Ein Ingenieur platzt in Dr. Watsons Praxis. Der junge Mann hatte einen lukrativen, wenn auch etwas seltsamen Auftrag zur Reparatur einer hydraulischen Presse erhalten. Statt gut zu verdienen, verliert er seinen Daumen, aber Holmes vermutet eine noch weit größere Intrige hinter der Geschichte.
Der Daumen des Ingenieurs
Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Aus dem Englischen
von Alice und Karl Heinz Berger
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Impressum
Unter all den Problemen, die meinem Freund während der Jahre unserer vertrauten Gemeinsamkeit zur Lösung angetragen wurden, gibt es nur zwei, die ich seiner Aufmerksamkeit empfohlen hatte, nämlich das um Mr. Hatherleys Daumen und jenes im Zusammenhang mit Colonel Warburtons Geistesstörung. Das letztere mag für einen scharfsinnigen und schöpferischen Beobachter ein trefflicher Tummelplatz gewesen sein, aber das andere war von Anfang an so seltsam und so dramatisch in den Einzelheiten, daß ein Bericht darüber wahrscheinlich eher lohnt, auch wenn es meinem Freund weniger Gelegenheit bot, seine deduktive Methode des Schlußfolgerns anzuwenden, mit der er so bemerkenswerte Ergebnisse erzielte. Die Geschichte ist, glaube ich, mehr als einmal durch die Zeitungen gegangen, aber im allgemeinen haben derartige Schilderungen eine weit geringere Wirkung, wenn sie, in eine halbe Kolumne gepreßt, im Druck erscheinen, als wenn die Tatsachen sich langsam vorm Auge des Lesers entwickeln, das Geheimnis sich allmählich klärt und jede neue Entdeckung eine Stufe darstellt, die zur vollen Wahrheit führt. Damals machten die Umstände großen Eindruck auf mich, und daß seitdem zwei Jahre vergangen sind, hat den Effekt kaum abgeschwächt.
Es war im Sommer des Jahres ’89, nicht lange nach meiner Verehelichung, als sich die Ereignisse zutrugen, die ich hier zusammenfassen will. Ich betrieb wieder meine Privatpraxis und war aus Holmes Wohnung in der Baker Street ausgezogen, besuchte ihn jedoch regelmäßig und konnte ihn manchmal sogar dazu überreden, seine bohemehafte Lebensweise vorübergehend zu vergessen und uns zu besuchen. Meine Praxis hatte sich ständig vergrößert, und da ich zufällig nicht weit von Paddington Station entfernt wohnte, waren einige Eisenbahnbeamte meine Patienten. Einer von ihnen, ein Zugführer, den ich von einer schmerzhaften, hartnäckigen Krankheit kuriert hatte, wurde nicht müde, meine Vorzüge anzupreisen und mir jeden Leidenden zuzuführen, den er dazu überreden konnte.
Eines Morgens, kurz vor sieben Uhr, wurde ich durch ein Klopfen an der Tür geweckt, und das Dienstmädchen meldete, zwei Männer seien vom Bahnhof herübergekommen und warteten im Sprechzimmer. Schnell zog ich mich an, denn ich wußte aus Erfahrung, daß von der Eisenbahn kommende Fälle selten unerheblich waren, und eilte nach unten. Ich war noch auf der Treppe, als mein alter Verbündeter, der Zugführer, aus dem Praxisraum trat und die Tür hinter sich schloß.
»Ich habe ihn gebracht«, flüsterte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Er ist in Ordnung.«
»Wer ist es denn?« fragte ich, denn seine Art ließ vermuten, er habe ein seltsames Geschöpf in meinem Zimmer eingesperrt.
»Ein neuer Patient«, flüsterte er. »Ich dachte, es wär besser, ich begleite ihn, dann kann er nicht ausreißen. Und jetzt ist er da, wohlbehalten. Ich muß aber weg, Doktor, hab meine Pflichten wie Sie.« Und fort war er, mein treuer Kunde, ohne mir Zeit für ein Dankeschön zu lassen.
Ich betrat mein Sprechzimmer und sah einen Herrn am Tisch sitzen. Er trug einen schlichten Anzug aus erikafarbenem Tweed; seine Tuchmütze lag auf meinen Büchern. Um eine Hand war ein durch und durch blutiges Taschentuch gewunden. Er war jung, nicht älter als fünfundzwanzig, würde ich sagen, und hatte ein kräftiges, männliches Gesicht; aber er wirkte sehr blaß und machte auf mich den Eindruck, als litte er unter einer tiefgehenden Erregung, die sich nur unter Aufbietung aller Geisteskräfte kontrollieren ließ.
»Es tut mir leid, daß ich Sie so früh raustrommele, Doktor«, sagte er. »Aber mir ist in der Nacht ein schwerer Unfall zugestoßen. Ich bin heute früh mit dem Zug angekommen, und als ich mich auf dem Bahnhof nach der Adresse eines Arztes erkundigte, hat mich ein hilfsbereiter Mann freundlicherweise hierhergebracht. Ich habe dem Dienstmädchen meine Karte gegeben, aber wie ich sehe, hat sie sie auf dem Tischchen liegenlassen.«
Ich nahm die Karte und warf einen Blick darauf. ›Mr. Victor Hatherley, Ingenieur für Hydraulik, Victoria Street 16 A (3