Philip Roth

Der menschliche Makel

Aus dem Amerikanischen
von Dirk van Gunsteren

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 2000

unter dem Titel The Human Stain

bei Houghton Mifflin in New York.

Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds

für die freundliche Unterstützung.

Von den Grenzen des Übersetzens:

Das »kleine Wort«, das Coleman Silk beiläufig zu Beginn der Seminarsitzung ausspricht und das seine Karriere beendet, lautet im Original spooks. Im heutigen Sprachgebrauch bedeutet spook: 1. Gespenst, 2. (im amerikanischen Slang) Spion, bes. CIA-Agent. Bis in die fünfziger Jahre war es jedoch darüber hinaus eine abfällige Bezeichnung für einen Schwarzen (und übrigens, von einem Schwarzen gebraucht, auch eine abfällige Bezeichnung für einen Weißen). Da es im Deutschen kein Wort gibt, das etwas Abwesendes, Unsichtbares bezeichnet und zugleich eine untergründige, vom Sprecher womöglich gar nicht intendierte Herabsetzung eines Schwarzen beinhaltet, habe ich spooks, um wenigstens das Moment der unbeabsichtigten rassistischen Verunglimpfung zu bewahren, mit »dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen« übersetzt.

Dirk van Gunsteren

ISBN 978-3-446-25122-9

© Philip Roth 2000

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2002/2015
Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Das Sophokles-Motto ist Kurt Steinmanns Übersetzung

des König Ödipus in Reclams Universal-Bibliothek entnommen.

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

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Inhalt

1 Jeder weiß

2 Abducken

3 Was macht man mit einem Mädchen, das nicht lesen kann?

4 Welcher Wahnsinnige hat sich das ausgedacht?

5 Das reinigende Ritual

Für R.M.

ÖDIPUS:

Durch welche Reinigung? Wie können wir ihn tilgen?

KREON:

Durch Ächtung oder Sühne, die Tod mit Tod vergilt…

Sophokles: König Ödipus

1
Jeder weiß

Im Sommer 1998 gestand mir mein Nachbar Coleman Silk – der, bevor er zwei Jahre zuvor in Ruhestand gegangen war, über zwanzig Jahre Professor für klassische Literatur am nahe gelegenen Athena College und darüber hinaus sechzehn Jahre Dekan gewesen war –, daß er, im Alter von einundsiebzig Jahren, eine Affäre mit einer vierunddreißigjährigen Putzfrau hatte, die in der Universität arbeitete. Zweimal pro Woche putzte sie auch das ländliche Postamt, eine kleine, graue, mit Schindeln verkleidete Hütte, die aussieht, als könnte sie in den dreißiger Jahren einer armen Farmersfamilie Schutz vor den Sandstürmen Oklahomas geboten haben, und allein und verloren auf dem Grundstück gegenüber der Tankstelle und dem Haushaltswarenladen ihre amerikanische Fahne wehen läßt, an der Kreuzung der beiden Straßen, die das wirtschaftliche Zentrum dieser kleinen Stadt in den Hügeln Neuenglands bilden.

Coleman hatte die Frau zum erstenmal gesehen, als er eines Tages ein paar Minuten vor Schalterschluß dort erschien, um seine Post abzuholen, während sie dort den Boden wischte: eine dünne, große, kantige Frau mit ergrauendem blondem, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenem Haar und jener Art von herben Gesichtszügen, wie man sie gewöhnlich mit kirchenfrommen, hart arbeitenden Familienmüttern aus Neuenglands entbehrungsreicher Frühzeit verbindet, mit jenen strengen Frauen der Kolonialzeit, die in der herrschenden Moral gefangen waren und ihr gehorchten. Sie hieß Faunia Farley, und die Nöte, die sie in ihrem Leben erduldet haben mochte, hielt sie hinter einem jener ausdruckslosen, knochigen Gesichter versteckt, die nichts verbergen und von einer immensen Einsamkeit zeugen. Faunia hatte ein Zimmer in einer auf Milchwirtschaft spezialisierten Farm, wo sie als Gegenleistung beim Melken half. Sie hatte die Highschool nur zwei Jahre lang besucht.

Der Sommer, in dem Coleman mich über Faunia Farley und ihr gemeinsames Geheimnis ins Vertrauen zog, war passenderweise der Sommer, in dem Bill Clintons Geheimnis in allen demütigenden Einzelheiten enthüllt wurde, in allen lebensechten Einzelheiten, wobei sich die Lebensechtheit wie die Demütigung aus den pikanten Einzelheiten ergab. Eine Saison wie diese hatten wir nicht erlebt, seit jemand in einer alten Ausgabe von Penthouse über Nacktfotos der neuen Miss America gestolpert war, die sie elegant kniend und auf dem Rücken liegend zeigten und die junge Frau mit einer solchen Scham erfüllten, daß sie gezwungen war, ihren Titel zurückzugeben und ein internationaler Popstar zu werden. In Neuengland war der Sommer des Jahres 1998 herrlich warm und sonnig, im Baseball war es der Sommer des mythischen Kampfes zwischen einem weißen und einem braunen Home-Run-Gott, und in Amerika war es der Sommer eines gewaltigen Frömmigkeitsanfalls, eines Reinheitsanfalls, denn der internationale Terrorismus, der den Kommunismus als größte Bedrohung der nationalen Sicherheit ersetzt hatte, wurde seinerseits durch Schwanzlutschen ersetzt, und ein viriler, jugendlicher Präsident in mittleren Jahren und eine verknallte, draufgängerische einundzwanzigjährige Angestellte führten sich im Oval Office auf wie zwei Teenager auf einem Parkplatz und belebten so die älteste gemeinsame Leidenschaft der Amerikaner wieder, die historisch betrachtet vielleicht auch ihre trügerischste und subversivste Lust ist: die Ekstase der Scheinheiligkeit. Im Kongreß, in der Presse und im Fernsehen moralisierten die selbstgerechten Heuchler auf den Haupttribünenplätzen um die Wette, erpicht darauf, zu beschuldigen, zu beklagen und zu bestrafen, allesamt besessen von dem Geist, den Hawthorne (der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts hier in den Berkshires, nicht weit von meinem Haus entfernt, gelebt hatte) in jenem jungen Land aus längst vergangener Zeit als »Geist der Brandmarkung« bezeichnet hatte; sie waren nur zu bereit, strenge Reinigungsrituale zu vollziehen, auf daß die Erektion aus der Spitze der Exekutive verbannt und alles wieder sauber und anständig werde, damit Senator Liebermans zehnjährige Tochter und ihr peinlich berührter Daddy sich ungefährdet die Fernsehnachrichten ansehen konnten. Der konservative Zeitungskolumnist William F. Buckley schrieb: »Zu Zeiten Abälards gab es noch Mittel und Wege, die Wiederholung eines solchen Vorgangs zu verhindern«, womit er andeutete, die angemessenste Strafe für die Missetat des Präsidenten – die Buckley an anderer Stelle als Clintons »inkontinente Fleischeslust« bezeichnete – sei nicht der blutarme Vorgang eines bloßen Amtsenthebungsverfahrens, sondern vielmehr die mittelalterliche Vergeltung, die Kanonikus Abälard für seine heimliche Verführung und Heirat der jungfräulichen Heloise, einer Nichte seines Kapitelbruders Fulbert, von den messerschwingenden Kollegen ebenjenes Fulbert erfuhr. Im Gegensatz zu Khomeinis Fatwa, die Salman Rushdie zum Tode verurteilt hatte, war mit Buckleys wehmütigem Wunsch nach Ahndung durch Kastration jedoch kein finanzieller Anreiz für potentielle Vollstrecker verbunden. Die Strenge, mit der dieses Urteil gesprochen wurde, war jedoch nicht geringer als die des Ajatollah, und sie gründete sich auf ebenso hehre Ideale.

In Amerika war es der Sommer, in dem der Brechreiz zurückkehrte, in dem die Witze, die Spekulationen, die Theorien, die Übertreibungen kein Ende nahmen, in dem man die moralische Verpflichtung, seine Kinder über die Tatsachen des Erwachsenenlebens aufzuklären, zugunsten des Wunsches aufgab, ihnen alle Illusionen zu lassen, es war der Sommer, in dem die Kleinlichkeit der Menschen schlichtweg überwältigend war, in dem eine Art Dämon auf die Nation losgelassen wurde und man sich in beiden Lagern fragte: »Warum sind wir eigentlich so verrückt?«, der Sommer, in dem Männer wie Frauen beim Aufwachen feststellten, daß sie im Schlaf, in einem Zustand weit jenseits von Neid und Abscheu, von Bill Clintons Unverfrorenheit geträumt hatten. Ich selbst träumte in diesem Sommer von einem gewaltigen Spruchband, das dadaistisch wie eine Christo-Verpackung von einem Ende des Weißen Hauses zum anderen gespannt war und auf dem stand: HIER LEBT EIN MENSCHLICHES WESEN. Es war der Sommer, in dem sich das Durcheinander, das Getümmel, das Chaos zum millionsten Mal als subtiler erwies als diese Ideologie oder jene Moral. Es war der Sommer, in dem jeder an den Penis des Präsidenten dachte und das Leben in all seiner schamlosen Schlüpfrigkeit Amerika wieder einmal in Verwirrung stürzte.

Samstags rief Coleman manchmal an und lud mich ein, ihn nach dem Abendessen auf seiner Seite des Hügels zu besuchen und Musik zu hören, Gin Rummy um einen Penny pro Punkt zu spielen oder bloß für ein paar Stunden in seinem Wohnzimmer zu sitzen, Cognac zu trinken und ihm zu helfen, diesen Abend zu überstehen, der für ihn immer der schlimmste der Woche war. In jenem Sommer 1998 lebte er seit fast zwei Jahren allein hier oben in dem großen, alten weißen Haus mit den Schindeln, in dem er und seine Frau Iris vier Kinder großgezogen hatten – seit jener Nacht, in der Iris einen Schlaganfall erlitten und innerhalb weniger Stunden gestorben war, während er selbst einen Kampf gegen das College geführt hatte, weil er von zwei Teilnehmern eines von ihm geleiteten Seminars des Rassismus bezichtigt worden war.

Coleman hatte damals beinahe sein ganzes akademisches Leben am Athena College verbracht. Er war ein kontaktfreudiger, scharfsinniger, gewandt überzeugender Großstadtmensch, teils Krieger, teils Vermittler, und weit entfernt vom Prototyp des pedantischen Latein- und Altgriechischprofessors (wie der lateinische und altgriechische Gesprächsclub bewies, den er in ketzerischer Absicht als junger Dozent gegründet hatte). Sein bewährter Grundkurs über die altgriechische Literatur in Übersetzungen, allgemein GHM (»Götter, Helden, Mythen«) genannt, war bei den Studenten beliebt, weil er, wie alles an Coleman, direkt, ungekünstelt und ganz unakademisch kraftvoll war. »Wollen Sie wissen, wie die europäische Literatur beginnt?« fragte Coleman seine Studenten, nachdem er in der ersten Sitzung die Teilnehmerliste durchgegangen war. »Mit einem Streit. Die gesamte europäische Literatur beginnt mit einem Kampf.« Und dann nahm er die Ilias zur Hand und las ihnen die ersten Zeilen vor: »›Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus… Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten Atreus’ Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.‹ Und worum streiten sie sich, diese beiden gewaltigen, mächtigen Männer? Die Ursache ihres Streites ist so banal wie der einer Schlägerei in einer Bar: Es geht um eine Frau. Eigentlich ist es ein Mädchen. Ein Mädchen, das man dem Vater entführt hat. Ein Mädchen, das in einem Krieg verschleppt worden ist. Mia kouri wird sie in dem Epos genannt. Mia ist, wie im Neugriechischen, der unbestimmte Artikel ›ein‹; kouri bedeutet ›Mädchen‹ und ist im Neugriechischen zu kori, ›Tochter‹, geworden. Und dieses Mädchen begehrt Agamemnon weit mehr als seine Frau Klytemnestra. ›Da ich höher wie Klytemnestra sie achte‹, sagt er, ›denn nicht ist jene geringer, weder an Bildung und Wuchs, noch an Geist und künstlicher Arbeit.‹ Daraus wird schon mal deutlich, warum er das Mädchen nicht hergeben will. Als Achilleus verlangt, er solle das Mädchen zu seinem Vater zurückkehren lassen, um den Gott Apollon, der über die Umstände der Entführung mordswütend ist, zu versöhnen, weigert Agamemnon sich: Er wird das Mädchen nur freigeben, wenn Achilleus ihm dafür sein Mädchen überläßt. Und damit macht er natürlich Achilleus wütend. Achilleus nach dem Adrenalinstoß: der explosivste Wilde Mann, den je ein Autor das Vergnügen hatte zu schil-dern, die – besonders wenn es um sein Prestige und seine Gelüste geht – empfindlichste Tötungsmaschine in der Geschichte der Kriegführung. Der gefeierte Achilleus, vor den Kopf gestoßen und seinen Kameraden entfremdet durch einen Angriff auf seine Ehre. Der große, heldenhafte Achilleus, der sich durch das Ausmaß seiner Wut über eine Beleidigung isoliert – die darin besteht, daß er das Mädchen nicht bekommt –, der sich trotzig außerhalb der Gesellschaft stellt, deren ruhmreicher Beschützer er doch ist und die ihn dringend braucht. Ein Streit also, ein brutal ausgetragener Streit um ein junges Mädchen und seinen jungen Körper und die Freuden sexueller Gier. Dort, in dieser Verletzung des phallischen Anspruchs, der phallischen Würde eines überragend starken Kriegerfürsten, beginnt die Dichtkunst, die große Literatur Europas, ob es uns paßt oder nicht, und aus diesem Grunde werden wir heute, beinahe dreitausend Jahre später, ebenfalls dort beginnen…«

Als Coleman seinen Lehrauftrag erhielt, war er einer von wenigen Juden, die am Athena College unterrichteten, und vielleicht einer der ersten Juden in Amerika, die klassische Literatur lehren durften; ein paar Jahre zuvor war der einzige Jude in Athena jener fast vergessene Kurzgeschichtenautor E.I. Lonoff gewesen, dem ich damals, als ich selbst noch ein eben erst publizierter Anfänger voller Selbstzweifel war, der die Bestätigung durch einen Meister brauchte, einen denkwürdigen Besuch abgestattet hatte. Von den späten siebziger bis in die frühen neunziger Jahre war Coleman auch der erste und einzige Jude, der in Athena je Dekan geworden war. Nachdem er 1995 sein Amt niedergelegt hatte, um seine akademische Laufbahn mit einer Lehrtätigkeit abzuschließen, nahm er zwei seiner alten Kurse wieder auf, und zwar in dem von Professorin Delphine Roux geleiteten Fachbereich für Sprache und Literatur, in dem die Abteilung für klassische Literatur aufgegangen war. Als Dekan hatte Coleman ein verstaubtes Provinzcollege übernommen und mit voller Rückendeckung durch den ehrgeizigen neuen Rektor und nicht ohne Rigorosität dem geruhsamen Leben der Dozenten ein Ende bereitet, indem er das Totholz in der alten Garde dazu aufforderte, um vorzeitige Pensionierung nachzusuchen, ehrgeizige junge Dozenten einstellte und den Lehrplan von Grund auf erneuerte. Hätte er sich ohne Zwischenfall rechtzeitig zur Ruhe gesetzt, so hätte man ihn zweifellos mit einer Festschrift geehrt und eine Coleman-Silk-Vorlesungsreihe sowie einen Coleman-Silk-Lehrstuhl für klassische Literatur eingerichtet, und angesichts seiner Verdienste um die überfällige Revitalisierung des Colleges hätte man nach seinem Tod vielleicht das alte Gebäude, in dem die geisteswissenschaftlichen Institute untergebracht waren, oder sogar das Wahrzeichen des Colleges, die North Hall, nach ihm benannt. In der kleinen akademischen Welt, in der er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, wäre er dann längst nicht mehr verhaßt oder umstritten oder gar gefürchtet, sondern vielmehr Gegenstand immerwährender Verehrung gewesen.

Mitten im zweiten Semester seiner wiederaufgenommenen Lehrtätigkeit als ordentlicher Professor sprach Coleman die belastenden Wörter aus, die schließlich bewirkten, daß er von sich aus jede Verbindung zum College abbrach, jene zwei belastenden von vielen Millionen Wörtern, die Coleman in all den Jahren des Lehrens und Verwaltens ausgesprochen hatte, jene Wörter, die nach seiner Einschätzung schließlich direkt zum Tod seiner Frau führten.

Das Seminar hatte vierzehn Teilnehmer. Um die Namen seiner Studenten zu lernen, ging Coleman jeweils zu Beginn der Sitzungen die Anwesenheitsliste durch. Fünf Wochen lang kam auf zwei der Namen, die er verlas, keine bestätigende Antwort, und so fragte Coleman am Anfang der sechsten Sitzung: »Kennt jemand diese Leute? Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen?«

Später an jenem Tag wurde er zu seiner Verwunderung ins Büro seines Nachfolgers, des neuen Dekans, gebeten und mit dem Vorwurf des Rassismus konfrontiert, den die beiden abwesenden Studenten – es handelte sich um Schwarze – gegen ihn erhoben. Obgleich abwesend, hatten sie rasch von der Bemerkung erfahren, mit der er ihr Fehlen kommentiert hatte. Coleman antwortete dem Dekan: »Das war eine Anspielung auf ihre möglicherweise nachtaktive Lebensweise. Das liegt doch wohl auf der Hand. Diese beiden Studenten haben an keiner einzigen Sitzung teilgenommen – das war das einzige, was ich von ihnen wußte. Es sollte eine ironische Bemerkung sein. Ich hatte keine Ahnung, welche Hautfarbe sie haben, und mir war nicht bewußt, daß das als Anspielung auf ihre Hautfarbe verstanden werden könnte, sonst hätte ich dieses Wort gewiß nicht gebraucht, denn ich nehme große Rücksicht auf die Gefühle meiner Studenten. Bedenken Sie den Kontext: Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen? Der Vorwurf des Rassismus ist an den Haaren herbeigezogen. Lachhaft. Meine Kollegen wissen, daß er lachhaft ist, und meine Studenten wissen, daß er lachhaft ist. Das Thema, das einzige Thema, um das es hier gehen kann, ist das Nichterscheinen dieser beiden Studenten und ihre eklatante und unentschuldbare Weigerung, akademisch zu arbeiten. Das Widerwärtige an dieser Sache ist, daß die Anschuldigung nicht einfach falsch ist – sie ist so offenkundig falsch.« Nachdem er also genug zu seiner Verteidigung gesagt hatte, betrachtete Coleman die Angelegenheit als erledigt und fuhr nach Hause.

Nun machen sich, wie ich höre, auch gewöhnliche Dekane durch ihre Tätigkeit im Niemandsland zwischen Dozenten und Verwaltung Feinde: Sie gewähren nicht immer die gewünschte Gehaltserhöhung oder einen der begehrten Parkplätze oder die großzügigeren Büroräume, von denen die Professoren glauben, sie stünden ihnen zu. Sie verweigern feste Anstellungen oder Beförderungen von Dozenten in den unwichtigeren Fachbereichen. Sie lehnen Anträge auf zusätzliche Planstellen für wissenschaftliche Mitarbeiter und Sekretärinnen fast immer ab, ebenso wie die Bitten um eine Reduzierung der Lehrtätigkeit, die Befreiung von frühmorgendlichen Veranstaltungen, Zuschüsse für Reisen zu wissenschaftlichen Konferenzen, und so weiter, und so weiter. Doch Coleman war kein gewöhnlicher Dekan gewesen, und sowohl mit seinen Entscheidungen, wer mit welcher Begründung entlassen und was eingerichtet oder abgeschafft werden sollte, als auch mit seiner Verwegenheit angesichts enormer Widerstände hatte er nicht bloß ein paar Nörgler und Unzufriedene gekränkt oder vor den Kopf gestoßen. Mit Rückendeckung durch Pierce Roberts, den gutaussehenden jungen Rektor mit dem zerzausten Haar, der steilen Karriere und dem aggressiven Auftreten, der ihn gleich nach seinem Amtsantritt zum Dekan ernannte und ihm sagte: »Hier muß sich einiges ändern, und jeder, dem das nicht gefällt, sollte sich überlegen, ob er sich was anderes suchen oder frühzeitig in Pension gehen will«, hatte Coleman gründlich aufgeräumt. Als man Roberts acht Jahre später, mitten in Colemans Amtszeit, den Posten eines Rektors an einer prestigeträchtigeren Universität anbot, geschah das hauptsächlich aufgrund der erfolgreichen Reformen, die in Athena in Rekordzeit durchgeführt worden waren – allerdings nicht durch den gefeierten Rektor, der im Grunde nur ein Spendensammler war, einer, der seinen Kopf nicht hingehalten hatte und nun geehrt und unversehrt weiterzog, sondern durch seinen entschlossenen Dekan.

Schon im ersten Monat nach seiner Ernennung zum Dekan hatte Coleman jedes Mitglied der Fakultät zu einem Gespräch eingeladen, darunter etliche verdiente Professoren, Mitglieder jener alteingesessenen Familien, die das College gegründet und mit Mitteln ausgestattet hatten. Sie waren im Grunde nicht auf das Geld angewiesen, hatten jedoch nichts dagegen, ein Gehalt zu beziehen. Jeder von ihnen wurde gebeten, seinen Lebenslauf mitzubringen, und wer sich für zu bedeutend hielt, um dieser Bitte zu entsprechen, mußte feststellen, daß sein Lebenslauf dennoch vor Coleman auf dem Schreibtisch lag. Mit jedem dieser Professoren hatte der neue Dekan eine Unterredung, die eine volle Stunde und manchmal auch länger dauerte, bis sie, nachdem er überzeugend ausgeführt hatte, daß sich in Athena nun doch einiges ändern würde, regelrecht ins Schwitzen kamen. Er hatte auch keine Hemmungen, das Gespräch zu eröffnen, indem er in dem Lebenslauf blätterte und sagte: »Was haben Sie in den letzten elf Jahren eigentlich gemacht?« Beinahe alle Fakultätsmitglieder antworteten, sie hätten regelmäßig in den Athena Notes publiziert, und verwiesen auf ephemere philologische, bibliographische oder archäologische Erkenntnisse, die sie alljährlich aus ihren uralten Dissertationen destilliert und in der hektographierten, in grauen Karton gebundenen Vierteljahresschrift »publiziert« hatten, welche, abgesehen von der Collegebibliothek, nirgendwo auf der Welt katalogisiert wurde, und nachdem er diesen Satz einmal zu oft gehört hatte, brach er der Legende nach mit den in Athena geltenden Regeln der Höflichkeit und sagte: »Mit anderen Worten, Sie haben Ihren eigenen Mist wiedergekäut.« Er stellte nicht nur das Erscheinen der Athena Notes ein, indem er den winzigen Druckkostenzuschuß an den Stifter – den Schwiegervater des Herausgebers – zurückerstattete, sondern zwang auch, um den Wunsch nach vorzeitiger Pensionierung tunlichst zu fördern, die ältesten der alten Garde, die Vorlesungen, die sie seit zwanzig oder dreißig Jahren unverändert und auswendig hielten, aufzugeben und Einführungsseminare für Englisch und Geschichte sowie die neuen Orientierungskurse für Studienanfänger zu übernehmen, die in den heißen letzten Tagen des Sommersemesters stattfanden. Er schaffte den völlig falsch betitelten Preis für den »Wissenschaftler des Jahres« ab und fand für die damit verbundenen tausend Dollar eine anderweitige Verwendung. Zum erstenmal in der Geschichte des Colleges mußten die Professoren für ein bezahltes Sabbat-jahr – das übrigens gewöhnlich nicht genehmigt wurde – einen formellen Antrag mit einer detaillierten Projektbeschreibung einreichen. Coleman führte den clubartig gestalteten Speisesaal der Fakultätsmitglieder, der über die schönsten eichenen Wandtäfelungen des ganzen Campus verfügte, wieder seiner ursprünglichen Bestimmung als Raum für Doktorandenseminare zu, so daß die Dozenten ihre Mahlzeiten zusammen mit den Studenten in der Cafeteria einnehmen mußten. Er bestand darauf, daß Fakultätssitzungen abgehalten wurden – sein Vorgänger hatte sich durch den Verzicht auf diese Veranstaltungen sehr beliebt gemacht –, und sorgte dafür, daß die Sekretärin eine Anwesenheitsliste führte, wodurch selbst hochmögende Professoren, die lediglich drei Wochenstunden unterrichteten, gezwungen waren zu erscheinen. Nachdem er in der Charta des Colleges eine Klausel entdeckt hatte, die Exekutivausschüsse verbot, löste er diese mit dem Argument auf, sie seien durchgreifenden Veränderungen hinderlich und gründeten sich lediglich auf Konvention und Tradition, und er leitete die Fakultätssitzungen durch Erlasse, wobei er bei jeder Zusammenkunft verkündete, was er als nächstes zu tun gedachte – lauter Dinge, die den Unmut unter den Dozenten nur vergrößerten. In seiner Amtszeit wurde es erheblich schwieriger, befördert zu werden, und das war vielleicht der größte Schock: Die Dozenten rückten nicht mehr automatisch und aufgrund ihrer Beliebtheit auf und bekamen keine Gehaltserhöhungen, die nicht durch akademische Leistungen gerechtfertigt waren. Kurz gesagt, er führte den freien Wettbewerb ein und sorgte für Konkurrenz, und das, bemerkte einer derjenigen, die früh zu seinen Feinden wurden, »tun Juden ja immer«. Und jedesmal, wenn man zornentbrannt ein Ad-hoc-Komitee bildete, um sich bei Pierce Roberts zu beklagen, stärkte dieser Coleman den Rücken.

Die intelligenten, begabten jungen Leute, die in den Roberts-Jahren eine Stelle am College bekamen, liebten Coleman, weil er ihnen Platz verschafft hatte und gute Absolventen der Graduiertenstudiengänge in Yale, Cornell und an der Johns Hopkins University anwarb. Es war, wie sie es nannten, »die Revolution der Qualität«. Sie priesen ihn dafür, daß er die herrschende Elite aus ihrem kleinen Club vertrieben und ihre Selbstdarstellung in Zweifel gezogen hatte – das sicherste Mittel, um einen aufgeblasenen Professor an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Die älteren und zugleich schlechtesten Mitglieder der Fakultät hatten nur aufgrund des Bildes überlebt, das sie von sich selbst hatten – die größte Koryphäe für das Jahr 100 v.Chr. und so weiter –, und sobald diese Einschätzung vom Dekan in Frage gestellt wurde, schwand ihr Selbstvertrauen. Es dauerte nur wenige Jahre, und beinahe alle hatten sich in den Ruhestand versetzen lassen. Was waren das für aufregende Zeiten! Doch dann übernahm Pierce Roberts den wichtigen Posten an der University of Michigan, und Haines, der neue Rektor, machte deutlich, daß er sich Coleman nicht besonders verpflichtet fühlte – im Gegensatz zu seinem Vorgänger zeigte er keine übermäßigen Sympathien für jene Art von autokratischer Selbstüberhebung und brutaler Arroganz, die das College in so kurzer Zeit derart gründlich von Altlasten befreit hatte –, und da die jungen Leute, die Coleman übernommen oder angeworben hatte, ihrerseits langsam zu akademischen Veteranen wurden, bekam Dekan Silk wachsenden Widerstand zu spüren. Wie stark dieser Widerstand war, wurde ihm erst bewußt, als er zählte, wie viele Leute in den verschiedenen Fachbereichen saßen, die ganz und gar nichts dagegen zu haben schienen, daß das Wort, mit dem der ehemalige Dekan seine scheinbar nicht existenten Studenten charakterisiert hatte, nicht nur durch die lexikalische Hauptbedeutung definiert war, die, wie er behauptete, ganz offensichtlich die von ihm beabsichtigte gewesen war, sondern darüber hinaus auch eine pejorative Bedeutung besaß, welche die beiden schwarzen Studenten zu ihrer Beschwerde veranlaßt hatte.

Ich kann mich sehr gut an den Apriltag vor zwei Jahren erinnern, an dem Iris Silk starb und Coleman seinem Wahnsinn verfiel. Bis dahin hatte ich von den Silks und ihren Lebensumständen nicht viel gewußt; wir hatten uns lediglich hin und wieder zugenickt, wenn unsere Wege sich im Lebensmittelladen oder im Postamt gekreuzt hatten. Mir war nicht einmal bekannt gewesen, daß Coleman in dem winzigen Städtchen East Orange in Essex County, New Jersey, aufgewachsen war, sieben oder acht Kilometer von meinem Elternhaus entfernt, und daß er den Highschool-Abschluß 1944 an der East Orange High gemacht hatte, gut sechs Jahre vor mir, der ich im benachbarten Newark zur Schule gegangen war. Er hatte sich nicht bemüht, meine Bekanntschaft zu machen, und ich war nicht von New York in ein Zweizimmerhäuschen weit oben in den Berkshires, am Rande eines Feldes, an dessen anderem Ende ein Wirtschaftsweg vorbeiführte, gezogen, um neue Leute kennenzulernen oder aktiv am Leben in einer Kleinstadt teilzunehmen. Ich hatte mich 1993 hier niedergelassen und in den ersten Monaten einige Einladungen erhalten – zum Abendessen, zum Tee, zu einer Cocktailparty, zu einem Ausflug in das College unten im Tal, wo ich einen Vortrag oder, falls mir das lieber war, eine Gastvorlesung für Literaturstudenten hätte halten sollen –, die ich allesamt höflich abgelehnt hatte, und von da an wurde ich sowohl von meinen Nachbarn als auch vom College in Ruhe gelassen, so daß ich ungestört leben und arbeiten konnte.

Doch an jenem Nachmittag vor zwei Jahren tauchte Coleman, der geradewegs von dem Bestattungsunternehmen kam, wo er die Einzelheiten von Iris’ Beerdigung besprochen hatte, vor meinem Haus auf, klopfte an die Tür und bat um Einlaß. Obgleich er eine dringende Bitte an mich hatte, konnte er keine halbe Minute stillsitzen und darlegen, um was es sich handelte. Er stand auf, setzte sich wieder, stand abermals auf, ging in meinem Arbeitszimmer auf und ab, sprach laut und hastig und schüttelte sogar drohend die Faust, wenn er – irrtümlich – glaubte, einen Punkt besonders unterstreichen zu müssen. Ich sollte etwas für ihn schreiben – es fehlte nicht viel und er hätte es mir befohlen. Wenn er selbst diese Geschichte in ihrer ganzen Absurdität aufschriebe, ohne irgend etwas zu ändern, würde sie niemand glauben, würde sie niemand ernst nehmen. Man würde sagen, es sei eine lächerliche Lüge, eine zweckdienliche Übertreibung, man würde sagen, hinter seinem tiefen Sturz müsse etwas anderes stecken als die Erwähnung von »dunklen Gestalten« in einer Seminarsitzung. Wenn dagegen ich, ein anerkannter Schriftsteller, mich der Sache annähme…

Er hatte alle Zurückhaltung aufgegeben, und während ich ihm – einem mir unbekannten, jedoch offenbar kultivierten und einflußreichen Mann, der sein inneres Gleichgewicht vollkommen verloren hatte – zusah und zuhörte, hatte ich das Gefühl, Zeuge eines schrecklichen Autounfalls, eines Brandes oder einer gewaltigen Explosion zu sein, Zeuge einer Katastrophe, die den Betrachter bannt, weil sie ebenso unwahrscheinlich wie grotesk ist. Die Art, wie er durch den Raum taumelte, erinnerte mich an ein Huhn, das weiter herumlief, nachdem man es geköpft hatte. Man hatte ihm den Kopf abgeschlagen, den Kopf, der das gebildete Gehirn des einst unantastbaren Dekans und Professors für klassische Literatur enthalten hatte, und was ich hier sah, war der unbeherrscht wütende amputierte Rest.

Ich, dessen Haus er nie zuvor betreten und dessen Stimme er kaum jemals gehört hatte, sollte alles stehen- und liegenlassen und darüber schreiben, wie seine Feinde im Athena College ihn hatten stürzen wollen und statt dessen seine Frau zu Fall gebracht hatten. Indem sie ihr falsches Bild von ihm verbreitet und ihn als etwas bezeichnet hatten, das er nie gewesen war und nie sein würde, hatten sie nicht nur eine Karriere diffamiert, der er sich mit äußerster Ernsthaftigkeit und Hingabe gewidmet hatte, sondern auch die Frau umgebracht, mit der er über vierzig Jahre lang verheiratet gewesen war. Sie hatten sie umgebracht, als hätten sie sorgfältig gezielt und sie ins Herz geschossen. Ich sollte über diese »Absurdität« schreiben, diese »Absurdität« – ich, der ich damals nichts von den Widrigkeiten wußte, mit denen er am College zu kämpfen hatte, und der ich die Chronologie der Schrecken, die vor fünf Monaten über ihn und die verstorbene Iris Silk hereingebrochen waren, nicht einmal ansatzweise begreifen konnte: die fortwährenden quälenden Sitzungen, Anhörungen und Befragungen, die Schriftstücke und Briefe an die Collegeverwaltung, die Fakultätsausschüsse und den schwarzen Anwalt, der die beiden Studenten honorarfrei vertrat… die Beschuldigungen, das Leugnen, die Gegenbeschuldigungen, die Stumpfheit, die Dummheit, der Zynismus, die krassen und absichtlichen Fehldeutungen, die mühseligen, wieder und wieder eingeforderten Erklärungen, die inquisitorischen Fragen – und immer das beständige, alles durchdringende Gefühl der Unwirklichkeit. »Der Mord!« rief Coleman, beugte sich über meinen Schreibtisch und hämmerte mit der Faust darauf. »Diese Leute haben Iris ermordet

Das kaum einen halben Meter von meinem entfernte Gesicht, das er mir zeigte, war inzwischen schief und verzerrt und – für das Gesicht eines gepflegten älteren Mannes, der sich sein jugendlich gutes Aussehen bewahrt hatte – seltsam abstoßend, höchstwahrscheinlich gezeichnet vom Gift der Emotionen, die ihn beherrschten. Es war, von nahem betrachtet, angeschlagen und beschädigt wie ein Stück Obst, das an einem Marktstand zu Boden gefallen und von den Füßen der Passanten hin und her gestoßen worden war.

Es ist faszinierend, was seelische Schmerzen bei einem Menschen anrichten können, der in keiner Weise schwach oder hinfällig ist. Seelische Schmerzen sind heimtückischer als körperliche, denn sie können nicht durch Morphiuminfusionen, Spinalanästhesie oder eine Operation gelindert werden. Wenn sie einen einmal in ihrem Griff haben, ist es, als könnte einen erst der Tod von ihnen erlö-sen. Es ist harter, grausamer Realismus, wie man ihn sonst nirgends findet.

Ermordet. In Colemans Augen konnte nur dies erklären, warum eine tatkräftige, kerngesunde vierundsechzigjährige Frau mit imponierender Ausstrahlung so unvermittelt gestorben war, eine abstrakte Malerin, deren Bilder die regionalen Kunstausstellungen beherrscht hatten und die die örtliche Künstlervereinigung autokratisch geleitet hatte, eine Dichterin, deren Werke in der Zeitung des Landkreises veröffentlicht worden waren, eine einstmals führende politische Aktivistin des Colleges, die schroff, eigenwillig und unnachgiebig gegen Atombunker, Strontium90 und schließlich den Vietnamkrieg protestiert hatte, eine Naturgewalt von einer Frau, die man auf hundert Meter Entfernung an ihrem großen, zerzausten Schopf drahtigen weißen Haars hatte erkennen können, eine offenbar so starke Persönlichkeit, daß es dem Dekan, der angeblich jeden hatte überrollen können und in der akademischen Welt durch die Rettung des Athena Colleges das Unmögliche vollbracht hatte, trotz aller herausragenden Fähigkeiten nie gelungen war, seiner eigenen Frau außerhalb des Tennisplatzes Paroli zu bieten.

Sobald Coleman jedoch unter Beschuß lag – sobald der Vorwurf des Rassismus Gegenstand von Untersuchungen geworden war, ausgestreut nicht nur vom neuen Dekan, sondern auch von der kleinen schwarzen Studentenorganisation des Colleges und einer gleichfalls schwarzen Aktivistengruppe aus Pittsfield –, ließ die offensichtliche Absurdität dieser Angelegenheit die unzähligen Schwierigkeiten in der Ehe der Silks in den Hintergrund treten, und Iris stellte ihr gebieterisches Wesen, das vier Jahrzehnte lang mit Colemans störrischem Beharren auf Selbstbestimmung im Streit gelegen und für ständige Reibungen gesorgt hatte, in den Dienst der Verteidigung ihres Mannes. Obgleich sie seit Jahren nicht mehr im selben Bett geschlafen hatten und jeder der beiden eine Unterhaltung mit dem anderen – oder mit seinen Freunden und Freundinnen – nur für kurze Zeit hatte ertragen können, standen die Silks wieder Seite an Seite und drohten Leuten, die sie tiefer haßten, als sie in den unerträglichsten Augenblicken einander hassen konnten, mit den Fäusten. Alles, was sie vierzig Jahre zuvor in Greenwich Village als kameradschaftliches Paar verbunden hatte – zu jener Zeit schrieb er an der New York University seine Dissertation, und Iris war ihren verrückten Anarchisteneltern in Passaic eben erst entkommen und stand Studenten der Art Students League Modell, schon damals ausgestattet mit einem dichten, krausen Schopf bedeutender Haare, sinnlich und mit ausgeprägten Gesichtszügen, schon damals eine theatralisch wirkende Hohepriesterin mit folkloristischem Schmuck, eine biblische Hohepriesterin aus der Zeit vor der Synagoge –, alles, was sie in jenen Village-Zeiten verbunden hatte, trat (mit Ausnahme der erotischen Leidenschaft) nun wieder mit Macht hervor… bis zu jenem Morgen, an dem Iris mit entsetzlichen Kopfschmerzen und einem tauben Arm erwachte. Coleman fuhr sie sofort ins Krankenhaus, doch am nächsten Tag war sie tot.

»Sie wollten mich umbringen und haben statt dessen sie erwischt.« Das waren Colemans Worte bei jenem unangekündigten Besuch in meinem Haus, und dasselbe bekam jeder zu hören, der zu der Beerdigung am folgenden Nachmittag erschien. Und er glaubte es noch immer. Alle anderen Erklärungen stießen bei ihm auf taube Ohren. Seit ihrem Tod – und seit er erkannt hatte, daß sein Leid kein Thema war, das ich in einem Buch würde verarbeiten wollen, und sich von mir die Dokumente und Unterlagen hatte zurückgeben lassen, die er mir an jenem Tag auf den Schreibtisch geknallt hatte – arbeitete er an einem Buch über die Gründe seines Rückzugs vom Athena College, an einem Tatsachenbericht mit dem Titel Dunkle Gestalten.

Drüben in Springfield gibt es einen kleinen UKW-Radiosender, der samstags abends von sechs bis Mitternacht das klassische Programmschema aufgibt und in den frühen Abendstunden Big-Band-Musik und später Jazz spielt. Auf meiner Seite des Hügels hört man auf dieser Frequenz nur statisches Rauschen, doch auf Colemans Seite ist der Empfang gut, und wenn er mich samstags zu einem Abenddrink einlud, konnte ich, sobald ich in seiner Einfahrt geparkt hatte und ausgestiegen war, die zuckersüßen Tanzmelodien vernehmen, die unsere Generation in den vierziger Jahren, als wir noch jung waren, ständig aus Radios und Jukeboxen gehört hat. Coleman hatte alle Empfänger voll aufgedreht, nicht nur das Stereoradio im Wohnzimmer, sondern auch den Apparat neben seinem Bett, den Apparat neben der Dusche und den Apparat in der Küche neben der Brottrommel. Ganz gleich, was er an einem Samstagabend in seinem Haus tat – bis Mitternacht, wenn der Sender (nach einer rituellen halben Stunde Benny Goodman) den Betrieb einstellte, war er keine Minute außer Hörweite.

Seltsamerweise, sagte er, habe ihn die ernste Musik, die er im Lauf seines Erwachsenenlebens gehört habe, niemals so berührt, wie es diese alte Swingmusik nun tat: »Alles Stoische in mir entspannt sich, und der Wunsch, nicht zu sterben, nie zu sterben, wird beinahe unerträglich stark. Und das alles nur«, erklärte er, »weil ich Vaughn Monroe höre.« An manchen Abenden bekam jede einzelne Zeile eines jeden Stücks eine so bizarre Bedeutsamkeit, daß er schließlich ganz allein denselben schiebenden, ziellosen, gleichförmigen, uninspirierten und doch wunderbar wirksamen, Schmusestimmung erzeugenden Foxtrott tanzte, wie damals mit den East-Orange-High-Mädchen, an deren Beine er seine ersten nennenswerten Erektionen gedrückt hatte; und während er tanzte, war, wie er mir erklärte, nichts von dem, was er fühlte, simuliert, weder die Angst (vor der Auslöschung) noch die Verzückung (über »You sigh, the song begins, You speak, and I hear violins«). Die Tränen wurden spontan vergossen, so erstaunt er vielleicht auch war, wie wenig Widerstand er Helen O’Connells und Bob Eberlys Wechselgesang in »Green Eyes« entgegenzusetzen hatte, sosehr er sich vielleicht auch wunderte, daß Jimmy und Tommy Dorsey ihn in einen verletzlichen alten Mann verwandeln konnten, der zu sein er nicht mehr erwartet hatte. »Aber lassen Sie mal irgend jemanden, der 1926 geboren ist, einen Samstagabend im Jahr 1998 zu Hause verbringen und Dick Haymes mit ›Those Little White Lies‹ hören«, sagte er. »Dann kann er mir nachher sagen, ob er vielleicht endlich die berühmte Lehre von der kathartischen Wirkung der griechischen Tragödie begriffen hat.«

Als ich durch eine Fliegentür an der Seite des Hauses in die Küche trat, spülte Coleman gerade das Abendessengeschirr ab. Weil das Radio über der Spüle hing und das Wasser lief, weil der Apparat laut gestellt war und Coleman und der junge Frank Sinatra »Everything Happens to Me« sangen, hörte er mich nicht. Es war ein warmer Abend, und Coleman trug nur Jeans-Shorts und Slipper. Von hinten wirkte dieser Einundsiebzigjährige nicht älter als vierzig – schlank, fit und vierzig. Coleman war höchstens eins fünfundsiebzig groß und nicht besonders muskulös, doch er besaß eine Menge Kraft, und die Elastizität und der Schwung des Highschool-Sportlers waren noch zu erkennen, diese Schnelligkeit, dieser Tatendrang, den wir damals Pep nannten. Sein dichtgelocktes, kurzgeschnittenes Haar war inzwischen fast weiß, und so wirkte er trotz der jungenhaften Stupsnase nicht ganz so jugendlich, wie wenn es noch dunkel gewesen wäre. Außerdem hatten sich zu beiden Seiten des Mundes tiefe Falten eingegraben, und aus dem Blick seiner grünlichbraunen Augen sprachen seit Iris’ Tod und seinem Rückzug vom College große, große Müdigkeit und seelische Erschöpfung. Coleman besaß das unwirkliche, fast puppenhaft gute Aussehen, das man bei alternden Schauspielern findet, deren Glanzzeit in ihrer Kindheit gelegen hat und denen das Bild des jugendlichen Stars unauslöschlich aufgedrückt ist.

Alles in allem war er selbst in seinem Alter noch ein drahtiger, attraktiver Mann, vom Typ her einer jener Juden mit kleinen Nasen, deren Gesicht von der Kieferpartie bestimmt wird, einer jener kraushaarigen Juden mit leicht gelblicher Pigmentierung, die ihnen etwas von der changierenden Aura heller Schwarzer verleiht, die manchmal als Weiße durchgehen können. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Coleman Silk als Matrose in der Marinebasis Norfolk in Virginia gedient. Sein Name verriet nicht, daß er Jude war – es hätte ebensogut ein Negername sein können, und tatsächlich hatte man ihn einmal, in einem Bordell, für einen Nigger gehalten, der sich als Weißer ausgab, und in hohem Bogen hinausgeworfen. »Aus einem Puff in Norfolk haben sie mich als Schwarzen rausgeschmissen, und aus dem Athena College haben sie mich als Weißen rausgeschmissen.« In diesen letzten zwei Jahren hörte ich so etwas häufig von ihm: Tiraden über schwarzen Antisemitismus und seine treulosen, feigen Kollegen – Ausfälle, die offenbar in unveränderter Form als Hauptgedanken in sein Buch einflossen.

»Man hat mich in Athena rausgeschmissen«, sagte er, »weil ich ein weißer Jude von der Sorte bin, die diese strohdummen Arschlöcher als Feind bezeichnen. Ich bin der, der an ihrem amerikanischen Elend schuld ist. Der sie aus dem Paradies hierhergeschafft hat. Und der sie die ganze Zeit unterdrückt hat. Wer trägt die meiste Verantwortung dafür, daß Schwarze auf diesem Planeten leiden? Sie wissen es, ohne ein einziges Mal an einem Seminar teilgenommen zu haben. Sie wissen es, ohne je ein Buch aufgeschlagen zu haben. Sie wissen, ohne zu lesen – sie wissen, ohne zu denken. Wer ist schuld? Dieselben bösen Monster aus dem Alten Testament, unter denen schon die Deutschen so zu leiden hatten.

Sie haben sie umgebracht, Nathan. Und wer hätte gedacht, daß Iris damit nicht fertig werden würde? Aber so stark sie auch war, so laut sie auch war – Iris wurde damit nicht fertig. Deren Art von Dummheit war sogar für eine Verrückte wie meine Frau zuviel. ›Dunkle Gestalten‹. Und wer ist aufgestanden, um mich zu verteidigen? Herb Keble? Als Dekan hab ich Herb Keble ans College geholt. Ein paar Monate nachdem ich angetreten war. Ich hab ihn geholt, und er war nicht nur der erste schwarze Dozent im Fachbereich Sozialwissenschaften, sondern auch der erste Schwarze, der irgendwas anderes als den Posten eines Hausmeisters bekleidet hat. Aber auch Herb ist durch den Rassismus von Juden wie mir radikalisiert worden. ›Ich kann mich in dieser Sache nicht auf Ihre Seite stellen, Coleman. Ich muß zu ihnen halten.‹ Das waren seine Worte, als ich ihn um seine Unterstützung gebeten habe. Das hat er mir ins Gesicht gesagt. Ich muß zu ihnen halten. Zu ihnen!

Sie hätten Herb auf Iris’ Beerdigung sehen sollen. Völlig fertig. Am Boden zerstört. Es ist jemand gestorben? Dabei wollte Herb doch nicht, daß irgend jemand stirbt. Diese Hinterzimmerstrategen wollten doch bloß mehr Macht. Mehr Einfluß auf die Leitung des Colleges. Sie haben ja bloß eine günstige Gelegenheit genutzt. Es war eine Möglichkeit, Haines und die Verwaltung zu etwas zu drängen, wozu sie sonst nie bereit gewesen wären. Mehr Schwarze auf dem Campus. Mehr schwarze Studenten, mehr schwarze Professoren. Einfluß – darum ging es. Nur darum. Es sollte doch weiß Gott niemand sterben. Oder seine Professur aufgeben. Auch das hat Herb überrascht. Warum hat Coleman Silk seine Professur aufgegeben? Niemand hätte es gewagt, ihn zu feuern. Sie haben getan, was sie getan haben, einfach weil sie es tun konnten. Sie wollten meine Füße nur noch ein bißchen länger über das Feuer halten – warum konnte ich nicht einfach geduldiger sein und warten? Wer hätte sich im nächsten Semester denn schon noch daran erinnert? Der Zwischenfall – der Zwischenfall! – verschaffte ihnen das ›strukturierende Thema‹, das sie für ein in Rassenfragen so rückständiges College wie Athena brauchten. Warum habe ich meine Professur aufgegeben? Als ich das tat, war die Sache doch praktisch schon vorbei. Warum zum Teufel habe ich das eigentlich getan?«

Bei meinem vorigen Besuch hatte Coleman, kaum daß ich eingetreten war, mit etwas vor meinem Gesicht herumgefuchtelt, mit einem der Hunderte von Dokumenten aus den Schachteln mit der Aufschrift »Dunkle Gestalten«. »Hier. Eine meiner begabten Kolleginnen. Schreibt was über eine der beiden Studenten, die mir Rassismus vorgeworfen haben – eine Studentin, die nie in meinem Seminar war, die in allen anderen Kursen bis auf einen durchgefallen ist und auch an diesen kaum je teilgenommen hat. Ich dachte, sie sei durchgefallen, weil sie mit dem Stoff nicht zurechtkam und ihn infolgedessen nicht mal annähernd bewältigen konnte, aber wie sich jetzt herausstellt, ist sie durchgefallen, weil der Rassismus ihrer weißen Professoren sie so eingeschüchtert hat, daß sie nicht den Mut aufbrachte, an den Seminarsitzungen teilzunehmen. Ebenjener Rassismus, den ich artikuliert habe. Bei einer dieser Sitzungen oder Anhörungen, oder was auch immer das war, haben sie mich gefragt: ›Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach dazu geführt, daß diese Studentin nicht bestanden hat?‹ ›Welche Faktoren?‹ habe ich gesagt. ›Desinteresse. Arroganz. Gleichgültigkeit. Persönlicher Kummer. Was weiß ich?‹ ›Aber‹, haben sie mich gefragt, ›welche positiven Empfehlungen konnten Sie ihr angesichts dieser Faktoren geben?‹ ›Keine. Ich habe sie ja nie gesehen. Aber wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, hätte ich ihr empfohlen, das College zu verlassen.‹ ›Warum?‹ wollten sie wissen. ›Weil sie auf dem College nichts zu suchen hatte.‹

Ich will Ihnen etwas vorlesen. Hören Sie sich das an. Es ist von einer Kollegin, die Tracy Cummings als eine Studentin unterstützt, über die wir nicht zu streng oder zu schnell urteilen und die wir tunlichst nicht ablehnen oder ausschließen sollten. Wir müssen Tracy fördern. Wir müssen Tracy verstehen. Wir müssen wissen, sagt uns diese erlauchte Professorin, ›woher Tracy stammt‹. Ich lese Ihnen die letzten Sätze vor. ›Tracy stammt aus recht schwierigen Verhältnissen, da sie in der zehnten Klasse von ihrer unmittelbaren Familie getrennt und von Verwandten aufgenommen wurde. Infolgedessen hat sie kein gut entwickeltes Gespür für die Realität einer Situation. Diesen Mangel bestreite ich nicht. Sie ist jedoch bereit, willens und in der Lage, ihre Einstellung zum Leben zu verändern. Ich bin in den vergangenen Wochen Zeugin ihrer Bewußtwerdung des Umfangs ihrer Vermeidung der Realität geworden.‹ Ergüsse einer gewissen Delphine Roux, Leiterin des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaft, die unter anderem einen Kurs für klassische französische Literatur unterrichtet. Ihrer Bewußtwerdung des Umfangs ihrer Vermeidung der Realität. Ach, genug. Genug. Es ist zum Kotzen. Es ist einfach nur noch zum Kotzen.«

Das war das Bild, das sich mir meistens bot, wenn ich Coleman an einem Samstagabend Gesellschaft leistete: eine beschämende Demütigung, die noch immer an einem Mann nagte, der voller Lebenskraft war. Der große Mann, der zu Fall gekommen war und diese Schande noch nicht verwunden hatte. Etwas Ähnliches hätte man gesehen, wenn man Nixon in San Clemente besucht hätte oder Jimmy Carter in Georgia, bevor er für seine Niederlage Buße tat, indem er anfing zu schreinern. Etwas sehr Trauriges. Und doch – obgleich ich Sympathien für Coleman hatte, obgleich ich sah, was er durchmachte und was er ungerechterweise verloren hatte, obgleich ich sah, wie nahezu unmöglich es ihm war, sich von seiner Bitterkeit zu lösen, gab es Abende, an denen ich, kaum daß ich ein paarmal an seinem Brandy genippt hatte, so müde wurde, daß es einer Art Zauberei bedurft hätte, um mich wach zu halten.

Doch an dem Abend, den ich hier schildere und an dem wir uns auf die kühle, mit Fliegengitter umspannte Seitenveranda gesetzt hatten, die Coleman im Sommer als Arbeitszimmer benutzte, war er der Welt so zugewandt, wie man es nur sein kann. Er hatte ein paar Flaschen Bier aus dem Kühlschrank geholt, und nun saßen wir einander gegenüber an dem langen Schragentisch, an dem er hier draußen arbeitete und an dessen einen Ende in drei Stapeln etwa zwanzig oder dreißig Kladden lagen.

»Tja, da ist es«, sagte Coleman, der jetzt ein ruhiger, entspannter, völlig neuer Mensch war. »Da ist es. Das ist Dunkle Gestalten. Gestern habe ich die erste Fassung fertiggestellt, und heute habe ich den ganzen Tag damit verbracht, darin zu lesen, und fand jede Seite zum Kotzen. Schon die Heftigkeit der Handschrift hätte gereicht, um mich gegen den Verfasser einzunehmen. Daß ich auch nur eine Viertelstunde damit verbracht habe, geschweige denn zwei Jahre… Iris ist durch deren