Lektorat: Eva Maria Widmair
© FOLIO Verlag Wien • Bozen 2010
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Druckvorbereitung: Graphic Line, Bozen
Printed in Austria
ISBN 978-3-85256-528-6
www.folioverlag.com
September Song
Oh, it’s a long, long while from May till December.
And the days grow short when you reach September.
When the autumn weather turns the leaves to flame
One hasn’t got time for the waiting game.
Kurt Weill/Maxwell Anderson
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Danke!
Die Küchenkredenz war früher einmal weiß, jetzt ist sie gelb. In der Ecke Spinnweben. Ein kleiner rechteckiger Tisch, eine blau-grün geblümte Plastiktischdecke. Darauf ein beiger Plastikbrotkorb mit einem eingeschrumpelten, ehemals roten Apfel. Und ein weißer Mikrowellenherd, auf seiner Tür ein halb abgelöster Aufkleber. –50%. Neben dem Tisch ein Tischchen mit einem kleinen Fernseher. Als er gebaut wurde, konnte sich noch niemand vorstellen, dass man TV-Geräte einmal flach an die Wand hängen würde. Vom Fernseher geht ein weißes Kabel zur Decke, es verschwindet in einem viel zu großen Loch. Dieser Raum war ihre Küche. Und ihr Vorraum. Wohl auch ihr Wohnzimmer. Kein Wasser. Auf dem Boden ein brauner Kunststoffbelag mit Parkettmuster. Unter dem Gartenstuhl aus weißem Plastik ein rosa Hausschuh. Ich suche den zweiten und sehe ihn neben der Kredenz. Bequeme Filzlatschen, nur die Farbe und die Größe lassen vermuten, dass sie einer Frau gehören. Gehörten. Das, was geblieben ist: zwei im Raum verteilte Schuhe nach einem plötzlichen Aufbruch. Da war keine Zeit, zu ordnen, zu säubern, alles zu regeln. Wohl auch kein Bedarf. Ich öffne die angelehnte weiße Tür und bin im Nebenraum. Eine Art Badezimmer, auf dem Boden steht eine große Lache. Irgendwas tropft. Hat es schon getropft, als sie noch am Leben war? Ich atme flach. Die Luft ist stickig, Dämmerlicht. Das gekippte kleine Fenster mit der Milchglasscheibe lässt weder viel Licht noch viel Luft rein. In der frei stehenden Badewanne ein Eimer. Die Gastherme wurde offensichtlich erst nachträglich eingebaut, Sorgfalt scheint hier nicht notwendig gewesen zu sein. Die Rohre liegen offen in der Wand, in Löchern, die wie Wunden wirken.
Ich rufe mir ins Gedächtnis, wo ich bin: in Lissenberg, einem Dorf nahe dem Stadtrand von Wien. Dieses Haus – kann ich es „Haus“ nennen? – steht nicht irgendwo in der Ukraine oder in Rumänien, es steht zwischen gepflegten Wohnhäusern und Villen und Bauernhöfen. Ich bin durch hohes Gras und einen verwilderten Vorgarten gekommen, habe den Eingang gesucht. Der liegt von der Straße abgewandt, ist eher eine Schuppentür als eine Haustüre, Sperrholzplatte mit einem Riegel innen und einem Riegel außen. Was gäbe es da auch schon zu holen? Zwischen der Küche und dem anderen Raum ist keine Tür, nur ein Türstock, ich bücke mich, unnötig, so niedrig ist der Durchgang doch nicht. Ein Bett mit einem Rahmen aus dunklem Holz. Es gibt Dinge, die sind zwar alt, aber ohne Wert. Hier riecht es noch muffiger als im improvisierten Badezimmer. Der Geruch kommt vom Boden. Kunststoffbelag mit Parkettmuster. Wie in der Küche. Illusion bürgerlichen Wohlstands. In der Ecke hat sich der Boden gelöst, ich schaue darunter: Morsche graue Holzplanken, dazwischen Erde. Lehm. In der Mitte des Raumes ein dunkelroter Teppich mit persischem Muster, an der einen Hälfte verklebt, wie mit getrockneter Farbe. Kann es sein, dass es ihr Blut ist? Dass es niemand weggemacht hat? Neben dem Teppich ein schmaler schwarzer eiserner Ofen.
Es war Jana, Vesnas Tochter, die mich gebeten hat herzukommen. Die Mutter ihrer besten Freundin hat hier gelebt. Und ist vor einigen Tagen hier gestorben. Es gibt keinerlei Absperrungen, die Polizei scheint nicht von einem gewaltsamen Tod auszugehen. Der doppeltürige Kasten aus dunklem Holz steht halb offen. Es ist ein beklemmendes Gefühl, so in das Leben eines anderen Menschen einzudringen, ich tue es trotzdem. Ein brauner Mantel, der schwerer wirkt als warm, zwei, drei Jacken, einige gemusterte Blusen. Am Fuß des Kastens eine Schublade. Sie klemmt, ein Quietschen, bei dem ich zusammenzucke, Protest gegen meinen Übergriff, die Lade ist offen. Ich hab die Frau nicht gekannt. Eine hellblaue Decke aus Kunststoff, vergilbte Bettwäsche, einige DVDs, seltsame Mischung: „Der Kaiser von China“, zwei Kung-Fu-Filme, die Oper „Carmen“. Ein Geräusch an der Eingangstür. Wie ertappt schiebe ich die Lade zu, gehe die paar Schritte durch den Raum, in die Küche. Jana starrt, wie ich Minuten zuvor, auf den einsamen Hausschuh unter dem Stuhl. „Kann man so leben?“ Sie sieht mich irritiert an.
Jana ist kein verwöhntes Kind. Meine Freundin Vesna ist mit ihr und ihrem Zwillingsbruder im Bosnienkrieg nach Österreich geflohen. Die ersten Jahre waren nicht gerade einfach. Jetzt studiert Jana Psychologie und Publizistik. Und Vesna hat es von der illegalen Putzfrau zur Chefin eines Reinigungsunternehmens gebracht. Vom zweiten Telefon – für Nachforschungen und Ermittlungen jeder Art – wissen die Behörden allerdings nichts.
„Wie alt war sie?“, frage ich.
„Keine Ahnung, ich habe sie nie getroffen. Céline wohnt zur Untermiete in Wien. Ihre Mutter soll mit dem Kopf gegen einen Eisenofen gekracht sein. Céline glaubt nicht, dass es ein Unfall war, aber …“
„Das war kein Unfall!“
Ich drehe mich erschrocken um. Laute, klare Stimme. Mädchen, junge Frau im Alter von Jana. Schlank und groß mit halblangen schwarzen Haaren. Ausgeprägter Mund, ausgeprägte Nase, große Augen, hohe Wangenknochen. Zorniger Blick. He, ich opfere meinen Sonntag nicht, um auch noch angefaucht zu werden.
„Mira Valensky“, sage ich, strecke ihr die Hand hin, versuche meine Überlegenheit durch Manieren zu beweisen und lächle, als ob ich etwas zu verkaufen hätte.
Céline hat einen festen Händedruck, sie sieht mich entschuldigend an. „Céline Maier. Sorry. Aber ich hab es so satt, dass alle Mutters Tod als Unfall sehen.“
„Alle?“
„Na alle bei der Polizei eben. Sie sagen, sie haben die bei einem überraschenden Todesfall üblichen Untersuchungen gemacht. Und damit ist der Fall erledigt. Kein Anzeichen von Fremdverschulden.“
„Kann es nicht so gewesen sein?“, frage ich vorsichtig.
„Meine Mutter war zweiundvierzig. Sie war gesundheitlich nicht auf der Höhe, das stimmt. Aber warum sollte sie stürzen und ausgerechnet auf den Ofen fallen?“
„Sie haben hier mit ihr gelebt?“
„Hab ich dir doch schon gesagt“, mischt sich Jana ein. „Nein, hat sie nicht.“
Céline schüttelt den Kopf. „Ich hab ein Untermietzimmer in Wien, bei einem älteren Paar.“
„Wer hätte Ihrer Mutter denn etwas antun sollen?“
„Keine Ahnung. Aber ihr Mobiltelefon ist verschwunden.“
„Keiner begeht einen Mord, um ein Mobiltelefon zu stehlen, das man ganz legal gratis bekommt“, werfe ich ein.
„Weiß ich schon“, erwidert Céline ungeduldig. „Aber sie hatte es immer in ihrer Nähe. Es war quasi ihr Begleiter. Es ist total peinlich, sie hat es ‚Liebling‘ genannt. Sie hat andauernd kleine Filme gedreht, ihr Mobiltelefon konnte das. Ich hab ihr Speicherkarten geschenkt.“
„Was für Filme?“
„Nur Quatsch. Sie ist damit herumgegangen und hat gefilmt, wie sie isst und wie sie fernsieht, wie sie Wäsche wäscht. So als ob es nicht nur ihre Augen, sondern auch die Augen ihres ‚Lieblings‘ gäbe.“
„Und was wollte sie damit?“
Céline zuckt mit den Schultern. „Ich hab sie gefragt, sie hat gesagt: ‚Natürlich nichts. Man schaut ja auch einfach, ohne etwas zu wollen.‘ “
Jana nimmt Céline am Arm. Sie ist einen halben Kopf kleiner als ihre Freundin. Zart, aber ganz schön zäh. Sagt zumindest ihre Mutter. „Und was, wenn sie etwas gefilmt hat, das sie nicht hätte filmen sollen?“
Céline schüttelt den Kopf. „Unwahrscheinlich. Alles, was ich gesehen hab, hat sich hier im Haus abgespielt.“
„Hast du der Polizei davon erzählt?“, will ich wissen.
„Klar, aber die haben gesagt, dass Mama das Telefon wohl einfach verloren hat. Als ob solche wie sie auf nichts achtgeben könnten.“
„Solche wie sie?“ Ich sehe Céline an.
„Sie hat von der Sozialhilfe gelebt. Sie hat chronische Gelenksbeschwerden gehabt und Bluthochdruck und zum Schluss hat sie deutlich über hundert Kilo gewogen. – War Roger schon da?“
„Wer?“
„Mein Halbbruder. Ich hab ihm gesagt, er soll herkommen. Aber auf ihn ist einfach null Verlass. Ich hab kaum Kontakt zu ihm.“
„Hat er hier gewohnt?“, will ich wissen.
„Wo denn?“, fragt sie zurück. „Er wohnt in Wien. Bei seinen Kumpels in der Siedlung, in der wir aufgewachsen sind.“
Ich höre, dass vor dem Haus ein Auto hält. Die Fenster sind irgendwann einmal ausgetauscht worden, Fenster mit weißem Plastikrahmen, sie scheinen dennoch nicht gut zu schließen. Ich halte es hier drinnen nicht mehr aus, ich gehe an Céline und Jana vorbei ins Freie. Verwilderte Idylle, hohes Gras und Holunderbüsche zwischen Haus und Schuppen, daneben ein Eingang, der in ein Kellergewölbe führen könnte. Vesna steht vor dem Haus und mustert es. Ich gehe zu ihr und nicke ihr zu. Die Wangenküsserei heben wir uns für gesellschaftliche Anlässe auf. Irgendwie kennen wir einander zu gut, um diese Bussi-Bussi-Sache zu brauchen.
„Unglaublich, dass da wer wohnt“, murmle ich in ihre Richtung.
„Warum unglaublich? Ist Haus, hat Fenster und Dach. Sie schicken Leute in Kosovo zurück, die haben kein Dach und keine Fenster.“
„Das da ist nicht der Kosovo. Schau erst einmal, wie es drinnen aussieht.“
Vesna betrachtet den primitiven Türriegel, macht die Tür zu, legt ihn vor, macht die Tür wieder auf. „War nur gegen den Wind“, sagt sie dann.
„Hallo Mama, das ist Céline.“
„Céline? Hat das was mit Céline Dion zu tun?“, fragt Vesna und mustert die Freundin ihrer Tochter.
Céline grinst etwas schief. „Hallo Frau Krajner. Ich bin auf die Welt gekommen, als Céline Dion für die Schweiz den Eurovision Song Contest gewonnen hat. Meine Mutter war hingerissen von ihr. Sie hat vor Urzeiten selbst in einer Band gesungen.“
Meine Güte, so lang kann der Song Contest doch nicht her sein. Ich erinnere mich daran, fast als ob es gestern gewesen wäre. Nicht dass mich die Heulboje sehr beeindruckt hätte. Da braucht es mehr als eine starke Stimme und weiche Schnulzen.
„Nicht ganz mein Stil“, redet Céline weiter. „Ich mache eine klassische Ausbildung und will mich dann auf die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts spezialisieren.“
„Sie studiert Gesang und nebenbei mit mir Psychologie“, erklärt Jana. Vesna geht durch die Räume wie ein Hund, der Witterung aufnimmt. Vor dem Teppich im Schlafraum verharrt sie, beugt sich schließlich hinunter. „Blut.“ Sie steht wieder aufrecht und sieht Céline an. „Hat es keiner weggemacht?“
Céline hat die Arme um ihren Körper geschlungen. Sie schüttelt den Kopf. Vesna betrachtet den Eisenofen. „Da sieht man nur mehr kleine Spuren.“
Die kleine Kolonne bewegt sich ins Bad.
„Schlimm, nicht?“, flüstere ich.
„Muss man abdichten, die tropfende Leitung. Aber schlimm? Das gibt es in bosnischen Dörfern auch. Manche Menschen, sie haben kein Geld und sind auch nicht geschickt.“
„Wir sind in Österreich“, erinnere ich Vesna.
„Ha, als ob die zwei Länder so weit voneinander weg sind. Ich werde alles gründlich absuchen. Polizei war wahrscheinlich nicht sehr genau. Besser, ihr geht inzwischen nach draußen. Ich rufe, wenn ich Fragen habe.“
Ich nicke und bin froh, das Haus verlassen zu können. An sich habe ich an diesem Sonntag endlich einmal so richtig faulenzen wollen. Meine letzte Story fürs „Magazin“ hat einige Wellen geschlagen. Es ging um parlamentarische Mitarbeiter des Dritten Nationalratspräsidenten, die bisweilen bei einem Nazi-Internet-Versand einkaufen. Für ihn so etwas wie „Lausbubenstreiche“. Vermutlich haben die Jungs ja nur schauen wollen, was so ein Versand denn liefert. Aber der Herr Präsident ist ja selbst bei einer ultrarechten Burschenschaft. Die großen Parteien haben ihn dennoch gewählt. Zum Kotzen. Ausspannen im Liegestuhl auf Oskars wunderbarer Dachterrasse, Septembersonne, meine Katze Gismo in Streichelreichweite, Oskar, der in der Küche steht und etwas Feines für den Abend zubereitet. So hätte mein Sonntag aussehen sollen. Aber dann musste Oskar ohnehin in seine Kanzlei, Telefonkonferenz mit seiner Partneranwaltskanzlei in Frankfurt, es ist irgendein Problem bei einer deutsch-österreichischen Fusion aufgetaucht. Und Vesna hat mich gefragt, ob ich nicht ins Weinviertel kommen könnte. Bei „Weinviertel“ denke ich an meine Freundin Eva Berthold und ihr großartiges Weingut, an sanfte Hügel, an das wunderbare Restaurant „Apfelbaum“. Ist auch alles gar nicht so weit von hier. Und doch Lichtjahre entfernt.
Céline erzählt Jana leise von ihrer Mutter. „Sie war nicht immer so kaputt. Sie hat selbst jetzt noch gut gesungen, sie muss als Junge sehr gut gewesen sein. Mit ihrer Band hat sie vor allem Schlager gesungen, aber ich weiß, dass sie auch Weill gemocht hat. Das Populärere halt, sie hat ja nicht viel gekannt. Mackie Messer und so.“
„Und warum hat sie aufgehört?“
„Ich weiß es nicht. Sie hat nie darüber gesprochen. Sie hat nur gesagt, es hätte nichts mit uns Kindern zu tun, sie wollte nicht mehr. Ich kann mich erinnern, dass sie dauernd irgendwelche Hilfsjobs hatte. Sie war nicht besonders stark, viel kleiner als ich. Als Packerin hat sie sich wohl die Gelenke ruiniert. Außerdem hat sie immer mehr zugenommen. In Wien ging es noch, da waren die Wege nicht so weit. Aber da … sie ist fast nur noch vor dem Fernseher gesessen.“
„Und warum ist sie hierhergezogen?“
Céline lächelt traurig. „Man hätte sie in Wien delogiert. Sie hat einfach alle Zahlungstermine ignoriert. Nie etwas getan, damit sie Aufschub bekommt, und dann war es zu spät. Das Haus gehört einer Cousine von ihr. Sie hat es von ihrer Mutter geerbt. Die hat bis zum vergangenen Jahr hier gelebt.“
„Und ist …“
„Nein, die ist nicht da gestorben. Sie ist in ein Pflegeheim gekommen und dort war es dann mit ihr vorbei. Sie wollte nicht weg von hier.“
„Kann man sich kaum vorstellen“, murmelt Jana, das Stadtkind.
„Sehe ich auch so. Aber die Großtante, die hat ihr Leben lang in Lissenberg gewohnt. In das kleine Haus ist sie gezogen, als der Sohn die Wirtschaft übernommen hat und ihr Mann gestorben ist.“
„Es gibt nicht einmal ein Klo.“
„Es gibt ein Plumpsklo gleich hinterm Haus. Meine Tante lässt sich für die Bruchbude auch noch zahlen. Einmal in der Woche musste meine Mutter bei ihr putzen und bügeln – anstatt einer Miete. Meine Mutter hat es gehasst, aber es war ihre einzige Chance auf ein Dach über dem Kopf.“
„Gibt es nicht so etwas wie Wohnungsbeihilfe?“, werfe ich ein.
Die beiden scheinen erst jetzt zu merken, dass ich ihnen zugehört habe.
Céline seufzt. „Ich glaube, ich bin inzwischen Expertin, was Sozialleistungen betrifft. Aber so einfach ist das alles nicht. Sie wollte keine ‚Almosen‘, wie sie es genannt hat. Andererseits war sie unfähig zu einer regelmäßigen Arbeit. Das haben auch Ärzte bestätigt. Aber sie hat kaum Versicherungszeiten gehabt, und für Wiedereingliederungsprogramme älterer Arbeitnehmer war sie zu jung. Ich hab dafür gesorgt, dass sie ihre Sozialhilfe bekommt, das war schwieriger, als man glauben möchte. Der Bürgermeister muss unterschreiben und der hat alles Mögliche versucht, dass meine Mutter ihren Hauptwohnsitz nicht nach Lissenberg verlegen kann. Wer will schon Sozialhilfeempfänger? Noch dazu, wo die Gemeinde ein Drittel zahlen muss.“
Wir lehnen an der Tür zum Schuppen, grüne Wildnis auf dem schmalen Streifen zwischen Haus und Nebengebäuden. Weiße Wolken ziehen rasch, es ist angenehm warm für Anfang September. Eine Zeit lang sagt niemand etwas.
„Handy ist wirklich verschwunden“, ruft Vesna und ich zucke zusammen. Sie steht im Hauseingang. „Ist es wirklich so wichtig?“, fragt sie dann in Célines Richtung.
„Es war so etwas wie ihr bester Freund. Und den verliert man nicht einfach. Psychologisch würde man es wohl Ersatz für Sozialkontakte nennen.“
„Und wie hat sie sich das leisten können?“ Vesna streicht sich eine Spinnwebe aus den Haaren.
„Sie hat nicht viel telefoniert. Es war ein Wertkartentelefon. Ich habe ihr sogar eine Solaraufladestation geschenkt. Sie hatten ihr den Strom abgedreht, Mama war komplett verzweifelt. Nicht wegen des Lichts und nicht einmal wegen des Fernsehers, sondern wegen des Telefons. Ich hab das mit dem Strom dann geregelt, die Caritas hat ihr eine Überbrückungshilfe gegeben. Ich hab ihr auch immer Speicherkarten geschenkt, sie wollte nichts löschen, was sie aufgenommen hatte, und einen Computer gibt es ja nicht.“
„Habe ich keine einzige Speicherkarte gesehen“, sagt Vesna nachdenklich.
„Es sind so Minikarten, die hat die Polizei mitgenommen.“
„Also ermitteln sie doch“, werfe ich ein.
„Sie haben gesagt, dass sie ihre Ermittlungen schon abgeschlossen haben.“
„Und wie reagiert dein … Ihr Bruder auf den Tod der Mutter?“
Céline sieht mich an und lächelt ein wenig. „Mir ist das Du sehr recht. Mein Halbbruder? Keine Ahnung. Ich habe ihn angerufen. Er hat irgendetwas gefaselt, dass er das mit ihrem Tod nicht glaube, und dann ‚so eine Scheiße‘ oder so gesagt. Und gestern hab ich ihn angerufen und ihm eingeschärft, dass er heute herkommen soll. Na ja. Er scheint es vergessen zu haben.“
„War er öfter hier?“, will Vesna wissen.
„Ganz selten. Ich bin ihm zum letzten Mal zu Weihnachten begegnet. Ich hab Mama eine günstige Satellitenanlage gekauft, er hat sie montiert. Er ist an sich ziemlich geschickt, hat Elektriker gelernt, aber er hat die Lehre nicht fertig gemacht. Der Betrieb hat ihm gekündigt. Er hat gesagt, der Chef ist ein … ist ein sehr unangenehmer Mensch. Aber ich weiß nicht …“
„Er ist jünger als du?“
„Nein, er ist zweiundzwanzig, ein Jahr älter als ich.“
„Wo finden wir ihn? Wo wohnt er?“ Vesna kramt in ihrer Tasche.
„Weiß ich nicht. Das ändert sich auch immer wieder. Irgendwo in unserer Siedlung, in Floridsdorf. Man kann ihn anrufen.“
Das Café ist Teil einer Einkaufspassage in einer der Massensiedlungen am Stadtrand von Wien. Vielleicht würde ich doch lieber in der Bruchbude mit Plumpsklo leben als eingepfercht zwischen Tausenden in so einer Satellitenstadt. Die paar mickrigen Bäume machen das Fehlen von Grün und Luft erst so richtig sichtbar. Eine unzureichende Entschuldigung für die zubetonierte Landschaft. Luft scheint hier aber ohnehin keiner zu wollen. Zumindest keiner, der im Café „End“ sitzt. Hier wird geraucht, und wie. Einen merkbaren Abzug gibt es nicht. Schlimmer ist allerdings der Geruch, den die vielen Spielautomaten und ihre Benutzer zu verströmen scheinen. Elektroangstschweiß. Bis auf ein dürres Mädchen in einem viel zu großen Pullover sind wir die beiden einzigen weiblichen Wesen da. Trotzdem schaut uns keiner an. Die, die nicht spielen, sind alle so cool, dass sie selbst King Kong nicht beachten würden. Na gut. Vielleicht würde der dunkelhaarige Typ mit der Bomberjacke dort hinten auf King Kong deuten und in die Runde murmeln: „Is’ ein Kumpel von mir.“ Ist er Célines Bruder? Nein, Halbbruder. Darauf scheint sie Wert zu legen. Ein massiger hellhaariger Mann steht auf und kommt auf uns zu. Ich schlucke. Vesna hebt das Kinn. Aus den schlecht eingestellten Lautsprecherboxen dröhnt etwas Punkiges, das klingt wie: „Fuck wonderful world“, ich kann mich aber auch verhört haben.
„Is’ Céline nicht da?“, fragt der massive Mann. Er sieht viel älter aus als zweiundzwanzig. Tätowierte Unterarme. Die Oberarme verbirgt ein reichlich enges Lederhemd.
„Roger Maier?“, frage ich zurück.
Er nickt bloß und deutet auf einen freien Tisch.
Er holt sein halb ausgetrunkenes Bierglas und ich bemerke, dass uns seine Freunde beobachten. Na ja. In dieser Umgebung sind wir ganz schön exotisch. Roger bereichert mit seinem Bier den roten Kunststofftisch um eine weitere Pfütze. Nicht dass es darauf noch ankäme.
„Gibt’s einen Gespritzten?“, frage ich. Vesna entscheidet sich für ein Cola, und Roger schnipst einem Mann um die vierzig zu, der aussieht, als würde er in seiner Freizeit Raubmorde begehen. Ich koste vorsichtig. Erstaunlicherweise schmeckt der gespritzte Weißwein ausgezeichnet. Sehr gesprächig scheint Roger nicht zu sein. Also versuche ich die Konversation in Schwung zu bringen, indem ich den Gespritzten lobe.
„Berts Bruder ist Winzer“, erklärt Roger und deutet auf den mutmaßlichen Raubmörder.
„Ich bin Mutter von guter Freundin von Céline“, erklärt Vesna. „Sie glaubt, dass Ihre Mutter ermordet wurde. Ich mache so Nachforschungen.“
„Eine Ausländerin“, sagt Roger in meine Richtung.
Ich funkle ihn an.
„Ich hab nichts gegen Ausländer, einer meiner besten Kumpels ist ein Türke“, fährt er fort und glotzt auf seine Tätowierungen.
„Ich bin Österreicherin“, faucht Vesna.
„Das sagt mein Kumpel auch immer.“
Besser, wir wechseln das Thema. „Glauben Sie auch, dass Ihre Mutter ermordet wurde?“
Roger zuckt mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Die Bullen haben mit mir geredet. Da hab ich auch nichts sagen können. Und weil Céline auf der Sache mit dem Handy so herumreitet: Klar kann sie das verloren haben. Meine Mutter war nicht besonders fit.“
„Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?“
„Zu Weihnachten. Das heißt am Tag vor Weihnachten. Ich hab ihr so eine Satellitenschüssel besorgt und sie montiert.“
„Céline hat besorgt“, wirft Vesna ein.
„Mann. Ich hab sie besorgt, Céline hat sie gezahlt. Ist das wichtig?“
Ich schüttle beschwichtigend den Kopf und trete Vesna unter dem Tisch auf den Fuß. Sie muss den Kleinen ja nicht lieben, aber wenn sie ihn provoziert, erfahren wir gar nichts. „Das ist fast ein Dreivierteljahr her …“, sage ich vorsichtig.
„Jaa.“ Er scheint nachzudenken, grinst dann. „Die Zeit rast.“
Ganz nüchtern ist er nicht mehr, habe ich das Gefühl. „Haben Sie ab und zu mit ihr telefoniert?“
„Klar, das schon. Es ist nicht so, dass mir das mit dem Tod meiner Mutter nicht leidtut. Sie war immerhin meine Mutter. Aber man kann Tote nicht wieder lebendig machen.“
Aus den Lautsprechern kreischt etwas wie: „Zombies rockt auf, Zombies rückt auf, greift zu den Waffen.“ Ich muss auf die Box gestarrt haben.
„Scheiß schwachsinniger Song“, murmelt Roger fast entschuldigend.
„Haben Sie musikalisches Talent von Mutter geerbt?“, fragt Vesna und ich bin mir nicht sicher, ob das eine neue Provokation sein soll.
„Das hat Céline. Die hat mich schon als Kind krank gemacht mit ihrer Singerei. Klar, dass sie Mamas Liebling war. Aber ich hab ein gutes Gehör. Wollte Elektriker werden und danach, wenn’s geht, Soundtechniker.“
„Kennen Sie Leute, mit denen Ihre Mutter Kontakt hatte? Freundinnen? Freunde?“ Ich habe das auch schon Céline gefragt, sie konnte mir niemanden nennen.
Roger schüttelt den Kopf. „Die hat keinen gehabt, nur uns. Die Großeltern sind tot, aber mit denen hat sie sowieso nie was zu tun haben wollen, waren total durchgeknallt, bei irgendeiner Sekte. Ich kann mich erinnern, mich wollten sie als Kind in irgend so einen Tempel schleppen, aber da hat sich meine Mutter total gewehrt. Und gewonnen. Die Tante kann man auch nicht Freundin nennen. Die hat sie immer nur schikaniert, dieser Trampel.“
„Sie meinen die Cousine Ihrer Mutter, der das Haus gehört?“
„Sie hat die Bruchbude von ihrer Mutter geerbt. Und meine Mutter musste ihr den ganzen Haushalt machen, damit sie dort wohnen durfte. Die Tante nutzt alle nur aus. Mich hat sie auch übers Ohr gehauen. Ich hab ihr die Heizung hergerichtet und sie hat mich dann nicht bezahlt, einer anderen hätte ich ein paar Kumpels vorbeigeschickt, aber in dem Fall, wegen Mutter … Ich hab mir nur geschworen, für die mach ich keinen Handgriff mehr.“
„Und was arbeiten Sie sonst so?“, wirft Vesna ein.
„Was ist das? Ein Verhör? Jobs gibt es genug, für einen Tag oder für eine Woche. Passt schon. Ich komm durch.“
Eine Stunde später stehe ich in Oskars Dachterrassenwohnung. Schön langsam sollte ich mir angewöhnen, sie als unsere zu bezeichnen. Aber es ist eben seine, er hat sie gekauft und eingerichtet und ich bin nach einigen Jahren als Pendlerin zwischen meiner und seiner Wohnung in seine gezogen. War eine schwere Entscheidung. – Was für ein Luxus, sich entscheiden zu können: Nette, wenn auch nicht noble Wiener Altbauwohnung oder Dachterrassenwohnung in der Wiener Innenstadt. Meine Wohnung gibt es noch, sie ist nicht einmal vermietet. Warum? Weil ich es immer wieder vergessen habe. Keine Zeit. Andere haben ganz viel Zeit. Zu viel Zeit. Célines Mutter konnte nicht einmal zwischen einer Billigsozialwohnung und einem Substandardhaus wählen. Gehört wirklich den Tüchtigen die Welt? Oder gehört sie einfach denen, die Glück gehabt haben?
Oskar ist noch nicht zurück. Natürlich arbeitet er eine Menge für sein Geld, aber: Er hat sich seinen Beruf aussuchen können. Und wenn er wollte, könnte er mit weniger Klienten auch ganz gut leben. Gewisse Zwänge gibt es überall. Worum es geht, ist die Möglichkeit, sich immer wieder neu zu entscheiden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese zweiundvierzigjährige kaputte Frau es sich ausgesucht hat, die Tage in Gesellschaft ihres Mobiltelefons vor dem Fernseher zu verbringen. Gismo umschleicht mich. Ich streife durch den großen, offenen Raum mit der Glasfront hin zur Dachterrasse. Platz und Licht. Gismo maunzt ungehalten. Ja, gleich gibt es Abendessen. Vielleicht ist sie es, die es am besten hat. Sie fordert Essen und bekommt es. Sie hat Platz und tut, was sie möchte. Und sie hat kein schlechtes Gewissen, wenn es anderen beschissen geht. Mitten in unserem reichen Land. Vom schlechten Gewissen kann keiner abbeißen. – Was soll das sein? Eine Entschuldigung dafür, dass ich heute lieber nicht mehr an Plastikfußböden mit Lehm darunter denken möchte? Dass ich darüber nachdenken möchte, was ich Oskar heute Abend koche? Oder ob wir lieber auswärts essen?
Ich gehe zur Stereoanlage und schalte sie ein. Céline scheint sich befreit zu haben. Was ist der Preis? Hätte sie sich mehr um ihre Mutter kümmern müssen? Sie hat ihr zumindest bei den Behördenwegen geholfen. Vesna glaubt eher nicht an Mord, hat sie mir vor dem Café „End“ gesagt. Céline habe ein schlechtes Gewissen, sie wolle nicht einsehen, dass ihre Mutter mit zweiundvierzig Jahren einsam und körperlich am Ende auf den Eisenofen gefallen und verblutet ist. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Im Radio quatscht einer über Brecht und Weill und die politische Relevanz von Musicals in den Dreißigerjahren. Und dass es so etwas heute nicht mehr gäbe. Sie spielen etwas aus „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Ich mag diese Musik. „Oh show us the way to the next whisky bar …“ Da treffen sich Oskars und mein Musikgeschmack. Und bei gewissen Jazzstandards. Der Moderator setzt wieder zu wichtigen Worten an, ich gehe zur Küchenzeile und füttere Gismo. Sie frisst schnurrend, den Schwanz ganz gerade aufgerichtet. Am Wochenende gibt es Hühnerherzen. Ihr Lieblingsessen. Eine ihrer vielen Lieblingsspeisen, die alle noch übertroffen werden von schwarzen Oliven. Wenn sie die bloß riecht, knallt sie durch. Der Typ im Radio hört auf zu reden. September Song. Lotte Lenya, melancholisch, mit ihrem deutschen Akzent, der nach Sehnsucht klingt. „Oh, it’s a long, long while from May till December …“
Ob für Evelyn Maier auch einmal Mai war?
Eigentlich dürfte ich wirklich nicht mehr zu spät kommen. Seit ich bei Oskar wohne, brauche ich nur zu Fuß durch ein Stück Wiener Innenstadt zu laufen, dann über die Donaukanalbrücke, und schon bin ich im „Magazin“. Und trotzdem: Heute ist es mir beinahe wieder gelungen. Ich keuche, als das Gebäude aus Beton und Stahl und Glas vor mir auftaucht. „LESEN SIE DAS!“ prangt in Riesenlettern an der Außenfassade. Zurückhaltend ist unsere Wochenzeitung nicht eben. Drei Minuten vor zehn renne ich am Empfangstisch vorbei, winke Marion, die immer noch von einer Modelkarriere träumt, springe in den Aufzug, in dem Menschen stehen, die ich nicht kenne. Seriös wirkende Anzugträger mit gesenktem Blick. Sie werden unser „Magazin“ doch nicht an irgendein ausländisches Konsortium verkaufen wollen? Ein klein wenig scheinen mir diese Anzugträger von Aasgeiern zu haben. Die dünnen Hälse, der faulige Geruch, den auch das feinste Rasierwasser nicht überdecken kann. Sie fahren in die Managementetage, ganz nach oben, ich steige im zweiten Stock aus dem Lift, eile ins Sitzungszimmer. Alle Ressortleiter und die paar Streber, die freiwillig an der Wochen-Redaktionssitzung teilnehmen, starren mich an. Du lieber Himmel, ich hab es komplett verdrängt: Der Chronikchef ist interimistischer Chefredakteur! Er liebt es überpünktlich. Vielleicht mag ich ihn auch deswegen nicht. Unser Chefredakteur ist für vier Wochen auf Urlaub in den USA. Ich sage: „Guten Morgen!“, versuche meinen Atem unter Kontrolle zu halten. Sie brauchen wirklich nicht zu wissen, dass ich gerannt bin. Ich setze mich. Ich bin zwar keine Ressortleiterin, aber ich habe einen Sondervertrag als Chefreporterin. Bin zuständig für die großen Reportagen. Und zur Teilnahme an dieser wöchentlichen Sitzung verpflichtet. Wir werden die Sache mit den Nazi-Buben im Umfeld des Dritten Nationalratspräsidenten weiterverfolgen, aber das muss nicht ich tun. Der einsame Tod von Evelyn Maier ist keine Story, die das „Magazin“ interessiert. Außer ich drücke voll auf die Tränendrüse. Und finde zwei Politiker, die übereinander herfallen. Am besten einen, der gegen jegliche Sozialhilfe ist und verkündet, es sei eben immer schon so gewesen, dass nur die Starken durchkommen. Und als Gegenpart einen, der unser Steuergeld auf jene umverteilen möchte, die sonst nichts haben. Gibt es solche Politiker überhaupt noch? Was übrig bliebe, ist klar: ein tragischer Einzelfall, schön traurig wie eine Soap im Vormittagsprogramm, und neues Geschwätz übers angeblich zu knappe Geld. Leben wir nicht in einem der reichsten Staaten? Oskar sollte mehr Steuern zahlen. Zahlt er nicht ohnehin viel? Jedenfalls zahlt er mehr als ich.
Ich habe nicht aufgepasst. Alle sehen mich an. Offenbar bin ich an der Reihe. Ich räuspere mich. Droch grinst. Da gibt es nichts zu grinsen, mein alter Freund. Ich schlage eine Reportage über Armut in Österreich vor, quasi ein anderes Gesicht der Wirtschaftskrise. Ich erzähle von dem Häuschen, das man eher in der Ukraine oder in Rumänien vermuten würde, und sage, dass man dort sicher fotografieren könne. Denke ich zumindest. Evelyn macht es jedenfalls nichts mehr aus. Mehr noch, sie scheint die Dokumentation ihres Alltags geliebt zu haben.
Der Chronikchef sieht mich betont gelangweilt an und reibt seine Fingernägel. „Und?“, fragt er in die Runde. „Was haltet ihr davon?“
Schweigen. Na super. Dann räuspert sich ausgerechnet der Sportchef und sagt: „Das mit den Fotos klingt …“
Der Chronikchef unterbricht ihn. „Unsinn. Die Wirtschaftskrise ist vorbei. Aber unsere Anzeigen sind noch nicht auf dem alten Niveau. Die Auflage muss steigen. Wer will in Zeiten wie diesen etwas über eine Substandardhütte lesen? Wollen die Leute das? Wenn wir keinen Skandal bieten können, dann sollten wir darüber nachdenken, wie wir unsere Leser aufmuntern können. Positives Denken ist gefragt! Und da kein Sexreport in Sicht ist …“, er sieht auffordernd in die Runde, aber keiner lacht, „… werden wir auf eine andere Art munter machen. Mir schwebt eine Reportageserie vor: Die Gewinner der Krise. Leute, die aus der Krise etwas gemacht haben, Betriebe, die florieren, Menschen, die Geschäftsideen genau jetzt umgesetzt haben, so etwas. Sie werden die Leute schon finden, Frau Valensky. Da bin ich mir sicher.“ Er sieht mich mit einem Blick an, der so was von eindeutig sadistisch ist, dass ich ihm am liebsten ins Gesicht springen würde. Er mag mich genauso wenig wie ich ihn. Ich sehe meinen alten Freund Droch an. Er ist einer der wenigen seriösen Journalisten beim „Magazin“, weit über unsere Redaktion hinaus angesehen, ein unabhängiger und treffsicherer politischer Kommentator. Und mein bester Freund hier, auch wenn wir in beinahe allem unterschiedlicher Meinung sind. Den Mist kann er nicht hinnehmen. Er sieht auch nicht besonders begeistert aus. Aber er schweigt. Scheint in sich versunken. Nahe dem Nirwana. Ich versuche ihn mit Blicken zum Sprechen zu bringen. Leider sitzt er zu weit weg, als dass ich ihn stoßen könnte. Abgesehen davon sind seine Beine so gut wie gefühllos, Folge eines Kriegsreportereinsatzes in jungen Jahren. Seither sitzt er im Rollstuhl. Wie viel hat der Rollstuhl zu seinem Mythos als Topjournalist beigetragen? Mira, ein Unglück bleibt ein Unglück. Dennoch: Ich hätte in diesem Moment gute Lust, die wahre Geschichte seines Unfalls zu erzählen. Ich bin eine der ganz wenigen, die sie kennen. Er ist kein Kriegsheld – wenn es so etwas überhaupt gibt –, sondern er war ein junger, dummer Reporter, der in einen fernöstlichen Hotelswimmingpool gesprungen ist, in dem kein Wasser war. Das hatten sie rationiert. Hotelpools galten auch damals nicht als überlebensnotwendig. Nein, würde ich nie erzählen. Ich würde sein Vertrauen nie missbrauchen.
„Vielleicht gibt es ja ehemalige Manager, die jetzt Sozialhilfe kassieren. Oder andere Promis“, überlegt der Sportchef. „Wenn man das mit so einer Armutsgeschichte koppelt …“
„Bisher gab’s nur dieses Schauspielerpaar, das ohnehin dauernd in den Klatschspalten ist … Wie heißen die beiden gleich? … Die haben Sozialhilfe beantragt … Aber das war schon vor der Krise“, ergänzt der Wirtschaftschef.
Nun durchbohre ich Droch schon fast mit meinem Blick. Er blinzelt mir kurz zu, wie frisch erwacht. „Valensky kann ja über Armut recherchieren. Neben der Serie über die Krisengewinner. Wenn ihr das wichtig ist“, sagt er dann. Nicht gerade die Hilfe, die ich erwartet habe. Recherchieren kann ich sowieso alles. Wenn ich Zeit dazu habe.
„Seien wir uns ehrlich“, doziert der Chronikchef. „Bei uns findet jeder Arbeit, der arbeiten will.“
Ich sehe ihn schon mit Eimer und Besen und fröhlichem Gesicht Bürohäuser wie dieses hier putzen. Dummerweise sage ich es auch. Jetzt habe ich zwar die Lacher auf meiner Seite, aber endgültig eine nervtötende Geschichte am Hals: Meine erste Reportage über die Krisengewinner soll von einer Nobelsecondhandladenbesitzerin handeln, einer „Superfrau“, laut Chronikchef. Ihr Erfolg hat sicher nichts damit zu tun, dass sie mit dem Eigentümer der größten Baumarktkette liiert ist. „Finden Sie heraus, wer in Zeiten wie diesen bei ihr einkauft und wer verkauft. Das müsste Ihnen doch liegen?“ Ich habe den miesen Kerl unterschätzt. Ich stelle ihn mir noch einmal mit Besen und Eimer vor, aber jetzt halte ich den Mund. Ab und zu ist das einfach besser. Vielleicht werde ich schön langsam weise. Oder nur älter? Aus Schaden klug?
„Was hätte ich tun sollen?“, grinst Droch, als wir beim Türken ums Eck unsere gemischte Vorspeisenplatte für zwei zu uns nehmen. Ich muss höllisch aufpassen, dass er nicht alle Sigara Börek stibitzt, die mag er ebenso gern wie ich.
„Du hättest ihnen einen Vortrag über Armut in Österreich halten können“, überlege ich.
„Da hätten sie sich aber gewundert.“
„Na und?“
„Außerdem glaube ich, dass es in jedem Land Armut gibt. Und dass sie sich nicht restlos bekämpfen lässt, wenn man in einer Demokratie lebt.“
„Unsinn“, fahre ich auf.
„Sonst gibt es zu viele Vorschriften. Zu viel Bevormundung. Zu viele Einschränkungen. Selbst in der UdSSR haben sie das nicht geschafft, ein Land ohne Armut.“
„Im jetzigen Russland ist es schlimmer.“
„Gehörst du jetzt etwa zu den Sowjetnostalgikern …?“
Es ist eines unserer üblichen Geplänkel. Er will mich ärgern, indem er den alten Reaktionär spielt, und ich liebäugle mit irgendeiner Weltrevolution. In Wirklichkeit ist er ganz schön aufgeschlossen und ich bin … ich bin wohl zu faul für eine Weltrevolution. Nein, ich glaube einfach nicht daran. Aber den Glauben an die Machbarkeit von Reformen, den will ich mir nicht nehmen lassen. Ich habe Droch von Evelyn und ihren so unterschiedlichen Kindern erzählt. Und von dem Häuschen mit Plumpsklo. „Ich bin mit einem Plumpsklo aufgewachsen – hat es mir geschadet?“, hat er gespottet. Was das angeht, liegt wohl wirklich eine Generation zwischen uns. Ich kann mir so etwas bestenfalls auf Berghütten vorstellen. Und ich weiß schon, warum ich das Meer lieber habe als die Berge.
Am Nachmittag werde ich Zuckerbrot treffen. Er ist Chef der Mordkommission 1. War vor einigen Jahren sogar interimistischer Leiter der Wiener Polizei, aber auf Dauer wollte er eine solche Position nicht. Zu viele Sitzungen. Zu viel Politik. Zuckerbrot ist ein Uraltfreund von Droch. Sie haben zusammen studiert. Und sie treffen einander einmal die Woche zum Essen – ohne über Berufliches zu reden, wie beide regelmäßig betonen. Üblicherweise hat es Zuckerbrot nicht so gerne, wenn ich mich um Fälle kümmere, die sich mit seinen kreuzen. Aber heute am Telefon hatte er kein Problem damit. Was bedeutet, dass er den Tod von Evelyn Maier nicht als Kriminalfall betrachtet. Oder als völlig unwichtigen.
Droch sieht mich forschend an: „Du murmelst etwas vor dich hin, du wirst schrullig, weißt du das?“
Ich lächle so süß wie möglich. „Du würdest mir ohnehin nur widersprechen, also rede ich lieber zu mir selber.“ Oh, wie ich unsere harmlosen Schlachten zu gar nicht harmlosen Themen liebe!
„Also: Was hast du gesagt?“
„Seit wann bist du neugierig?“
„Hellhörig. Das ist etwas anderes. Ich bin trotz meines hohen Alters hellhörig. Ich hab da was von ‚Kriminalfall‘ gehört.“
„Dann hast du nur halb gehört. Ich hab gesagt: ‚Eine tote Sozialhilfeempfängerin ist keine Story. Und kein Kriminalfall.‘ “
„Klingt so, als würdest du beides daraus machen wollen.“
Ich sehe ihn an: „Nur wenn es doch einer ist.“
Ich sitze in Zuckerbrots Büro. Er sieht immer weniger aus, wie man sich den Leiter einer Mordkommission vorstellt. Noch weniger wie ein Hofrat, das ist der Titel, den er eigentlich trägt. Doch seitdem uns die deutschen und amerikanischen Krimiserien überschwemmt haben, sind alle Polizeibeamten Kommissare oder Ober- oder Hauptkommissare oder so etwas. Zuckerbrot hat sich daran wie die meisten seiner Kollegen längst gewöhnt, hat er mir erzählt. Zuckerbrot ist ohnehin nur noch selten dort, wo ein Kriminalfall passiert ist. Er hat einzuteilen und zu verwalten. Auch die Polizei hat sich spezialisiert.
Zuckerbrots neue Sekretärin heißt Grün. Und sie hat tatsächlich sein Büro begrünt. Es ist ein wahrer Pflanzenwald. Dort ein Ficus, da eine Zimmerpalme, beim Aktenschrank ein Philodendron, der an das Monster in meiner Büroecke heranreicht. Sein Freund Zuckerbrot schätze das gar nicht, aber gegen die umtriebige Rothaarige habe er keine Chance, hat Droch grinsend erzählt. Frau Grün war Chefsekretärin in einem großen Möbelhaus, das in Konkurs gegangen ist. Als Polizeivorzimmerdame überqualifiziert, aber ihre Leidenschaft für Krimis jeder Art hat sie hierhergetrieben. Zuckerbrot, der Grünpflanzen exakt gar nichts abgewinnen kann, bezeichnet sich laut Droch seither als „Krisenopfer“. Aber er tut es liebevoll. Ich finde seine Frau Grün großartig, ich hab mit ihr in ihrem Büro über Krimis und Philodendren geplaudert. Na ja. Vielleicht finde ich sie auch bloß so großartig, weil sie ein Fan meiner Reportagen ist. Sie scheint jeden Fall zu kennen, den ich für das „Magazin“ aufgeklärt habe. Aber ich fürchte, wenn es hart auf hart geht und ich wieder einmal etwas von Zuckerbrot brauche, was er mir nicht geben will, steht sie eisern zu ihm.
Zuckerbrot lehnt im abgenutzten Fauteuil seiner Besprechungsecke und bemüht sich, den Kontakt mit dem riesigen Ficus Benjamini zu vermeiden. Ich sitze in einem anderen Fauteuil und führe Small Talk. Wir reden über seine Sekretärin und über Droch und seine unmögliche alte Strickjacke. Schön langsam scheine ich ihm unheimlich zu werden. Kann es sein, dass ich heute tatsächlich nichts von ihm will? Oder plane ich einen besonders heimtückischen Angriff auf seine polizeiliche Verschwiegenheit? Irgendjemand hat ihn einmal als den Philosophen unter den Kriminalbeamten bezeichnet. Tatsächlich sieht er mit seiner Cordjacke, den etwas zu langen Haaren und den Kaufhausjeans eher wie ein Philosophieprofessor aus als wie ein Topkriminalist. Man soll sich allerdings nicht täuschen lassen. Er ist gut. Das weiß ich. Und er kann ganz schön wütend werden, wenn man sein Spiel sabotiert.
„Haben Sie sich den Fall Evelyn Maier angesehen?“, frage ich.
Er wirkt richtiggehend erleichtert. „Was für einen Fall?“, fragt er zurück. „Das ist kein ‚Fall‘.“
„Das heißt, Sie haben ihn sich angesehen und sind zu dem Schluss gekommen, dass ihr Tod ein Unfall war.“
Er sieht mich beinahe belustigt an. „Korrekt.“
Ich seufze. „Könnten Sie ein bisschen mehr darüber sagen? Wo es doch ohnehin kein ‚Fall‘ ist?“
Zuckerbrot spielt mit dem Kugelschreiber, der auf dem kleinen Tisch zwischen uns liegt. „Da gibt es nicht viel zu sagen. Die Frau hat hundertzehn Kilo gehabt, eine Krankengeschichte wie eine Achtzigjährige, unter anderem Zucker, der in letzter Zeit nicht mehr behandelt worden ist. So etwas kann Schwindelgefühl auslösen. Sie ist gegen den Eisenofen gefallen, hatte eine offene Schädelfraktur, wäre wohl ohnehin daran gestorben, ist aber verblutet.“
„Gab es eine Autopsie?“
„Gab es nicht. Das können unsere Gerichtsmediziner auch so feststellen. – Was interessiert Sie an der Frau? Ist doch nicht der klassische Fall für eine ‚Magazin‘-Geschichte, oder?“
„Sie ist die Mutter einer Freundin von Vesna Krajners Tochter. Vesna …“
„Ich weiß, wer Vesna Krajner ist. Wer wüsste das nicht, der sich neben ihr um die Aufklärung von Verbrechen bemüht?“
„Sie hat ein Reinigungsunternehmen“, widerspreche ich.
Zuckerbrot lächelt. „Die Mafia hatte Waschsalons.“
Ich will schon auffahren, aber er fasst mich beruhigend am Arm. „Nichts gegen Ihre Freundin. Aber das ist kein Fall. Es gibt einfach kein Motiv. Wir haben mit der Tochter und dem Sohn und der Cousine geredet. Viel mehr Menschen scheint Evelyn Maier nicht gehabt zu haben. Traurig, so etwas. Aber kein Fall.“
„Ihr Mobiltelefon ist verschwunden. Céline, die Tochter, sagt, dass es so etwas wie der einzige Vertraute ihrer Mutter war.“
„Das hat sie uns auch erzählt. Wir haben uns sogar die Speicherkarten angesehen, sie scheint andauernd mit dem Telefon filmend herumgelaufen zu sein. Hätte ja sein können, dass sie etwas aufgenommen hat, was sie nicht hätte sehen sollen. Nichts. Trauriger Alltag einer einsamen Frau.“
„Die keinen interessiert.“
Zuckerbrot schüttelt den Kopf. „Die meisten, die aus ungeklärter Ursache ums Leben kommen, haben in der Realität viel mehr mit Evelyn Maier zu tun als mit irgendwelchen TV-Opfern aus bester Familie. Wir schauen nicht weg, nur weil vor dem Tod ein ‚patschertes Leben‘ war, wie man in Wien sagt.“
„Und ihr verschwundenes Telefon?“
„Sie war offenbar etwas wirr. Kann mit der Einsamkeit, aber auch mit der Diabetes zusammengehangen haben. Seit sie von Wien weggezogen war, hat sie keine Medikamente mehr geholt. Sie wird das Telefon irgendwo verloren haben.“
„Wo? So groß ist das Haus nicht.“
„Sie ist einmal die Woche nach Wien gefahren. Wien ist groß.“
„Kann ich die Speicherkarten haben?“
Zuckerbrot schüttelt langsam den Kopf. „Das sollten Sie wissen. Sie sind keine nahe Angehörige. Ich kann die Karten für die Tochter oder den Sohn freigeben. Wir schicken sie zurück an das zuständige Kommissariat in Niederösterreich.“
„Die Karten sind hier in Wien?“
„Wir haben sie kommen lassen. Und nachdem Sie mich angerufen haben, hab ich kurz hineingesehen. Nichts Bemerkenswertes, wirklich.“
Ich weiß ja selbst nicht, ob Céline recht hat. Ich überlege. Wen kenne ich, der mir die Speicherkarten herausrücken könnte …? Wenn sie für die Polizei ohnehin ohne Bedeutung sind … Wie schade, dass Verhofen nicht da ist. Zuckerbrot muss Gedanken lesen können. „Sinnlos, es hinten herum zu probieren. Meine Sekretärin ist, abgesehen von ihrer Grünpflanzenmanie, eine Perle. Und genauso verschlossen wie die Auster rundherum. Und Verhofen ist auf Urlaub in Afrika.“
Ich nicke möglichst harmlos. „In Zimbabwe. Wo er für die UNO Polizeioffiziere ausgebildet hat.“ Ich weiß, warum er damals zurück nach Österreich gekommen ist. Wegen einer Frau, einer Uni-Dozentin, die sich in Harare für einen heimischen Politiker entschieden hatte. Ob er es noch einmal bei ihr probiert? Ob sie ihn gerufen hat? Und warum gibt mir der Gedanke einen kleinen Stich? Nur weil wir uns gut verstanden haben? Ich bin glücklich mit Oskar. Und ob. Aber es war schon nett, ein wenig von Verhofen umgarnt zu werden.
„Was murmeln Sie?“, fragt Zuckerbrot.
Fange ich etwa wirklich an, in Gegenwart anderer vor mich hin zu reden? Er ist der Zweite, der mir das heute sagt. Mira, so etwas sollte nicht zur Gewohnheit werden, nicht vor deinem neunzigsten Geburtstag.
„Er soll stellvertretender Polizeikommandant werden, nicht wahr?“, lenke ich ab.
„Richtig. Also werden Sie ihn schön in Ruhe lassen. Eine … Freundschaft mit einer ziemlich umtriebigen Reporterin ist das Letzte, was seiner Karriere zuträglich wäre.“
„Sie sind doch auch mit Droch befreundet.“
„Das ist erstens etwas anderes und zweitens will ich nicht Karriere machen.“
„Das ist nichts anderes“, entgegne ich streitlustig. „Ein guter Freund. Er ist ein guter Freund.“
Zuckerbrot grinst.
Ich sehe ihn bittend an. „Kann ich die Speicherkarten mitnehmen, wenn ich verspreche, dass Céline eine Vollmacht schickt?“
Der Kriminalbeamte in der Cordjacke schüttelt den Kopf. Dabei kommt ihm ein Ast des Ficus in die Quere. Er duckt sich.
„Sie mögen keine Grünpflanzen, nicht wahr?“
„Nicht im Büro. In der freien Natur finde ich Grün sehr nett. Wissen Sie, was meine Sekretärin behauptet? Ich brauche Sauerstoff zum Denken, und Pflanzen produzieren Sauerstoff. Ich habe die letzten Jahrzehnte ganz ohne zusätzlichen Sauerstoff eine Menge Fälle gelöst. Wenn Sie ihr das klarmachen könnten, dann kriegen Sie die Speicherkarten.“
Man muss wissen, was aussichtslos ist. Ich schüttle den Kopf und verhandle weiter: „Wenn Céline herkommt, kann sie dann die Speicherkarten mitnehmen oder muss sie zum zuständigen Kommissariat nach Niederösterreich?“
Zuckerbrot überlegt. „Meine Güte. In diesem Fall … der kein Fall ist … wenn sie kommt, dann lasse ich die Sachen von Evelyn Maier zum Portier schaffen und dort kann sie sie gegen Unterschrift abholen. Ich weiß allerdings nicht, ob das Kommissariat noch mehr hat, was abzuholen ist.“
Ich wähle bereits Célines Nummer. Gut möglich, dass hinter dem Tod der Sozialhilfeempfängerin tatsächlich nichts weiter als eine traurige Geschichte steckt. Aber die Speicherkarten möchte ich mir doch ansehen. Ich erreiche Céline auf der Musikuniversität, in einer Stunde kann sie da sein.
„Ich würde ja so gerne noch lange mit Ihnen plaudern, ist ja selten genug, dass wir ein so nettes Gespräch führen, aber ab und zu muss ich doch auch noch ein bisschen arbeiten“, sagt Zuckerbrot.
„Ein interessanter Fall?“, frage ich neugierig. Vielleicht wartet hier eine Story, die so gut ist, dass ich die Secondhandladenbesitzerin vergessen kann.
Zuckerbrot nickt ernst. „Könnte man so sagen.“
Ich hänge an seinen Lippen. Ich darf kein Wort überhören. Viel wird er nicht rauslassen.
„Eine wichtige Besprechung, sogar der Polizeipräsident kommt.“ Kunstpause. „Die Reformierung der Dienstabzeichen.“
Ich schreie empört auf, der Kerl hat mich drangekriegt. Zuckerbrot lacht. Ich lache auch.
„Nein“, sagt er dann, momentan gebe es keine spektakulären Fälle. Taten der Trostlosen. Totschlag zwischen Saufkumpanen. Raub mit Todesfolge. Mann bringt Frau um, weil sie sich von ihm trennen will.
Ich setze mich auf eine Bank vor dem Präsidium und denke nach. Gibt es irgendetwas, das Evelyn Maier gesehen haben und das ihr zum Verhängnis geworden sein könnte? Irgendetwas, das den Polizeibeamten vielleicht nicht aufgefallen ist? Wie sollte es dann uns auffallen?