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Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Die Autorin
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Die Autorin
Copyright

Die Autorin

Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren und gehört heute zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Auch in Deutschland erobert sie mit ihren Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten. Im Diana Taschenbuch sind zuletzt erschienen: Lockruf der Gefahr, Die falsche Tochter sowie Gestohlene Träume. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.

Die Autorin

Nora Roberts wurde 1950 in Silver Spring, Maryland, als einzige und jüngste Tochter von fünf Kindern geboren. Ihre Ausbildung endete mit der Highschool in Silver Spring. Bis zur Geburt ihrer beiden Söhne Jason und Dan arbeitete sie als Sekretärin, anschließend war sie Hausfrau und Mutter. Anfang der siebziger Jahre zog sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern nach Maryland aufs Land. Sie begann mit dem Schreiben, als sie im Winter 1979 während eines Blizzards tagelang eingeschneit war. Nachdem Nora Roberts jedes im Haus vorhandene Buch gelesen hatte, schrieb sie selbst eins. 1981 wurde ihr erster Roman Rote Rosen für Delia (Originaltitel: Irish Thoroughbred) veröffentlicht, der sich rasch zu einem Bestseller entwickelte. Seitdem hat sie über 200 Romane geschrieben, von denen mehr als 400 Millionen Exemplare verkauft wurden; ihre Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Sowohl die Romance Writers of America als auch die Romantic Times haben sie mit Preisen überschüttet; sie erhielt unter anderem den Rita Award, den Maggie Award und das Golden Leaf. Ihr Werk umfasst mehr als 175 New-York-Times-Bestseller, und 1986 wurde sie in die Romance Writers Hall of Fame aufgenommen.

Heute lebt die Bestsellerautorin mit ihrem Ehemann in Maryland.

1

Der Herbst färbte das Laub der Bäume golden und erfüllte die Luft mit seinem würzigen Duft. Ergreifende Farbspiele vor einem stahlblauen Himmel. Das graue Asphaltband der Straße durchschnitt die Hügel und wand sich ostwärts zum Atlantik. Der Wind, der durch das offene Wagenfenster pfiff, war kühl. Slade fragte sich unwillkürlich, wie lange es her war, seit er zuletzt so frische, saubere Luft geatmet hatte. Er hasste die Großstadtgerüche, den Schweiß, die Auspuffgase. Falls man sein Buch annähme, könnte er vielleicht mit seiner Mutter und Janice aus der Stadt wegziehen – ein Haus auf dem Land oder an der Küste suchen. Immer falls und sobald. Er konnte sich nicht leisten, in Konjunktiven zu denken.

Noch ein Jahr bei der Polizei – noch ein Jahr, um das Geld für Janice’ College zusammenzukratzen – und dann  … Slade schüttelte den Kopf und stellte das Radio an. Es brachte nichts, an das nächste Jahr zu denken. Er war nicht in Connecticut, um die Landschaft zu bewundern. Er hatte nur wieder einen Job zu erledigen – einen, der ihn wütend machte.

Jessica Winslow, sinnierte er, siebenundzwanzig Jahre alt. Das einzige Kind von Justice Lawrence Winslow und Lorraine Nordan Winslow. Ratcliff-Absolventin, eine der besten ihres Jahrgangs. Sie war bestimmt Cheerleaderin gewesen, dachte er und schnaubte verächtlich. Pferdeschwanz und Perlenkette. Ralph Lauren Pullis und Gucci-Slipper.

Bemüht, seine Vorurteile nicht überhand nehmen zu lassen, ging er weiter seinen Info-Katalog durch. Sie eröffnete House of Winslow vor vier Jahren. Erledigte bis vor zwei Jahren den Wareneinkauf allein. Gute Ausrede, um in Europa herumzugondeln, setzte er in Gedanken hinzu, während er den Zigarettenanzünder hineindrückte.

Michael Adams, Jessica Winslows Mitarbeiter und gegenwärtiger Einkäufer. Zweiunddreißig, Yale-Absolvent. Zahlen, überlegte Slade, eine Rauchwolke ausstoßend, die sofort zum offenen Fenster hinauswehte. Sohn von Robert und Marion Adams, ebenfalls eine Prominentenfamilie aus Connecticut. Kein sicherer Anhaltspunkt, doch Slade war angewiesen worden, ihn im Augen zu behalten. Er legte den Ellbogen aufs Fenster und dachte nach. Als Chefeinkäufer wäre Adams in der idealen Position, die Operation in Übersee zu organisieren.

David Ryce, seit achtzehn Monaten Verkäufer. Dreiundzwanzig. Sohn von Elizabeth Ryce, der Haushälterin der Winslows. Dodson sagte, dass man ihm oft allein die Führung des Geschäfts anvertraute. Das gäbe ihm Gelegenheit, die Transaktionen vor Ort abzuwickeln.

Systematisch ging Slade anschließend die Liste der Angestellten im Haus der Winslows durch. Gärtner, Köchin, Haushälterin, Hausmädchen. Und das alles für eine einzige Person. Jessica könnte wahrscheinlich nicht einmal ein Ei kochen, wenn ihr Leben davon abhinge.

Die Torflügel des Winslow-Anwesens standen weit offen. Die Durchfahrt war breit genug für zwei Wagen. Slade bog in die lange, geschotterte Zufahrt ein, die von blütenlosen Azaleenbüschen gesäumt wurde. Ein schrilles Vogelgezwitscher empfing ihn, dann wurde es still. Er fuhr beinahe eine Viertelmeile, ehe er den Wagen vor dem Haus parkte.

Es war groß, aber dabei nicht bedrückend. Sonne und Meerluft hatten die alten Backsteinziegel verwittern lassen. Aus einem der Schornsteine des Walmdachs stieg Rauch auf. Die grauen Fensterläden waren nicht nur Dekoration, bemerkte er, sondern boten auch ausreichend Schutz, wenn ein Sturm aufkam. Er roch die Chrysanthemen, noch ehe er sie sah.

Sie wuchsen knapp an der Hausmauer, und die kupfer-, gold- und rostfarbenen riesigen Blüten bildeten einen angenehmen Kontrast zu den knallroten Büschen dahinter. Sie heiterten ihn auf, ebenso wie der schwache Geruch nach Holzfeuer. Hier herrschte keine Trägheit, sondern Frieden. Davon hatte er in letzter Zeit viel zu wenig gehabt, sinnierte er und vertrieb seine Stimmung mit einem Kopfschütteln, als er die Stufen zum Eingang emporstieg. Er machte eine Faust und klopfte zweimal hart gegen die schwere Holztür. Er hasste Türklingeln.

In weniger als einer Minute wurde die Tür geöffnet. Er musste den Kopf senken, ein ganzes Stück, um die winzige, mittelalte Frau mit einem sympathisch hässlichen Gesicht und grau meliertem Haar anzusehen. Ein Hauch von Reinigungsmittel mit Tannenduft umwehte sie, der ihn an die Küche seiner Mutter erinnerte.

»Zu wem möchten Sie?«, erkundigte sie sich mit dem typisch breiten New-England-Dialekt.

»Ich bin James Sladerman. Miss Winslow erwartet mich.«

Die Frau musterte ihn mit wachsamen, schwarzen Augen. »Sie müssen der Schriftsteller sein«, stellte sie fest, offenbar nicht übermäßig beeindruckt. Sie machte einen Schritt zurück, um ihn eintreten zu lassen.

Als sich die Tür hinter ihm schloss, blickte Slade sich in der Diele um. Dem hellen, auf Hochglanz gebohnerten Eichenboden, den kein Teppich bedeckte, sah man die Jahre trotz der sorgfältigen Pflege an. An den hellbeige tapezierten Wänden hingen vereinzelt Gemälde. Auf einem hohen, runden Tisch stand eine hellgrüne Glasvase mit einem üppigen Herbstblumenstrauß. Er fand keine protzige Zurschaustellung von Reichtum, aber er spürte ihn. Er hatte ein Foto des Gemäldes zu seiner Rechten in einem Kunstband gesehen. Der blaue Schal, der nachlässig über dem Treppengeländer hing, war aus Seide.

Slade wollte sich gerade wieder zu der Haushälterin umdrehen, als ein Poltern oben an der Treppe ihn in der Bewegung innehalten ließ.

Ein Wirbelwind aus blonden Haaren und fliegenden Röcken kam die Holztreppe herabgefegt. Das Klappern von Absätzen zerriss die Stille des Hauses. Slades erster Eindruck beschränkte sich auf Geschwindigkeit, Bewegung und Energie.

»Betsy, du sorgst dafür, dass David im Bett bleibt, bis das Fieber runter ist. Lass ihn ja nicht aufstehen. Verdammt, verdammt, ich bin schon viel zu spät dran! Wo sind meine Schlüssel?«

Einen Schritt vor Slade blieb sie so abrupt stehen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Automatisch griff er nach ihrem Arm, um sie zu stützen. Heftig atmend hob sie den Blick von seiner Hemdbrust und starrte ihn an.

Es war ein exquisites Gesicht – heller Elfenbeinteint, oval, fein geschnitten, mit hohen Wangenknochen, die ihm einen fast primitiven Touch verliehen. Indianischer Einschlag? Wikinger?, fragte er sich. Keltisch? Ihre großen Augen hatten die Farbe von altem Whiskey und lagen unter Brauen, die sich neugierig hoben. Dazwischen erschien eine kaum sichtbare steile Falte. Eine Trotzfalte, stellte Slade fest. Seine Schwester hatte auch so eine. Sie war klein, stellte er fest. Ihr Kopf reichte ihm nur knapp bis an die Schulter. Ihr Duft hatte etwas Herbstliches – Moschusartiges – Blüten und Rauch. Der Arm unter seiner Hand, der in einem dünnen Wollblazer steckte, war schlank. Er spürte, wie er sich entzündete – er als Mann für sie als Frau – und ließ hastig die Hand sinken.

»Das ist Mr. Sladerman«, verkündete Betsy. »Dieser Schriftsteller.«

»Ah ja.« Das Lächeln glättete die steile Falte zwischen den Brauen. »Onkel Charlie hat mir erzählt, dass Sie kommen.«

Slade brauchte eine Sekunde, um Onkel Charlie mit Dodson in Verbindung zu bringen. Nicht sicher, ob er einen Fluch oder ein Lachen unterdrückte, ergriff er ihre ausgestreckte Hand. »Charlie meinte, Sie könnten ein bisschen Hilfe brauchen, Miss Winslow.«

»Hilfe.« Sie rollte mit den Augen und räusperte sich. »Ja, so könnte man es nennen. Die Bibliothek … Nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich davonstürme, wo Sie gerade angekommen sind, aber mein Verkäufer ist krank, und mein Einkäufer ist momentan in Frankreich unterwegs.« Sie verbog ihr Handgelenk, um einen gehetzten Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen. »Ich habe einen Kunden, mit dem ich mich vor zehn Minuten im Laden treffen wollte.«

»Ach, machen Sie sich um mich keine Sorgen.« Wenn diese hektische Person einen Laden schmeißen kann, dann kann ich es mir erlauben, die Sache gemächlich angehen zu lassen, entschied er und lächelte. »Ich kann mich hier ja einstweilen etwas häuslich einrichten.«

»Prima. Dann sehen wir uns zum Dinner.« Um sich spähend, murmelte sie wieder etwas von ihren Schlüsseln.

»In Ihrer Hand«, meinte Slade.

»Wie dumm von mir.« Sie ließ einen Seufzer hören, als sie die Hand öffnete und den Schlüsselbund anstarrte. »Wenn ich in Eile bin, geht erst recht alles schief.« Sie schüttelte amüsiert den Kopf und strich sich die Haare von den Schultern. »Lassen Sie das mit der Bibliothek lieber für heute. Das Chaos dort könnte Sie so verschrecken, dass Sie Ihre Koffer gar nicht erst auspacken und noch flüchten, ehe ich dort aufgeräumt haben. Betsy …« Sie war schon fast an der Tür, als sie sich im Laufen noch einmal umdrehte. »Sag David, er ist gefeuert, falls er das Bett verlässt. Bis später.«

Als die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel, schnalzte Betsy indigniert mit der Zunge.

Zehn Minuten später inspizierte Slade seine Zimmerfluchten, die beinahe so groß waren wie die Wohnung, in der er aufgewachsen war. Im Schlafzimmer lag ein verblichener Teppich, der, wie er feststellte, nicht alt war, sondern antik. In dem kleinen offenen Kamin, der mit schwarzem Marmor verkleidet war, lagen ordentlich aufgeschichtete Holzscheite. Im Wohnzimmer empfing ihn ein wuchtiger Schreibtisch, darauf eine Vase mit den Chrysanthemen, die er vorhin so bewundert hatte, ein Briefbeschwerer aus Bronze und eine altmodische Schreibfeder. Ohne zu zögern räumte er den Schreibtisch leer, um Platz für seine Schreibmaschine zu schaffen.

Mit etwas Glück könnte aus seiner Schriftstellerei mehr werden als nur ein Alibi, dachte er. Wenn er nicht gerade auf die Tochter des Hauses aufpassen musste, fand er bestimmt Zeit, ein paar Kapitel zu Papier zu bringen. Freilich war da noch die Bibliothek, um die er sich kümmern musste. Mit einem resignierten Seufzer wandte er dem Schreibtisch den Rücken zu und ging wieder nach unten.

Während er durch die verschiedenen Räumlichkeiten schlenderte, registrierte der auf Cop gedrillte Teil seines Gehirns automatisch die Lage und die Form der einzelnen Zimmer, gleichzeitig nahm der Dichter in ihm die Atmosphäre wahr. Auf seinem Erkundungsgang durch den ersten Stock fand Slade an Jessicas Geschmack nichts auszusetzen. Die Winslow-Tochter bevorzugte gedämpfte Farben und klare Linien. Wie bei ihrer Kleidung, überlegte er, als er sich an das mausgraue Kostüm erinnerte, unter dem sie allerdings eine grellgrüne Bluse getragen hatte. Ein Hinweis auf eine etwas andere Neigung?

Slade blieb stehen, um über das glänzende Rosenholz eines Flügels zu streichen. Verglichen damit war das zerschrammte Klavier, das seine Mutter wie einen Schatz hortete, nur noch zum Einheizen gut, dachte er und wandte sich achselzuckend ab, um das nächste Zimmer in Augenschein zu nehmen.

Die Bibliothek. Umgeben von dem Duft nach altem Leder und Staub betrachtete er die größte private Büchersammlung, die er je gesehen hatte. Zum ersten Mal seit er Dodsons Büro betreten hatte, heiterte sich Slades Stimmung ein wenig auf. Eine rasche Bestandsaufnahme sagte ihm, dass die Bücher alle gelesen waren, aber ohne jedes Konzept in den Regalen standen. Slade bestieg die zweistufige Trittleiter und inspizierte die oberen Regalreihen. Ohne Konzept war noch untertrieben, stellte er fest. Heilloses Durcheinander wäre der passendere Ausdruck gewesen. Robert Burns neben Kurt Vonnegut …

Eine Menge Arbeit, dachte er, die ihm sogar Spaß gemacht hätte, wenn sie der einzige Grund seines Hierseins gewesen wäre. Er ließ den Blick über die langen Bücherreihen wandern, ehe er abwesend einen Band herausnahm. Im Augenblick gab es in der Sache Jessica Winslow nichts zu unternehmen, überlegte er, ehe er sich mit dem Buch in einem der Ledersessel niederließ.

 

Jessica bog in den Parkplatz neben ihrem Laden ein und stellte erleichtert fest, dass er leer war. Sie hatte sich verspätet, aber ihr Kunde ebenfalls. Oder, überlegte sie stirnrunzelnd, er hatte das Warten satt gehabt und war wieder weggefahren. Mit einem halbherzigen Fluch auf den Lippen schloss sie die Ladentür auf und eilte dann von einem Schaufenster zum nächsten, um die Rollos hochsausen zu lassen. Immer noch im Laufschritt ging sie ins Hinterzimmer, warf ihre Handtasche in eine Ecke, schnappte sich den Teekessel und füllte ihn mit Wasser. Im Vorbeigehen begoss sie den welken Efeu, der im rückwärtigen Fenster ums Überleben kämpfte, ehe sie den Kessel auf den Herd stellte. Auf halbem Weg zurück in den Verkaufsraum machte sie kehrt und stellte die Herdplatte an. Zufrieden seufzend setzte sie ihren Weg fort.

Der Verkaufsraum an sich war nicht sehr groß – aber so hatte sich Jessica einen Laden auch nie vorgestellt. Gemütlich und intim sollte er sein, dachte sie, mit ihrer persönlichen Note. Der Laden war für sie mehr als nur ein Ort des Handels; er war ihre Berufung, ihre Liebe. Den geschönlichen äftlichen Teil – Rechnungen, Ablage und Buchhaltung – erledigte sie sehr gewissenhaft. Ja, sie konzentrierte ihre organisatorischen Fähigkeiten voll und ganz auf diesen Laden, was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass in ihren anderen Lebensbereichen oft das reinste Chaos herrschte.

Der Laden war der Mittelpunkt ihres Lebens, und das schon von Anfang an. Ursprünglich war sie auf der Suche nach etwas gewesen, das ihr Leben nach dem Abschluss des College ausfüllte. Die Idee, einen Antiquitätenladen zu er öffnen, war langsam herangereift und hatte sich dann rasch entwickelt. Jessica besaß zu viel Willenskraft und Tatendrang, um ziellos in den Tag hineinzuleben. Nachdem sie einmal beschlossen hatte, ein Geschäft zu eröffnen, hatte sie alles Nötige in Windeseile in die Wege geleitet. Und genau dieser unbändige Tatendrang hatte den Laden zum Florieren gebracht. Er warf Profit ab. Das Geld selbst bedeutete ihr wenig, doch die Tatsache, dass es ihr Laden war, der dieses Geld einbrachte, bedeutete ihr alles.

Sechs Monate war sie kreuz und quer durch New England gefahren, auf der Suche nach geeigneten Stücken, und anschließend nach Europa. Ein großes Warenlager anzuhäufen war nie ihr Ziel gewesen; sie setzte auf Exklusivität. Nach der Eröffnung war der Ansturm eher bescheiden gewesen; meist kamen Freunde und die Freunde von Freunden. Dass Winslows Tochter einen Laden aufgemacht hatte, lockte zu Anfang zwangsläufig auch Schaulustige an. Aber das störte Jessica nicht. Ein Kunde war ein Kunde, und ein zufriedener Kunde war die beste Reklame.

Die ersten zwei Jahre hatte sie den Laden allein geführt. Dass ihr die Arbeit über den Kopf wachsen könnte, hatte sie nie in Erwägung gezogen. Doch als es eines Tages tatsächlich so weit war, hatte sie Michael Adams eingestellt, um die Einkäufe in Übersee zu übernehmen. Er war liebenswürdig, verlässlich und kompetent. Die weibliche Kundschaft verehrte ihn. Ganz allmählich hatte sich aus ihrer geschäftlichen Beziehung eine Freundschaft entwickelt.

Als der Laden immer besser lief, hatte sie David Ryce angestellt. Er war fast noch ein Bursche gewesen, der nicht recht wusste, was er mit sich anfangen sollte und aus Langeweile immer wieder in Schwierigkeiten geriet. Jessica hatte sich für David entschieden, weil sie zusammen aufgewachsen waren; später wurde er für sie unentbehrlich. Er war ein guter Rechner und ein unermüdlicher Arbeiter. Er besaß diese »Mit-allen-Wasser-gewaschen«-Mentalität, die ihn zu einem guten Geschäftsmann machte.

Mit allen Wassern gewaschen …, überlegte Jessica. James Sladerman. Merkwürdig, dass ihr dabei dieser Schriftsteller in den Sinn kam. Doch bei diesem nur sehr kurzen Zusammentreffen in der Halle hatte sie etwas an ihm wahrgenommen. Etwas, das ihr sagte, dass er ein Mann war, der sich behaupten konnte – im Geschäftsleben, vielleicht. In einer dunklen Gasse, mit Sicherheit. Mit einem leisen Lächeln schob sie die Hände in die Taschen ihrer Kostümjacke. Wie kam sie nur auf so was?

Die Finger, die ihren Arm umfasst hatten, waren stark gewesen. Seine Statur drahtig. Nein, es waren seine Augen gewesen, erinnerte sie sich. Sie hatten etwas … Hartes. Und dennoch hatte sie das nicht abgestoßen oder eingeschüchtert, sondern angezogen. Selbst als er sie diese drei, vier Sekunden angesehen hatte, mit einer Intensität, die ihr unter die Haut zu kriechen schien, hatte sie keine Furcht empfunden. Sicherheit, kam es ihr plötzlich. Sie hatte sich in seiner Gegenwart sicher gefühlt. Merkwürdig, dachte sie und biss sich gedankenverloren auf die Unterlippe. Weshalb sollte sie sich plötzlich sicher fühlen, wenn sie überhaupt keinen Schutz brauchte?

Als das Glöckchen über der Ladentür bimmelte, drehte sich Jessica um und schob ihre sonderbaren Gedanken zur Seite.

»Miss Winslow, verzeihen Sie bitte, dass ich mich verspätet habe.«

»Aber das macht doch nichts, Mr. Chambers.« Jessica überlegte kurz, ob sie ihm sagen sollte, dass sie ebenfalls nicht pünktlich gewesen war, ließ es dann aber. Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Im Hinterzimmer pfiff der Teekessel. »Ich koche gerade Tee. Trinken Sie doch eine Tasse mit mir, ehe wir uns die neuen Schnupftabakdosen ansehen.«

Chambers zog einen recht schäbigen Hut von seinem beinahe kahlen Schädel. »Sehr gern, vielen Dank. Ich finde es sehr freundlich, dass Sie mich immer verständigen, wenn Sie eine neue Lieferung hereinbekommen.« Er lächelte und entblößte perfekte Zahnprothesen.

»Ich würde es nie wagen, die Schnupftabakdosen einem anderen Kunden zu zeigen, ehe Sie sie gesehen haben.« In der Küche goss Jessica kochendes Wasser in zwei Teetassen. »Michael hat sie in Frankreich entdeckt. Zwei sind dabei, die Sie besonders interessieren dürften.«

Er wird auf die verzierte anspringen, dachte Jessica lächelnd und stellte die Tassen auf ein Tablett. Er war vernarrt in diese kleinen, bunt emaillierten Dosen, die die feinen Herren mit Spitzenmanschetten an den Ärmeln damals bei sich zu tragen pflegten. Sie musterte Chambers’ untersetzte Gestalt und fragte sich, ob er sich als Kavalier der alten Schule oder vielleicht sogar als Salonlöwe betrachtete. Immerhin hatte ihn sein Faible für Schnupftabakdosen zu einem Stammkunden gemacht, der ihr Geschäft schon mehr als einmal weiterempfohlen hatte. Eigentlich war er auf seine penible, umständliche Art richtig süß, überlegte sie, während sie das Teetablett auf einem Tisch abstellte.

»Zucker?«, fragte sie ihn.

»Ach, eigentlich sollte ich ablehnen.« Chambers tätschelte seinen stattlichen Bauch. »Aber vielleicht ein Würfelchen.« Sein Blick huschte rasch über Jessicas lange Beine, als sie diese elegant überschlug. Schade, dachte er mit einem stummen Seufzer, dass er nicht zwanzig Jahre jünger war.

Eine halbe Stunde später verließ er glücklich und mit zwei Schnupftabakdosen aus dem achtzehnten Jahrhundert in der Tasche den Laden. Jessica wollte gerade die Rechnung ausstellen, als sie das Brummen eines Motors hörte. Sie hob den Kopf und sah einen großen Lieferwagen vor dem Laden anhalten. Als sie das Firmenlogo auf den Stahltüren las, runzelte sie verwundert die Stirn. Sie hätte schwören können, dass die Lieferung, die Michael geschickt hatte, erst morgen fällig war.

Sie erkannte den Fahrer, winkte und ging zur Tür.

»Hi, Miss Winslow.«

»Hallo, Don.« Sie nahm den Lieferschein entgegen, den er ihr reichte, und murmelte, dass sie ihn erst morgen erwartet habe.

»Mr. Adams hat gesagt, es eilt.«

»Mmm.« Sie klapperte mit ihren Schlüsseln in der Tasche, während sie die Liste überflog. »Diesmal hat er sich, wie mir scheint, selbst übertroffen. Und am Samstag kommt schon die nächste Lieferung. Ich verstehe gar … oh!« Ihre Augen begannen zu leuchten. »Der Schreibsekretär. Der Queen Anne. Ich wollte Michael noch bitten, nach einem Ausschau zu halten, habe es aber dann vergessen. Na, so ein Glück!« Eigentlich sollte sie ihn erst ausladen lassen und ihn sich ansehen, dachte sie flüchtig. Nein, entschied sie dann, ich lasse mich überraschen. Lächelnd sah sie den Fahrer an. »Der Rest kommt in den Laden, aber der Schreibtisch geht zu mir nach Hause. Macht es Ihnen was aus?«

»Nun …«

Ein Lächeln ist nie vergeudet, dachte Jessica, die den Schreibtisch schon in ihrem Salon sah. »Wenn es nicht zu viele Umstände macht«, fügte sie hinzu.

Der Fahrer verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß. »Ich nehme an, das geht in Ordnung. Joe hat bestimmt nichts dagegen.« Er gab seinem Partner, der gerade die breiten Ladentüren des Lieferwagens öffnete, das Okayzeichen.

»Vielen Dank. Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Nach so einem Sekretär suche ich schon eine Ewigkeit.«

Zufrieden mit sich und der Welt ging Jessica ins Hinterzimmer, um noch einmal Tee zu kochen.

 

Jessica stürmte genauso durch die Haustür, wie sie Stunden zuvor hinausgestürmt war. »Betsy!« Sie hängte ihre Handtasche über den Pfosten des Treppengeländers. »Ist er gekommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte sie auf den Salon zu.

»Seit Ihrem sechsten Lebensjahr predige ich Ihnen, langsam zu gehen«, rief ihr Betsy aus dem Salon entgegen. »Damals trugen Sie wenigstens ein ordentliches Schuhwerk.«

»Betsy.« Jessica drückte die alte Haushälterin ungestüm, aber liebevoll an sich. »Ist er gekommen?«

»Ja, selbstverständlich.« Die Haushälterin zupfte ihre Schürze wieder glatt. »Er steht da, wo Sie es gesagt haben. Und er läuft Ihnen auch nicht weg, ob Sie jetzt langsam gehen oder wie eine Irre rennen.« Der letzte Satz war für die Katz, denn Jessica war schon an ihr vorbeigestürmt.

»Oh, ist der schön!« Ehrfürchtig strich sie mit der Fingerspitze über das Holz und machte sich dann daran, in ihrer typischen hektischen Art den Schreibtisch von allen Seiten zu inspizieren. Es war ein zierliches kleines Möbelstück. Ein Damensekretär. Jessica öffnete die schräge Klappe und seufzte beglückt über die makellose Ansicht des Innenteils. »Wirklich ein Prachtstück. Warte, bis David es sieht.« Sie zog eine der kleinen Schubladen auf. Sie glitt mühelos heraus. »Genau das, was ich gesucht habe. Was für ein Glück, dass Michael darauf gestoßen ist.« Niederkauernd fuhr sie mit der Hand an einem der schlanken, gedrechselten Beine entlang.

»Er ist hübsch«, stimmte Betsy zu und dachte dabei an die vielen geschnitzten Verzierungen, die sie abzustauben hatte. »Ich wette, der hätte einen hübschen Batzen Geld eingebracht.«

»Der Vorteil eines eigenes Ladens besteht darin, dass man ein paar hübsche Stücke für sich selbst herauspicken kann.« Jessica kam wieder hoch und schloss die Klappe. »Jetzt brauche ich nur noch ein verschnörkeltes altes Tintenfass oder vielleicht eine Porzellandose für oben drauf.«

»Das Abendessen ist gleich so weit.«

»Oh, das Abendessen«, wiederholte Jessica und erinnerte sich an ihren Gast. »Mr. Sladerman, ich habe ihn schmählich vernachlässigt. Ist er oben?«

»In der Bibliothek«, verkündete Betsy grimmig. »Hat sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Nicht mal zum Lunch.«

»Oh, Mann.« Jessica pflügte mit gespreizten Fingern durch ihr Haar. Er sah gar nicht so aus wie einer, der für Unordnung so viel Geduld aufbringt. »Ich wollte ihn eigentlich ganz behutsam mit seiner Aufgabe vertraut machen. Na schön, ich werde besonders nett zu ihm sein, damit er uns nicht gleich wieder davonläuft. Was gibt es zum Abendessen?«, fragte sie über die Schulter hinweg.

»Gefüllte Schweinskotelettes und Kartoffelpüree.«

»Das könnte helfen«, murmelte Jessica auf dem Weg zur Bibliothek.

Sie machte die Tür leise auf und gerade so weit, um den Kopf hindurchzustecken. Manche Dinge, entschied sie, musste man langsam angehen. Er saß an dem langen Arbeitstisch, umgeben von riesigen Bücherstapeln. Vor ihm lag ein dicker Schreibblock und der Bleistift in seiner Hand war schon zur Hälfte abgeschrieben. Das Haar fiel ihm in die Stirn, aber sie konnte sehen, dass er seine Brauen konzentriert zusammengekniffen hatte – oder aber frustriert. Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf.

»Hi.«

Er sah auf. Sein Blick hielt sie fest. Jessica erschauderte unter diesem Blick, der ihre Haut unwillkürlich zum Prickeln brachte. Sie schwelgte in dem Gefühl, genoss es. Ohne es zu merken, verblasste ihr Lächeln zu einem Ausdruck der Verblüffung.

Wer ist dieser Mann?, fragte sie sich. Pure Neugier und eine Portion Kühnheit trieben sie in den Raum hinein. Der Lichtkegel der Leselampe fiel auf sein Gesicht, erhellte den Mund und umschattete die Augen. Diesmal fühlte sie sich in seiner Gegenwart nicht sicher, sondern beunruhigt. Mutig schritt sie auf ihn zu.

»Sie haben das reinste Chaos hier«, meinte Slade schroff und warf den Bleistift auf den Tisch. Es war besser, einen Angriff zu starten, als weiter darüber nachzubrüten, wie schön sie war. »Wenn Sie Ihren Laden auch so führen« – er machte eine ausholende Geste mit der Hand –, »dann grenzt es an ein Wunder, dass Sie noch nicht bankrott sind.«

Dieser unverblümte Vorwurf lockerte die Verkrampfung in ihren Schultern. In seinem Blick hatte nichts Persönliches gelegen, versicherte sie sich. »Ich weiß, es ist schrecklich«, gab Jessica zu und lächelte wieder. »Ich hoffe nur, Sie ergreifen nicht gleich die Flucht.« Vorsichtig lehnte sie sich mit der Hüfte an den Tisch und griff nach dem nächstbesten Buch. »Lieben Sie Herausforderungen, Mr. Sladerman?«

Sie lachte, bemerkte er. Oder waren es nur ihre Augen? Jedenfalls lachte sie ganz offensichtlich über sich selbst. Gegen seinen Willen musste er lächeln, als er sich bemühte, sie ganz objektiv zu betrachten. Vielleicht war sie unschuldig – vielleicht auch nicht. Slade teilte das blinde Vertrauen des Commissioners nicht. Aber sie war eine schöne Frau und reizte ihn. Und dieser Reiz, entschied Slade, war nicht leicht zu umgehen.

Er atmete langsam aus und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Hatte er eine Wahl? »Ich werde gnädig darüber hinwegsehen, Miss Winslow … Ich liebe nämlich Bücher.«

»Ich auch«, begann sie und hielt inne, als sie wieder einer seiner kühlen, direkten Blicke traf. »Ehrlich«, behauptete sie mit einem Lachen. »Ich bin leider nur nicht sehr ordentlich. Wie ist es, kommen wir ins Geschäft, Mr. Sladerman?« Feierlich streckte sie ihm die Hand entgegen.

Die besah er sich besser zuerst einmal. Zart und elegant, dachte er, wie ihr Name und ihre Stimme. Mit einer stummen Verfluchung des Schicksals, das den Commissioner zu ihrem Patenonkel bestimmt hatte, ergriff er ihre Hand. »Wir kommen ins Geschäft, Miss Winslow.«

Jessica glitt von der Tischkante, ohne seine Hand freizugeben. Irgendwie hatte sie gewusst, dass sie sich hart und stark anfühlen würde. »Was halten Sie von gefüllten Koteletts?«

Sie waren zart und schmeckten ausgezeichnet. Slade aß drei Stück, um den ausgefallenen Lunch wieder wettzumachen. Dieser Fall, dachte er nach einem Stück Käsekuchen, hatte zweifellos gewisse Vorteile gegenüber dem, den er gerade abgewickelt hatte. Zwei Wochen hatte er sich mit kaltem Kaffee und schlappen Sandwiches begnügen müssen. Obendrein war sein Partner längst nicht so eine Augenweide gewesen wie diese Jessica Winslow. Mühelos hatte sie während des Essens eine lockere Unterhaltung aufrechterhalten und geleitete ihn jetzt, indem sie ihren Arm unter den seinen geschoben hatte, zurück in den Salon.

»Setzen Sie sich«, forderte sie ihn lächelnd auf. »Ich schenke uns einen Brandy ein.«

Als er den Raum durchquerte, fiel sein Blick auf den Sekretär. »Der stand heute Morgen noch nicht da.«

»Wie bitte?« Mit der Brandykaraffe in der Hand blickte sie über die Schulter. »Oh, nein, der ist erst heute Nachmittag geliefert worden. Kennen Sie sich aus mit Antiquitäten?«

»Nein.« Er unterzog den Schreibtisch einer flüchtigen Betrachtung, ehe er sich auf einem Stuhl niederließ. »Das überlasse ich Ihnen, Miss Winslow.«

»Jessica.« Sie schenkte ein zweites Glas ein und ging dann zu ihm hin. »Soll ich Sie James oder Jim nennen?«

»Slade«, entgegnete er und nahm ihr ein Glas ab. »Selbst meine Mutter hat aufgehört, mich Jim zu rufen, als ich zehn wurde.«

»Sie haben eine Mutter?«

Die unabsichtliche Verblüffung in ihrer Stimme entlockte ihm ein Grinsen. »Jeder Mensch hat doch eine Mutter.«

Jessica kam sich dumm vor, als sie ihm gegenüber Platz nahm. »Schon, aber Sie vermitteln irgendwie den Eindruck, als seien Sie in der Lage gewesen, die ganze Angelegenheit ohne eine Mutter abzuwickeln.«

Sie nippten beide an ihrem Brandy, als sich ihre Blicke über die Gläser hinweg trafen. Genau in diesem Augenblick blieb für Jessica die Zeit stehen. Können Gedanken miteinander kommunizieren?, überlegte sie wie betäubt. Waren es die Turbulenzen seiner Gedanken, die sie gespürt hatte? Oder der ihren? Der Brandy floss heiß und brennend durch ihre Kehle und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Rede, befahl sie sich. Sag etwas. »Haben Sie noch andere Verwandte?«, brachte sie schließlich hervor.

Slade starrte sie an, während er sich fragte, ob er sich diesen kurzen Moment prickelnder Intimität nur eingebildet hatte. So etwas hatte er noch mit keiner Frau oder Geliebten erlebt. Deshalb war es nahezu lächerlich, sich einzubilden, es mit einer Frau erlebt zu haben, die er kaum kannte. »Eine Schwester«, antwortete er nach einer Weile. »Sie geht aufs College.«

»Eine Schwester.« Jessica entspannte sich wieder und streifte die Schuhe ab. »Das ist nett. Ich habe mir immer einen Bruder oder eine Schwester gewünscht, als ich noch klein war.«

»Mit Geld kann man nicht alles kaufen«, warf er achselzuckend in den Raum und verfluchte sich sogleich für diese schroffe Bemerkung, als er ihre verletzte Miene sah. Wenn sie ihm schon jetzt solche Gefühle entlockte, wie mochte es dann erst in einer Woche sein?

»Sie sind schnell mit Klischees bei der Hand«, bemerkte Jessica. »Ich nehme an, das kommt, weil Sie Schriftsteller sind.« Sie nahm noch einen Schluck Brandy und stellte dann das Glas ab. »Was schreiben Sie eigentlich?«

»Unveröffentlichte Romane.«

Sie lachte wie zuvor in der Bibliothek und entlockte ihm damit wieder ein Lächeln. »Das muss frustrierend sein.«

»Nur einmal täglich.«

»Warum tun Sie es dann?«

»Warum essen Sie?«

Jessica dachte einen Moment über seine Antwort nach und meinte dann nickend: »Ja, wahrscheinlich ist es einfach so, nicht wahr? Wollten Sie schon immer Schriftsteller werden?«

Er dachte an seinen Vater, der überall mit stolzgeschwellter Brust verkündet hatte, dass sein Sohn der nächste Sladerman in der Truppe sein werde. Er dachte an seine Teenagerjahre, als er bis spät in die Nacht hinein seine Geschichten auf Spiralblöcke gekritzelt hatte. Er dachte an den Blick seines Vaters, als er seinen Sohn zum ersten Mal in Uniform sah. Und er dachte an das erste Mal, als eine seiner Kurzgeschichten veröffentlicht worden war.

»Ja.« Vielleicht war es einfacher, ihr gegenüber zuzugeben, was er seiner Familie nie hatte erklären können. »Immer.«

»Wenn man etwas unbedingt will und nicht aufgibt«, begann Jessica langsam, »dann schafft man es auch.«

Slade ließ ein knappes Lachen hören, ehe er einen Schluck aus seinem Glas nahm. »Immer?«

Sie tippte mit der Zungenspitze an ihre Oberlippe. »Fast immer. Es ist alles ein Glücksspiel, nicht wahr?«

»Mit hohem Einsatz«, murmelte er und stierte düster in sein Glas. »Ich spiele immer mit hohen Einsätzen.« Er studierte die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas, die beinahe die gleiche Farbe hatte wie ihre Augen. Sie war eine verdammt gute Gesprächspartnerin, stellte er fest, und er redete viel zu offen mit ihr.

»Ach, Ulysses, ich hab’ mich schon gewundert, wo du steckst.«

Slade blickte auf und sah einen großen wuscheligen Fellberg vorbeiflitzen, zum Sprung ansetzen und mitten auf Jessicas Schoß landen. Er hörte sie aufstöhnen und dann kichern.

»Verdammt! Wie oft muss ich dir noch erklären, dass du kein Schoßhündchen bist. Du brichst mir alle Rippen.« Sie drehte den Kopf zur Seite, doch die nasse, rosarote Hundezunge fand unfehlbar ihre Wange. »Schluss!«, keuchte sie, seine Zärtlichkeiten erfolglos abwehrend. »Runter mit dir«, befahl sie. »Geh sofort runter!« Ulysses bellte zweimal und leckte ihr weiter seelenruhig das Gesicht ab.

»Was«, fragte Slade, jedes Wort betonend, »ist das?«

Sie versuchte Ulysses noch einmal mit aller Kraft von ihrem Schoß zu schieben, doch der legte ihr nur treuherzig den Kopf auf die Schulter. »Ein Hund, selbstverständlich.«

»›Selbstverständlich‹ heißt bei einem Hund gar nichts.«

»Ulysses ist ein großer Pyrenäenhund«, gab sie keuchend zurück. »In der Hundeschule ist er dreimal durchgefallen. Du räudiger, nichtsnutziger Trottel, runter mit dir!« Ulysses stieß einen langen, zufriedenen Schnaufer aus und rührte sich nicht vom Fleck. »Bitte, helfen Sie mir, mich von dieser Bestie zu befreien«, wandte sie sich an Slade. »Diesmal hab’ ich bestimmt innere Verletzungen. Beim letzten Mal hockte der Köter geschlagene zwei Stunden auf mir, bis Betsy endlich nach Hause kam.«

Slade erhob sich und ging mit gerunzelter Stirn auf den Hund zu. »Beißt er?«

»Heiliger Herr im Himmel! Ich bin halb am Ersticken, und Sie fragen, ob er beißt!«

Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als Slade sich zu Jessica herabbeugte. »Man kann nie vorsichtig genug sein mit diesen Untieren. Vielleicht sind sie ja bösartig.«

Jessica kniff die Brauen zusammen. »Bist du das, Ulysses?« Seinen Namen hörend, richtete Ulysses sich wieder auf, um ihr noch einmal fröhlich übers Gesicht zu schlecken. »Zufrieden?«, meinte Jessica. »Jetzt packen Sie ihn bitte irgendwo und befreien Sie mich von ihm.«

Slade beugte sich vor und schlang die Arme um den Fellballen. Sein Handrücken streifte Jessicas Brust, als er seine Hand unter den Bauch des Tieres schob. »Verzeihung«, murmelte er und hievte den Hund hoch. »Allmächtiger, wie viel wiegt der Kerl denn?«

»An die sechzig Kilo, glaube ich.«

Kopfschüttelnd wuchtete Slade den Hund von ihrem Schoß und setzte ihn auf dem Boden ab, worauf er sich zu ihren Füßen einringelte und ihr seinen treuesten Blick zuwarf. Jessica holte tief Luft und schloss genervt die Augen.

Sie war von oben bis unten mit weißen Hundehaaren bedeckt. Ihre Frisur hatte sich aufgelöst, das Haar fiel ihr in lockigen Strähnen über die Schultern. Es hatte die Farbe von sonnengereiftem Weizen, wie Slade feststellte. Jetzt, da ihr Gesicht entspannt war, trat die Wölbung ihrer Wangenknochen noch stärker hervor. Ihre Lippen standen einen Spalt weit offen. Sehr feminine Lippen mit einer vollen Unterlippe. Sie versprach Leidenschaft – verborgene, leise siedende Leidenschaft. Der Mund und die Wangenknochen unterstrichen ihre Anziehungskraft, die Slades Puls sofort schneller schlagen ließ. Er durfte sie nicht begehren, ermahnte er sich im Stillen. Das wäre nicht nur unverantwortlich, sondern geradezu idiotisch. Er senkte den Blick wieder auf den Hund.

»Sie sollten etwas für seine Erziehung tun«, meinte er knapp.

»Ich weiß.« Mit einem leisen Seufzer schlug sie die brandyfarbenen Augen auf. Ihre Vernarrtheit in Ulysses ließ sie das Chaos und die blauen Flecken vergessen, die seine Gegenwart unvermeidlicherweise mit sich brachte. »Er ist ja so sensibel. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, ihn wieder in eine Hundeschule zu stecken.«

»Das ist unglaublich dumm«, gab Slade zurück. »So große Hunde wie er müssen erzogen werden.«

»Wollen Sie den Job übernehmen?«, erkundigte sich Jessica zuckersüß und begann einzelne Hundehaare von ihrem Rock zu zupfen.

»Danke, ich habe schon einen Job.«

Warum sollte sie sich darüber ärgern, dass er sie noch nie mit ihrem Vornamen angesprochen hatte?, fragte sie sich, während sie sich von ihrem Stuhl erhob und umständlich über den schlafenden Hund hinwegstieg. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte sie steif. »Der Ratschlag wurde gebührend zur Kenntnis genommen.«

Slade quittierte ihren Sarkasmus mit einem Schulterzucken. »Keine Ursache. Sie kommen mir ohnehin eher wie eine Pudelliebhaberin vor.«

»Tatsächlich?« Einen Moment lang studierte Jessica seine Augen. Ja, sie waren hart, entschied sie. Hart und kalt und zynisch. »Und mir kommt es so vor, als hielten Sie nicht viel von Pudelliebhaberinnen. Nehmen Sie sich noch einen Brandy. Ich gehe nach oben.«