Sonia Fernández-Vidal
Ein Roman über die
Rätsel der Quantenphysik
Aus dem Spanischen von
Kristin Lohmann
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel La Puerta de los tres Cerrojos bei La Galera, Barcelona.
Mit S/W-Vignetten von Oriol Malet und einem Wörterbuch der Quantenphysik.
Das Zitat* ist dem Gedicht »Der Weg, den ich nicht ging« von Robert Frost in der Übersetzung von Walter A. Aue entnommen.
Das Zitat** entstammt dem Gedicht »Der Berg der Vollkommenheit« von Johannes vom Kreuz.
ISBN 978-3-446-24421-4
© Sonia Fernández-Vidal 2011
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2013
Umschlag: Stian Hole, Oslo
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
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INHALT
Eine geheimnisvolle Botschaft
Das verriegelte Haus
Materie gegen Antimaterie
Die Kunst des Tunnelns
Die Quantenfee
Das Uhrengeschäft für relative Zeitmessung
Die Zwillinge
Eine ganz normale Familie
Teleportation
Die Zentrale des Quanten-Geheimdienstes
Superposition
Meister Zen-O
Schrödingers Katze
Der Higgs Boss on
Die schlimmsten Vampire des Universums
Das Quanten-Kryptex
Das Labyrinth
Der Eingang des Labyrinths
Der Weg der Wahrheit
Die drei Pfade
Shambla
Summa cum laude
Der Tempel
Der Abschied
Wörterbuch für Fortgeschrittene
Danksagung
Die Autorin: Sonia Fernández-Vidal
Für meine großartigen Eltern
José Miguel und Irene, meine Schwester Núria und meinen
Seelenverwandten und Freund Alberto.
Dieses Buch ist für euch, die ihr mich mein ganzes
Leben hindurch in Liebe begleitet habt.
Niko saß wie versteinert in seinem Bett. Was war da eben an der Decke seines Zimmers erschienen?
WENN DU MÖCHTEST,
DASS SICH ETWAS ÄNDERT,
DANN HÖR AUF,
IMMER DAS GLEICHE ZU TUN.
Durch irgendeinen seltsamen optischen Effekt spiegelte sich dieser rätselhafte Satz direkt über seinem Kopf wider. An den Widerschein der Autos, die durch die Straße fuhren, war er ja gewöhnt. Wenn ihr Abbild an die Zimmerdecke geworfen wurde, konnte er sogar ihre Farbe erkennen. Aber so etwas wie das hier war noch nie passiert.
Das Rufen seiner Mutter lenkte ihn ab; mit einem Satz sprang er auf.
»Niko, du Faulpelz! Du kommst noch zu spät zu Physik!«
Physik! Sein Physiklehrer, der die schlechte Angewohnheit hatte, ihn immer genau dann etwas zu fragen, wenn er mit seinen Gedanken gerade ganz woanders war. Gestern erst war ihm das mal wieder bestens gelungen. Die ganze Klasse hatte sich auf seine Kosten amüsiert, auch das Mädchen, das ihm so gefiel.
Und es war noch schlimmer gekommen: Der Mädchenschwarm der Schule, der Freundinnen wie Trophäen sammelte, hatte sich während der Sportstunde an sie herangemacht und mit ihr herumgealbert. Dieser hirnlose Wichtigtuer hatte in zwei Minuten mehr Fortschritte bei ihr gemacht als er in zwei Jahren. Als er sie dümmlich lachen gesehen hatte, war Niko klar geworden, dass sie die Nächste sein würde in seiner Sammlung. Der Gedanke daran versetzte ihm einen Stich.
Es war einer dieser Tage gewesen, an dem sich das gesamte Universum gegen ihn verschworen zu haben schien.
Während er über sein Elend nachdachte, zog Niko sich hastig an. Er schlüpfte in ein Paar zerrissene Jeans und in das Hemd von gestern, das über dem Stuhl hing.
Mit einer fahrigen Bewegung fuhr er sich mit dem Kamm durch die Haare und betrachtete sich dabei im Schrankspiegel. Niko war mit einer Besonderheit auf die Welt gekommen: Seine Augen hatten verschiedene Farben. Eines war blau, das andere grün. Seine Eltern hatten immer gehofft, dass sich das irgendwann herauswächst, aber das war nicht geschehen.
Dann schob er mit dem Unterarm seine Bücher, die auf dem Schreibtisch lagen, über den Tischrand in seinen Rucksack. Er müsste unbedingt sparen und sich endlich einen neuen kaufen, sagte er sich. Der hier war kindisch und trug nicht gerade dazu bei, dass sich sein ohnehin dürftiges Ansehen verbesserte.
Er sah an die Decke und seufzte – da war er wieder: Der seltsame Satz wurde noch immer an seine Zimmerdecke gespiegelt.
Niko ließ seinen Rucksack aufs Bett fallen und streckte den Kopf neugierig aus dem Fenster. Er wollte wissen, woher diese Projektion kam. Eine Werbekampagne vielleicht?
Aber draußen war nichts zu sehen.
Die Physiklehrerin fiel ihm ein, die seinen Erzfeind am Anfang des Schuljahres für einen Monat vertreten hatte: Blanca. Richtig hübsch war sie gewesen und nett, und wenn sie sich für etwas begeisterte, hatte sie so schnell gesprochen, dass sie ihr den Spitznamen Black & Decker gegeben hatten.
Die Reflexion und die Refraktion, also die Spiegelung und die Brechung von Licht, hatten sie bei ihr durchgenommen. Einmal hatte sie Niko gebeten, ein Stück Tafelkreide auf einem Blatt Papier zu Pulver zu zerreiben. Sie hatten den Raum verdunkelt, und Blanca hatte eine Taschenlampe angeknipst. Niko sollte den Kreidestaub von dem Papier abklopfen, und durch die Kreidewolke hatten sie die gerade Linie verfolgen können, die der Lichtstrahl zurücklegte.
Nachdem sie wieder Licht in das Klassenzimmer gelassen hatten, hatte Blanca ihnen ein Rätsel aufgegeben:
»Stellt euch eine Straße vor, auf der ein dunkles Auto fährt, ohne Licht. Die Straßenlaternen sind aus und von nirgends wird ein Lichtschein reflektiert, von keinem Haus und von keinem Schaufenster. Plötzlich läuft eine schwarze Katze vor das Auto. Der Fahrer bremst rechtzeitig, bevor er das Tier überfährt. Nur: Wie hatte er die Katze sehen können?«
In der Klasse hatte erwartungsvolles Schweigen geherrscht. Alle hatten befürchtet, dass eine falsche Antwort ihnen eine schlechte Note einbringen würde. Blanca hatte noch ein paarmal nachgefragt und dann, als sie keine Antwort bekam, resigniert die Lösung verkündet:
»NIEMAND HAT GESAGT, DASS ES NACHT WAR.
DAS GANZE HAT MITTEN AM TAG STATTGEFUNDEN –
DER FAHRER HATTE ALSO ÜBERHAUPT KEIN
PROBLEM, DIE KATZE ZU SEHEN, UND KONNTE
RECHTZEITIG BREMSEN.«
»Niko!«
Der spitze Ton seiner Mutter ließ Niko die Suche nach dem Ursprung der geheimnisvollen Botschaft aufgeben.
Er ging in die Küche und schlang, fast ohne Luft zu holen, sein Müsli hinunter, während seine Mutter ihm eine Standpauke hielt. Wie jeden Morgen nahm er anschließend immer zwei Stufen auf einmal, bis er zur Haustür kam. Er öffnete sie und sah die Straße entlang, die er für gewöhnlich zur Schule hinunterging. Auch das machte er immer.
Statt rauszugehen, blieb er jedoch unvermittelt in der Tür stehen. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als ihm die Worte wieder einfielen, die ihn ein paar Minuten zuvor so durcheinandergebracht hatten: »Wenn du willst, dass einmal etwas anderes geschieht, dann hör auf, immer das Gleiche zu tun.«
Instinktiv drehte er den Kopf, um die Straße hinaufzusehen. In diese Richtung war er noch nie zur Schule gegangen, es war auch ein Umweg. Außerdem war die Gegend da oben ziemlich verlassen und Läden gab es auch kaum.
Wie ein Geistesblitz kamen ihm die Zeilen des Gedichts in den Sinn, die auf dem Umschlag des Klassenbuchs standen:
ZWEI WALDESWEGE TRENNTEN SICH UND ICH –
ICH GING UND WÄHLT’ DEN STILLEREN FÜR MICH –
UND DAS HAT ALL MEIN LEBEN UMGEDREHT.
Inspiriert von der geheimnisvollen Botschaft und von der Erinnerung an das Gedicht, beschloss Niko, die Straße hinauf- statt wie sonst hinunterzugehen.
Er war auf einmal richtig beschwingt und hatte fast das Gefühl, zum allerersten Mal überhaupt hier entlangzugehen. Manche Details überraschten ihn regelrecht; die Farben der Häuserfassaden oder der Duft der herbstlichen Bäume am Straßenrand.
Niko fühlte sich auf seltsame Art wachsam, so, als würde gleich etwas geschehen. War es denn tatsächlich möglich, dass sich etwas veränderte nur dadurch, dass man aufhörte, immer das Gleiche zu tun?
Als er sich gerade diese Frage stellte, blieb er plötzlich abrupt stehen. Neben einem geschlossenen Blumenladen stand ein großes, altes Haus, das ihm noch nie aufgefallen war. Dabei war er schon ein paarmal hier vorbeigekommen, da war er ganz sicher.
Neugierig reckte er den Hals. Obwohl das Haus sehr hoch war, gab es nur ein einziges Fenster, im dritten Stock. Die alten Fensterläden waren geschlossen und alles deutete darauf hin, dass das Haus unbewohnt war.
Niko besah sich neugierig die Eingangstür – sie war nicht so alt wie der Rest des Hauses, das kurz vor dem Abriss zu stehen schien. Im Gegensatz zu den alten, vermoderten Fensterläden im dritten Stock war die Tür aus schönem neuen Holz gefertigt. Noch komischer war, dass sie mit drei robusten Riegeln verschlossen war.
Das machte wirklich keinen Sinn – warum sollte sich jemand die Mühe machen, ein verfallenes und unbewohntes Haus derart zu verriegeln?
Niko beobachtete die wenigen Menschen, die hier vorbeikamen. Das alte Haus schienen sie nicht zu bemerken. Manche von ihnen sahen sich kurz den geschlossenen Blumenladen an, um ihren Blick gleich darauf wieder auf die andere Straßenseite schweifen zu lassen – als könnten sie das verfallene Gebäude gar nicht sehen.
Obwohl er zu spät zur Schule kommen würde, sah er sich die drei Riegel etwas genauer an. Was sich wohl hinter der Tür verbarg?
Links neben der Tür sah er jetzt einen roten Knopf; Niko hätte schwören können, dass der Knopf eine Sekunde zuvor noch nicht da gewesen war. Es kam ihm vor, als wäre er genau in dem Moment aufgetaucht, in dem er in seine Richtung gesehen hatte. Natürlich war ihm klar, dass das unmöglich war; er nahm also an, dass er den Knopf zuvor übersehen hatte. Wahrscheinlich war er doch noch verschlafener, als er dachte.
Jetzt war er wirklich neugierig geworden; Niko konnte gar nicht anders, als den Knopf zu drücken.
Er wusste nicht, was er eigentlich sagen sollte, als der Klingelton auf der anderen Seite der Tür ertönte. Instinktiv hielt er die Luft an. Doch noch bevor er wieder normal atmen konnte, hörte er eine seltsam entfernt klingende Stimme durch die Gegensprechanlage:
»Komm herein, wir warten schon auf dich.«
Niko schluckte und musste sich räuspern. Er hatte nicht erwartet, dass ihn jemand ansprechen würde. Es verging noch ein Moment, bis er in der Lage war, etwas zu erwidern.
»Wie soll ich denn die drei Riegel aufbekommen?«
»DAS IST DOCH OFFENSICHTLICH, FINDEST DU NICHT?
ZU JEDEM RIEGEL GEHÖRT GEWÖHNLICH EIN
BESTIMMTER SCHLÜSSEL. IN DIESEM HAUS HIER IST
DAS ALLERDINGS EIN BISSCHEN ANDERS:
ES GIBT NUR EINEN EINZIGEN SCHLÜSSEL
FÜR ALLE DREI RIEGEL. DU MUSST ALLE DREI RIEGEL
GLEICHZEITIG ÖFFNEN.«
Dann verstummte die Stimme aus der Gegensprechanlage.
Niko dachte über die Aufgabe nach, die sich ihm stellte: unmöglich! Wie sollte er gleichzeitig drei Riegel mit einem einzigen Schlüssel aufsperren, den er noch dazu gar nicht hatte?! Das war wieder mal so ein Rätsel wie das von Blancas Katze; und genau wie damals hatte er nicht die leiseste Ahnung, wie er es lösen sollte.
Er kreiste eine Weile mit seinen Gedanken um das Rätsel – ohne Ergebnis.
Um sich abzulenken, ließ er seinen Blick die Straße entlangschweifen. Gleichmütig ging eine alte Frau ihres Weges, weit entfernt von seinen Überlegungen.
Aber Niko gab sich nicht geschlagen. Er sah sich die drei Riegel noch einmal genau an. Dann tastete er mit den Fingern die Seiten des Türrahmens ab; dort hoffte er auf das Versteck des Schlüssels zu stoßen. Der Schlüssel war schließlich erst einmal das Wichtigste. Obwohl er natürlich wusste, dass mit dem Schlüssel noch lange keine Lösung gefunden wäre; denn auch wenn er ihn hätte, gäbe es noch immer keine Möglichkeit, alle drei Riegel gleichzeitig damit aufzuschließen.
Niko war frustriert; er war so weit von einer Lösung entfernt. Das Beste wäre wohl, zur Schule zu gehen, dann käme er wenigstens noch rechtzeitig zur zweiten Stunde. Ja, klar, das würde er tun, das war das Vernünftigste. Nur wollten ihm seine Beine nicht gehorchen.
»Darf man fragen, worauf du wartest?«
Niko zuckte zusammen, als er dieselbe Stimme wie zuvor aus der Gegensprechanlage vernahm; diesmal hörte sie sich etwas ungeduldig an.
»Äh, also, ich habe den Schlüssel nicht gefunden … Und selbst wenn ich ihn finden würde, könnte ich ja wohl kaum alle Riegel gleichzeitig damit aufsperren. Das geht nicht!«
»Aha. Und wozu genau willst du die drei Riegel aufsperren?«, fragte die Stimme.
»Na … um die Tür aufzubekommen«, stammelte Niko. »Wie soll ich das denn sonst schaffen, ohne die Riegel zu öffnen!«
Er war ratlos. Die Stimme meldete sich erneut, diesmal mit offenkundiger Überlegenheit, als würde sie zu einem vierjährigen Kind sprechen:
»Aber die Tür ist doch offen! Die Riegel hindern dich doch gar nicht daran, hereinzukommen.«
Niko wusste nichts darauf zu erwidern. Ihm wurde klar, dass er auf den Arm genommen worden war – genau wie bei dem Rätsel mit der schwarzen Katze.
»Aber Sie selbst haben doch gesagt, dass ich einen Schlüssel bräuchte, um die drei Riegel aufzusperren. Und dass ich das gleichzeitig machen muss, haben Sie auch gesagt«, rechtfertigte er sich ungehalten. »Warum haben Sie das denn alles gesagt, wenn es gar nicht nötig ist, um die Tür zu öffnen?«
»Du hast mich gefragt, wie du die drei Riegel aufbekommst, und ich habe deine Frage beantwortet. Dass die Tür verschlossen ist oder dass man die Riegel aufsperren muss, um hereinzukommen, hat niemand behauptet. Wenn du weiterkommen willst, dann musst du schon die richtigen Fragen stellen. Das Problem ist, dass du zu vieles als gegeben voraussetzt.«
Niko war sprachlos. Er wusste zwar nicht, wer da auf der anderen Seite sprach, aber er musste doch zugeben, dass dieser Jemand – auch wenn er nervte – vollkommen recht hatte.
Sollte er jetzt weitergehen oder die Tür aufstoßen? Er war sich nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, dieses Haus zu betreten.
Allerdings war er inzwischen ziemlich neugierig geworden; es kam ihm vor, als würde eine seltsame Kraft ihn dort hineinziehen.
Die Tür knarzte und Niko musste sich mit aller Kraft gegen sie stemmen, um sie aufzubekommen. Anscheinend war sie sehr lange nicht mehr geöffnet worden.
Als Niko drinnen war, umgab ihn völlige Dunkelheit.
Er mochte es nicht, wenn es dunkel war. Als er noch klein war, hatte er kaum einschlafen können, wenn das Licht gelöscht war. An den Wänden seines Zimmers hatte er dann immer so komische Bilder gesehen, die ihm Angst machten.
Ein paar Sekunden später hatten sich seine Augen so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass er schemenhaft etwas ausmachen konnte, das sich neben ihm bewegte. Vor Schreck machte er einen Satz nach hinten und krachte mit dem Rücken gegen die Tür, die hinter ihm ins Schloss fiel.
Jetzt war es wirklich stockfinster.
Niko spürte, wie Panik in ihm aufstieg.
Seine Augen suchten die Dunkelheit ab und bemühten sich, der Gestalt zu folgen.
Als er begriff, was es war, seufzte er erleichtert auf: eine Katze, nichts weiter. Sie hatte geheimnisvoll goldfarbene Augen, die intensiv in der Dunkelheit des Raumes leuchteten. Sie wirkten sehr scharfsichtig.
Obwohl die Katze harmlos schien, wagte Niko nicht, sie zu berühren. Er hob den Blick und sah sich im Halbdunkel des übrigen Raumes um. Niko hatte den Eindruck, dass die Wände schwarz waren; aber das lag vermutlich eher an dem spärlichen Licht. Dass es keine Fenster gab, machte den Raum noch unheimlicher.
Vor sich konnte Niko jetzt ein paar dichte Samtvorhänge erkennen, die von der Decke bis zum Boden reichten. Wie Bühnenvorhänge eines alten Theaters sahen sie aus.
Die Katze wandte Niko den Rücken zu und bewegte den Schwanz hin und her, als würde sie sich über seine Angst lustig machen. Dann setzte sie zum Sprung an und huschte durch den Vorhang.
Niko wollte ihr folgen und teilte den Vorhang mit beiden Händen; auch dahinter gab es weder Türen noch Fenster. Der Raum, in dem er sich jetzt befand, glich exakt dem Raum auf der anderen Seite der Vorhänge.
Die Katze war nicht mehr da; sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben. War einfach verschwunden.
Niko wollte sich eben auf die Suche nach ihr machen, als ein kleiner Gegenstand seine Aufmerksamkeit erregte.
Auf dem Boden, in der Mitte des dunklen Raums, lag ein Geschenkpäckchen. Es war weiß und ein Seidenband fasste es ein, das oben zu einer Schleife gebunden war – das perfekte Weihnachtsgeschenk.
Niko hob es auf. An der Schleife war ein kleiner Umschlag mit einer blauen Klammer befestigt. Da kein Adressat darauf vermerkt war, öffnete Niko den Umschlag:
DAS UNIVERSUM —
EINE URAUFFÜHRUNG
stand in tadelloser Handschrift auf der Karte. Behutsam zog Niko an dem Seidenband, um die Schleife zu lösen.
Er zögerte kurz, bevor er die Schachtel öffnete. War es in Ordnung, ein Geschenk aufzumachen, das gar nicht für ihn bestimmt war? Andererseits war der Umschlag einfach weiß, ohne einen Namen darauf; also fand er, es konnte nicht falsch sein.
Entschlossen öffnete er die Schachtel.
Mit einem Schlag riss ihn eine gewaltige Kraft nach hinten, sodass er auf den Boden fiel. Es war, als wäre eine Bombe in der kleinen Schachtel explodiert.
Vor sich sah Niko einen winzigen Lichtpunkt.
ES WAR DAS INTENSIVSTE LICHT, DAS ER JEMALS
GESEHEN HATTE. EINE SEKUNDE SPÄTER WURDE
DER GANZE RAUM VON EINER
GEWALTIGEN EXPLOSION ERSCHÜTTERT.
Eine etwas merkwürdige Explosion allerdings – es war nämlich absolut nichts zu hören. Niko war von bedrückender Stille umgeben.
Dann begann der Lichtpunkt größer zu werden. Aus dem Nichts entstanden winzige Kügelchen.
»Das sind Leptonen und Quarks«, sagte eine sanfte Stimme, »die Elementarteilchen, aus denen sich die Materie zusammensetzt.«
Als er die Stimme vernahm, machte Niko einen Satz zurück. Im Lichtschein der Explosion konnte er einen Jungen erkennen. Er war klein, reichte ihm gerade mal bis zur Schulter – dabei gehörte Niko nicht unbedingt zu den größten seiner Klasse.
Dann zog das unglaubliche Schauspiel, das sich vor seinen Augen abspielte, erneut seine Aufmerksamkeit auf sich. Immer mehr Kügelchen erschienen oder »Teilchen«, wie dieser seltsame Junge sie genannt hatte.
Sie tauchten ganz plötzlich auf, wie Popcorn im Topf seiner Großmutter. Niko hatte es immer geliebt zuzuschauen, wie die Maiskörner mit diesem ganz besonderen Plopp-Geräusch zu köstlichem Popcorn wurden. Die Teilchen, die er jetzt sah, entstanden jedoch im Gegensatz dazu nicht aus Körnern, sondern aus einem offenbar vollkommen leeren Raum.
Die Teilchen waren nicht alle gleich; sie hatten unterschiedliche Größen und Farben. Manche verbanden sich, verschmolzen miteinander und bildeten dadurch wieder größere Teilchen.
Plötzlich leuchteten vier große Scheinwerfer auf, in jeder Ecke des Raumes einer. Was sie anstrahlten, sah aus wie ein Fußballfeld.
Niko war platt. Was bis jetzt passiert war, war ja schon reichlich seltsam gewesen; aber was er nun zu sehen bekam, war wirklich eine Nummer zu groß.
Die schrulligen Kügelchen erwachten zum Leben und teilten sich in zwei Gruppen ein. Sie schlüpften in verschiedenfarbige Trikots: eine Gruppe in weiße, die andere in schwarze. Dann begannen sie, sich für das Spiel aufzuwärmen, das gleich beginnen würde.
An den Seiten des Spielfelds beleuchteten die Scheinwerfer dicht besetzte Zuschauerränge, die von kleinen Personen bevölkert waren – sehr ähnlich derjenigen Person, die neben Niko stand.
Die auf den Rängen der linken Seite trugen weiße Hemden mit der Aufschrift Materie.
Die Fans auf der anderen Seite des Feldes, auf den Rängen rechts neben dem Spielfeld, trugen schwarze Hemden mit der Aufschrift Antimaterie.
Beide Fangemeinden verfolgten mit Spannung das Schauspiel und feuerten ihre Mannschaften aus Leibeskräften an. Ein etwas pummeliger Anhänger gab sogar den Takt mit einer Pauke an.
»Und? Für wen bist du?«, fragte ihn der Junge, der neben ihm stand.
Niko zuckte mit den Schultern.
»Ich heiße Eldwen«, stellte sich der Junge vor.
Mit einiger Anstrengung gelang es Niko, seinen Mund zu schließen, der offen gestanden hatte, seitdem dieses irrwitzige Schauspiel begonnen hatte.
Jetzt besah er sich den kurz zuvor aufgetauchten Jungen etwas genauer. Er maß kaum einen Meter, war schlank und seine Augen, die durch ein rundes Brillengestell blickten, funkelten grün. Die schwarzen Pupillen waren nicht rund, sondern schlitzförmig wie bei einer Katze. Das kupferfarbene, glatte Haar fiel ihm auf die Schultern.
Er sah aus wie ein Elf, der einem nordischen Märchen entsprungen war.
»Ich bin Niko«, stellte Niko sich vor.
Vielleicht war dieser Junge hier ja das einzige Wesen auf der Welt, das die Antwort auf all die tausend Fragen wusste, die in seinem Kopf herumschwirrten. Bevor er allerdings anfangen konnte, ihn auszufragen, begann der Elf zu sprechen:
»Du bist hier Augenzeuge des Kampfes zwischen Materie und Antimaterie. Was du eben gesehen hast, war die Entstehung der Teilchen und Antiteilchen beim Big Bang, dem
URKNALL,
der den Beginn des Universums kennzeichnet.
Niko rief sich die Aufschrift des Päckchens ins Gedächtnis:
DAS UNIVERSUM —
EINE URAUFFÜHRUNG
Als er den Deckel abgenommen hatte, war es zur Explosion gekommen.
»Teilchen und Antiteilchen entstehen aus dem Nichts – so als würden zwei Fußballmannschaften einfach ganz plötzlich auf dem Platz erscheinen. Prallen Materie und Antimaterie aufeinander, können sie sich gegenseitig auslöschen.«
»Aber dann bleibt ja nichts mehr übrig«, unterbrach ihn Niko.
»Nein. Einer von beiden muss gewinnen. Wie könnte sonst ein Universum entstehen?«
Niko erinnerte sich an etwas, das ihm einmal seine Großmutter erzählt hatte, eine studierte Philosophin. Sie hatte gesagt, dass einer Geschichte Platons zufolge jeder Mensch ein Negativ-Double habe, einen »dunklen Bruder« oder ein »Anti-Ich«. Hat man das Pech, diesem zu begegnen, so muss einer sterben. Für beide zugleich gibt es im Universum keinen Platz.
Bevor Niko weiterfragen konnte, begann die Partie, die Materie und Antimaterie gegeneinander auszutragen hatten:
Die Kügelchen – in Weiß die Teilchen und in Schwarz die Antiteilchen – rannten auf dem ganzen Feld herum. Dabei waren die Spieler beider Mannschaften sehr unterschiedlich, auch hinsichtlich ihrer Größe. Die Kleinen waren viel beweglicher als die Großen – ihre Aufgabe war es, die Spieler der gegnerischen Mannschaft auszudribbeln. Geschah es, dass ein Teilchen mit einem Antiteilchen zusammenstieß, gab es eine gewaltige Explosion und die beiden verloschen inmitten eines Lichtstrahls.
Ein wunderschönes und richtig unterhaltsames Schauspiel.
Um keinen Preis wollte Niko auch nur das kleinste Detail verpassen. Währenddessen feuerten die Elfen-Fans auf den Zuschauerrängen unablässig ihre Mannschaften an.