
und die Ströme nicht überfluten …“
Als man am nächsten Morgen den Transport nach Dachau zusammenstellte, wurde ich im letzten Augenblick von der Liste gestrichen. Ich weiß bis heute nicht, warum. Hatte irgendjemand interveniert? Oder wollte man lieber einen Soldaten mehr an der Front? Ich weiß es nicht. Ich kam nicht nach Dachau.
Vierzehn Tage später musste ich einen Revers unterschreiben, dass ich bei der geringsten politischen Beanstandung mit dem KZ zu rechnen hätte. Dann wurde ich entlassen. Und etwas später kam die Einberufung. Es klingt fast pervers, wenn man sagt, dass eine Mutter froh war, wenn ihre Söhne im Krieg zu den Soldaten kamen. Denn dann waren sie wenigstens dem unmittelbaren Zugriff der Gestapo entzogen. So war die Zeit.
Wenn mir jemand an jenem schlimmen Abend im Gefängnis gesagt hätte: „Du kommst morgen nicht nach Dachau – aber 63 Jahre später wirst du nach Dachau kommen. Und dann wirst du dort, wo die SS ihre gefürchteten Kasernen hatte, als Seelsorger Exerzitien geben …“ – ich hätte diesem Menschen gesagt: Du bist verrückt!
Aber genauso war es. 63 Jahre später haben mich die Schwestern im Karmel von Dachau eingeladen, Exerzitien zu halten. Sie haben ihr Kloster dort, wo die SS-Kaserne stand, am Nordende des Lagers.
Ich bin also nach Dachau gefahren. Am Abend bin ich hinausgetreten auf das menschenleere, riesige Lagergelände, mit dem Blick über die Barackenfundamente. Es war ein etwas düsterer Abend. Von Westen zogen schwere Regenwolken herein. Ich war ganz allein. Ich habe an die vielen gedacht, die nicht das Glück hatten wie ich. Es war ein noch bedrückenderer Blick als der über einen großen Kriegerfriedhof. Der dunkle Lagerplatz war wie ein stummer Schrei. Und da war die berüchtigte Lagerstraße in der Mitte, auf der die Häftlinge zum Appell wankten. Ich kann so gut nachfühlen, was an Angst, Verzweiflung, Trennungsschmerz und Hoffnungslosigkeit auf diesem Paradeplatz der Unmenschlichkeit zusammenströmte. Ich habe doch so manchen gekannt. Aber es waren ja Hunderttausende. Wie ich mich umdrehe und auf der Lagerstraße Richtung Kloster gehe, sehe ich, dass sie genau zum Kirchenportal hinweist. Ist es so, wie die Schrift verheißt, dass alle Tragödien und alles Elend der Welt letztlich doch in einer ewigen Liebe landen? Ich glaube es. Alles Leid steht unter dem Gesetz des Vergehens. Es verstummt in der Zeit wie dieser schreckliche, große, leere Platz hinter mir. Wovor hat mich Gott vor 63 Jahren bewahrt! Ich weiß nicht, wie ich es mit meinen 19 Jahren ausgehalten hätte. Ich bin nie ein Held gewesen.
Ich gehe über die Straße des Schreckens in Richtung Kirchenportal. Drinnen führt die Spur der Straße weiter in der Mitte des Gotteshauses und endet beim Tabernakel, beim Allerheiligsten.
Und dort durfte ich dann mit den Schwestern Eucharistie feiern. Und nach der Kommunion sangen sie:
„Stark wie der Tod ist die Liebe,
ihr Licht ist wie Leuchten des Feuers,
das können die Wasser nicht löschen
und die Ströme nicht überfluten …“
Entspannt und müde sitze ich in einer Fensterecke des Bähnleins, das talauswärts dampft. Die alte Lok ist noch voll im Dienst und noch nicht durch Dieseltriebwagen ersetzt. Wir sind in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Die Bahnidylle des Zillertals hat aber geradezu musealen Charakter. Es pustet und dampft mit ihr die gute alte Zeit auf dem technischen Niveau des 19. Jahrhunderts. Aber der Rumpelexpress stört mich nicht mit seiner bescheidenen Geschwindigkeit und den vielen Haltestellen.
Die Seelsorgsaushilfe in den Kar- und Ostertagen im hintersten Seitental war anstrengend. Und nachdem nun die ganze Last von Beicht- und Predigtdienst abgefallen ist, sitzt es sich wunderbar in dieser Holzbankecke des vorsintflutlichen Waggons. Ich genieße den Blick hinaus ins Tal, durch das ein Hauch von Frühling zieht. Hie und da liegt bereits ein zartes Grün auf den Wiesen – und die Hänge mit den Berghöfen werden aper.
Mir gegenüber sitzt ein deutscher Feriengast, der braun gebrannt den Osterurlaub hinter sich hat. Er hat die „Frankfurter Allgemeine“ beiseitegelegt und schaut auch in die fröhliche Landschaft hinaus. Der Zug hält schon wieder. Auf der einsamen Haltestelle steigt ein einheimischer Fahrgast aus, geht nach vorne und hat mit dem Lokführer ein längeres, freundschaftliches Gespräch, wie es zum familiären Charakter dieses Verkehrsunternehmens passt.
Ich fühle das Bedürfnis, mich für die organisatorische Behäbigkeit und technische Rückständigkeit unseres Bahnwesens zu entschuldigen, und sage zu meinem Gegenüber:
„Es geht halt sehr langsam mit unserer Bahn …“
Der Herr aber schaut mich ganz vergnügt an und meint lächelnd:
„Mir kann es gar nie langsam genug gehen …“
Ich bin verwundert ob dieser ungewohnten Gelassenheit eines offenkundig sehr modernen Menschen mit großstädtischem Charakter. Da gibt er mir die Erklärung:
„Ich bin nämlich Testpilot bei Düsenjägern!“
So kommen wir ins Gespräch. Er beginnt zu erzählen, wie er zu diesem etwas ungewöhnlichen Beruf gekommen sei. Er war im Krieg bei der Luftwaffe, bei den Sturzkampffliegern. So habe er eigentlich nichts anderes gelernt, als zu fliegen, hinabzustürzen und wieder hochzujagen. Und so sei er eben dem Steuerknüppel treu geblieben, habe diesen Beruf angenommen und jage jetzt mit Schallgeschwindigkeit durch die Lüfte …
„Sie wissen ja“, meint er, „Sturzkampfflieger war keine schöne Sache.“
Ja, ich weiß. Ich habe die heulenden Sirenen und herunterjagenden Bomben heute noch im Ohr – und die gewaltigen Explosionen im gefrorenen Boden.