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Katherine Howe

Die Frauen
von der
Beacon Street

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Judith Schwaab

Page & Turner

Die Originalausgabe erschien 2012

unter dem Titel »The House of Velvet and Glass«

bei Voice/Hyperion, New York.

Page & Turner Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe

Random House GmbH.

1. Auflage 2013

Copyright © der Originalausgabe 2012

by Katherine Howe

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Page &Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Gesetzt aus der Janson-Antiqua bei

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-10839-7

www.pageundturner-verlag.de

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Für meinen Liebling

ERSTER TEIL

DIE SAMTSCHACHTEL

PROLOG

Nordatlantik, Auf hoher See

14. April 1912

Irgendwo unter dem Geklirr und Gemurmel im Speisesaal, unter dem stets spürbaren Vibrieren der Schiffsmotoren begann eine Uhr zu schlagen. Helen Allston schloss ihre Hand noch fester um den Ellbogen ihrer Tochter, schob die Spitze von Eulahs Ärmel beiseite, um die Finger in ihre Armbeuge zu legen. Sie warf Eulah, die vor lauter Begeisterung das Gewicht der Berührung gar nicht zu spüren schien, einen Blick von der Seite zu. Eulah war so dezent geschminkt, dass es selbst für Helens kundigen Blick kaum zu erkennen war, und in ihrem Gesicht, das vor Aufregung leicht gerötet war, stand ein offenes Leuchten, das nur die wenigsten jungen Frauen in ihrer Umgebung zustande gebracht hätten. Helen seufzte vor Zufriedenheit. Sie wurde es nie müde, die Welt mit Eulahs Augen zu sehen, jung und voller Lebenslust.

Aber natürlich nicht zu viel Lust.

»Dein Haar hast du heute aber besonders hübsch hochgesteckt«, murmelte sie und geleitete Eulah mit entschlossener Hand auf den großen Treppenaufgang zu. Die blonden Locken ihrer Tochter, die für Helens Geschmack meistens viel zu ungebändigt waren, hatte Eulah im Nacken zu einem kleinen Knoten geschlungen und in ein zartes schwarzes Haarnetz gehüllt, das von einem kleinen Schmetterling aus Emaille zusammengehalten wurde. Die ausgebreiteten Flügel des Insekts bebten und schimmerten, wenn Eulah sich bewegte, als würde es jeden Moment davonflattern.

»Ist das eigentlich meine Brosche?«, fragte Helen laut, als sie den Haarschmuck wiedererkannte, und Eulah drehte sich in gespielter Unschuld zu ihr.

»Es macht dir doch nichts aus, Mutter?«, fragte sie lächelnd und zeigte ihre Grübchen. »Nellie hat gesagt, dass alle Mädchen in New York solche Broschen tragen, und ich dachte «

Helen hielt ihrem Blick gerade so lange stand, um zu verdeutlichen, dass die Brosche immer noch ihr gehörte, doch ohne Eulah dabei ein schlechtes Gewissen machen zu wollen. Sie wusste sehr wohl, dass sie mit ihrer Tochter allzu nachsichtig war. Doch Eulah hatte die besondere Gabe, jeden, der mit ihr zu tun hatte, von der absoluten Logik ihrer Ansichten zu überzeugen, ganz gleich, wie unorthodox diese waren. Und Helen musste zugeben, dass Nellie, das neue Mädchen, das sie auf ihre Reise mitgenommen hatten, ein Händchen für die neuesten Haartrachten hatte.

»Na ja«, lenkte sie ein. Eulah lachte und legte die Hand auf die ihrer Mutter. Sie wusste, dass die Schlacht gewonnen war, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

»Du solltest allerdings nicht vergessen, mein Liebes, dass du bei all der New Yorker Mode immer noch ein Bostoner Mädchen bist«, flüsterte Helen, was Eulah mit einem Stöhnen quittierte. Nachdem nun auch diese sanfte mütterliche Zurechtweisung geäußert und hingenommen worden war, blieben die beiden einen Moment lang am Fuße der Treppe stehen, um sich bereit zu machen.

Helens Blick wanderte ein letztes Mal prüfend über das Äußere ihrer Tochter, um sich zu vergewissern, dass alles an seinem Platz war, bevor sie die Treppe erklommen und den Speisesaal der ersten Klasse betraten. Eulahs blaue Augen funkelten voller Vorfreude unter dem kleinen Schleier, doch dahinter lauerte noch etwas anderes, das Helen nur mit Mühe einordnen konnte. Sie sah genauer hin. Vielleicht war es Entschlossenheit.

Helen war es gewohnt, ihr jüngstes Kind entschlossen zu sehen. Natürlich hatten alle ihre Kinder einen ausgeprägten Willen, doch Eulah hatte sich die Dickköpfigkeit der Allstons besonders zu eigen gemacht und sie nach außen gerichtet, auf eine Welt, die wie eine kaputte Uhr dringend repariert werden musste, und zwar mit dem gleichen Eifer, den ihre beiden älteren Geschwister eher nach innen kehrten und auf sich selbst bezogen. Vielleicht hatte Eulah jedoch auch endlich begriffen, welche Chancen ihr diese Reise eröffnete, womöglich noch mehr, als Helen geahnt hatte.

Diese Entschlossenheit zeigte sich deutlich in der besonderen Sorgfalt, die ihre Tochter an diesem Abend ihrem Äußeren gewidmet hatte. Helen hatte mit Wohlwollen quittiert, welchen Einfallsreichtum Eulah an den Tag gelegt hatte, als sie vor ihrer Abreise den Schneidern an der Tremont Street ihre Anweisungen gab, und vermutlich hatten die vielen Stunden, die ihre Tochter in Pariser Modehäusern und beim Studium des Journal des Dames et des Modes verbracht hatte, ein Übriges getan, um Eulahs Ansprüche zu erhöhen.

Dennoch hielt Helen es für das Beste, dass Eulah nicht den Versuch unternahm, allzu sehr wie eine Französin zu wirken, zumindest nicht, bis sie von ihrer Reise zurück waren, und war deshalb auch froh, als sie sah, dass Eulahs Taille zwar leicht nach oben verschoben war, jedoch immer noch mit einer Satinschärpe in leuchtendem Zinnoberrot gegürtet war – Überbleibsel eines der Debütantinnenkleider, die Eulah im vergangenen Winter getragen hatte. Das wiederverwendete Satinstück war mit einem schmalen Streifen Kreppseide eingefasst, mit Spitze drapiert und schmiegte sich überaus vorteilhaft an das Mieder des Kleides, welches zwar für Helens Geschmack etwas zu tief ausgeschnitten war, dafür jedoch die Gemme von Eulahs Großmutter besonders schön zur Geltung brachte. Alles in allem kam Helen zu dem Schluss, dass die Monate in Italien und Frankreich bei ihrer Tochter Wunder gewirkt hatten. Eulah hatte Boston als frisches, lebhaftes Mädchen verlassen, und obwohl sie nichts von ihrem jugendlichen Elan verloren hatte, war da ein vornehmer Glanz hinzugekommen, der gewiss auf den Genuss von edlen Kunstwerken, von Opernaufführungen und den feinen Gerüchen in modischen Restaurants zurückzuführen war.

Einen melancholischen Moment lang ließ Helen den Blick über ihre eigene Robe schweifen, ein Abendkleid, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, jedoch durchaus noch seinen Zweck erfüllte. Es war aus marineblauem Taft, schulterfrei, mit schwarzen Perlen bestickt und mit einer blassblauen Schärpe umschlungen. Jetzt wünschte sie, sie hätte es doch für eine Auffrischung in Madame Planchettes Atelier gebracht und wenigstens kürzen lassen, damit es nicht über den Boden schleifte. Immer wieder blieben ihre flachen Abendschuhe in den Seidenfalten hängen, und sie musste auf dem gewienerten Boden Halt suchen. Helen runzelte die Stirn und dachte einen Moment lang voller Wehmut an ihr Alter, während ihre Hand zu dem Kropfband aus Zuchtperlen emporwanderte, das sich in die zarte Vertiefung unterhalb ihrer Kehle schmiegte.

Natürlich hatte Eulah ihren Liebreiz ihrer Mutter zu verdanken, und Helen konnte durchaus mit Stolz vermerken, dass sie sich selbst gut gehalten hatte. Nur wenige, ganz feine Fältchen lagen um ihre Mundwinkel, ihre Augen blickten so klar wie eh und je, und die Lorgnette, die sie mittels einer goldenen Kette an ihrer Taille trug, benötigte sie höchstens zum Lesen von Speisekarten. Die Farbe, mit der sie ihr Haar tönte, war überaus klug gewählt – nicht einmal Eulah ahnte, dass Helen bei ihrem üppigen dunklen Haar, das heute in einem eleganten Tuff auf der Krone ihres Kopfes zusammengefasst war, der Natur etwas nachgeholfen hatte. Zudem schmeichelte das Marineblau ihres Kleides Helens Haut, die bei dem schummrigen elektrischen Licht wie Perlen schimmerte. Zwar hätte sie vom ästhetischen Standpunkt aus Gaslicht bevorzugt, doch vermutlich wollte man auf dem Schiff nur mit den allermodernsten Annehmlichkeiten aufwarten. Lan wäre sicher nicht damit einverstanden gewesen. Beim Gedanken an ihren Gatten verdüsterte sich Helens Gesicht kurz, begann aber fast im selben Moment wieder zu strahlen.

»Na, wenn das nicht die Damen Allston sind?«, dröhnte die Stimme eines jungen Mannes, und Helen spürte, wie jemand sie am Ellbogen berührte. Als sie sich umwandte, blickte sie in das unbeschwerte Gesicht von Deke Emerson, der in seinem etwas zu engen Abendanzug vor ihr stand, mit Pomade im Haar und runden Apfelbacken, die von den vorabendlichen Vergnügungen der Herren der Schöpfung in der Bibliothek bereits deutlich gerötet waren.

»Ach, Deckie!«, quietschte Eulah und klatschte in die Hände. »Ich hab mich schon gefragt, ob wir dich treffen würden. Mutter sagt, auf der Passagierliste stehen einige unserer Bekannten, aber bis jetzt haben wir noch niemanden gesehen. Ist es hier nicht wundervoll?«

»Allerdings. Und das erst recht«, brachte Emerson mit etwas schwerer Zunge hervor, »da ich für das Abendessen zwei so charmante Begleiterinnen gefunden habe.«

Helen setzte ihr nachsichtigstes Lächeln auf. »Mein lieber Mr Emerson, welche Freude. Wir wären Ihnen überaus dankbar, wenn Sie uns in den Speisesaal begleiten könnten. Zu Tisch sind wir allerdings mit Mrs Widener verabredet.« Sie legte eine besondere Betonung auf den Namen ihrer Tischgenossin und schenkte ihm einen bedeutsamen Blick.

»Ach!«, sagte Emerson mit einem fügsamen Wackeln seiner Augenbrauen, denn er hatte begriffen. »Nichts anderes hatte ich im Sinn, als ich auf Sie zutrat.« Er reichte beiden Frauen den Arm, und unter allgemeinem Raffen der Röcke holten sie noch einmal tief Luft und stiegen die große Treppe zum Speisesaal hinab.

Während Eulah mit Deckie über die Wunder einer Spritztour mit dem Automobil durch den Bois de Boulogne und über die modischen Eskapaden der Pariser Frauen plauderte, stockte Helen der Atem, als sie die glitzernde Szenerie erblickte, die sich vor ihr entfaltete. Die Treppe selbst war schon ein kleines Wunder und hätte wohl besser in ein Pariser Hotel als auf einen Ozeandampfer gepasst. Sie war aus edlem Holz geschnitzt – Lan hätte bestimmt gewusst, aus welchem genau, und sich wahrscheinlich abfällig über die Verschwendung geäußert, bei der Ausstattung eines Schiffes solch teure Hölzer zu verwenden. Wie die meisten Männer, die zur See gefahren waren, konnte auch Lan sehr eigensinnig sein, wenn es um Vergnügungsreisen ging. Doch daran gab es nichts zu rütteln: Eulahs Europareise war ein Muss gewesen. Wenn er die Veränderungen sah, welche die Fahrt bei seiner jüngsten Tochter bewirkt hatte, wenn er bemerkte, wie Europa ihr den letzten, eleganten Schliff gegeben hatte, dann würde Lan Helen beipflichten, da war sie sich sicher.

Das Treppenhaus war mit Schnörkeln verziert und wurde von einer Putte beleuchtet, die auf der Brüstung in der Mitte angebracht war und eine elektrische Fackel trug. Darüber schwebte eine beleuchtete Kugel aus Buntglas, in Schmiedeeisen eingefasst, die Helen an die gewundenen Blattmuster der Einkaufsarkaden an der Rue du Faubourg erinnerte. Am Fuße der großen Treppe hing eine große Uhr mit römischen Ziffern und spitzen Zeigern, deren Zifferblatt sich inmitten des reichen Schnitzwerks eher klein ausnahm. Helen betrachtete die Uhr, während sie die letzten Treppenstufen zurücklegten; wahrscheinlich war es dieser Zeitmesser gewesen, der sie zum Essen gerufen hatte. Helen runzelte verwirrt die Stirn.

»Mr Emerson«, sagte sie und unterbrach damit Eulahs begeisterte Schilderung ihrer Begegnung mit einem Opernsänger, den sie am Vorabend ihrer Abreise nach England in einem Café erspäht hatte.

»Ja, Mrs Allston?«, erwiderte ihr Begleiter, bemüht um eine saubere Aussprache.

»Ist mit der Uhr da drüben etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie und nickte in Richtung des Zeitmessers.

»Nein, ich denke nicht.« Er lachte und schloss mit ihr auf. »Das Schiff ist funkelnagelneu, wissen Sie. Wie heißt doch gleich noch das Wort, das Seebären dafür verwenden? Tipptopp?«

Eulah kicherte, rammte ihren Ellbogen in Mr Emersons Seite, und Helens Stirnrunzeln vertiefte sich. Irgendetwas störte sie an der Uhr. Sie kam ihr seltsam vertraut vor, obwohl sie sie doch noch nie gesehen haben konnte. Außerdem konnte sie beim besten Willen nicht erkennen, welche Uhrzeit sie anzeigte. Auch diese Verwirrung war ihr irgendwie vertraut; bestimmt würde ihr später einfallen, woran das alles sie erinnerte. Jedenfalls war es eine sehr seltsame Erfahrung.

Genau in diesem Moment kam ein älteres Paar, das Helen vom dienstäglichen Vortragsabend kannte, auf dem Weg nach oben in die Lounge der ersten Klasse an ihnen vorbei, und sie kehrte in die Wirklichkeit zurück. Die beiden verbeugten sich, und sie nickte und stellte ihnen ihre Tochter und Mr Emerson vor. Die Gruppe erging sich ein paar Momente lang in allgemeinem Lob über die Schönheiten des Schiffes, über das öde Einerlei des Lebens an Bord, über die Freude, die es bereitete, überall im Ausland auf Bostoner Bekannte zu stoßen, über die elenden Lebensbedingungen der papistischen Bauern im ländlichen Italien und über die große Erleichterung, nach Boston zurückzukehren, wo man endlich wieder eine anständige Mahlzeit vorgesetzt bekam.

»Hör nur, Mutter, wie herrlich!«, rief Eulah aus, als sie sich endlich von dem älteren Paar verabschiedet hatten. Das Salonorchester hatte zu spielen angefangen, und sie schritten durch die Empfangshalle und gelangten schließlich in den herrlichen Speisesaal, der in festlich steifem weißem Leinen gedeckt war. Kleine Kerzen warfen ein warmes, funkelndes Licht auf das schwere Silberbesteck, und der Saal war erfüllt von Grüppchen murmelnder Gäste. Am Ende der Empore drehten sich bereits einige Paare tanzend im Kreis, die Männer allesamt wie aus dem Ei gepellt in ihren stattlichen Abendanzügen.

Und erst die Frauen! Helen lächelte, als sie den Blick über all die Damen wandern ließ, die wie eine Schar Paradiesvögel inmitten von Pinguinen die Grüppchen von schwarz gewandeten Männern zum Leuchten brachten. Da war Mrs Brown, die aufzuspüren Helen am allerwenigsten Mühe machte, so laut war ihr Organ mit dem Westküstenakzent und so auffällig ihr üppig mit Nerz besetztes Abendkleid, das ebenso unpassend für einen Abend im April wie unmissverständlich kostspielig war. Und dann war da die schöne junge Mrs Astor, die genauso alt wie Eulah und in eine ruhige Konversation mit Mrs Appleton vertieft war. Beiden Frauen war Helen noch nie persönlich begegnet, doch Eulah erwähnte sie oft, wenn in den Klatschspalten der Town Topics wieder einmal über sie zu lesen war. Meine Güte, wie elegant Mrs Appleton doch aussah! Ihr Kleid war von einem so zarten Perlmuttrosa, dass es kaum mehr war als ein Hauch.

Mitten in diese Überlegungen und Beobachtungen drang jetzt ein Summen, und Helen warf Eulah, der Verursacherin, einen tadelnden Blick zu.

»Ach, aber ich liebe dieses Lied, Mutter«, sagte Eulah lächelnd. »Dum dah di dum dum duuuum.«

»Dumme Gans«, neckte Mr Emerson sie, während er sie weiter in Richtung ihres Tisches lenkte. »Das Lied kannst du gar nicht kennen. Es ist brandneu. Ich jedenfalls habe es erst kürzlich à Paris gehört, und zwar in einem Café, in das deine Mutter dich ganz bestimmt nicht lassen würde.«

»Und wie ich das kenne!« Eulah zog scherzhaft einen Schmollmund. »Ich weiß sogar noch, wie der Text geht.«

»Ach, wirklich?« Mr Emerson lächelte.

»Dum di dah dah, hmmm hmmmm silver lining ...«, tirilierte Eulah und malte dazu mit der behandschuhten Hand ein paar Kringel in die Luft, als würde sie dirigieren.

»Eulah!«, wies Helen sie zurecht. Doch ihre Ermahnungen wurden durch ihre Ankunft an dem Tisch unterbrochen, der für sie reserviert war.

»Nun, meine Damen«, sagte Mr Emerson und musste sich für seine Verbeugung ein wenig an einem Stuhlrücken festhalten. »Dann darf ich mich nun wohl von Ihnen verabschieden.«

»Sie sind zu liebenswürdig, Mr Emerson«, erwiderte Helen und bedeutete ihm mit einem nicht unfreundlichen Blick, dass er entlassen war.

Eulah schenkte ihm ihr charmantestes Lächeln, und nachdem er ihnen, so gut es ihm möglich war, auf ihre Plätze geholfen hatte, zog er sich zurück.

Helen beugte sich nach vorn und wollte gerade eine mahnende Bemerkung bezüglich der Gesprächsthemen ihrer Tochter machen, als sie durch das Erscheinen von Mrs Widener, und, direkt hinter ihr, einem schnurrbärtigen Gentleman unterbrochen wurde, bei dem es sich nur um deren Gatten George handeln konnte. Helen ergab sich mit einem unhörbaren Seufzer in ihr Schicksal und hoffte, Eulah würde so viel Vernunft besitzen, Mrs Widener mit ihren absurden politischen Ansichten zu verschonen. Denn trotz des förderlichen Einflusses, den Europa sicher auf ihre Tochter gehabt hatte, fürchtete Helen, Eulahs Ansichten seien noch immer bedenklich fortschrittlich. In der Garderobe der Oper hatte Helen sogar mit angehört, wie sie Lady Rutherford einen Vortrag über die dringliche Notwendigkeit der Einführung des Frauenwahlrechts gehalten hatte.

Sicher, auch Helen hegte gewisse Interessen, die man durchaus als unorthodox bezeichnen konnte, auch wenn es sich dabei natürlich nicht um politische, sondern hauptsächlich um spirituelle Angelegenheiten handelte. Mrs Dee sagte immer, Helen sei es sich selbst – und der Welt – schuldig, über die wundervollen Dinge, die sie an ihren Mittwochabenden vollbrachten, Zeugnis abzulegen. Vielleicht hatte Eulah ja recht, und Helen sollte ihr besser keine Predigten über das Missionieren halten. Doch es war eine Sache, in einem Nähzirkel irgendwelchen Blödsinn zu plappern, und etwas ganz anderes, es beim ersten festlichen Dinner an Bord eines Transatlantikdampfers zu tun.

»Eleanor!« Helen schenkte ihrer Tischnachbarin ein strahlendes Lächeln und stupste Eulah unter dem Tisch mit ihrem Abendschuh an, um sie zur Fasson zu rufen. »Meine Liebe, wie geht es Ihnen? Es ist so lange her. Und dass Mr Widener mit Ihnen reist. Wie schön!«

»Helen.« Mrs Widener nickte wohlwollend und reichte ihr die Hand. Mrs Widener rückte den Hermelinumhang auf ihren Schultern zurecht und ließ einen langen abschätzenden Blick durch den Speisesaal schweifen. Schließlich seufzte sie und sank mit vornehmer Langsamkeit neben Helen Allston auf den Stuhl, brachte Ordnung in ihre Röcke und lehnte sich schließlich mit geduldiger Unterstützung ihres Mannes zurück, der dann selbst Platz nahm und begann, mit seinen fleischigen Fingerspitzen einen Trommelwirbel auf der Tischplatte zu veranstalten. Ein paar Momente lang herrschte Schweigen am Tisch, während das Orchester weiterspielte und die Gäste sich in kleinen Gruppen auf den Weg zu ihren Tischen machten. Helen rang vergeblich um Worte, um ein Gespräch anzuregen.

»Nun«, meinte Mrs Widener schließlich. »Da sind wir also.« Ihr Gemahl brummte zustimmend.

Helen lächelte, beugte sich ein wenig hinüber und hob an: »Meine liebe Eleanor, gewiss erinnern Sie sich an meine Tochter Eulah. Wir sind auf dem Rückweg von unserer Europareise«, während Eulah einfach mit einem »Wie geht es Ihnen, Mrs Widener? Und Mr Widener!« über die Vorstellung ihrer Mutter hinweggaloppierte und die behandschuhte Hand quer über den Tisch und das kleine Liliensträußchen in der Mitte hinwegstreckte.

»Natürlich«, sagte Mrs Widener gnädig und ergriff kurz Eulahs Hand. Ihr Gemahl tat es ihr nach.

Genau in diesem Moment tauchte ein atemloser junger Mann aus dem Getümmel der Gäste auf, beugte sich zu Mrs Wideners Ohr hinab und flüsterte: »Da seid ihr ja, Mutter. Ich hing gerade geschlagene fünf Minuten an einem Tisch mit Eddie Calderhead fest, der mich mit irgendwelchen Geschäftsplänen vollgequatscht hat. Hab wohl die falsche Tischnummer erwischt. Musste ihm beinahe zwanzigtausend Dollar versprechen, damit er mich gehen lässt.«

»Aber doch nicht wirklich, oder?«, brummte Mr Widener, aber der Sohn schenkte ihm keine Beachtung.

Der junge Mann ließ sich mit einem Grinsen auf den Stuhl neben seiner Mutter fallen. »Beinahe, habe ich gesagt«, wiegelte er mit einem Lächeln ab. Mrs Widener zeigte das nachsichtige Lächeln einer Mutter und wandte sich an Helen.

»Und Sie erinnern sich doch gewiss an meinen Sohn? Harry, darf ich dir diese beiden bezaubernden Damen vorstellen, die ich aus Boston kenne? Mrs Helen und Miss Eulah Allston.«

»Freut mich«, erwiderte Harry mit einem kurzen Nicken, an die beiden Damen gerichtet.

Helen ließ sich diese unerwartete Entwicklung durch den Kopf gehen. Dann hatten die Wideners also ihren Sohn mitgebracht. Gewiss, er war älter als Eulah, aber nicht viel. Um die zwanzig, schätzte sie. Student in Harvard, tadellos gekleidet. Das Haar ein wenig unordentlich, was ihm jedoch das Äußere eines liebenswerten, etwas schusseligen Bücherwurms verlieh. Wohlgeformtes Kinn. Schöne gerade Römernase. Römisch oder griechisch? Ach, den Unterschied konnte sie sich nie merken. Helen fragte sich, ob er wohl geschäftlich in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Baute der nicht Straßenbahnen? Lan hätte es gewusst. Aber natürlich war seine Mutter eine geborene Elkins, da spielte das, was sein Vater machte, keine große Rolle.

»Ich sagte gerade zu Ihrer Mutter«, nahm Helen den Gesprächsfaden wieder auf, »dass Eulah und ich aus Paris zurückkommen. Es war ihre erste Reise dorthin, wissen Sie?«

Harrys Augen ruhten voller Interesse auf Eulah. »Na, das ist große Klasse! Jeder sollte mindestens einmal in Paris gewesen sein. Dort gibt es einige ausgezeichnete Buchhandlungen. Wie haben Sie es gefunden?«

Eulah gestattete sich ein rätselhaftes Lächeln, als könne sie neuerdings mit allerhand unaussprechlichen Geheimnissen aufwarten, die Harry nur erahnen könne.

»Nun, ich fand es « Sie hielt inne, als würde sie nach dem richtigen Wort suchen, und lenkte so erst recht seine Aufmerksamkeit auf sich. Er beugte sich näher zu ihr, um zu hören, was sie wohl sagen würde, und Helens Herz machte vor Aufregung einen Satz.

»Zauberhaft«, beendete Eulah ihren Satz. »Alles war einfach zauberhaft. Die Oper. Die Bälle.«

»Die Ateliers«, murmelte Mr Widener, an niemand Besonderen gerichtet.

»Was machen Sie denn genau, Harry?«, sprang Helen in die Bresche und rettete die Tischrunde vor Eulahs Schwärmereien.

»Ich bin Bibliophiler«, sagte er behäbig, ohne auf Mr Wideners hörbares Schnauben zu achten.

»Ach, wirklich?«, rief Eulah, während Helen verständnislos blinzelte.

»Genau. Wir waren übrigens auch gerade in Paris. Ich war auf der Jagd nach einem bestimmten Buch, und Mutter und Vater hatten beschlossen, sie könnten ein wenig Tapetenwechsel brauchen.«

»Ach, Paris!«, jubilierte Eulah. »Seltsam, dass wir uns nicht begegnet sind. Ich kann es kaum erwarten zu erfahren, um welches Buch es sich handelt. Ich liebe Bücher, wissen Sie? Haben Sie es denn gefunden?«

»Es heißt Le Sang de Morphée«, antwortete Harry und erhob sich. »Und ich werde Ihnen alles darüber erzählen, wenn Sie mit mir tanzen.«

Mrs Widener unterdrückte ein erschrockenes Hüsteln, während sich Eulah mit leuchtenden Augen an Helen wandte. »Darf ich?«, fragte sie, schon halb auf den Beinen, während Harry einen Moment zu spät die Hand ausstreckte, um ihren Stuhl zurückzuziehen.

»Aber natürlich, mein Liebes!«, strahlte Helen. »Kümmere dich gar nicht um uns! Vielleicht erwischst du sogar noch das Lied, das du so gerne magst.«

Kichernd legte Eulah die Hand auf die von Harry und ließ sich von ihm vom Tisch wegführen, während die Musik im Einklang mit ihrer wachsenden Begeisterung anzuschwellen schien. Harry stützte sie mit fester Hand und führte sie mit ein paar geübten Walzerschritten mitten in die tanzende Menge am Ende der Empore.

Helen seufzte zufrieden und dachte an den Kotillon zurück, bei dem sie Lan zum ersten Mal erblickt hatte. Damals hatte sie sich in dem steifen Abendkleid, das ihre Mutter für sie bestellt hatte, und der Aufsteckfrisur, die sie an jenem Abend zum allerersten Mal trug, so erwachsen gefühlt. Helen hatte ihn sofort bemerkt, noch bevor ihre Mutter sie auf ihn hingewiesen und ihr mit ärgerlicher Dringlichkeit die Vorzüge aufgelistet hatte, die ihn zur guten Partie machten. Doch Helen hatte nichts von dem gehört, was ihre Mutter sagte. Vielleicht hatte ja auch die Tatsache, dass er so viel älter war, dazu beigetragen, dass sie sogleich beeindruckt war: Sein Gesicht war braun gebrannt wie eine Nuss, und seine Augen blickten ein wenig kummervoll und erfahren in die Welt. Er hatte viele Jahre auf See verbracht, und es schien, als wäre ein Teil von ihm immer noch dort draußen auf dem Meer, unerreichbar. Helen zitterte bei der Erinnerung.

Harry Widener war in Eulahs Augen vielleicht nicht ganz so geheimnisvoll, wie Lan es für sie gewesen war, doch Eulah besaß auch nicht Helens Faible für das Mysteriöse. Diesen Hang zum Außergewöhnlichen hatte Mrs Dee sogleich in Helen entdeckt, doch er war wie ein Funke, der nur im Geheimen leuchtete und den sie in der Öffentlichkeit sehr gut zu verbergen wusste.

Eulah dagegen war ein Mädchen, das nach außen gewandt war. Eigenwillig, allzu schnell, wenn es darum ging, ihre Wünsche und Meinungen zu äußern. Helen hatte Sorge, sie hungere nach Leben, als wäre es etwas, das ihr zustand. Gewiss würde ein junger Mann wie Harry – gut erzogen, wohlhabend, belesen und verlässlich – ihr guttun. Vielleicht war er ja ein wenig langweilig, aber er würde Eulah auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Helen presste entschlossen die Lippen zusammen. Dann wären auch die über viertausend Dollar für die Schiffspassage nicht umsonst gewesen. Lan konnte sich noch so sehr über die Ausgaben beklagen, aber das war es wert, wenn damit wenigstens eines ihrer Kinder unter die Haube kam.

»Le Sang de Morphée, in der Tat«, sagte Mrs Widener wie zu sich selbst, und ließ den Blick mit einem Ausdruck erhabener Langeweile über die glitzernde Szenerie schweifen, die sich ihnen bot.

»War auch ein hartes Stück Arbeit, die olle Schwarte aufzutreiben«, brummte Mr Widener, setzte sich eine goldene Brille auf die Nase und wandte seine Aufmerksamkeit der Speisekarte aus schwerem Karton in seiner Hand zu. Auch Helen wurde aus ihren Tagträumen gerissen, um zu bemerken, dass man ihnen das Menü gebracht hatte. Austern! Nun, das war vermutlich nur angemessen. Und vielleicht war auch das ein gutes Omen für Eulahs Chancen. Helen hielt nämlich ebenso große Stücke auf gute alte Ammenmärchen und auf Aberglauben wie auf modernere Ansichten. Aha. Consommé Olga, was auch immer das war. Gedämpfter Lachs mit Sauce mousseline an Gurken.

»Wie heißt doch gleich dieses Lied, Helen?«, unterbrach Mrs Widener Helens Gedanken mit einem sanften Stupsen ihres behandschuhten Fingers an Helens Unterarm.

»Nun, leider weiß ich das nicht.« Helen lächelte und erhaschte einen kurzen Blick auf Eulah inmitten der Tanzenden. Sie hatte den Kopf weit in den Nacken gelegt und lachte perlend über etwas, das Harry gerade sagte. Helen fragte sich, ob sie wohl durch das immer lauter werdende Gemurmel der Tischgespräche, das Klirren von Besteck und Gläsern und das Anschwellen der Bläser des Salonorchesters hindurch wieder die Uhr schlagen hören konnte. Schlug sie denn überhaupt wirklich, oder bildete sie sich das nur ein? Sie schob die Frage beiseite und wandte sich erneut der Speisekarte zu, um zu sehen, welch kulinarische Genüsse der Abend noch für sie und ihre Tochter bereithielt.

Gebratene Ente in Apfelsoße. Überbackenes Haschee mit neuen Kartoffeln. Kalte Spargelvinaigrette. Gänseleberpastete und – oh, darüber würde sich Eulah besonders freuen – Eclairs mit Schokoladen- und Vanillefüllung! Helen drehte sich auf ihrem Stuhl um und suchte inmitten der Tanzenden nach dem fröhlichen Gesicht ihrer Tochter, wobei sie in ihrer Hast versehentlich die Karte auf den Boden fallen ließ, wo sie neben dem vergoldeten Stuhlbein liegen blieb.

Ganz oben auf der Menükarte, in vornehmer Schrift, stand der Name des herrlichen Ozeandampfers, der sie nach Hause bringen würde: TITANIC.