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Der Begriff Vivisektionen bezeichnet Eingriffe an lebenden Organismen, die dem Zweck dienen, mehr über ihre Funktionsweise herauszufinden. In gewisser Weise wenden ein solches Verfahren auch die Theoretiker an, die Axel Honneth hier porträtiert: Sie greifen mit ihren Entwürfen in den Fluß der Ereignisse ein, um ihm Erkenntnisse abzuringen, die sie für ihre Theorien fruchtbar machen können. Ob nun Franz Rosenzweig zu Beginn des Jahrhunderts, Siegfried Kracauer während der Weimarer Republik oder Judith Shklar im Schatten des Holocaust, sie alle ziehen aus ihren Vivisektionen der Gegenwart Rückschlüsse auf einen angemessenen Begriff der Geschichte, der Gesellschaft oder der Politik.

Axel Honneth, geboren 1949, lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt und an der Columbia University in New York. Außerdem leitet er das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit (stw 2048).

 

 

Axel Honneth

Vivisektionen eines Zeitalters

Porträts zur Ideengeschichte
des 20. Jahrhunderts

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2678.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Originalausgabe

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

 

eISBN 978-3-518-73612-8

www.suhrkamp.de

Inhalt

 

Vorwort

 1. Das ambivalente Erbe Hegels

Franz Rosenzweig zu Beginn des Jahrhunderts

 2. Logik des Fanatismus

John Deweys Archäologie der deutschen Mentalität

 3. Phänomenologie des Bösen

Das vergessene Werk von Aurel Kolnai

 4. Der destruktive Realist

Zum sozialphilosophischen Erbe Siegfried Kracauers

 5. Dispositive unseres Denkens

Die verkannte Leistung Robin G. Collingwoods

 6. Versuchungen eines Liberalen

Helmuth Plessner vor dem Nationalsozialismus

 7. Die Gefährdungen des Wir

Sozialistische Tendenzen im Werk von Amitai Etzioni

 8. Die Grenzen des »homo oeconomicus«

Zum intellektuellen Vermächtnis Albert O. Hirschmans

 9. Die Historizität von Furcht und Verletzung

Sozialdemokratische Züge im Denken von Judith Shklar

10. Geschichtsschreibung als Befreiung

Quentin Skinners Revolutionierung der Ideengeschichte

11. »Nach Weltuntergang«

Zur Sozialtheorie von Jan Philipp Reemtsma

 

Textnachweise

Vorwort

Dieser kleine Band versammelt intellektuelle Porträts, die zu sehr verschiedenen Anlässen verfaßt worden sind. Die Personen, deren Werk darin vergegenwärtigt wird, teilen jedoch mehr an Gemeinsamkeiten, als die Disparatheit der Anlässe vermuten ließe. Schon in dem ganz äußerlichen Sinn gehören die elf hier behandelten Autorinnen und Autoren zusammen, daß sie die Anstöße zu ihrem theoretischen Schaffen dem historischen Erfahrungsraum des 20. Jahrhunderts verdanken. Zwar sind John Dewey, Franz Rosenzweig, Siegfried Kracauer, Robin G. Collingwood und Helmuth Plessner noch in der letzten Hälfte des vorangegangenen Jahrhunderts geboren; doch ihre theorieprägenden Erlebnisse und Erfahrungen fallen in das »Zeitalter der Extreme«, wie Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert im Rückblick genannt hat. Darüber hinaus eint die hier versammelten Theoretiker, daß sie sich ihr Leben lang geweigert haben, die eigene Arbeit abgehoben von den politisch-geschichtlichen Ereignissen zu begreifen; selbst für einen scheinbar so weltentrückten, der Vergangenheit zugewandten Denker wie Robin G. Collingwood gilt noch, daß er die Herausforderungen seiner Zeit als etwas ansah, auf das mit Hilfe philosophischer Theorien eine Antwort gefunden werden mußte. Die meisten der behandelten Autorinnen und Autoren aber sind gar nicht aus freien Stücken zu Intellektuellen geworden; das Exil und die politische Heimatlosigkeit zwangen sie vielmehr dazu, den historischen Zeitläuften in ihren theoretischen Arbeiten immer auf den Fersen zu bleiben, weil sie nur so ihr Überleben sichern konnten. Insofern dokumentiert der Band auch, wie recht Tony Judt mit seiner Behauptung hatte, daß das 20. Jahrhundert den neuen Intellektuellentypus des »heimatlosen Weltbürgers« hervorgebracht hat.[1]

Allerdings rechtfertigen all diese Gemeinsamkeiten gewiß noch nicht den Titel, den ich meiner Essaysammlung gegeben habe. Auf den Begriff der »Vivisektionen« bin ich bei der Arbeit an dem Aufsatz über Siegfried Kracauer gestoßen. Dieser hatte eine seiner vielzähligen Literaturrezensionen mit dem Titel »Vivisektion der Zeit« überschrieben, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß der besprochene Roman von Erik Reger tatsächlich das Innenleben der eigenen Epoche zu verstehen helfe, insofern darin die dem Blick entzogenen Funktionsabläufe wie mit dem Seziermesser am Gesellschaftskörper freigelegt würden.[2] In einer zweifachen Weise sollen auch die hier versammelten Essays solche »Vivisektionen« liefern: Einerseits beschäftigen sie sich mit Intellektuellen, die selbst ein Verfahren des Eingriffs in den lebendigen Organismus der Gesellschaft praktizieren, indem sie deren Funktionsweisen zu analysieren versuchen, um daraus Rückschlüsse auf einen angemessenen Begriff der Geschichte, der Gesellschaft oder der Politik ziehen zu können. Andererseits aber bilden die Essays zusammengenommen die »Vivisektion« eines ganzen Zeitalters, weil sie an ausgewählten Theorien des 20. Jahrhunderts deutlich machen sollen, welche untergründigen Erfahrungen von Leid, Katastrophe und Vertreibung bei ihrer Erstellung am Werk waren. Eine solche Zusammenstellung kann eine politische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts sicherlich nicht ersetzen; aber sie kann ein erster Schritt bei dem längst überfälligen Versuch sein, die intellektuelle Geschichte dieser Epoche als einen Prozeß zu verstehen, in dem aus der Verarbeitung schmerzlichster Erlebnisse bedeutende Einsichten und unersetzbare Lehren gewonnen wurden.

 


Frankfurt am Main im März 2014


Axel Honneth

 



[1] Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2010, S. 22ff.

[2] Siegfried Kracauer, »Vivisektion der Zeit« [1932], in: ders., Werke, herausgegeben von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, Bd. 5.4, Berlin 2011, S. 250-256.