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CYNTHIA EDEN

Firebird

Flammende Erinnerung

Ins Deutsche übertragen

von Antje Engelmann

Zu diesem Buch

Cassie Armstrong kämpft mit Schuldgefühlen. Ihr Vater war der Wissenschaftler, der einst in einem geheimen Forschungslabor grausame Experimente an Menschen mit besonderen Gaben durchführte. Inzwischen ist Cassie selbst eine brillante Genforscherin und will ihre Fähigkeiten dazu nutzen, das von ihrem Vater begangene Unrecht wiedergutzumachen. Sie fühlt sich vor allem zu dem Phönix Dante hingezogen, der seit ihrer Kindheit in ihren Träumen erscheint und dessen Schmerz sie immer wieder zu lindern versucht – auch wenn er sich nicht daran erinnern kann. Denn mit jedem Tod und jeder Auferstehung verliert Dante aufs Neue sein Gedächtnis …

Prolog

»Lass das, Daddy. Bitte!« Das kleine Mädchen wand sich und kämpfte verzweifelt mit den starken Fesseln, die es auf dem kalten Metalltisch hielten.

»Cassie, nun sei ein braves Mädchen und hör auf, dich zu sträuben.« Ihr Vater beugte sich im weißen Laborkittel über sie. Er trug eine Maske, und sie sah nur seine glitzernden Augen. »Das macht dich stärker. Möchtest du nicht stärker werden?«

Er würde ihr wieder die Arznei verabreichen. Schon blitzte die Nadel lang und spitz im grellen Licht auf.

»Ich will nicht stärker werden«, flüsterte sie. Und wollte raus aus dem Zimmer. Weg von ihm.

Weit, weit weg.

»In der Welt gibt es Ungeheuer, Cassie. Die müssen wir aufhalten.« Seine Stimme war härter geworden. Obwohl sie ohnehin hart und kalt war.

Er sah aus wie ein Ungeheuer. Im grellen Licht. Mit weißer Maske vor dem Gesicht. Mit weißen Handschuhen.

Tränen liefen ihr über die Wangen, als er die Nadel in ihren Arm stach.

Sie schrie. Feuer schien sich in ihre Adern zu ergießen, und sie bäumte sich auf und zuckte mit den Gliedern.

Er seufzte. »Darum musste ich dich fesseln. Ich durfte nicht zulassen, dass du dich verletzt.«

Ihre Schreie wurden lauter.

»Keine Sorge. In ein paar Wochen sind wir mit den Spritzen durch.«

Sie schrie weiter, konnte nicht aufhören. Sie brannte. Ihr Kopf schlug auf den Tisch. Immer wieder. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen.

»Sobald die Verwandlung abgeschlossen ist, bist du unsere Waffe. Perfekt gehüllt in die Unschuld eines Kindes.«

Sie schrie nicht länger, sondern würgte und versuchte zu atmen, bekam aber keine Luft. Ihr Blick glitt durch das kleine Labor. Das Labor ihres Vaters. Normalerweise durfte sie nicht hier sein. Heute aber hatte er sie hergebracht – obwohl sie gefleht hatte, wieder nach draußen zu dürfen.

Nun starrte er auf sie herunter. Seine Augen … wirkten besorgt. So hatte er sie noch nie angesehen.

»Atme, Cassie!«, fuhr er sie an.

Sie konnte nicht.

Ringsum begannen Apparate zu piepen.

»Die Dosis war zu hoch!«, rief ihr Vater.

Das Licht schien schwächer zu werden.

»Cassie?«

Er hatte ihr etwas anderes gespritzt. Sie hatte die Nadel nur kurz aufblitzen sehen, bevor sie ihr in den Arm gefahren war.

»Ihr Herz schlägt nicht mehr.« Eine Frauenstimme. Die Stimme der Schwester, Mrs May. Manchmal hatte sie Cassie Lutscher gegeben, wenn ihr Vater nicht hingesehen hatte. Mrs May war ihr immer so nett erschienen.

Und doch hatte sie Cassie Minuten zuvor gefesselt. Das hatte sonst einer der Männer erledigt, nicht die nette Mrs May. Nicht …

»Cassie!«

Sie konnte ihren Vater nicht mehr sehen, doch immerhin brannte das Feuer nicht länger. Sie spürte es nicht mehr. Nichts spürte sie mehr.

»Herzstillstand!«

Das war alles, was sie noch hörte.

Cassie holte verzweifelt Luft. Dann schrie sie, denn es tat so weh.

»Wir haben sie wieder! Mein Gott!«

Das war doch … Daddys Stimme. Sie versuchte, ihn zu erkennen, doch das Licht war zu grell. Also schaute Cassie an sich herab … und sah das Blut überall an ihrem Körper. »Daddy?«

Dann war er da. Und beugte sich über sie. »Alles wird gut, Süße. Ich hab mich um dich gekümmert.«

So hatte sie ihn nie lächeln sehen.

»Von nun an bist du enorm stark. Unfassbar stark …«

So fühlte sie sich ganz und gar nicht.

»Du wirst die Welt verändern – die Welt!«

Cassie konnte nur daliegen und die nasse Wärme ihres Bluts spüren. Die Fesseln schnitten ihr ins Fleisch, taten aber nicht annähernd so weh wie die Stiche, mit denen ihr Vater sie zusammennähte.

Doch Cassie schrie nicht wieder. Es hatte keinen Sinn. Daddy würde sie nicht gehen lassen.

Sie wandte den Kopf: Krankenschwestern ringsum. Und Mrs May tätschelte ihr mit der behandschuhten Rechten die Wange.

Cassie hielt sich möglichst reglos und wünschte inständig, ihr Vater hätte sie nicht zurückgeholt.

Denn sie hatte die Momente ihres Todes genossen.

Cassie schlich über den Flur. Ein Neuer war ins Labor gebracht worden. Sie hatte erhobene Stimmen gehört. Und laute Schritte.

Daddy hatte gesagt, sein Programm werde ausgeweitet.

Ihr Vater machte ihr Angst.

Als sie ihn das Zimmer am Ende des Flurs verlassen sah, duckte sie sich ins Dunkel zurück. Flankiert von zwei großen Männern mit Schusswaffen ging er an ihr vorbei, ohne auch nur in ihre Richtung zu schauen.

Der zitternden Hände wegen ballte sie die Fäuste und schlich nackten Fußes weiter den Flur entlang.

Sie öffnete die Tür zum letzten Zimmer. Niemand da. In der Ecke war eine Treppe. Stufen, die nach unten führten.

Cassie biss sich auf die Lippe. Sie durfte nicht hier sein. Daddy hatte gesagt …

Daddy ist böse. Er hat mir wehgetan.

Sie ging die Treppe hinunter. Dann sah sie ihn.

Groß und dunkel. In einem … Käfig?

Sein Kopf schnellte nach oben, und er fuhr zu ihr herum. »Wer bist du?« Seine Stimme jagte ihr Angst ein, denn sie klang wie das tiefe Knurren eines Raubtiers.

Und doch näherte sie sich ihm vorsichtig.

Er musterte sie aus dunklen Augen. »Warum bist du ganz blutig?«

»Er hat mich getötet.« Sie begriff genau, was passiert war. Und passieren würde. »Dich bringt er auch um.«

Der Mann kam an die dicken Stäbe, die sie voneinander trennten. »Willst du mir helfen, Mädchen?«

Sie nickte.

»Dann geh wieder hoch. Schau nach, ob du den Schlüssel für diesen Käfig findest und …«

Ihre Faust öffnete sich. Den Schlüssel hatte sie schon dabei.

Manchmal war ihrem Vater nicht klar, wie klug sie war.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss. Hörte das Klicken. »Er soll nicht noch jemanden töten«, sagte sie leise und traurig.

Der Mann kam aus dem Käfig, kauerte sich vor sie, sah ihr in die Augen und fragte erneut: »Wer bist du?«

Wie dunkel seine Augen waren! So wie die Finsternis, die sich ihrer bemächtigt hatte, als sie gestorben war.

»Cassie … Cassandra.«

»Komm, Cassandra. Wir verschwinden von hier.« Er griff nach ihrer Hand.

Seine Hand war zu warm.

»Ich will raus«, flüsterte sie. »Bitte hilf mir.«

Er nahm ihre Hand fester. »Mach ich.«

Auf der Treppe waren Schritte zu hören.

»Cassie!«, rief ihr Vater. »Cassie … was hast du getan?« Jetzt war er da. Und nicht allein. In Begleitung bewaffneter Männer. Immer diese Pistolen …

»Erschießt ihn«, befahl er und funkelte den Mann neben ihr zornig an.

»Nein!«, schrie sie.

Doch sie hörten nicht auf sie. Das taten sie nie. Kugeln trafen den Mann, den sie aus dem Käfig befreit hatte.

Hände packten sie grob und rissen sie von ihm weg, noch bevor er zu Boden gestürzt war.

»Nein!« Cassie trat, wand sich und krallte nach den Bewaffneten, konnte aber nicht zu dem Mann zurückgelangen. »Aufhören!«

»Verschwindet. Das Feuer kommt …«, sagte ihr Vater. Er klang sehr erregt. Bei seinem Lächeln wurde ihr fast schlecht.

Wieder schaute sie den Mann an. Er war tot. Genau wie sie es auf Daddys Tisch gewesen war.

»Mach dir keine Sorgen.« Endlich sah ihr Vater sie an. »Auch der erwacht wieder zum Leben.«

Minuten später verbrannte der Mann vor ihren Augen. Feuer flackerte über ihm.

»Ich hab’s dir ja gesagt, Cassie.« Ihr Vater strich ihr durchs Haar. »Es gibt Ungeheuer.«

Der Mann brannte noch immer.

»Ja, Daddy.«

Er hatte recht. In diesem Zimmer war ein Ungeheuer. Doch es handelte sich nicht um den Mann, der sich nun vom Boden erhob, obwohl er noch brannte. Nein, Cassie wusste: Das eigentliche Ungeheuer war der, der sie anlächelte und umarmte.

Ihr Vater.

Und eines Tages würde sie ihm das Handwerk legen.

Eines Tages.

1

Es war hart für Cassandra Armstrong, einen Mann zu lieben, der sich nicht an sie erinnerte.

Härter noch war es, in Chicagos Nebenstraßen in die schäbigste Bar der Paranormalen zu gehen und diesen Mann in den Armen einer billigen Vampirin zu entdecken.

Cassies Augen wurden schmal, als sie Dante musterte. Er stand in einer weit entfernten Ecke und wollte sich offenbar im Dunkeln verstecken, war aber nicht der Typ, der mit seiner Umgebung verschmolz.

Dafür war er zu groß. Zu gefährlich. Zu sexy.

Und die Vampirin hatte die Fänge viel zu nah an seiner Kehle, als dass Cassie hätte ruhig bleiben können.

Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge und murmelte Entschuldigungen, während sie verschiedene Paranormale und auch Menschen anrempelte, die das »Tabu« bevölkerten. Seit einigen Jahren taten die Paranormalen nicht länger, als gäbe es sie nicht, und ihr Coming-out hatte sich zu einer wilden, noch immer andauernden Party entwickelt. Seither waren in allen großen Städten der USA und der übrigen Welt Klubs wie das »Tabu« entstanden.

Dante lehnte an der Rückwand. Die Vampirin mit ihrem langen, roten Haar und ihrem viel zu kurzen Rock fasste ihm überall hin. Ihre Nägel waren blutrot lackiert. Typisch. Nun stellte sie sich auf die Zehenspitzen, und ihr Mund näherte sich bedrohlich Dantes Hals.

»Okay – und jetzt entfernst du dich von ihm«, fuhr Cassie die Frau an und trat auf die beiden zu.

Die Vampirin erstarrte.

Dante neigte den Kopf zur Seite und betrachtete Cassie neugierig. Lag in seinem dunklen Blick Erkennen?

Natürlich nicht. Für ihn war sie eine x-beliebige Fremde von der Straße.

Lass das nicht an dich ran! Dante konnte nichts für das, was er war.

Aber er sollte sich von der billigen Vampirin entfernen.

Die fuhr nun fauchend zu Cassie herum.

Moment. Hatte sie tatsächlich gefaucht? Cassie hätte fast die Augen verdreht.

»Zieh Leine.« Die Vampirin bleckte die Fänge. »Er gehört mir.«

Von wegen. Cassie ballte die Fäuste und musste sich sehr beherrschen, der Schlampe keins überzubraten. »Tut er nicht«, sagte sie entschieden und sah an ihr vorbei. »Dante, wir müssen gehen.«

Er straffte sich.

Genau. Ich kenne deinen Namen. Warum, warum nur kannst du nichts über mich wissen? Nicht das Geringste?

Aber so war es immer für sie beide.

Cassie hielt Dantes Blick stand. »Glaub mir: Du willst nicht, dass sie dir die Fänge in den Hals schlägt.«

Sein Blut war speziell und machte Vampire schnell süchtig. Sollte die Rothaarige davon kosten, würde sie ihn nicht so bald in Ruhe lassen.

Dann müsste ich sie pfählen. Zu schade.

»Dante, wir können …«, begann Cassie.

Doch schon hatte die Vampirin sich auf sie gestürzt und ihr die Hand um die Kehle gelegt. Mit dieser Hand hob sie sie vom Boden. »Vielleicht schlage ich meine Fänge ja in dich, du Miststück.« Und an Cassies Ohr gebeugt flüsterte sie: »Denn niemand kommt zwischen mich und mein Essen.«

»Du … willst … nicht …«, stieß Cassie nur mühsam hervor, denn die Vampirin würgte sie tatsächlich. Sie hätte der Rothaarigen gern gesagt: Du willst nicht deine Fänge in mich schlagen. Das wäre ein riesiger Fehler.

Aber die Vampirin ließ ihr keine Zeit zum Reden.

»Lass sie los!« Dantes Stimme. Kalt. Ungerührt. Und so herrlich tief, wie sie sie in Erinnerung hatte.

Aus schmalen Augen und mit einer Mischung aus Ekel und Wut musterte die Vampirin Cassie. »Du hast recht. Wir brauchen sie nicht. Wir …«

»Ich sagte: Lass sie los!« Dante klang so drohend, dass Cassie Gänsehaut auf den Armen bekam. »Sofort!«

Die Vampirin ließ sie fallen.

Cassie landete unsanft auf dem Hintern.

Typisch. Sie war nie der anmutige Typ gewesen.

Die Rothaarige wandte sich zu Dante um. »Gehen wir?«, schnurrte sie.

Schnurren. Fauchen. Diese Frau war wirklich lästig.

»Du gehst.« Dante warf ihr einen Blick zu, der die Wüste in ein Eismeer hätte verwandeln können. »Ich bin hier noch nicht fertig.«

»Aber …«

»Und ich bin nicht dein Essen«, setzte er hinzu, und etwas Hitziges lag in seinen Worten.

Ah – das hatte er also mitbekommen. Cassie hatte schon vermutet, dass sein exzellentes Gehör diese Worte vernommen hatte.

Die Rothaarige funkelte erst Dante, dann Cassie an. Ihr Blick versprach Vergeltung.

Eines Tages würde Cassie ihr als Feindin ein zweites Mal begegnen. Sie schluckte und rappelte sich auf.

»Wir sehen uns wieder«, murmelte die Vampirin. Diese Worte waren an Cassie gerichtet und klangen allerdings wie eine Drohung.

Na prima. Als gäbe es in ihrem Leben nicht schon genug Bedrohungen.

Dann war die Vampirin verschwunden. Wahrscheinlich auf der Suche nach einer anderen Mahlzeit.

»Wer bist du?« Seine Stimme, ein leises Knurren, jagte ihr weitere Schauer über die Haut. Vielleicht hätten einige Leute – na gut, die meisten – dieses dunkle Knurren unheimlich gefunden.

Sie empfand es als sexy. Wegen Dante hatte sie immer etwas für Männer mit tiefer Stimme übriggehabt.

Cassie straffte die Schultern und sah zu ihm hoch. »Bist du wieder verbrannt?« Erst vor einigen Monaten war sie ihm in New Orleans begegnet.

Damals hatte er ihr das Leben gerettet. Und schien sich sogar an sie erinnern zu können …

Jetzt aber war keinerlei Erkennen in seinen Zügen.

Sie betrachtete ihn. Die hohen Wangenknochen, das kantige Kinn. Die schmalen Lippen, die sie nie hatte lächeln sehen – trotz all ihrer Versuche, ihn fröhlich zu stimmen. Seine Augen waren fast so dunkel wie sein schwarzes, volles Haar, das etwas zu lang war und ihm bis auf den Rücken fiel.

Mit diesen Augen musterte Dante sie nun wachsam und vorsichtig. »Verbrannt?«, wiederholte er bedächtig.

Im nächsten Moment sprang er viel schneller auf sie zu als die Vampirin, griff ihren Arm mit großer, starker, heißer Hand und zog sie an sich. »Woher weißt du davon?«

Cassie war nicht so groß wie die Rothaarige. Nicht annähernd. Sie maß kaum eins fünfundsechzig und musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm weiter in die Augen schauen zu können. Dante war knapp eins neunzig und enorm muskulös.

Er packte fester zu. »Antworte mir!«

Seine Finger schienen noch heißer zu werden, und ihr war klar, dass seine Macht ihm nun in den Adern kreiste. Falls sie nicht vorsichtig wäre, würde er sie womöglich verbrennen. Wie viel Selbstkontrolle besaß er wohl noch?

»Bitte.« Cassie gab sich alle Mühe, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich bin nicht hier, um dir wehzutun.« Sondern um ihn um Hilfe anzuflehen. Hätte er sich wenigstens schwach an sie erinnert, wäre ihr dieses Flehen viel leichter gefallen.

Da er sich aber offenbar gar nicht erinnerte …

Sein Blick glitt über ihr Gesicht und … blieb an ihrem Mund haften. Er hob die Linke und strich ihr mit dem Zeigefinger sanft über die Unterlippe.

Cassie hörte auf zu atmen. Ihr Körper war einfach zu gut auf ihn eingestellt. Dieser Mann hatte sie praktisch für jeden anderen verdorben.

Nicht, dass Dante nur ein Mann gewesen wäre. Nein, er war viel, viel mehr.

Der Unsterbliche.

Diesen Namen hatte er während seiner Haft bekommen. Einer Haft, zu der auch sie gehört hatte und die auch sie erdulden musste.

Sein Finger strich sanft über ihre Unterlippe. Schon diese leise Berührung ließ ihre Nippel hart werden und ihren Körper sich nach ihm sehnen. Doch jetzt war nicht die Zeit dafür. Und sicher nicht der richtige Ort. Sie hatte eine Mission zu erfüllen.

Dante neigte ihr den Kopf zu, und Cassie fragte sich, ob er sie küssen wollte. Sie reckte sich sogar, um ihm entgegenzukommen.

Doch er schüttelte den Kopf und ließ die Hand sinken.

Das musste vorläufig genügen.

Sie räusperte sich. »Die Verbrennung dürfte erst kurze Zeit zurückliegen. Deine Erinnerung stellt sich meist binnen einer Woche nach der Auferstehung wieder ein.«

Sein Gesicht schien sich in Stein zu verwandeln.

»Meist« war das Schlüsselwort. In den letzten Jahren hatte Dante so viel durchgemacht, dass sein Gedächtnis so schwankend war wie seine geistige Gesundheit. Das ließ ihn für viele zu einem sprechenden Albtraum auf zwei Beinen werden.

»Sicher wurdest du angegriffen«, begann sie flüsternd. Angegriffen … und getötet. Denn nur durch den Tod …

Er hob sie hoch und warf sie sich über die Schulter.

Cassie schrie auf, denn damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Sie legte die Hände an seinen Hintern – einen sehr schönen Hintern! –, stemmte den Oberkörper hoch und sah sich um.

Einige Gäste des Klubs betrachteten sie amüsiert und gehörten sichtlich nicht zu denen, die einer Dame aus der Verlegenheit helfen würden. Auch die rothaarige Vampirin musterte sie, nein, sie funkelte sie böse an.

Und Dante schritt mit ihr davon und behielt ihre Beine fest im Griff.

Gut. So also konnte sie seine Aufmerksamkeit erregen.

Sie hörte Holz splittern. Ob er eine Tür eingetreten hatte? Es hörte sich so an. Cassie drehte den Kopf und sah sich um, wohin sie gingen. Anscheinend waren sie in einem Vorratslager unterwegs. Links und rechts Regale voller Kartons und Flaschen.

»Verzieht euch, aber flott!«, knurrte Dante.

Drei Leute hetzten eilends an ihr vorbei.

Die Welt drehte sich kurz, dann fand Cassie sich auf dem Rücken liegend auf einem Holztisch wieder. Dante stand zwischen ihren Beinen und hielt ihre Handgelenke mit jeweils einer Hand fest.

Wow!

»Wer bist du?«

»Mein Name wird dir nichts sagen«, flüsterte sie fast lautlos. »Wenn du jüngst auferstanden bist …«

»Wie du heißt?«

»Cassie Armstrong. Cassandra …«

Seine Lider flatterten. »Cassandra.« Er ließ sich den Namen geradezu auf der Zunge zergehen.

Bitte erinnere dich an mich. Im Laufe der Jahre war sie oft sicher gewesen, er würde sich ihrer entsinnen, doch dann hatte die Qual erneut begonnen. Qual und Tod.

Er hatte jede Erinnerung an sie verloren, und sie würde sich einmal mehr mächtig ins Zeug legen müssen, um ihm wieder nahezukommen. Ihn dazu zu bringen, sich zu erinnern.

Ein endloser Kreislauf, der sie verletzt zurückließ.

»Ich hab von dir geträumt«, wisperte er und hielt ihre Handgelenke dabei so fest, dass sie sich unmöglich befreien konnte.

Sein Bekenntnis ließ ihr Herz schneller schlagen, und Hoffnung keimte in ihr auf. Endlich, endlich hatte er …

»In meinen Träumen …« – an seinem Kinn zuckte ein Muskel – »… hast du mich umgebracht, Cassie Armstrong.«

Verdammt. »Ich sagte doch schon: Ich bin nicht hier, um dir etwas zuleide zu tun.«

»Aber du hast mich getötet, oder?«

Cassie war klar, dass sie vorsichtig sein musste. Sie war nicht wie er. Dante konnte wieder und wieder sterben, erstand aber von den Toten immer wieder auf.

Er würde sich aus der Asche erheben und wäre neu geboren.

Während sie einfach … sterben würde. Für sie gäbe es keine Wiederkehr.

Mit einem bloßen Gedanken vermochte er sie in Brand zu setzen. Die Hitze seiner Finger, die sie wärmte, konnte sich binnen Sekunden in ein flammendes Inferno verwandeln.

»Letzte Nacht hab ich von dir geträumt.« Seine Worte waren ein leises Knurren, und er beugte sich weiter zu ihr herunter.

Barlärm drang heran. Plärrende Rhythmen. Geruch von Sex, Blut und Schnaps.

»Du hast mich angeschaut und dann erstochen.«

Seine schlechten Erinnerungen würden es sicher nicht leichter machen.

»Also sag mir besser, warum ich mich nicht hier und jetzt rächen …« – sein Atem strich über die erogenen Zonen ihres Halses – »… und dir den Garaus machen soll.«

Sie schüttelte den Kopf, und ihr langes Haar glitt über ihre Schultern. »Bitte …«

»Ich mag es, wenn du flehst.«

Allerdings. Aber das war eine andere Geschichte.

»Du hattest also Träume«, begann Cassie eilig, denn sie hatte schon gesehen, wie er einen Mann in Flammen aufgehen ließ. Dieses Schicksal wollte sie auf gar keinen Fall erleiden. »Tja, ich bin dein Schlüssel. Denn ich kenne dich, kenne jeden dunklen Fleck deines Bewusstseins. Und kann mein Licht darauf richten und dir zeigen …«

Sein Mund war nur eine Daumenlänge von ihren Lippen entfernt. Oder war es bloß noch ein Zentimeter? »Was willst du mir zeigen?«

»Alles«, versprach sie ihm flüsternd. »Ich kann dir die Geheimnisse deines Lebens erzählen. Ich kann dir sagen, wer du bist, sofern du mir vertraust.«

Er musterte ihre Augen. Manche dachten, seine seien einfach bloß dunkel – ein Spiegel seiner schwarzen Seele –, doch da täuschten sie sich. In seinen Augen standen goldene Sprenkel. Man musste nur konzentriert und tief genug schauen, dann entdeckte man sie.

»Warum soll ich einer Frau vertrauen, die mich mal getötet hat?«

»Weil ich dich auch schon gerettet habe.« Und dafür hatte sie gewaltige Risiken auf sich genommen. »Ob du es glaubst oder nicht: Du schuldest mir sogar etwas.«

»Das glaube ich nicht.«

Ihre Lippen zitterten.

Sein Blick fiel einmal mehr auf ihren Mund.

»Dante …«

Er küsste sie.

Das hatte sie nicht erwartet, und als er seinen Mund auf ihren presste, erstarrte sie kurz. Und begriff: Dante.

Ihre Lippen öffneten sich bereitwillig, und die Mauer, die ihr Begehren zügeln sollte, begann zu brechen. Seine Zunge drang in ihren Mund, nicht tastend, sondern fordernd, und es war genau wie in ihrer Erinnerung. Er küsste sie, und sie begehrte. Lust durchfuhr ihren Körper, und sie wand die Handgelenke in seinem Griff, denn sie wollte ihn berühren.

Sie wollte …

Er hob den Kopf. Sein Blick flammte auf sie nieder, und das Gold in seinen Augen begann zu schmelzen. »Ich erinnere mich … an deinen Mund. Deinen Geschmack.«

Nie hatte sie seinen Kuss vergessen. Er war der Erste, den sie je geküsst hatte. Der Erste, der ihr das Gefühl gegeben hatte, zu jemandem zu gehören.

Zu jemandem, der sie mitunter gehasst zu haben schien.

»Du kannst mir vertrauen«, flüsterte sie aus dem verzweifelten Wunsch heraus, er möge ihr glauben.

Ruckartig schüttelte er den Kopf. »Das ist das Letzte, was ich kann.« Er richtete sich auf und sprang fast panisch zurück.

Für einen Moment blieb sie reglos. Er musterte sie vom Schopf bis zu den Sandaletten und wirkte verwirrt. Genau wie sie.

Küss mich nicht erst und zuck dann zurück! Sie hatte schließlich nicht die Pest.

»Vor einer Woche bin ich aufgewacht«, sagte er leise, und seine Stimme bereitete ihr noch immer süße Qualen. »In einer abgefackelten Seitenstraße. Ich war nackt, und alles ringsum lag in Asche.«

Sie richtete sich auf, und ihr Herz schlug schneller.

»Was ist mir widerfahren?«, fragte er.

»Dante, ich …«

»Heiße ich so?«

Der Gedächtnisverlust schien gravierender zu sein als früher. »Ja. Du hast mir gesagt, so soll ich dich nennen.« Aber ob das sein wahrer Name war? Sie war sich nicht sicher. Er hatte ihr nie sonderlich viel aus seinem Leben anvertraut – jedenfalls nicht über die Zeit vor seiner Gefangenschaft.

»Wie bin ich in diese Seitenstraße geraten?«

Sie stemmte sich vom Tisch hoch, drückte die zitternden Knie zusammen und wandte sich ihm zu. »Ich weiß es nicht. Als ich dich zuletzt sah, warst du unten in New Orleans.«

Zwischen seinen Brauen tauchte eine schwache Falte auf. Er schien in der Blüte seiner Manneskraft zu stehen und vielleicht Mitte dreißig zu sein, doch in Wirklichkeit war Dante sehr viel älter.

Es gab einen Grund, warum er im Labor Der Unsterbliche geheißen hatte.

»In New Orleans?« Er fuhr sich ratlos durchs Haar. »Was hab ich da unten gemacht?«

Die Antwort war leicht: »Mir das Leben gerettet.«

Er ließ die Hand sinken und fragte misstrauisch: »Bist du sicher, dass ich dich nicht umbringen wollte?«

Sicher war sie sich zwar nicht, doch sie atmete ja noch, und hätte er ihren Tod wirklich gewollt, wäre sie damals zu Asche verbrannt.

Seine Feinde pflegten als Asche im Wind zu enden.

»Was ist mir in dieser Seitenstraße widerfahren?«

Gut, wenn sie sein Vertrauen erringen wollte, musste sie wohl manches Wissen mit ihm teilen. »Ich denke, du bist dort gestorben.«

Er lachte. Das klang bitter und hart, so, wie sie es schon ein Dutzend Mal von ihm gehört hatte. Jahrelang hatte sie ihm ein echtes Lachen entlocken wollen, doch es hatte nicht geklappt.

»Wenn ich gestorben bin«, fragte er, »warum atme ich jetzt?«

Genau das war schwer zu erklären. »Hör mal, Dante …«

Plötzlich drangen Schreie aus dem Nebenzimmer, schrill und verzweifelt. Dann das Rattern einer Maschinenpistole.

Sie haben mich entdeckt. Cassie stockte der Atem, doch dann ergriff sie Dantes Hand. »Wir müssen verschwinden. Sofort

Sie zerrte an ihm und hoffte, er würde ihr folgen.

Doch er rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle. »Ich laufe vor niemandem davon.«

Tja, das stimmte wohl.

Sie aber floh. Wer kein paranormales Kraftpaket war, lernte das ziemlich schnell.

Wieder Schreie. Und MP-Salven. »Wenn die mich fangen«, sagte Cassie leise, »lassen sie mich nie mehr frei.«

Er sah ihr in die Augen.

»Und wenn sie dich schnappen, werfen sie dich wieder in einen Käfig, und du siehst so bald kein Tageslicht mehr.« Ihr Herz schien so laut zu hämmern wie die Schüsse. Er musste ihr glauben. »Die lassen dich in dem Käfig und foltern dich wieder und wieder.«

»Woher weißt du das?«

Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Das haben sie dir früher schon angetan.«

Er biss die Zähne zusammen. »Dann ist es Zeit, mich diesen Kerlen entgegenzustellen.«

Wie bitte? Hatte sie sich nicht bemüht, ihn zur Flucht zu bewegen?

Er löste sich von ihr und stürmte zu der eingetretenen Tür und dorthin, woher die Schüsse und Schreie kamen.

Als er wegrannte, gefror ihr das Herz. Sie war Dante nach Chicago gefolgt, weil sie ihn brauchte, hatte Jagd auf ihn gemacht, ihn verzweifelt gesucht … und seine Feinde direkt zu ihm geführt.

Dante, es tut mir leid.

Aber diese Entschuldigung würde er nicht anerkennen. Das tat er nie.

Männer mit schwarzen Skimasken hatten das »Tabu« gestürmt. Die hämmernden Rhythmen waren verstummt, und man hörte nur noch die Schreie derer, die im Klub in der Falle saßen.

Die meisten Gäste waren geflüchtet, und die Verletzten auf dem Boden schienen vor allem Vampire zu sein. Offenbar machte es ihnen inzwischen nichts mehr aus, sich unter Menschen aufzuhalten. Und Gestaltwandler gab es auch.

Dante hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als sich am Vorabend ein Mann vor seinen Augen in einen Fuchs verwandelt hatte. Vielleicht lag das ja am Verlust seiner Erinnerungen. Vampire und Gestaltwandler schienen für ihn normale Erscheinungen geworden zu sein.

»Du da!«, rief eine männliche Stimme. »Bleib stehen!«

Eine große, schwarze Pistole wies auf seine Brust.

Dante. Sie hat gesagt, ich heiße Dante. Der Name war ihm richtig vorgekommen. So wie die sexy Braunhaarige sich in seinen Händen richtig angefühlt hatte.

»Bist du ein Mensch?«, fuhr die Stimme ihn durch eine Maske an. »Oder ein Para?«

Dass Para die umgangssprachliche Bezeichnung für ein »paranormales Wesen« war, hatte er tags zuvor gelernt. Doch weil er nicht recht wusste, was er war, starrte er den Mann nur wortlos an und verspürte auch kein Verlangen, ihm zu antworten.

»Was bist du?«, fragte der Mann beim Näherkommen.

»Jemand, den du nicht verärgern willst«, erwiderte Dante. Damit hatte er ihn gewarnt.

»Das ist er!«, rief ein anderer Maskierter mit vor Aufregung sich überschlagender Stimme. »Der von den Videos. Der hat die Vampirhöhle in New Orleans abgefackelt!«

Dante straffte sich.

»Heiliges Kanonenrohr«, staunte der Kerl, der noch immer seine Waffe auf ihn gerichtet hielt. »Da haben wir ja heute einen kapitalen Fang gemacht.«

»Nein«, sagte Dante entschieden. »Habt ihr nicht.« Er ließ seinen Blick durch den Klub schweifen. Männer und Frauen kauerten ängstlich unter umgestürzten Tischen … dabei hätten Paras eigentlich stärker sein sollen.

Niemand bringt mich dazu, mich zu ducken. Dieses Wissen war da und arbeitete in ihm. Ihn ängstigte nichts und niemand.

Ich mache anderen Angst.

»Verschwindet«, sagte er, »solange ihr noch die Chance habt, am Leben zu bleiben.« Er zählte zwölf Männer in Schwarz mit schweren, dicken Schutzwesten. Alle waren bis an die Zähne bewaffnet. Ihre Ausrüstung war ihm egal. Er hatte gelernt, dass er eine Waffe ganz eigener Art besaß, eine, die stets einsatzfähig zu sein schien.

Er hob die Hände …

… und ließ das Feuer in sich auflodern. Die Hitze begann als warmer Quell in ihm, wurde rasch heißer und strömte durch seine Adern. Bald brachen die Flammen aus seinen Fingerspitzen, schlugen aus seinen Handrücken und bildeten einen großen Feuerball. Rot, golden und orange war dieses Feuer, wurde immer greller, schlug immer höher.

Fluchend sprangen die Männer zurück, flüchteten aber nicht. Dummköpfe. Stattdessen hoben sie ihre Waffen. Zielten auf ihn.

Er würde sie in Brand setzen.

Er würde …

»Nicht!«

Sie war es, die da geschrien hatte. Dantes Kopf fuhr nach rechts, und er sah die Frau mit dem vollen braunen Haar angerannt kommen. Ihr Gesicht war blasser als zuvor. Ihre grünen Augen wirkten riesig, die roten Lippen bebten und …

»Dante, verschwinde! Die betäuben dich sonst!«

Die Männer feuerten. Allerdings nicht auf ihn.

Eine Kugel traf Cassie in die Schulter. Mit großen Augen taumelte sie rückwärts, ging aber nicht zu Boden. »Hau ab!«, schrie sie ihn an. »Verschwinde!«

Er lief nirgendwohin.

Sie hatten sie angeschossen.

Das Feuer loderte heißer, und die Wut ließ ihn knurren – und seine Flammen loslassen.

Sie haben sie angeschossen.

Das Feuer loderte aus ihm hervor, geradewegs auf die Bewaffneten zu. Die schrien – ja, jetzt seid ihr damit dran – und ließen ihre Waffen fallen.

Die Männer warfen sich zu Boden und rollten nach links und rechts, um die Flammen zu löschen, die gierig über ihre Kleidung leckten.

»Dante …« Dieses Flüstern kam von ihr.

Der Frau, die ihn verfolgt und heimgesucht hatte.

Und erzürnt.

Auf Knien kämpfte sie sich an ihn heran, und er … eilte unwillkürlich zu ihr.

»Das ist ein Betäubungsmittel«, flüsterte sie. »Sie wollten uns … lebend fangen …«

Diese Männer fingen niemanden. Sie rannten davon und schleiften ihre Verwundeten mit. Auch die Paranormalen ringsum brachten sich eilends in Sicherheit.

»Geh«, sagte Cassie, »bevor sie … mit Verstärkung zurückkommen.« Ihre Lider wurden immer schwerer. Das Medikament, von dem sie geredet hatte, ließ sie bewusstlos werden. »Geh«, flüsterte sie noch einmal.

Was sollte er tun? Sie im Stich lassen? Gerade hatte sie gesagt, die Männer würden mit Verstärkung zurückkommen. Und dann würden sie Cassie mitnehmen.

Nein. Niemand nimmt sie mir weg.

Das war – warum nur? – sein erster Gedanke gewesen, als er aufgeschaut hatte und sie im »Tabu« auf ihn zugekommen war.

Niemand nimmt sie mir weg.

Er hob sie mit beiden Armen vom Boden auf und drückte sie an seine Brust. Zu spät bedachte er, dass seine glühenden Hände sie verletzen könnten.

Doch auf ihrer zarten Haut zeigten sich keine Verbrennungen.

Ihr Kopf sank an seine Schulter, doch ihre Lider flatterten noch immer, und Dante war klar, dass sie darum kämpfte, wach zu bleiben.

»Was tun die, falls die dich schnappen?«, fragte er.

»Käfig …«

Ein Bild schoss ihm durch den Kopf. Dicke Eisenstäbe. Eine flackernde Neonröhre. Schmutziger Steinboden.

Er spürte Asche auf der Zunge. Die wollte er nicht schmecken. Sondern viel lieber sie. Diese süße, helle …

… Versuchung.

»Du landest in keinem Käfig«, versprach er ihr.

Er umschlang sie fester. Diese Frau … er hatte sie für eine Ausgeburt seiner Fantasie gehalten, für wieder eine von denen, die ihn quälen sollten. Und die nicht wirklich waren. Dann hatte er aufgeschaut und sie gesehen. Sie war zu ihm gekommen.

Aus Fleisch und Blut.

Real.

Er entfernte sich aus dem zerstörten »Tabu« und eilte in die Nacht. Sirenen heulten. Stimmen schrien.

Er rannte schneller. Drückte sie noch fester an sich.

Cassie Armstrong war der Schlüssel zu seinem Leben. Der Schlüssel, um herauszufinden, wer und was er war.

Und er hatte nicht vor, sie gehen zu lassen.

Niemand nimmt sie mir weg.

Oberstleutnant Jon Abrams schritt durch die Trümmer des Klubs der Paranormalen. Tische waren umgeworfen, Stühle zerschmettert. Die Tür glühte noch von den Flammen, die auf seine Männer eingestürmt waren.

»Ihr hattet ihn also?« Jon wandte sich den Männern zu, die hinter ihm standen. Geschlagen, wie sie waren, und mit Verbrennungen waren sie für ihn nutzlos. »Ihr hattet den Kerl und habt ihn entkommen lassen?« Was hatten sie verpasst, als an der Militärschule Strategien und Techniken zur Eindämmung des Gegners unterrichtet worden waren?

»Er hat Flammen nach uns geworfen!«, erwiderte Kevin Lysand und straffte die Schultern. »Niemand hat uns gesagt, dass Paras …«

»Er ist ein Phönix. Was hattet ihr denn erwartet? Dass er einfach dasteht und sich von euch betäuben lässt?« Jon wandte sich angewidert von den Männern ab, und die Wut erstickte ihn fast. Nach all den Monaten! Ganz nah dran war er gewesen … und dann ließen diese Idioten seine Beute entkommen.

»Ich … es war die Frau«, sagte Kevin leiser.

Jon sah ihn überrascht an. »Welche Frau?«

Kevins Adamsapfel hüpfte. »Die von Genesis. Cassandra …«

Jon packte ihn an den Schultern und zwang Kevin, ihm in die Augen zu sehen. »Soll das etwa heißen, Cassandra Armstrong war in diesem Klub?« Er hatte das ganze Land auf den Kopf gestellt, um sie zu finden.

Ein grimmiges Nicken. »Kaum hatten wir auf sie geschossen, hat der große Kerl uns angegriffen.«

Sie hatten auf sie geschossen, doch sie war nicht mehr da. Niemand war mehr da. Wer nicht vor der Auseinandersetzung geflüchtet war, hatte sich davongestohlen, nachdem Jons Männer sich zurückgezogen hatten.

»Unsere Schüsse haben ihn wild gemacht«, setzte Kevin hinzu.

Jon zwang sich, ihn loszulassen. »Und er hat sie dann weggeschafft?«

Kevin schwieg.

Weil er es nicht wusste?

Verdammte Unfähigkeit. Jon seufzte genervt. »Du hast sie nicht verschwinden sehen, nein?«

Kevin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe zu diesem Zeitpunkt gebrannt, Sir.«

Als hätte er sich von einem Feuerchen stoppen lassen dürfen.

Jon wandte sich erneut ab. »In dem Betäubungsmittel, das du Cassandra verpasst hast, war ein Peilsender, hoffe ich.« Auf diese neue kleine Erfindung – eine Kugel, die zugleich ein Betäubungsmittel und einen Peilsender enthielt – war die US-Regierung ziemlich stolz. Einige Paranormale waren stark genug, selbst dann noch eine Zeit lang zu fliehen, wenn sie das Mittel abbekommen hatten.

Früher oder später aber begann es zu wirken.

Und dann kam der Peilsender ins Spiel, meldete sich und führte Jon und seine Männer direkt zu ihrer Beute.

Einfache Sache.

»Oder etwa nicht?«, fragte Jon, ohne sich umzusehen. Falls dieser Vollidiot seine Arbeit nicht erledigt und Cassandra keinen Peilsender verpasst hatte, würde er ihn womöglich persönlich erschießen.

»Ein Peilsender war drin.« Kevins Ton wurde selbstbewusster. »Wir … sie wird uns nicht entkommen.«

Gott sei Dank! Aber Jon lächelte nicht, noch nicht. Der Hinweis zu dem Phönix – und zu Cassandra – hatte offenbar gestimmt. Er musste sich nur noch endgültig davon überzeugen und seinen Informanten entlohnen. Zunächst jedoch … »Fackelt den Laden hier endgültig ab.«

Das »Tabu« war zwar so weit vom Stadtzentrum entfernt, dass kaum jemand den Angriff gehört oder gesehen haben konnte, aber er war es einfach gewohnt, seine Spuren zu verwischen.

Sollten die Paranormalen ruhig versuchen, unauffällig zwischen den Menschen zu leben: Sie wurden dennoch weiter gejagt. Noch immer waren sie Zielobjekte, besonders die sprechenden Albträume, die auf Erden wandelten.

Albträume wie der Phönix.

Manche Wesen waren einfach zu gefährlich, um am Leben bleiben zu dürfen.

Manche mussten aufgehalten werden, und zwar mit allen Mitteln.

In diesem Fall war das Mittel eine gewisse Cassandra Armstrong. Nie hatte eine Waffe so unschuldig gewirkt.

»Fackelt ihn ab!« Das Feuer konnten sie immer dem Phönix in die Schuhe schieben. »Und sagt mir dann, was der Peilsender zu Cassandra meldet.«

Seit Monaten war sie immer etwas schneller gewesen als ihr Jäger, doch bald würde er sie schnappen. Sie würde nicht aus dem Programm entwischen. Dazu war sie zu wichtig.

Zu nützlich als Waffe.

Als er den Klub verließ, begann er zu pfeifen.

Kevin und seine Leute verteilten hochprozentigen Alkohol, schlugen die Flaschen entzwei und bereiteten das Lokal so für einen kräftigen Brand vor. Ihr Feuer würde nicht so heiß brennen wie das eines Phönix, ihm aber doch recht nahekommen.

Jon sang immer wieder Dich greif ich mir, Cassandra. Sie war ihm entwischt, doch ihr kleines Katz-und-Maus-Spiel war so gut wie beendet.

Cassandra hätte wissen sollen, dass es kein Entrinnen gab. Ihr Vater hatte sie vor Jahren ins Programm gebracht.

Und war man erst drin, gab es nur einen Weg hinaus: den Tod.