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Unter Strom

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Unter Strom

Ein Mira-Valensky-Krimi

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Lektorat: Joe Rabl

© Folio Verlag Wien • Bozen 2012
Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart
Printed in Austria

ISBN 978-3-85256-605-4
eISBN 9783990370124

www.folioverlag.com

[ 1. ]

Tief ein, tief aus, mein Atem ist viel zu laut, ich fühle mein Herz schlagen, zu heftig, regelmäßig atmen, Mira, tief ein, tief aus. Dieses Stechen im linken Knie. Ob ich einen Meniskusschaden habe? Weiter, renn weiter. Gelbe Blumen am Wegrand, wie heißen sie? Vorbei. Ein Schmetterling. Es ist September, ein warmer September. Der Schweiß rinnt mir über die Stirn, in die Augen. Tief ein, tief aus.

Alle können joggen lernen. Und hier sieht mich zumindest keiner. Keuchende Fastfünfzigerin in kurzen Hosen und mit knallrotem Gesicht. Locker, ganz locker bleiben. Eine Wurzel am Weg, ein kleiner Sprung. Uff. Das wäre beinahe schiefgegangen, drei Zentimeter weiter nach rechts und ich wäre auf dem Stein da gelandet, gestrauchelt, gefallen, hätte mir den Knöchel verstaucht, das Knie aufgerissen, die Hände … Aber ich laufe noch, habe es unbeschadet überstanden, dort vorne mündet der Waldweg in die schmale Straße. Ich sehe auf meine GPS-gesteuerte Uhr. Ein Stück, das in keiner Relation zu meinen sportlichen Fähigkeiten steht. Oskar hat sie mir geschenkt, als ich vor einer Woche zu meiner Freundin Eva ins Weinviertel aufgebrochen bin, um mich ans Joggen zu gewöhnen – und an den Abenden bei einem guten Glas Wein auszuspannen.

Vielleicht wäre ein klitzekleines gezielt eingesetztes Doping doch eine gute Idee? Ich atme vehement aus. Sicher nicht. Erinnere dich daran, was sie mit den Sportlern im idyllischen Vulkanland ausprobiert haben. Aber das ist eine andere Geschichte. Es sind ohnehin nur noch zwei Kilometer. Und – Mist! – ich laufe bloß sieben Komma vier Stundenkilometer. Etwas schneller sollte ich schon sein, gleich habe ich Asphalt unter den Füßen. Warum tue ich mir das an? Nur weil ich ein paar Kilo loswerden möchte? Das will ich doch schon seit Jahren. Nur weil Vesna so fit ist? Meine Freundin hat immer die bessere Kondition gehabt, nicht erst, seit sie läuft. Hat vielleicht damit zu tun, dass sie in ihren ersten Jahren in Österreich keine andere Chance hatte, als putzen zu gehen. Während ich gerne sitze und esse und trinke und genieße und ansonsten eben meine Reportagen schreibe. Und damit ich das alles noch lange kann, sollte ich halbwegs in Form bleiben.

Tief ein-, tief ausatmen. Blick auf die Multifunktionsuhr: acht Stundenkilometer. Schon etwas besser. Ich fingere im Laufen nach meinem Taschentuch, ich muss mir die Stirn abwischen, der Schweiß brennt in den Augen. Aber das Tuch ist schon klatschnass. Ein Brummen. Da ist ein großer Käfer unterwegs. Ich sollte mich auf meine hübsche Umgebung konzentrieren und nicht auf mein Keuchen, auf mein Knie. Ob der Käfer schneller fliegen kann, als ich laufe? Gut möglich. Das Brummen wird lauter. Seltsames Vieh. Irgendwie bedrohlich. Ich gebe so gut ich kann Gas und hetze um die Kurve. Von hier aus sieht man schon die Häuser von Treberndorf. Links und rechts von mir Weingärten, die Trauben prall, bald beginnt die Lese. Jetzt rechts ein Acker, mittendrin eine der Ölpumpen. Mit bewundernswürdiger Regelmäßigkeit bewegt sich der Pumpenkopf auf und ab. Teil der Weinviertler Idylle. Industrie und Natur. Vor mir die Gasstation. Seltsam gewundene weiße und metallblitzende Rohre und Zylinder und Drehräder und ein kastenförmiges niedriges weißes Verwaltungsgebäude mit wenigen Firmenautos auf dem Parkplatz davor. Was sie da genau tun, weiß ich nicht. Nur dass es eben im Weinviertel nicht nur Wein, sondern auch Gas und Öl gibt. Das Brummen ist noch lauter geworden. Vielleicht kommt es von der Gasstation? Was, wenn da etwas nicht in Ordnung ist? Wenn sich Gas unter großem Druck einen Weg ins Freie sucht, explodiert? Ich keuche weiter, sehe nach oben. Hubschrauber! Das brummende Ding ist ein Hubschrauber. Er kommt direkt auf mich zu. Was soll das? Ich hab hier in den letzten Tagen nie Hubschrauber gesehen. Die von der Rettung sind gelb, der da ist braun-grau. Ist da nicht noch ein Brummton? Weiterlaufen, weg von hier. Ich drehe den Kopf zur Seite. Da ist tatsächlich noch ein braun-grauer Hubschrauber. Sie verlieren an Höhe, sind jetzt beide beinahe über mir, ich kann die Rotorblätter erkennen, kein Brummen mehr, unerträgliches Rattern. Apokalypse now. Goooooooooooood morning, Mira! Sie kreisen, ich kneife die Augen zusammen, wische mit dem Handrücken den Schweiß fort, da: noch einer. Dort beim Windschutzgürtel: noch einer. Ich sollte umdrehen und zurück in den Wald laufen … Wie hoch sind die Hubschrauber? Zehn Meter? Nein, es werden wohl doch zwanzig sein. Ist das nicht egal? Ich spüre den Wind der Rotoren, ziehe den Kopf ein. In der Gasstation keine Reaktion. Niemand rennt, niemand kapituliert, niemand wehrt sich. Gleich bin ich daran vorbei. Wenn mir die Hubschrauber folgen … Warum sollten sie? Würden die was von mir wollen, sie hätten längst landen, längst auf mich schießen können. Ich überlege fieberhaft, woran ich momentan fürs „Magazin“ recherchiere. Nichts Brisantes dabei, vielleicht abgesehen von der Banken-Geschichte. Steckt doch mehr hinter dem Selbstmord des Bankers? Ich renne, mein Keuchen wird längst vom Lärm der Hubschrauber übertönt, Blick auf die Uhr. Es ist zehn vor zehn und ich bin momentan mit elf Stundenkilometern unterwegs. – Was? Ein Kontrollblick. Tatsächlich. Wie rasch kann ich im äußersten Fall rennen? Vielleicht zwölf, dreizehn Stundenkilometer. Hubschrauber sind schneller. Sie kreisen noch immer wie ein Schwarm wütender Monsterhornissen. Fünf sind es – oder sechs? Egal. In ein paar hundert Metern beginnt die Kellergasse von Treberndorf, ein paar hundert Meter, dann bin ich in Sicherheit. Vorbei am Windschutzgürtel. In den Büschen bewegt sich etwas. Nicht nur ich, auch alles andere, was Instinkt hat, will weg von hier.

Ich wische mir wieder über die schweißbrennenden Augen. Das ist ein Tarnhelm. Und unter ihm kein Reh, sondern ein Männerkopf. Noch ein Helm. Und noch ein Kopf. Und dann zwei Soldaten, die sich aufrappeln und mich anstarren. Ich bin da nicht in Syrien, nicht zeitversetzt im Vietnam der Siebzigerjahre, ich bin in meinem grünen Weinviertel mit Wein und Ölpumpen und …

„Was machen Sie?“, brüllt der eine Soldat aus dem Gebüsch.

„Blumen pflücken“, keuche ich und bleibe nicht stehen. Was für eine idiotische Frage. Wird wohl schon eine Joggerin gesehen haben.

„Da ist eine Übung!“, brüllt der andere.

Ich atme so vehement aus, dass es mir einen Stich in der rechten Seite gibt. „Ich muss nach Treberndorf!“, schreie ich zurück und trabe weiter.

Die beiden Streitkräfte arbeiten sich aus dem Gebüsch und kommen auf mich zu. Tarnanzug, Gewehr. Ich mag keine Menschen mit Waffen. Ich werde sie ignorieren.

„Sie können da nicht durch, das ist gesperrt“, erklärt mir der erste Soldat noch immer brüllend. Über uns die Hubschrauber.

„Hat mir keiner gesagt.“ Ich bleibe stehen. „Was üben Sie?“ Seitenstechen, mit jedem Atemzug schneiden Messer durch meine rechte Seite.

„Das ist Militärgeheimnis“, brüllt der zweite Soldat.

„Ich bin Journalistin“, rufe ich so laut wie möglich.

Die beiden sehen einander ratlos an. Über uns die kreisenden Hubschrauber, ganz nah. Wären es Vögel, wir könnten sie aus der Hand füttern, scheint mir.

„Gibt es noch mehr von euch im Gebüsch?“, will ich wissen. Dass laut fragen so wehtun kann.

„Der Presseoffizier ist nicht da“, schreit Nummer eins gegen den Weinviertler Kriegslärm an.

Ich hole so tief wie möglich Luft. „Möge die Übung gelingen“, rufe ich und starte gleichzeitig los. Ich werde das Seitenstechen einfach ignorieren. Sie werden mir schon nicht nachschießen. Ich hab mich heute schon mehr gefürchtet. Drei weitere Helme mit verdutzten Gesichtern tauchen auf. Die Lippen des Soldaten vor mir formen so etwas wie ein „Aber …“. Es geht im Lärm unter. Ich laufe und weiß mit einem Mal, warum man fit sein sollte: um davonrennen zu können. Ich atme tief aus und ein. Ich sehe nicht auf meine Multifunktionsuhr. Ich weiß auch so, dass ich schnell bin. Das Seitenstechen wird erstaunlicherweise schwächer. Die gelbe Fassade des ersten Häuschens in der Kellergasse. Die große Trauerweide. Kopfsteinpflaster unter meinen Laufschuhen. Ich drehe mich nicht um. Fast am Ende der Gasse zwischen zwei Kellerhäuschen zweigt ein schmaler Pfad ab. Schon bin ich dort, ich schlage einen Haken, spätestens jetzt haben sie mich aus den Augen verloren. Ich rutsche, strauchle, der Lehm unter mir ist glitschig, heute Nacht hat es geregnet, ich falle, ich liege zwischen den beiden Kellergebäuden. Eines ist weiß gestrichen, vom anderen blättert der braune Putz ab. Erst jetzt merke ich, dass es still geworden ist. Ich sehe nach oben. Die Fassaden und ein Baum verdecken einen Teil des Himmels, aber es scheint, als wären die Hubschrauber weg. Sind sie gelandet? Oder davongeflogen? Ich rapple mich auf. Knie und Schienbeine sind voller Erde, doch mir ist nichts passiert. Gar nichts ist mir passiert. Ich setze mich vorsichtig, langsamer, wieder in Bewegung.

Wenige Minuten später stehe ich im Innenhof meiner Freundin. Sie kommt aus dem Haus, sieht mich besorgt an. „Na, du wollest es heute aber wissen! – War es noch feucht im Wald? Oder bist du gestürzt? Frühstück ist jedenfalls fertig. Ich muss in die Weingärten. Martina hat mich angerufen. Über der Hochlissen kreisen die Stare, wir haben das Netz noch nicht fertig gespannt.“

Eine andere, im Weinviertel wohl realere, Bedrohung aus der Luft: Starenschwärme zur Lesezeit.

„Die sind wahrscheinlich weg“, keuche ich. „Da waren Hubschrauber.“

„Ja, ich hab mich gewundert …“

„Eine Bundesheerübung. Muss man so etwas nicht ankündigen?“

„War wohl bloß ein kleines Manöver. Wahrscheinlich wegen der Gasstation. Ich hab jedenfalls nichts davon gewusst.“ Eva sieht in die Luft, aber was ihr die Ruhe raubt, sind keine Hubschrauber. Eine halbe Stunde zu spät und die Vögel haben die Trauben eines großen Weingartens bis auf die letzte Beere abgefressen.

„Ich geh erst einmal duschen“, sage ich.

„Wird gut sein“, lächelt die Winzerin. „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, pfeift sie. Und schon steht Reblaus, ihr freundlicher Schäferhund, wedelnd da. Bereit, mit ihr bis ans Ende der Welt zu fahren. Oder bis zur nächsten Rebzeile.

Während ich das zweite Stück Schwarzbrot mit Butter und Käse verdrücke, blättere ich die Zeitungen durch. Keinerlei Hinweis auf eine Bundesheerübung. Was wird in Kriegen vor allem angegriffen? Munitionslager, Militärstützpunkte, wohl auch Versorgungszentren aller Art. Ehrlich gestanden habe ich wenig Ahnung. Ich vermute allerdings, dass es aktuell ohnehin wenige Nationen gibt, die unserem kleinen Österreich etwas antun wollen. Von mir aus bräuchten wir kein Bundesheer. Vielleicht eine Grenztruppe und natürlich eine Katastrophenschutzeinheit … Ob ich noch ein drittes Brot essen soll? Kalorien hab ich heute genug verbraucht. Und durch den Schreck wahrscheinlich doppelt so viele. Sei nicht gierig, Mira. Ich einige mich mit mir auf ein halbes Stück Brot mit Butter und Paradeiserscheiben aus Evas Garten. Eigentlich schade, dass ich heute zurück nach Wien muss. Bin ich schon gut genug, um im Prater zu joggen? Ich blättere den „Weinviertler Boten“ durch. Da, im linken Eck unter den Society-Events der Gegend, ein kleines Kästchen: „Übung des Bundesheers am 7. September im Gemeindegebiet von Treberndorf. Von acht bis elf Uhr ist die Feldgasse zwischen der Weingartengasse und der Golsdorfer Straße gesperrt.“ Das ist alles. Kein Hinweis auf die Gasstation, keine Angabe von Gründen. Rechts oben erfahren wir dafür, dass der Bürgermeister gemeinsam mit einer Abordnung des Gemeinderats einer Hundertjährigen gratuliert hat. Die Hundertjährige sieht deutlich frischer aus als der Großteil der Gemeindefunktionäre. Und wir lernen, dass ein Liebling der volkstümlichen Schlagerszene in der Veranstaltungshalle des Bezirks einen großen Erfolg gefeiert hat. Lächelnde Blondine mit Gitarre, umgeben von lächelndem Feuerwehrchef, Bezirksrauchfangkehrermeister, Baumeister nebst Gattin. – Was hat das Bundesheer bei der Gasstation gewollt?

Am späten Nachmittag bin ich in unserer Wohnung in Wien. Gismo hat mich maunzend begrüßt und dann für meine zwei Taschen deutlich mehr Interesse gezeigt als für mich. Eva packt immer ein, als gäbe es in Wien eine Hungersnot: Paradeiser und Zucchini und Melanzani und Gurken und Endiviensalat aus ihrem Garten, ein Stück selbst geselchten Speck von ihren Eltern, Bauernbrot und als Draufgabe ein großes Stück von einer Schweinsschulter. Eines der klassischen Gegengeschäfte am Land: Eva hat Wein gegeben und ein halbes Mangalitza-Schwein bekommen. Und dann noch Verjus: ihr neuestes Produkt, ein saurer Saft, der aus unreifen Trauben erzeugt wird. War im Mittelalter weit verbreitet, wurde anstelle von Zitronen verwendet. Meine Weinkartons habe ich noch im Kofferraum in der Tiefgarage. Oskar wird in frühestens zwei Stunden auftauchen. Er habe noch einen wichtigen Klienten und müsse danach noch etwas für den morgigen Prozesstag vorbereiten. Er hat gehetzt geklungen, als ich mit ihm auf der Fahrt nach Hause telefoniert habe. Oskar ist ein vielbeschäftigter Wirtschaftsanwalt, aber er hat, anders als die meisten, nur eine kleine Kanzlei. Das bedeutet viel Arbeit. Auch er wird nicht jünger. Er sollte ein wenig zurückstecken. Oder zumindest zu joggen beginnen. So wie ich. Stopp, Mira: Nach ein paar Tagen Gekeuche fühlst du dich schon überlegen? Na ja, ich probiere das mit dem Laufen wenigstens, Oskar weist derartige Bewegung als übertrieben von sich.

Ich habe versprochen, aus Anlass meiner Rückkehr zu kochen. Am besten, ich verwende das, was mir Eva mitgegeben hat. Noch so eine tüchtige, arbeitsame Person in meiner Umgebung: Führt gemeinsam mit ihrer Tochter Martina den großen Winzerhof, heimst für ihre Weine eine Auszeichnung nach der anderen ein, fährt auf Präsentationen bis Amerika. Und ich? Ich fürchte mich, wenn über mir Hubschrauber kreisen, und recherchiere dann nicht einmal vor Ort, was das soll. Eine fleißige Journalistin hätte sich durch den Wald wieder angeschlichen, hätte Fotos gemacht, zu lauschen versucht. Ich hätte auch ins Treberndorfer Wirtshaus gehen und mich dort umhören können, ich hätte den Bürgermeister zu möglichen Bedrohungen für die Gasstation interviewen können. Stattdessen habe ich ausführlich gefrühstückt, bin dann in der Sonne gesessen und habe mit Eva zu Mittag gegessen. Durch das Gerenne steigt mein Appetit enorm. Dabei wollte ich doch durch Joggen ein paar Kilo verlieren. Okay: Es wird bloß ein leichtes Abendessen geben. Und davor werde ich mich an den Laptop setzen und nachsehen, ob ich etwas über die Bundesheerübung mit den sechs Hubschraubern finde. Oder sind es doch nur fünf gewesen?

Gismo hat sich unterdessen auf unsere Dachterrasse verzogen. Sie liegt in der Nachmittagssonne und ihr ist es restlos egal, dass sie nicht fleißig ist. Ich sollte mich zu ihr setzen. Ich gehe hinaus, streichle die Schildpattkatze, die mich jetzt schon sechzehn Jahre begleitet. Besser gar nicht daran denken, dass sie für eine Katze schon ziemlich alt ist. Ich werde ihr später ein paar Oliven geben. Ich sage es ihr. Gismo schnurrt, ihre Barthaare vibrieren. Ich sehe zum Korbsessel hinüber, richte mich auf. Ziehen in den Oberschenkeln. Aber das ist gut so, ein Zeichen, dass sich etwas tut in den Muskeln.

Die Zucchini ist schon ziemlich groß. An sich mag ich die ganz kleinen lieber. Aber sie ist frisch, sie ist sicher reif und ihre Haut ist noch zart. Ich überlege und schneide sie in dicke Scheiben, steche mit einem Glas das weiche Innere rund um die Kerne aus. Dann teile ich sie in Segmente, salze sie, lege sie in eine Schüssel und decke sie zu. Ich starte meinen Laptop. Durch die Glastür zur Terrasse sehe ich auf die Dächer der Wiener Innenstadt. Ich sollte nie vergessen, wie gut es mir geht. Krieg … unvorstellbar. Als meine Eltern Kinder waren, hat der Zweite Weltkrieg getobt. Sechs Jahre lang. Mit Bomben und Hunger und Hetze und Hass und geliebten Menschen, die nicht mehr zurückgekommen sind. Kann man sechs Jahre Krieg je vergessen? Verdunkelung. Sirenengeheul. Luftschutzkeller. Seltsam, wie selten meine Eltern darüber reden. Wobei … eigentlich ist der Wahnsinn noch viel näher. Mitten in Europa. Meine Freundin Vesna ist während des Kriegs in Jugoslawien mit ihren kleinen Zwillingen nach Österreich gekommen. Auch sie redet so gut wie nie davon, was sie damals daheim in Bosnien erlebt hat. Was muss geschehen sein, dass sogar die mutige Vesna geflohen ist? Oder hat sie das, was sie gesehen hat, erst unerschrocken gemacht? Irgendwann einmal hat sie erzählt, dass sie sich an der Grenze zu Österreich geschworen hat, neu anzufangen, das alte Leben zu vergessen. Vielleicht ist ein Bundesheer, um Kriege zu verhindern, doch ganz gut. Allerdings: Wer führt denn Krieg, wenn nicht Heere? – Immer häufiger sind es Kriege zwischen staatlichen Truppen und welchen, die politische Veränderungen wollen. Ein großer Unterschied für die betroffene Bevölkerung? Kann es Kriege geben, die um der Freiheit willen gekämpft werden müssen?

Ich gebe die Suchbegriffe „Bundesheer Übung Treberndorf Gasstation“ ein. Kein Ergebnis. Wie geheim ist es eigentlich, was die dort gemacht haben? Jedenfalls stand eine Notiz in der Gemeindezeitung. Und mehrere Hubschrauber sind nicht einfach zu verstecken. Ich suche die Nummer des Gemeindeamts von Treberndorf und rufe an. Eine freundliche Konservenstimme teilt mir mit, dass ich die Amtszeiten verpasst habe. Schicksal. Aus der Schweinsschulter könnte ich ein Ragout machen. Vielleicht exotisch gewürzt …

Ingwer hab ich, wie meistens, im Kühlschrank. Ich schneide ein großes Stück davon ganz fein. Ich röste ihn gemeinsam mit Speckstreifchen und ein wenig Öl in einem großen Topf. Ich könnte mit der Pressestelle des Verteidigungsministeriums telefonieren. Wie hat der Pressesprecher bloß geheißen? Am besten an etwas anderes denken, dann fällt es mir wieder ein. Ich schneide eine Zwiebel fein, gebe sie dazu in den Topf und rühre um. In der Gemüselade habe ich noch ein paar Karotten und ein Stück Kürbis gesehen, sie sind nicht mehr ganz frisch, aber ich war die letzten Tage ja auch nicht da. An Gemüse vergreift sich Oskar nur in Notfällen. Ich gebe Karottenstückchen und Kürbiswürfel dazu, die paar Knoblauchzehen könnten auch nicht schaden. – Wie hat der Pressesprecher also geheißen? Irgendetwas mit „M“. Ich hab mit ihm zu tun gehabt, als es um dubiose Geldflüsse beim Ankauf dieser Eurofighter gegangen ist. Ich glaube nicht, dass er mich besonders mag. Trotzdem. Ich kriege das brutale Knattern der Hubschrauber nicht aus dem Kopf. Wer darf mitten in meinem Weinviertel Krieg spielen? Ich gehe zum Laptop und suche in meinem elektronischen Telefonbuch nach seiner Nummer. Der Geruch … Brandbombe? Von einem Hubschrauber aus? Mist! Der Topf auf dem Herd! Die Zwiebel ist ziemlich dunkel. Löschaktion! Sofort! Ich sehe eine angebrochene Flasche mit karibischem Rum auf der Arbeitsfläche stehen, es zischt und dampft. Rum. War gar keine schlechte Idee. Zum Glück hab ich die Knoblauchblättchen noch nicht im Topf gehabt, die wären jetzt braun und bitter. Ich gebe sie dazu und rühre weiter. Ist gerade noch einmal gut gegangen. Man sollte kein neues Ragout probieren und dabei recherchieren. Angeblich können wir Frauen ja mehrere Dinge gleichzeitig. – Na ja. Ich muss niemandem erzählen, dass das bei mir beinahe nicht geklappt hätte. Ich nehme den Topf vom Herd, schnuppere noch einmal, riecht eigentlich sehr gut. Dann fülle ich ihn halbvoll mit Wasser und stelle die Hitze aufs Maximum. Die abgelöste Speckschwarte könnte ich eigentlich auch dazugeben, verleiht dem Ganzen ein leicht rauchiges Aroma, das nichts mit dem ziemlich langen Anrösten zu tun hat.

Unter „Verteidigungsministerium“ hab ich keinen Eintrag gefunden. Natürlich könnte ich in der Redaktion anrufen … aber vielleicht habe ich was unter „Heer“ gespeichert. Jetzt kann dem Ragoutansatz nichts passieren. Irgendetwas wummert gegen die Schiebetür zur Terrasse. Ich sehe hin. Gismo. Ich hab versehentlich die Tür zugemacht. Die Sonne ist inzwischen weg. Sorry, Katze! Ich öffne die Tür, sie sieht mich aus kreisrunden Augen vorwurfsvoll an. Oh, etwas Thymian wäre auch noch fein. Ich gehe zu meinen Kräutertöpfen, zupfe einige Zweige ab. Besonders üppig wächst er nicht mehr. Da merkt man, dass es schon Herbst ist.

Gismo steht inzwischen an der Küchenzeile und maunzt, eigentlich ist es schon fast Gebrüll. Ich werfe die Thymianzweige und dann noch zwei Chilischoten, die ich immer im Tiefkühler habe, in den Topf.

Seltsam, üblicherweise mag meine Katze Schweinefleisch nicht besonders. Und das Gemüse im Topf wird sie schon gar nicht interessieren. Zumal keine schwarzen Oliven mit drin sind. Ich schneide die Schweinsschulter in große Stücke und Gismo brüllt weiter. – Wirst du jetzt wunderlich, alte Dame? Testhalber lasse ich ein kleines Stück Schwein fallen. Sie verschlingt es gierig, schnurrt, fixiert das Fleisch auf meinem Brett. Kann es sein, dass ein wolliges Freiland-Mangalitza-Tier für sie ganz anders riecht als ein herkömmliches Schwein? Na gut, ich finde ja auch, dass es deutlich besser schmeckt. Wie zufällig fallen noch zwei, drei kleine Stücke auf den Boden. Unfälle, sonst nichts. Nie würde ich meine Katze beim Kochen füttern. Ich bin ja nicht Oskar. Die Flüssigkeit kocht, ich lege das Fleisch ein, gebe etwas Neugewürz und ein ganz kleines Stück Zimtrinde dazu.

Unter „Heer“ gibt es eine Nummer, daneben steht ein „P“ – könnte Presseabteilung bedeuten. Ich tippe die Ziffern in mein Mobiltelefon. Fünfmal Freizeichen. Ich will schon die Beenden-Taste drücken, als jemand drangeht. Mira Valensky, Chefreporterin vom „Magazin“, stelle ich mich vor. Ich hätte einige Fragen zu einer Bundesheerübung … Alle Zuständigen hätten das Ministerium für heute bereits verlassen, erfahre ich. Und wer sei er dann? Schweigen in der Leitung. Einer von der Putztruppe? Kanzleibote?

„Generalleutnant Unterberger.“

„Wirklich?“ Eine Rückfrage, die einer Chefreporterin eigentlich nicht würdig ist. Aber ich kenne mich beim Bundesheer nicht besonders gut aus. Und mein Namensgedächtnis ist eine Katastrophe. So viel weiß ich zumindest: Ein Generalleutnant ist ein hohes Tier. Und der Name „Unterberger“ sagt mir irgendetwas.

„Haben Sie Videotelefon?“ Der Typ klingt eindeutig belustigt. „Dann könnte ich mich ausweisen.“

Egal ob er Generalleutnant Unterberger ist und wer Generalleutnant Unterberger ist, fragen kann ich ja: „Was war das heute für eine Bundesheerübung bei der Gasstation in Treberndorf?“

Schweigen in der Leitung. Der Witzbold der Putztruppe hat wohl aufgegeben. „Woher wissen Sie davon?“, kommt es dann zurück.

„Zufall. Ich war heute früh dort joggen.“ Ich muss ja nicht sagen, dass ich mit mickrigen sieben Komma irgendwas Stundenkilometern dahingekeucht bin. „Es waren sechs Hubschrauber im Einsatz.“

„Und Sie sind einfach ins Areal reingerannt? Da gibt es Absperrungen.“

„Ich bin über einen Waldweg gekommen, ohne irgendeine Absperrung. Sieht so aus, als wäre die Übung nicht groß angekündigt worden.“

„Sie war ja auch lokal und zeitlich sehr begrenzt.“

„Wie häufig schicken Sie sechs Hubschrauber in die Luft, um harmlose Menschen zu erschrecken?“

„Es waren fünf Hubschrauber, wenn wir genau sein wollen. Sie haben sich erschrocken? Das tut mir leid.“ Jetzt klingt der Generalleutnant wieder eindeutig amüsiert. Weil ich auch nie genau überlege, was ich sage.

Ich entscheide mich für Angriff statt Verteidigung. „Wofür war die Übung gut? Oder ging es nur darum, Bundesheergerät zu bewegen? Und wenn über die Übung offenbar so wenig wie möglich bekannt werden soll, warum ist das so?“

„Wo sind Sie?“

Ich will schon etwas Patziges über Bundesheeraufklärer sagen, entscheide mich dann aber für Friedensanbahnung: „Im ersten Bezirk. In Wien.“

„Ich könnte in zehn Minuten im Café Prückel sein.“

„Ich brauche wahrscheinlich fünfzehn Minuten. Ich werde eine schwarze Leinenjacke tragen und …“

„Liebe Frau Valensky, glauben Sie etwa, wir kennen die geschätzte Chefreporterin des ebenso geschätzten ‚Magazin‘ nicht? So ignorant ist nicht einmal das österreichische Bundesheer, versichere ich Ihnen.“

Ich beende das Gespräch, bevor er jetzt auch noch zu lachen beginnt. Mal sehen, ob der komische Vogel wirklich Generalleutnant Unterberger ist.

Das Internet ist schon ein Segen. Zumindest für solche Recherchen. Namen eingeben und Bild und tausendneunhundert Suchergebisse erscheinen. Samt einem Interview auf YouTube. Ich könnte hören, wie seine Stimme klingt … ob sie mit der am Telefon übereinstimmt … Besser, ich mache mich auf den Weg. Soll ich das Ragout abdrehen? Ach was, ich werde nicht lange brauchen. Ich programmiere die Induktionsplatte auf ganz geringe Hitze. So köchelt es nur leicht vor sich hin, eine Schweinsschulter braucht ohnehin Zeit, bis sie weich ist. Ich überlege, statt der schwarzen Leinenjacke das rote Jeanshemd überzuziehen. Nur als Test, ob mich der Generalleutnant auch so erkennt. Sei nicht kindisch, Mira. Außerdem passt die schwarze Jacke besser, wenn du dich mit einem hohen Militär triffst. Und: Keine blöden Witze übers Bundesheer. Keine Grundsatzdiskussionen über dessen Abschaffung. Ich nehme den Lift und eile durch den ersten Bezirk Richtung „Prückel“. Warum kümmere ich mich überhaupt um diese lächerliche Bundesheerübung? Nur weil ich sie hautnah miterlebt habe? Sicher. Und weil mir Kriegsspiele Angst machen.

Vor dem Café stehen einige Tische in der Spätnachmittagssonne. Ich sehe mich um. Was, wenn wir einander doch nicht erkennen? Ein schlanker Mann in Zivil, eher fünfzig als sechzig, steht auf und lächelt mich an. Er sieht aus, als hätte er keinerlei Probleme, von hier nach Treberndorf, rund um die Gasstation und wieder retour zu laufen. Oder fällt das nur, wie vielleicht so einiges beim Bundesheer, unter „Tarnen und Täuschen“?

Wir geben einander die Hand, ich bestelle Campari Soda, und nach einigem Geplänkel über das prächtige Wetter fragt der Generalleutnant: „Sie wollen über unsere kleine Übung in Treberndorf schreiben?“

„Ich habe keine Ahnung“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Es interessiert mich einfach, was das Bundesheer dort getan hat, wie derartige Übungen ablaufen, wozu sie gut sind, was sie kosten.“

„Da interessiert Sie aber ganz schön viel, wenn Sie gar nicht wissen, ob Sie darüber schreiben wollen.“ Er lächelt amüsiert.

Er soll ja nicht zu überheblich sein. Nur weil er Hubschrauber und solches Zeugs befehligt. Ich versuche ein charmantes Gegenlächeln: „Also?“

Er sieht mich an, dreht sein Colaglas und sagt nichts.

„Noch im Dienst?“, frage ich und deute aufs Cola. Wird wohl so ähnlich sein wie bei den Polizisten. Null Komma null während der Dienstzeit.

„Was?“, antwortet er irritiert und lächelt schon wieder. „Nein. Wein zu trinken, gehört beinahe zu unserem Job. Wenn wir repräsentieren, versteht sich. Ich hab heute eine Abendveranstaltung. Ich halte vor der Offiziersgesellschaft einen Vortrag über Strategie und neue Medien. Da sollte ich einen klaren Kopf haben.“

„Strategie und neue Medien?“

„Facebook und so. Sie haben sicher schon davon gehört.“

Der Typ hat mich auf der Schaufel. Und er weicht mir aus. – Nein, ich hab ihn ja nach seinem Vortrag gefragt.

„Die neuen Demokratiebewegungen haben eine Menge mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten zu tun. Wir überlegen natürlich, was das militärisch-strategisch bedeutet.“

„Die Chinesen probieren es mit Zensur“, gebe ich ihm einen Tipp.

„Nicht einmal denen gelingt das vollständig.“

„In China würde ich über ein klitzekleines unwichtiges Militärmanöver nichts erfahren, das ist klar. Aber bei uns …“

„In China wären Sie in einem Militärgefängnis.“

„Da hab ich ja richtig Glück“, spöttle ich. Was er kann, kann ich schon lang.

Er seufzt, sieht mich an und dreht wieder sein Colaglas. Getrunken hat er daraus noch nicht. „Also gut. Es gibt einen einzigen Grund, warum wir solche Übungen nicht an die große Glocke hängen: Wir wollen die Bevölkerung nicht verunsichern. Gasstationen sind neuralgische Punkte. Und kommen Sie mir jetzt nicht mit der alten Weisheit, dass uns weder die Ungarn noch die Schweizer in absehbarer Zeit okkupieren wollen. Es geht um andere Formen des Kriegs. Um Terrorismus.“ Mit einem Mal ist er ernst geworden.

„Es gibt Warnungen?“

„Nein. Zumindest nicht direkt. Sonst müssten wir anders agieren. Es gibt Hinweise … nicht auf Österreich allein bezogen.“

„Etwas, das darauf hindeutet, dass es Terroristen auf die Energieversorgung abgesehen haben könnten?“

„So ungefähr. Die Menschen bei uns sind daran gewöhnt, dass es warm und hell ist. Auch im Winter. Leitungen zu kappen, hieße ihr Sicherheitsgefühl massiv zu untergraben.“

„Welche Terroristen?“

„Wenn wir das so genau wüssten … In Terrorcamps wird offenbar darüber geredet, wie Racheaktionen in Europa am effizientesten ablaufen könnten.“

„Die Gasstation in Treberndorf ist so wichtig?“ Sah eigentlich nicht besonders bedeutsam aus.

„Es gibt dort einen unterirdischen Gasspeicher. Und sie ist ohne besondere Probleme zu erreichen. – Zum Beispiel durch den Wald, wie in Ihrem Fall.“

„Wie viele Energie-Ziele für Terroristen gibt es in Österreich?“

„Je nachdem, wo man Wahrscheinlichkeitsgrenzen setzt. Fünfzig. Siebzig. Zweihundert. – Ich hoffe, ich kann Sie abhalten, darüber zu schreiben.“

„Wäre das nicht eine gute Werbung fürs Bundesheer? Sozusagen der Nachweis, dass es auch etwas Sinnvolles tut? Nämlich unsere Energieversorgung zu schützen? Oder es wenigstens zu versuchen?“

Der Generalleutnant lächelt. „Ich weiß, dass Sie nicht unbedingt zu den Fans unseres Heers gehören.“

„Ich glaube nicht, dass die Menschen in Panik ausbrechen, nur weil irgendwer in einem Terrorcamp dubiose Ideen hat. Bei uns gibt es eben Medienfreiheit – anders als in China.“

„Sie haben recht. So wichtig ist die Sache auch nicht. Und Hubschraubereinsätze im Verborgenen – das ist unmöglich. Schreiben Sie also darüber, wenn Sie unbedingt wollen.“

Ich sehe den Generalleutnant verdutzt an. „Ist das jetzt irgendeine Strategie, die ich nicht durchschaue?“

„Nein, bloß die Erkenntnis, dass das meiste relativ ist. Und dass ich davon ausgehe, wenn ich versuche, Sie davon abzuhalten, diese Story zu schreiben, dann wird sie immer größer. So können Sie mich zitieren und ich sage auch offiziell, was ich Ihnen gerade erzählt habe.“

„Sie können das entscheiden?“, frage ich.

„Das geht sich gerade noch aus“, spöttelt der hohe Militärbeamte. „Sie schicken mir den Artikel einfach vorab und ich gebe dann mein Okay.“

Irgendwie hat er mich nun doch verunsichert. Reagiere ich über, nur weil ich dem Hubschraubergeschwader zu nahe gekommen bin? Der Generalleutnant sieht auf die Uhr. „Ich muss mich noch umziehen. Vor den Offizieren kann ich nicht in Zivil auftreten. Haben Sie Interesse? Sie könnten sich den Vortrag anhören. Wir sind gar keine solche Geheimgesellschaft, wie Sie vielleicht vermuten.“

Einen Moment lang überlege ich. Aber dann fällt mir das Ragout auf dem Herd ein. Und die Zucchini in der Schüssel. Und der Umstand, dass ich Oskar schon eine ganze Woche nicht mehr gesehen habe. „Können Sie mir Ihr Manuskript schicken?“, frage ich.

„Ich rede weitgehend frei, aber es wird eine Zusammenfassung geben. Die kann ich Ihnen natürlich mailen.“

„Darf ich mich bei Ihnen noch einmal melden? Ich hatte an sich eine andere Reportage geplant …“ – auch wenn der Artikel über den Selbstmord des Bankers nicht eben die große Story werden dürfte. Er hat sich schon vor drei Wochen umgebracht, seither wird darüber berichtet und vor allem spekuliert.

Unterberger gibt mir eine Visitenkarte, auf der sogar eine Mobiltelefonnummer steht. „Die ist nur während der Dienstzeit aktiv?“, frage ich und deute darauf.

„Sie wollen mich außer Dienst erreichen? Das wäre mir ein Vergnügen“, lächelt er. Was ist das jetzt? Strategisches Anbraten?

„Wird wahrscheinlich nicht notwendig sein“, erwidere ich trocken.

„Schade, ich hab das Mobiltelefon immer eingeschaltet. Dass ich Ihnen die Nummer gebe … nennen wir es ‚vertrauensbildende Maßnahme‘.“

Ich lache und krame in meiner Tasche. Der Generalleutnant ist gar nicht so übel. Dummerweise habe ich wieder einmal keine Visitenkarten dabei.

Ich eile zurück durch die noch sonnenwarmen Gassen und überlege: Wenn die Heizung im Winter nicht funktioniert … wenn der Strom ausfällt … schlimme Vorstellung. Etwas, vor dem sich viele fürchten. Nicht nur die Kriegsgeneration. Immer wieder spielt Russland damit, gerade dann, wenn es so richtig kalt ist, den Gashahn zuzudrehen. So kann man Staaten unter Druck setzen. Auch wenn in Österreich regelmäßig versichert wird, dass unsere Reserven lange vorhalten. Es ist schon halb acht. Ich sollte mich lieber mit Naheliegendem beschäftigen: Was mache ich als Vorspeise? Ich könnte die Zucchini einfach zum Ragout geben, das Gemüse, das jetzt seit mehr als einer Stunde drin ist, hat sich ohnehin verkocht. Was okay ist. Das macht das Ragout sämig und ich brauche es nicht mit Mehl oder Ähnlichem zu binden. Wie wäre es mit Endiviensalat als Vorspeise? … Nicht gerade aufregend. Und Oskar ist einer, der Salat am liebsten hat, wenn er unter etwas anderem versteckt ist. Zum Beispiel unter Schinken. Wunderschöne Fleischparadeiser habe ich auch noch. Und Gurken. Und Zwetschken. Eva hat es wirklich wieder einmal sehr gut mit mir gemeint. Kein Problem, dass die Lebensmittelläden schon geschlossen haben. Ganz abgesehen davon, dass es im ersten Bezirk ohnehin nur wenige davon gibt. Die Miete für Geschäftslokale ist einfach zu hoch.

Ich habe eine Idee. Heißer Salat. Das ist es. Wo ich schon am Experimentieren bin.

Ich sperre die Wohnungstür auf und bin irritiert. Gismo ist nicht da. Habe ich sie versehentlich wieder auf die Dachterrasse gesperrt? Geht es ihr nicht gut? Hat sie das Schweinefleisch nicht vertragen? Eine Katze mit sechzehn … Alle versichern, dass sie überhaupt nicht alt wirkt. Rumoren. Ich gehe langsam durchs Vorzimmer, sehe in den großen Raum. In der Küchenzeile steht Oskar. Und vor ihm Gismo. Mit hocherhobenem Schwanz. Sie wird gerade gefüttert. Es geht ihr prächtig. Da könnten Hubschraubergeschwader landen, da kann ich heimkommen und sie bleibt trotzdem aufs Wesentliche konzentriert.

Ich sage einen der klassischen Berufstätige-Ehefrauen-Sätze: „Du bist schon da?“ Er klingt wie eine Entschuldigung für mein Späterkommen.

„Ich hab dich eben lang nicht gesehen“, schnurrt Oskar riesenkaterlike, stellt den leeren Futterbeutel in die Abwasch und umarmt mich. Er riecht ein wenig nach Katzenfutter, aber das macht nichts, es ist schön, ihn wiederzusehen, zu spüren.

Eine Viertelstunde später sitzt Oskar am Esstisch. Das Ragout riecht gar nicht übel. „Früher waren es die Feinde im Ostblock, jetzt sind es die Terroristen. Ich weiß nicht, ob ich daran glauben soll. Ist schon ziemlich praktisch zur Existenzabsicherung unseres Bundesheers“, ruft er zu mir herüber. Mist, das Olivenöl ist aus. Sicher hat Oskar es … nur keine Anschuldigungen. Wir haben noch ein paar getrocknete Paradeiser in Öl, passt doch wunderbar. Ich leere ein wenig vom Öl in den Wok, gebe die Zucchinisegmente dazu und röste sie an. Die paar getrockneten Paradeiser könnte ich eigentlich auch gleich verwenden: in Streifen schneiden und gemeinsam mit Jungzwiebelringen mitschwenken.

„Nur weil sie dich ein Dreivierteljahr schikaniert haben …“, rufe ich zurück. In seiner Jungmännerzeit gab es noch nicht die Chance, sich einfach so für den Zivildienst zu entscheiden. Ich schneide einen Fleischparadeiser in kleine Würfel, gebe ihn dazu in den Wok. Wenn er so frisch und schön ist wie der von Eva, entferne ich weder Haut noch Kerne.

„Eher gelangweilt“, kommt es zurück. „Wenn etwas gut war an meinem Militärdienst, dann die Grundausbildung. Danach war ich wenigstens fit. Auch wenn der Kommandoton …“

„Jetzt ginge das auch ohne Befehle! Du könntest morgen früh mit mir joggen!“

„Willst du wirklich weitermachen?“ Es klingt verwundert.

Klar. Wollen tu ich jedenfalls. Ich reiße Endivienblätter in zwei, drei Teile, werfe sie in den Wok und schwenke alles durch. Noch ein bisschen vom Paradeiseröl dazu. Die Blätter sind noch knackig, aber schon warm. Gelungen! Ich drehe die Platte auf Warmhalten. Joggen ist gut, schon um davonlaufen zu können. – Was wäre, wenn so eine Gasstation tatsächlich angegriffen würde? Könnte man schnell genug flüchten? Ein großer Knall …

„Wenn so eine Gasstation in die Luft geht …“, überlege ich und starre auf meinen heißen Salat.

„Da gibt es jede Menge Sicherheitssysteme. Und eine eigens ausgebildete Feuerwehr. – Wo war die eigentlich in Treberndorf?“

„Ich habe nichts von ihr gesehen.“ Im Kopf notiere ich: morgen Feuerwehrkommandanten anrufen.

„Ich glaube, dein Generalleutnant freut sich, wenn du über die Übung schreibst und darüber, dass uns das Bundesheer vor Terrorangriffen schützt.“

„Er ist nicht ‚mein‘ Generalleutnant.“ Ich gebe Verjus auf einen Löffel und koste vorsichtig. Fruchtig-säuerlicher Geschmack, viel feiner als Essig. Da kommt ein guter Schuss davon über den Salat, dazu noch grobes Meersalz und Pfeffer aus der Mühle.

„Du hast ihn doch nett gefunden“, neckt mich Oskar.

Ich häufe den Salat auf tiefe Teller und trage sie zum Tisch. „Netter als gedacht“, grinse ich. Oskar schenkt mir Weinviertel DAC von Eva ein und wir beenden unser unblutiges Gefecht, um zu essen.

„Klar ist die Energieversorgung extrem wichtig“, murmelt Oskar und nimmt noch einen Schluck. „Aber ob sie mit Hubschraubern gesichert werden kann?“

„Weißt du, wie mein Eintopf heißt? ‚Weinviertel meets Karibik‘. Es ist übrigens ziemlich viel geworden, ich hoffe, du hast Hunger.“

„Und wie“, antwortet Oskar und sieht mich an, als ob er ganz anderen Hunger hätte. Schön, dass es das immer noch gibt, dieses Prickeln … Ich lächle ihn an, nehme die leeren Vorspeisenteller mit und gehe zum Herd.

Das Ragout hat sich durch das verkochte Gemüse leicht gebunden, das Fleisch ist weich und zart. Ich rühre um. Jetzt brauchen wir nur noch etwas Knackiges drin.

„Wir sollten unseren Energieanbieter wechseln“, sagt Oskar.

Ich sehe irritiert zu ihm hinüber. „Der Herd geht doch super. So ein Ragout soll nur ganz langsam köcheln.“ Ich schneide eine Karotte in dünne Scheiben, den restlichen Kürbis in kleine Würfel und gebe beides in den Topf.

„Ich meine grundsätzlich. Es gibt inzwischen Ökostromanbieter. Bei den anderen weiß man nie so genau …“

Eine Gurke. Was wäre, wenn ich eine von Evas Gartengurken mitkoche? „Aber gegen Terrorangriffe hilft das auch nichts, die Leitungen sind für alle dieselben“, antworte ich.

Gurke schälen, der Länge nach halbieren, die Kerne entfernen, in große Stücke schneiden und hinein zu den anderen guten Dingen. Duft nach Ingwer, Schwein und einem Hauch Zimt.

„Die Terrorgefahr halte ich für übertrieben. Zumindest in der Form, die dir der Generalleutnant einreden will. Als ob sich die in den Terrorcamps ausgerechnet für Österreich interessieren würden.“

„Das wollte er mir gar nicht einreden. Außerdem ist es um nichts besser, wenn sie Leitungen in Deutschland oder Italien angreifen.“

„Das ist schon klar. Ich meine bloß, all diese Ängste machen Militär und Polizei stark, wichtig, quasi unantastbar. Und das ist nicht gut.“

Ich öffne den Kühlschrank, schaue nach, ob ich noch etwas für meinen exotischen Eintopf finde. Eine ziemlich grüne Banane. „Bananen gehören nicht in den Kühlschrank“, rufe ich Oskar zu.

„Wirklich nicht? Ich hatte keine Lust, sie zu essen.“

Ich rette sie, schneide sie in Scheiben, und ab mit ihr in den leise blubbernden Topf. Jetzt nur noch große Scheiben vom Bauernbrot schneiden, zwei Teller eine Minute in der Mikrowelle wärmen, Ragout anrichten, fertig. Chilimühle, Salz und Pfeffer zum Nachwürzen stehen auf dem Tisch.

„Ich finde einfach, dass man gegen den ganzen Energiewahnsinn, der auch nach Fukushima weiterläuft, ein Zeichen setzen sollte“, sagt Oskar und fügt rasch hinzu: „Das Ragout ist ein Gedicht.“ Fürchtet er etwa, dass ich ihn als Öko verspotte? Ist ja nicht zum ersten Mal, dass er sich mehr Gedanken über unsere Umwelt macht als ich. Nie würde er eine Katzendose unausgewaschen in den Restmüll tun. Während ich, wenn ich in Eile bin … und natürlich mit schlechtem Gewissen … und nur ein, zwei oder drei Mal … Würde ich das jetzt sagen, klänge es allerdings ein wenig nach Fopperei.

„Hast du vielleicht gar einen Ökostromklienten in der Kanzlei?“

„Nein, aber einen Sonnenaufkleber auf dem Auto. Irgendjemand hat sie heute in der Tiefgarage verteilt.“

„Die kleben so etwas einfach auf? Und du lässt es dir gefallen?“ Oskar ist nicht eben ein Autonarr, aber trotzdem, ich möchte selbst entscheiden, womit ich meinen Wagen verziere.

„Viel klüger, das Pickerl war hinter der Windschutzscheibe, gemeinsam mit einem Zettel, dass es sich lohnt, auf ‚PRO!‘ umzusteigen, und dass sich ‚PRO!‘ freut, wenn ich mit dem Sonnenaufkleber auf dem Auto ein Zeichen für saubere Energie setze.“

„Und denen glaubst du?“ Ich nehme mir noch einen klitzekleinen Schöpfer von ‚Weinviertel meets Karibik‘.

„Wenn man niemandem mehr glaubt …“

„Sagst ausgerechnet du als Anwalt.“

Oskar sieht mich zärtlich an. „Ausgerechnet. Und: Dir glaub ich.“

Ich werde ein wenig rot. Wann hab ich zum letzten Mal gelogen? Na gut, so häufig lüge ich nicht. Und wenn, sind es Notlügen.

„Das ist ja auch kein Wunder“, lächle ich.

„Manchmal schon“, antwortet mein lieber Oskar.

Bevor wir das Thema allzu intensiv erörtern, stehe ich auf, wasche den Wok aus und nehme ihn wieder in Betrieb. Etwas Öl erhitzen, halbierte Zwetschken dazu, einen Löffel braunen Zucker darüber geben und weiterschwenken. Oskar kommt zu mir.

„Unter Dessert hab ich mir heute eigentlich was anderes vorgestellt“, murmelt er an meinem Ohr.

„Die Zwetschken können warten“, murmle ich zurück und drehe die Platte ab.

Und wirklich: Eine halbe Stunde später schmecken sie einzigartig gut. Ich hab sie bloß noch einmal aufgewärmt, Sweet & Hot Chilisauce dazugegeben, alles kurz durchgeschwenkt und mit Salz, Balsamico-Essig, karibischem Rum und einigen zerzupften Minzeblättern von der Terrasse gewürzt. Daran allein kann es einfach nicht gelegen haben.

In der Redaktionssitzung stellt sich heraus, dass unsere Story über den freiwillig verschiedenen Banker auf noch schwächeren Beinen steht als gedacht. Es ist nämlich ein Abschiedsbrief aufgetaucht. Und in dem erklärt er seinen Abtritt mit ausschließlich privaten Gründen: Die Trennung von seiner Frau, seine Alkoholsucht, Perspektivlosigkeit, das alles habe dazu geführt, dass er nicht mehr leben wolle. Keine Rede von einem angeschlagenen Finanzinstitut und Stress durch Stresstests und zu großzügige Kreditvergaben. Der Brief dürfte echt sein. Oder von seinen Vorstandsfreunden sehr geschickt gefälscht. Wenn, dann könnte ich das allerdings schwer beweisen. Ich habe schon auf dem Weg zum „Magazin“ überlegt, wie ich die Sache mit der Bundesheerübung anpacken könnte. Und dann eine andere Idee gehabt: Was wäre mit einer Story über die Energieversorgung in Österreich? Wie sicher ist sie? Kann man Ökostrom trauen? Was bietet der neue Anbieter „PRO!“ wirklich oder hat er bloß ein gutes Werbekonzept? Können wir ohne Heuchelei atomstromfrei werden? Als Teil der Geschichte könnte ich dann über die mögliche Terrorgefährdung unserer Gas- und Stromnetze schreiben. Warum ich diesen Aspekt nicht in den Mittelpunkt stellen möchte? Ich bin mir selbst nicht sicher. Entweder, weil ich Generalleutnant Unterberger glaube, dass es nicht gut ist, die Menschen zu sehr zu verunsichern. Oder weil ich ihm nicht glaube, dass da tatsächlich eine besondere Gefahr besteht. Und weil ich den Verdacht habe, dass er bloß neue Aufgaben fürs Heer bewerben möchte. Joggen war ich übrigens nicht in der Früh, irgendwie muss ich meinen Telefonwecker überhört haben. Aber einen Tag zwischendurch zu pausieren, soll ja ganz gut für die Muskeln sein.

In der Sitzung präsentiere ich den versammelten Ressortleitern meine Idee und ernte rundherum nur Lob. Das bin ich gar nicht gewohnt. Ich sehe irritiert zu meinem alten Freund Droch. Er hockt in seinem Rollstuhl und sieht neutral drein. Das ist für ihn schon fast so etwas wie der Vorschlag zum Pulitzerpreis. Selbst der stellvertretende Chefredakteur, der mich nun wirklich nicht ausstehen kann, murmelt etwas wie: „Das ist am Puls der Zeit.“

Und der Chefredakteur meint: „Da haben wir ein Thema, das die Menschen betrifft, das interessiert sie. Was hältst du davon, wenn wir daraus eine Serie machen? Samt Tipps zum Energiesparen. Nicht missionarisch, sondern praktisch. Und in bewährter Weise recherchiert: Was ist Schmäh? Was ist echt? Wie werden wir Atomstrom los? Wie sichern wir Energieversorgung und Umwelt gleichermaßen? Was kostet das? Wer verdient daran?“

Ich nicke.

[ 2. ]

Ich bin mit dem Auto nach Ravensbach unterwegs. Es liegt nur sieben Kilometer hinter der Stadtgrenze von Wien, hat mir mein Navigationsprogramm versichert. Dort ist die Zentrale von „PRO!“, der Ökoenergiefirma, die Oskar so gut gefällt. Eigentlich hätte ich auch die U-Bahn nach Leopoldau nehmen können und danach … was danach? Sieben Kilometer zu Fuß gehen? Auf einen Bus warten, wenn es überhaupt einen gibt? Außerdem habe ich Laptop und für alle Fälle auch meinen Fotoapparat mit. Umweltbewusstsein hat eben Grenzen. Und die haben bei mir mit Bequemlichkeit zu tun. Die Sprecherin von „PRO!“ hat für mich Zeit. Scheint kein allzu großes Unternehmen zu sein, wenn sie sofort verfügbar ist. Ihre Sonnenaufkleber sind in Wien freilich immer häufiger zu sehen. Vielleicht erspart sich „PRO!“ bloß das internationale Business-Brimborium mit Anmeldung und Suche nach freien Terminen der Führungsspitze, während Mister Manager ohnehin am Computer Tetris spielt.

Ich kurve durch Ravensbach. Es ist ein verschlafenes Straßendorf, Hausfront an Hausfront gereiht, manche wunderschön herausgeputzt mit Stuckarbeiten aus der Zeit der vorigen Jahrhundertwende, andere mit grauen Fassaden und riesigen Alurahmenfenstern, wie sie in den Siebzigerjahren Mode waren. Fenster, die nicht verrotten, die man nie mehr streichen muss, die auf ewig gleich scheußlich bleiben. Zwei Hinweistafeln: eine, dass es hier Bio-Erdäpfel zu kaufen gibt, eine andere, dass man um die Ecke einen Feng-Shui-Masseur findet. Nur wenige Wege zweigen von der Hauptstraße ab. Am Ende des traditionell gewachsenen Dorfs eine neu angelegte Siedlung, Einfamilienhaus neben Einfamilienhaus, die kleinen Grundstücke voneinander abgegrenzt durch Maschendrahtzäune und Thujenhecken. Wahrscheinlich leben hier vor allem die aufs Land gezogenen Wiener. „Bauplätze zu verkaufen!“, steht auf einem großen Schild. Okay, in diesem Ort bekommt man also Bio-Erdäpfel, Feng-Shui-Massagen und Bauplätze. Aber wo ist „PRO!“?

Ich fahre langsam weiter, habe das Ortsende passiert, bin auf einer schmalen Landstraße. Felder rechts, Felder links. Mein Navi behauptet, dass ich in vierhundert Metern mein Ziel erreicht habe. Auf einem großen, abgeernteten Acker bewegen sich die Rotoren von acht Windrädern. „Steppe hinter Wien“ nennt Oskar diesen Landstrich gerne, das flache Gebiet, bevor das eigentliche Weinviertel mit seinen grünen Hügeln beginnt. Platz gibt es hier jedenfalls genug. Ich mag die riesigen Windverwerter. Allein die Vorstellung, dass aus bewegter Luft Energie entsteht, gefällt mir. Außerdem weiß ich so, woher der Wind weht. Und wie stark er ist. Das Gequatsche von unberührter Natur geht mir auf die Nerven. Was ist noch unberührt? Vor ein paar tausend Jahren war da wahrscheinlich Wald. Hätte man verhindern sollen, dass Siedlungen, dass Felder entstehen? – Hat „PRO!“ hier irgendwo zwischen den Windrädern ein Häuschen? Ich kneife die Augen zusammen. Vielleicht ist es bloß ein sehr kleines Gebäude, das hinter einer der mächtigen Windradsäulen verborgen ist. Wäre wahrscheinlich besser gewesen, zuerst im Internet zu recherchieren, statt mich gleich auf den Weg zu machen. Warum soll es unter den Ökofirmen nicht auch welche geben, die mehr scheinen, als sie sind? Ist ja in Zeiten des Internets einfach. Eine nette Homepage und drei Aktivisten, die in Wien jede Menge Aufkleber verteilen, und schon wirkt es, als hätte das Unternehmen Potenzial.

Am Ende der Straße dürfte ein Sägewerk oder so etwas sein. Ich sehe Gebäude, Berge von zerkleinertem Material. Dahinter beginnt der Wald. Ich werde dort fragen. Die werden „PRO!“ doch wohl hoffentlich kennen.