Vorwort
Ein Junge sitzt im Schrank. Die Wäsche riecht nach Seife. Es ist der Duft seiner Mutter, das beruhigt ihn. Im Schrankinneren ist es dunkel. Der Junge hält ganz still, am liebsten würde er jetzt weinen. Im Zimmer suchen sie nach ihm. Es ist kein Spiel. Obwohl er sehr klein ist, spürt er, dass es um sein Leben geht.
Einige Dutzend Kilometer weiter fährt eine junge Frau auf dem Fahrrad. Am Lenker hängt eine Milchkanne, ihre Retter haben sie ihr mitgegeben. Eine Wehrmachtskontrolle stellt sich ihr in den Weg. »Den Ausweis, bitte.« Die junge Frau lässt sich ihre Angst nicht anmerken, sondern antwortet ruhig: »Na, Sie haben vielleicht Nerven, mich anzuhalten. Fast wäre ich vom Fahrrad gefallen!« Die Soldaten lassen sie weiterfahren – ohne zu kontrollieren.
Der Junge und die Frau überleben. Sie sind Ausnahmen, wenn man nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit geht. Wie alle der 15 Frauen und Männer, die in diesem Buch ihre Geschichte erzählen. Jede und jeder von ihnen dürfte nach dem Willen der nationalsozialistischen Rassenpolitik nicht mehr unter uns sein.
Dass sie überlebten, verdanken sie einer Reihe von Umständen. An erster Stelle ihrem Entschluss oder dem ihrer Eltern, sich nicht in das vom NS-Staat diktierte Schicksal für Juden zu fügen. Sie ignorierten Deportationsbescheide, besorgten sich gefälschte Papiere, widersetzten sich Verordnungen. Sie taten etwas, wofür vielen das Glück, der Mut, die Mittel und vor allem die Vorstellungskraft fehlten. Jeder Mensch sträubt sich, schreckliche Wahrheiten anzunehmen und sie zu Ende zu denken. Diese Frauen und Männer nicht.
Die Menschen, die in diesem Buch sprechen, sind heute alt. Zwischen 1920 und 1942 geboren. Die meisten von ihnen waren Kinder oder Jugendliche, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, viele von ihnen überlebten in Berlin. Unter den 3600 bekannten Namen von Juden, die in Berlin untertauchten, waren etwa 250 Kinder und Jugendliche.
Noch mehr als für die Erwachsenen blieben für Jüngere die gesetzlichen Anordnungen und Schikanen der Nazis ein Rätsel: Warum durfte man keine Haustiere mehr haben? Warum nicht mehr in die Schule oder ins Schwimmbad gehen? Warum verlor der Vater seine Arbeit? Was ist ein Jude überhaupt? So viele Fragen, auf die es keine plausiblen Antworten gab.
Man lernte als Heranwachsender schnell, sich der neuen Situation anzupassen. Zu weinen, im falschen Moment zu husten oder zu lachen konnte alles verraten. In der Illegalität mussten auch die Kleinsten funktionieren.
Natürlich brauchten die Untergetauchten jede Menge Fähigkeiten, um im Untergrund zu überleben. Vor allem mussten sie sich für ihre Umwelt unsichtbar machen. Wichtig war aber auch, im entscheidenden Moment eine gute Ausrede zu erfinden. Die meisten Männer und Frauen, die wir für unser Buch trafen, sind gute Geschichtenerzähler, manche sogar mit Schauspieltalent. Früh hatten sie gelernt, in fremde Rollen zu schlüpfen, die eigene Identität aufzugeben und jemand anderes zu werden.
Wir trafen auf kluge, noch immer lebenshungrige Gesprächspartner, die uns in ihren Bann zogen. Mit ihnen gemeinsam sitzen zu dürfen, ihnen Fragen zu stellen und dieses Buch aus ihren Erzählungen zu schreiben hat unser Leben bereichert.
Die meisten der Menschen, die hier im Buch zu finden sind, sind beeindruckend starke Persönlichkeiten. Wie sie den Terror überstanden und verarbeitet haben, ließ uns stets erstaunen. Etwa Rahel Mann, die heute 75 Jahre alt ist und als Kleinkind über ein halbes Jahr allein in einem Kellerverschlag hauste. Jeder, der ihre Geschichte liest, hätte Verständnis, wenn die aus diesem Kind erwachsene Frau für immer traumatisiert wäre.
Statt einer gebrochenen öffnete uns eine sehr fröhliche Frau die Tür. Rahel Mann lehnt die Opferrolle ab, tat dies lebenslang. Seit den 1980er-Jahren arbeitete sie als Psychotherapeutin, in ihrer Praxis nahm sie sich bewusst auch Kriegsverbrechern an. Sie ist neugierig, will immer noch alle Facetten des Lebens ausloten. Uns stellte sie ebenso viele Fragen wie wir ihr. Ob wir glücklich seien? Ob wir die Liebe auch wirklich gefunden hätten? Mit ihr konnte man wunderbar über Beziehungen reden, auch aus ihrem Liebesleben erzählte sie sehr offen. Nach ein paar Begegnungen blieb das Gefühl, eine neue Freundin gefunden zu haben.
Unfreiwillig frieren musste bei einem Treffen mit einer Überlebenden dagegen Alexander Meschnig. Er saß Ende November allein bei der Kunsthistorikerin und Religionswissenschaftlerin Miriam Magall in ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Trotz des kalten Wetters und einer stark befahrenen Straße blieb das Fenster geöffnet. Er zog seine Jacke an, doch es wurde nicht geschlossen. Erst auf seine Frage nach dem Grund erklärte ihm die sehr gebildete und gläubige Jüdin, dass es einer alleinstehenden Frau nicht gestattet sei, einen nicht verwandten Mann in ihrer Wohnung zu empfangen. Eigentlich müsse die Eingangstür geöffnet bleiben. Da dies aber nicht möglich sei, lasse sie das Fenster einen Spalt weit offen. So könnten die fremden männlichen Energien nach draußen gelangen. Beim zweiten Termin war das Vertrauen zwischen den beiden gewachsen. Das Fenster blieb geschlossen.
Viel gelacht haben wir, als wir bei den Michalskis auf dem Sofa saßen, trotz der bewegenden Geschichte, die sie erzählten. Wir hatten sie zufällig in einer Ausstellung im Anne-Frank-Museum getroffen und uns spontan mit ihnen verabredet. Franz Michalski, heute 78 Jahre, hat vor einigen Jahren einen Schlaganfall erlitten. Die Erinnerungen sind nach wie vor alle da, nur das Sprechen fällt ihm seither schwer. Die richtigen Wörter wollen einfach nicht in seinen Kopf kommen. Für ihn sprach deshalb seine Frau Petra. Die beiden sind seit über 60 Jahren ein Paar. Petra Michalski kennt jedes noch so kleine Detail, seine Geschichte ist ihre geworden. Sie benutzt seine Worte.
Franz Michalski setzte das Erzählte dabei wie ein Schauspieler in Handlung um. Im Wohnzimmer schob er für uns unsichtbare Brote unter den Teppich, weil er als kleiner Junge aus Angst vor den Nazis essgestört war. Und als er sich pantomimisch von seinem damaligen Hund, der immer kläffend der Straßenbahn nachjagte, quer durchs Zimmer ziehen ließ, glich er Charlie Chaplin. Die Michalskis sind ein beneidenswertes Paar. Ihre tiefe Verbundenheit und Liebe sind für jeden sofort spürbar.
Wunderbar war auch die Begegnung mit Walter Frankenstein, der als junger Mann mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern im Untergrund überlebte. Er wohnt heute in Stockholm. Wir besuchten ihn zweimal im Hotel Savoy, wo er seit 30 Jahren bei jedem Berlin-Besuch absteigt. Früher begleitete ihn seine Frau Leonie, die 2009 verstarb.
Als er uns in der Hotellobby abholte, sah man ihm nicht nur seinen feinen Humor sofort an, sondern erkannte im Gesicht dieses fast 90-jährigen Mannes auch den kleinen Jungen von den Kindheitsfotos. Auf dem Weg zu seinem Hotelzimmer, seit 30 Jahren dasselbe, forderte er uns mit einem Zwinkern auf, sich schräg gegenüber von seinem Raum an der Tür zu verbeugen. Er mache das immer so. Hier hatte nämlich früher die Garbo gewohnt. Ihr Name prangt in goldenen Lettern an der Tür. Natürlich verbeugten wir uns ebenfalls.
Eugen Herman-Friede besuchten wir in der Nähe von Frankfurt im Taunus. Er wohnt in einem alten Fachwerkhaus, eine kleine Höhle, in die man sich behaglich zurückziehen kann. Die Zimmer sind geschmackvoll eingerichtet, der Hausherr, Mitte 80, ist ein noch immer gut aussehender Mann. Er ist voller Energie und Optimismus und sieht lieber nach vorne als zurück.
Amüsiert erzählte er davon, dass er bei seinen Vorträgen oft von Schülern gefragt wird, ob er angesichts seiner Erlebnisse schlafen könne. Seine für manche wohl etwas überraschende Antwort lautet stets: »Ich hatte noch nie einen Albtraum. Ich habe mich nie wehrlos gefühlt.« Diese Tatsache hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass er der einzige unter unseren Überlebenden ist, der als 17-Jähriger aktiv in einer Widerstandsgruppe tätig war. Er musste die NS-Zeit nicht, wie die meisten, passiv ertragen. Das hat ihn geprägt.
Auch wenn sich die Schicksale, das Erlebte und der Umgang damit sehr unterscheiden, eine Frage stellen sich alle Zeugen, die wir trafen: Warum habe gerade ich überlebt? Es ist die eine Frage, die sich über ihr Leben legt. Ohne Zweifel brauchte jeder Einzelne Glück. Natürlich bedurfte es auch eines starken Überlebenswillens und einer gewissen Furchtlosigkeit. Aber das waren keine Garantien. Viele mutige Leute, die sich den Anordnungen des Regimes nicht fügten, sind in der NS-Zeit umgekommen.
Es gibt für uns nach allen Gesprächen keinen »Typus« des Überlebenden, dessen Eigenschaften oder Charakter klar umrissen werden könnte. In den Gesprächen spürten wir aber eine Art von Energie, die für alte Menschen erstaunlich ist. Vielleicht sind es diese Kraft und der ihr innewohnende Lebenswille, die unsere Gesprächspartner bis heute herausheben und die ihr Überleben möglich machten. Aber das ist nicht mehr als eine Vermutung.
Allen Frauen und Männern, die sich für dieses Buch zur Verfügung gestellt haben, gilt unser besonderer Dank. Ihnen und ihren Erinnerungen ist dieses Buch gewidmet.
Berlin, Oktober 2012
Tina Hüttl und Alexander Meschnig
Einleitung
Die damaligen Kinder und Heranwachsenden sind heute die letzten lebenden Zeugen des Nationalsozialismus. Hinter der Idee, dieses Buch zu schreiben, stand der Wunsch, die Geschichten derer noch einmal zu erzählen, die im Dritten Reich in Schrebergärten verborgen, als arische Kinder getarnt und zwischen vielen helfenden Händen herumgereicht wurden. Aus ihrem persönlichen Erinnern heraus, mit ihren Worten – zum Teil unvollständig, stets unkommentiert und dadurch authentischer und nah an ihren Emotionen.
Das Gefühl, dass die Zeit gegen uns arbeitet und bald niemand mehr da sein wird, der selbst erzählen kann, hat uns bei dieser Arbeit ständig begleitet. So mussten wir bei der Suche nach Überlebenden in ganz Deutschland öfters die Erfahrung machen, dass Personen, von denen wir die Namen kannten, nicht mehr lebten, schwer erkrankt oder auf Hilfe und Pflege angewiesen waren. Andere waren psychisch nicht in der Lage, über ihre Erlebnisse zu berichten. Wieder andere lebten längst weit weg von Deutschland, emigriert in die USA, nach Israel oder Schweden.
Gisela Jacobius, eine schlagfertige Berlinerin, die dank ihrer frechen Sprüche und ihres umwerfenden Charmes mehrere Ausweiskontrolleure von ihrer Arbeit ablenkte und so überlebte, ist vor Beendigung des Buches verstorben. Ebenso Rolf Joseph, den wir als außergewöhnlichen Mann in Erinnerung behalten werden. Wir hätten den beiden das Buch gerne gedruckt gezeigt. Es ist ein Trost zu wissen, dass ihre Geschichten dadurch vielen Menschen zugänglich gemacht werden.
Dass man, um zu überleben, Glück brauchte, ist eine unbestreitbare Tatsache. Manche unserer Zeitzeugen sprachen im Nachhinein von einem Wunder. Angesichts der Umstände und der unglaublichsten Zufälle mehr als zu Recht. Aber außer Glück brauchte man vor allem Mut.
Daneben gab es Dinge, die nicht beeinflussbar waren, das eigene Schicksal aber mitbestimmten. Jeder hier erzählte Fall ist Zeugnis dafür, dass auch die NS-Bürokratie in ihrer furchtbaren Präzision nicht absolut perfekt war. Insbesondere gegen Ende des Krieges, infolge der alliierten Bombenangriffe, kam die Vernichtungsmaschinerie ins Stocken. Unterlagen fehlten, Behörden waren zum Teil nicht mehr koordiniert. Einzelne Beamte, Polizisten oder NS-Funktionäre drückten, wohl angesichts der kommenden Niederlage, manchmal beide Augen zu. Angesetzte Gerichtsprozesse fanden nicht mehr statt. Transporte nach Auschwitz und in die anderen Vernichtungslager im Osten wurden aufgrund des Vorrückens der Roten Armee eingestellt.
All diese Stockungen waren nicht die Regel, aber die wenigen Ausnahmen ermöglichten vereinzelt ein Überleben. In jedem Fall vergrößerte der Schritt in den Untergrund aber die eigenen Chancen. In Berlin, der weitaus größten jüdischen Gemeinde, lebten Anfang 1933 noch 170 000 Juden. Etwa der Hälfte gelang es bis 1940, Deutschland zu verlassen. Mit Beginn der Deportationen im Jahre 1941 versteckten sich circa 6000 (3600 sind namentlich bekannt) von den insgesamt 10 000 bis 15 000 im Deutschen Reich untergetauchten Juden in Berlin. Viele flüchteten auch aus anderen Teilen Deutschlands in die Hauptstadt. Die meisten der Überlebenden in diesem Buch, wenn auch nicht alle, hielten sich verborgen in ihr auf. Die Anonymität der Großstadt erhöhte die Chance, unentdeckt zu bleiben. Von den in ganz Deutschland versteckten Juden erlebten 5000 das Kriegsende, etwa 1500 davon in Berlin. Von den über 50 000 Menschen, die noch bis Frühjahr 1945 aus Berlin in Lager deportiert wurden, waren es lediglich 2000.
Unterzutauchen bedeutete einen radikalen Schnitt mit dem bisherigen Leben. Viele der Untergetauchten waren nach preußischen Grundsätzen erzogene deutsche Juden. Sich Anordnungen zu widersetzen fiel ihnen schwer. Es gibt Geschichten von Deportierten, die vor ihrer Abholung durch die Gestapo noch ihre Wäsche ausbesserten und ihre Wohnung gründlich putzten. Man sollte ihnen schließlich nichts Schlechtes nachsagen. Aus heutiger Sicht ist das kaum vorstellbar, damals war es aber nicht untypisch.
Dem Gang in die Illegalität war in allen Fällen ein langer Prozess der Ernüchterung vorangegangen. Die deutschen Juden hatten immer weniger Grund zu hoffen. Ihre bekannte Welt und ihre vertrauten Normen hatten sich nach 1933 mehr und mehr aufgelöst. Es gab keine Sicherheiten mehr in Bezug auf ihr Leben. Voraussagen über das, was noch kommen würde, waren unmöglich geworden.
Trotzdem war es ein unendlich schwerer Schritt, ihren Verfolgern und der staatlichen Repression aktiv entgegenzutreten. Viele warteten sehr lang, die meisten zu lange. Auch unsere Männer und Frauen tauchten erst nach 1943 unter, als die letzten verbliebenen Juden, die Zwangsarbeit in deutschen Fabriken leisteten, in der als »Fabrikaktion« bekannt gewordenen Verhaftungswelle von Zwangsbeschäftigten deportiert wurden.
Auslöser für den Schritt in die Illegalität war in der Regel ein einzelnes Ereignis: die Abholung Verwandter; die schriftliche Aufforderung der Gestapo, sich an einem der Sammelplätze für den Transport einzufinden; die konkrete Angst vor einem Denunzianten oder die rechtzeitige Warnung durch Dritte. Erst Erlebnisse wie diese machten ihnen schlagartig klar, dass sie nun eine Entscheidung treffen mussten.
Für das Überleben im Versteck waren sie auf vielfache Unterstützung angewiesen: ein einzelner Beistand oder meistens ein Netz von Helfern; verschiedene Unterkünfte; die Möglichkeit, Nahrung zu beschaffen; gefälschte Papiere. Zimmer und Wohnungen mussten öfters gewechselt, bei angekündigter Gefahr durften sie auch nicht mehr betreten werden. Das Risiko, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen dennoch entdeckt oder denunziert zu werden, war zu jedem Zeitpunkt bis Kriegsende äußerst hoch. Zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein konnte stets den eigenen Tod und den von Angehörigen bedeuten.
Der Fokus der historischen Forschung lag lange Zeit auf den Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager. Die untergetauchten Juden brauchten oft viele Jahrzehnte, bis sie anfingen, über ihre Erlebnisse zu erzählen. Keiner der Gesprächspartner in diesem Buch machte vor den 1990er-Jahren seine Geschichte öffentlich. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die Schicksale von jüdischen Kindern und Jugendlichen in der NS-Zeit zunächst nicht als wichtiges Thema betrachtet wurden. Für die Erlebnisse und Traumata von jüngeren Versteckten war kaum Platz.
Einige der Männer und Frauen berichten in diesem Buch daher zum ersten Mal detailliert über ihre Erfahrungen. Andere sind bereits routinierte Erzähler geworden. Einige der heute noch Lebenden kennen sich untereinander, treffen sich im kleinen Kreis oder bei jährlichen Gedenkveranstaltungen. Andere sind als Zeitzeugen in der Öffentlichkeit bekannt oder haben ihre Geschichte selbst in Buchform herausgegeben.
Für alle Schicksale, die hier erzählt werden, gilt, dass sie, wie jede persönliche Geschichte, Konstrukte sind. Jeder Mensch legt sich im Laufe seines Lebens seine Biografie zurecht, sucht nach Kohärenz. Weil wir Interviews mit unseren Zeitzeugen und – soweit vorhanden – ihre Autobiografien zuvor gelesen hatten, fiel uns auf, dass sie manchmal bis ins Detail identische Worte benutzten. Wer seine Geschichte sehr oft erzählt, weicht nur noch in Nuancen von ihr ab.
Dass sich in der Erinnerung Gehörtes, Gelesenes und Erlebtes vermischen, lässt sich prinzipiell nicht vermeiden, insbesondere wenn man zum Zeitpunkt der Ereignisse noch ein Kind und von der Überlieferung Erwachsener abhängig war. Auch Namen und Personen, die etwa für die jüdische Gemeinde als Symbol für die Vernichtungspolitik stehen, können im Erinnern zu geradezu mythischen Gestalten werden. So wollen einige der mit den Nazis kollaborierenden berühmt-berüchtigten jüdischen Greiferin Stella Goldschlag, die für den Tod unzähliger Untergetauchter verantwortlich war, begegnet sein. Der SS-Hauptscharführer Walter Dobberke, Leiter des jüdischen Sammellagers in der Großen Hamburger Straße, taucht in einigen Erzählungen an unterschiedlichsten Orten Berlins auf. Auch manche Unstimmigkeiten, unklare Zeit- oder Ortsangaben, gehören zum menschlichen Gedächtnis, das lange zurückliegende Ereignisse nicht präzise behalten kann. In der Regel haben wir aber nur bei wirklich auffallenden Abweichungen Daten korrigiert.
Wie die Illegalität von Einzelnen erlebt wurde, war sehr unterschiedlich: vom stillen, passiven Ausharren, insbesondere bei kleinen Kindern, bis hin zum Extremfall des organisierten Widerstands, wie ihn etwa Eugen Herman-Friede gegen das Regime leistete.
Auch die Frage, was damals ein Versteck war und sein konnte, zerfällt in den Erzählungen in eine Vielzahl unterschiedlichster Orte und Situationen: von einem dunklen Kellerloch, einer ausgebombten Häuserruine bis hin zum Haus mit Garten auf dem Land, in relativer Sicherheit und mit genügend Lebensmitteln. Alle Formen von Verstecken waren möglich, wenngleich ein Versteck die Ausnahme blieb. In der Regel waren es immer mehrere, und der Ortswechsel war vielfach eine Bedingung für das Überleben.
Die Grenze zwischen legal und illegal ist auch nicht in jedem Fall genau zu bestimmen. Sie bildet eine Grauzone, die keine eindeutige Trennung erlaubt. Vor allem für sogenannte Geltungsjuden, Menschen mit einem jüdischen und einem nichtjüdischen Elternteil, war nie klar, was die Politik der Nazis in naher Zukunft an Änderungen bringen würde. Manche tauchten unter, bevor sie gesucht wurden. Manche blieben sichtbar und unsichtbar zugleich. Auch das war möglich. In einem unserer Fälle rettete eine solch paradoxe Situation das Leben. Während der Deportationsbefehl der Gestapo an die alte Adresse ging, war die Angeschriebene mit Mutter und Schwester in einer Gartenlaube versteckt. Dennoch ging sie als junges Mädchen regelmäßig an den ihr zugewiesenen Zwangsarbeitsplatz und heftete sich kurz vor der Fabrik stets den gelben Stern an. Warum die Gestapo aber nie vor Ort auftauchte und sie an ihrem Arbeitsplatz abholte, bleibt auch für die Betroffene ein großes Rätsel.
In vielen Geschichten existiert dieser eine unerklärliche Punkt, an dem die ansonsten perfekte Nazimaschinerie aus unerfindlichen Gründen versagte. Diese wenigen Lücken im »System« ermöglichten ein Überleben.
Auch wenn jede der Geschichten in diesem Buch eine ganz individuelle ist, fanden wir Gemeinsamkeiten. Zunächst fällt auf, dass das Judentum in fast allen Familien nur eine geringe Rolle spielte. Man ging vielleicht in die Synagoge oder feierte den Sabbat. Christliche Feste wie Weihnachten waren aber ebenso selbstverständlich. Das zeigt, dass die Juden sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland in der Regel mehr deutsch als jüdisch fühlten. Umso absurder war es für diese Menschen, dass die Rassendoktrin der Nationalsozialisten sie auf ihr Sein als Jude oder Jüdin reduzierte.
Dass die eigene Familie »preußischer war als die Preußen«, diese Erfahrung machten viele unserer Interviewten als Kinder. In einigen Fällen standen die jüdischen Väter oder Großväter im Ersten Weltkrieg an der Front und kämpften für Deutschland. Verwundet und als Kriegsinvaliden heimgekehrt, mit Eisernem Kreuz dekoriert, hielten sie es für undenkbar, dass ihnen in Deutschland eine reale Gefahr, auch nach dem 30. Januar 1933, drohen könnte. Die Herrschaft der Nationalsozialisten hielt man für eine kurze, vorübergehende Episode. Das Regime wurde schlicht als »undeutsch« gesehen, seine Etablierung als eine Art temporäre Krise. Die Nazis und ihre unverhohlene Primitivität hatten mit dem Deutschland, das man liebte, nichts zu tun.
Diese fatale Fehleinschätzung führte zu heftigen Auseinandersetzungen in den jüdischen Familien: Die Jüngeren, die oft eine realistischere Sicht hatten und sich auch leichter von der alten Heimat lösen konnten, wollten auswandern. Die Eltern weigerten sich, bis hin zur Drohung, die Kinder zu enterben, wenn sie ins Ausland gingen. Erst sehr spät, in der Regel zu spät, kam die Einsicht, dass es als Jude unter den Nazis keinen Schutz mehr gab. Egal welche Verdienste man für sein Land errungen hatte.
Vielleicht ist die wichtigste gemeinsame Erfahrung aber die Tatsache, dass es Helfer und Helferinnen in der schwersten Not gab. Menschen, die unter großer Gefahr Schutz boten, ein Dach über dem Kopf, Lebensmittel, manchmal auch gegen Bezahlung. Man geht davon aus, dass auf jeden Juden, der im Versteck überlebte, zehn nichtjüdische Helfer kamen. Aus welchen Motiven sie auch handelten, sie ermöglichten das Überleben und zeigten, dass es im Deutschland der Mörder und Mitläufer auch andere gab, die dem Regime kritisch gegenüberstanden.
Das Spannendste an allen Geschichten ist für uns gerade das Uneindeutige. Selbst in einem diktatorischen Regime wie dem Nationalsozialismus gab es nicht nur Schwarz und Weiß. Ein NS-Ortsgruppenführer, der wissentlich eine Mutter mit ihren beiden jüdischen Kindern mit Essen versorgte, war ebenso eine reale Figur wie die jüdische Greiferin.
Es sind diese ambivalenten Erfahrungen, die für unsere ehemals Verfolgten bis heute den Blick auf Deutschland in der NS-Zeit bestimmen. Für manche war es nach 1945 emotional unmöglich, Deutschland zu verlassen. Es war und blieb ihre Heimat. Für manche war es unmöglich, zu bleiben: Sie wanderten für viele Jahre aus, hauptsächlich nach Israel oder Amerika, manche kehrten im Alter wieder zurück. Heute sind einige als Zeitzeugen in Schulen oder auf Gedenkveranstaltungen als Redner präsent. Es ist ihnen wichtig, der Nachwelt auch noch so kleine Details über das Terrorsystem der Nazis zu berichten – und dabei nicht nur über sich zu sprechen, sondern über ihre Mütter, Väter, Familien und ermordeten Verwandten. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, die Erinnerung aufrechtzuerhalten. Ihr wollen sie am Ende ihres Lebens gerecht werden.
Unser Dank geht abschließend an alle, die uns geholfen haben, dieses Buch zu verfassen. Namentlich Marcel Prins, der mit einem ähnlichen Projekt in Holland den ersten Anstoß dafür gab. Des Weiteren Horst Selbiger, dem Vorsitzenden des Vereins Child Survivors, einer bundesweiten Gruppe von Holocaust-Überlebenden, der uns zu Beginn der Recherchen Zugang zu den Mitgliedern des Vereins vermittelte. Über diese Gruppe konnten wir einige Zeitzeugen finden. Barbara Schieb, Mitarbeiterin der Berliner Gedenkstätte Stille Helden, hat uns in unbürokratischer Weise bei der Suche nach Überlebenden unterstützt, von denen zwei im Buch ihre Geschichte erzählen.
Leider trafen wir aber auch auf »Widerstände«, wo wir sie nicht erwartet hatten. Einzelne Institute oder Stiftungen, die wir um Hilfe bei unserer Recherche baten, konnten oder wollten uns nicht unterstützen. Mehr und mehr hatten wir das Gefühl, dass es so etwas wie »exklusive Rechte« auf Zeitzeugen gibt, die einzelne Einrichtungen oder Personen nur ungern abtreten. Natürlich ist uns bewusst, dass auch dieses Buch einen Teil des sogenannten Shoah Business darstellt, innerhalb dessen eifersüchtig darüber gewacht wird, wer welches Terrain besetzt und wer Zugang zu Informationen erhält. Personenrechte und der Schutz der Anonymität mögen eine Rolle gespielt haben. Dennoch waren wir überrascht, wie ablehnend manche Haltung war.
In der Regel verlief der Kontakt zu den Überlebenden zunächst schriftlich, die meisten Angeschriebenen meldeten sich schnell zurück, bereit, über ihre schmerzhaften Erlebnisse zu sprechen und auch Verbindung zu Menschen herzustellen, die ähnliche Schicksale hatten. So begegneten wir weiteren Personen. Da wir von Beginn an die Suche auf versteckte Kinder und junge Menschen begrenzen wollten, die in Deutschland illegal überlebt hatten, konnten wir nicht alle, die wir trafen, in unser Buch aufnehmen.
Nicht die Geschichten von Kindern und Jugendlichen, die den Krieg in Konzentrationslagern überlebten, nicht die von Juden, die sich in Ungarn, Polen, Kroatien oder anderen Ländern versteckten, aber auch nicht jene von Zeitzeugen wie Horst Selbiger, der als »Halbjude« zwar allen Restriktionen in NS-Deutschland ausgesetzt war, aber nicht untertauchen musste. Sie alle sind nicht das Thema dieses Buches. Ihre Geschichten bleiben noch zu schreiben.
Franz Michalski
»Mein Vater konnte alles besorgen, auch überlebenswichtige Kontakte.«
Die Nazis haben alles verändert. Sie haben aus Menschen, die allenfalls auf dem Papier jüdisch waren, Juden gemacht, aus sanften Männern Kämpfer und aus fröhlichen Kindern ernste Erwachsene.
Meine Mutter kam aus einer jüdischen Familie in Breslau. Sie war nie religiös. Um meinen nichtjüdischen Vater 1933 heiraten zu können, konvertierte die nichtreligiöse Lilli Brann zur nichtreligiösen Katholikin Lilli Michalski. Erst als sie nicht mehr dazugehörte, trauerte sie dem Judentum hinterher, nicht dem Glauben, vielmehr seiner Toleranz und Humanität.
Mein Vater war ein liebevoller Mann und ein tüchtiger Handelsvertreter für kosmetische Produkte der Firma Schwarzkopf. Nachdem man ihm wegen seiner Ehe mit einer Jüdin das Geschäft weggenommen hatte, wurde aus ihm ein Mann für besonders gefährliche Aufträge.
Ich wurde sehr früh erwachsen. Meine Kindheit endete, als wir 1939 von Görlitz nach Breslau zogen.
Ich war fünf Jahre und musste alleine einkaufen gehen, weil meine Mutter in Breslaus Geschäften nicht bedient wurde. Im katholischen Kindergarten quälten mich die Schwestern. Ich litt unter Essstörungen, schob meine Brote unter den Teppich, wenn meine Mutter nicht hinsah. Als am 1. September 1939 die Soldaten in einer Parade mit Trommeln in den Krieg auszogen, winkte ich ahnungslos vom Balkon. Meine Mutter zog mich schnell runter und brach in Tränen aus. Danach wusste ich, dass wir nicht erwünscht waren. Ich hielt still und nahm mir vor, sie zu beschützen. Sie und meinen Bruder, der 1940 auf die Welt kam.
Mein jüngerer Bruder Peter und ich waren eine verschworene Gemeinschaft. Als er drei Jahre alt war, brachte uns unsere Mutter mit dem Zug nach Schreiberhau ins Riesengebirge zu den Ursulinen. Der Frauenorden betrieb dort ein Kinderheim. Es war das Frühjahr 1943.
Die Stadt lag im Flusstal zwischen den Zacken zweier Gebirge, das Kinderheim etwas abseits vom Bahnhof mitten im Wald. Beim Abschied weinten wir, aber Mutter sagte uns, hier seien wir sicher. Sie müsse etwas vorbereiten und würde uns bald abholen.
Die frommen Ursulinen waren schrecklich streng zu uns. Wenn wir nach dem Wecken nicht sofort aufsprangen, schubsten sie uns grob aus dem Bett. Peter bekam, wenn er vor Heimweh weinte, nichts zu essen. Mich nannten die Ursulinen nicht Franz, sondern den »Judenlümmel«. Die anderen Kinder riefen sie beim Namen. Auch die Kinder waren gemein. Wir durften nicht mitspielen, nur zugucken. Abends im Bett, wenn alle schliefen, kam ich zu Peter und versprach ihm, dass wir abhauen würden. Erst dann schlief er ein.
Ich halte mein Versprechen. Peter und ich versuchen zu fliehen, doch noch vor dem Bahnhof holen die Schwestern uns ein. Als Strafe muss ich einen Brief an Mutter schreiben. Sie geben mir einen Stift und einen Papierbogen. Ich soll mein unverschämtes Verhalten schildern. Ich beginne mit »Liebe Mutter«, ich kann nicht lügen. In mir sind so viele Worte, die rausmüssen. Mein Stift fliegt übers Papier, ich schreibe ihr von den Schlägen, von Franz, der weint, und den Wutausbrüchen der Schwestern, vor denen ich ihn beschützen und daher weglaufen wollte. Danach fühle ich mich besser, aber ich habe Angst. Schnell zerreiße ich den Brief in kleine Schnipsel und werfe ihn in den Papierkorb. An Mutter verfasse ich einen kurzen Text in harmlosen Wörtern. Sie hat mir beigebracht, wie ich einen Hilferuf verschlüssele.
Die Schwestern haben den ersten Brief gefunden und kleben die Schnipsel aus dem Papierkorb wie ein Puzzle zusammen. Sie schreien mich an und hauen mir mehrmals auf den Hinterkopf. Jetzt darf ich nicht raus, muss den ganzen Tag still sitzen. Ich denke unablässig an die Nachricht für Mutter. Ob sie den Hilferuf versteht?
Sie versteht. Ein paar Tage später kommt Mutter und holt uns ab. Auf dem Heimweg steigen wir zweimal aus, nehmen den nächsten Zug. Meine Mutter hat Angst, dass sie verfolgt wird. Sie trägt keine Papiere bei sich, ihr gelber Stern liegt zu Hause in der Wäschekommode. Ich bin glücklich, wieder in Breslau zu sein.
Doch bald darauf mussten wir Breslau wieder verlassen. Ein Freund von Vaters Bruder arbeitete bei der Polizei. Er hieß Alfons Thienelt und hatte ein lahmes Bein. Weil er als Soldat untauglich war, hatte man ihn bei Kriegsbeginn dienstverpflichtet. Ihm unterstand die Judenkartei von Breslau. Bis jetzt hatte er die Michalski-Akte verschwinden lassen, indem er unsere Karte immer wieder nach hinten steckte.
Im Oktober 1943 war eine geheime Sonderaktion angekündigt, die diesmal auch die Kinder aus »Mischehen« betraf. Wir waren fast die letzten Juden in Breslau. Großmutter war bereits abgeholt worden, Großvater hatte sich kurz vor der Deportation selbst umgebracht. Alfons Thienelt warnte uns, es gab keine Karte mehr, hinter der er unsere verstecken konnte. Meine Mutter packte zwei kleine Koffer. Mein Vater, der unter der Woche wegen seiner Arbeit für die Firma Schwarzkopf in Berlin lebte, holte uns ab.
Er hatte ein helles, großes Zimmer in Berlin, bei einer Wirtin in der Mommsenstraße. Wir durften es nach unserer Ankunft kurz sehen. Um uns nicht zu gefährden, stiegen wir mit Mutter in einem kleinen, schon älteren Hotel am Alexanderplatz ab. Drei Tage später zogen wir in eine Pension, ebenfalls in der Nähe des Alexanderplatzes. Ich weiß nicht, wie oft wir in den folgenden Monaten das Quartier wechselten. Wir blieben nie lange, meist eine Woche, bis entweder der Wirt Fragen stellte oder wir aus Angst vor einer Razzia weiterzogen. Wir durften mit niemandem sprechen. Wenn das Zimmermädchen in der Früh anklopfte, waren wir schon auf der Straße. Weil es sicherer sei, sagte Mutter.
Im Winter 1943 lag viel Schnee. Wir zogen alles an, was wir mithatten, und liefen herum. Stundenlang. Manchmal trug ich Peter, wenn ihm die Beine wegknickten. Einen Kinderwagen besaßen wir nicht. Tagsüber saßen wir für ein paar Stunden am Bahnhof. Manchmal auch in einer der großen Bierschwemmen. Peter und ich schliefen im Sitzen. Mutter nie. Wir waren erschöpft und hungrig, die Lebensmittelmarken, die meine Eltern zuvor über Monate angesammelt hatten, waren fast aufgebraucht. Ein paarmal brachte die Witwe des Firmengründers Hans Schwarzkopf uns Kekse. Sie war es auch, die uns Kinder zur Weihnachtsfeier der Firma einlud.
Vater zeigte mir einmal im Werk, wie Shampoo gemacht wird. Bei Schwarzkopf wird es ohne Seife hergestellt, es ist das erste flüssige Shampoo, eine Erfindung von Hans Schwarzkopf. Ich fühle mich nicht wohl, als Vater Peter und mich in Tempelhof vor der Werkskantine absetzt. Sie ist festlich geschmückt, und es gibt einen Weihnachtsbaum mit Lametta. An einem langen Tisch sitzen die Kinder der Mitarbeiter. Wir bekommen einen Korb mit Süßigkeiten. Ich würde gerne die Schokolade auswickeln, traue mich aber nicht. Ein großer, schwarz gekleideter Mann betritt den Raum. Ich bemerke Peters Angst, auch ich fürchte mich vor ihm. Der Mann zieht beim Laufen ein Bein nach, das, wie das andere, in einem schweren schwarzen Stiefel steckt. Als er näherkommt, kann ich das SS-Abzeichen auf seiner Uniform sehen. Der Mann lächelt, schreitet die Tafel ab und bleibt bei einem Jungen stehen. Zum Glück nicht bei mir.
Es war Heinz Schwarzkopf, einer der drei Söhne, die die Geschäftsbereiche der Firma leiteten. Er hatte ein Bein verloren und war das Aushängeschild der Firma bei den Nazis. Bereits 1933 war er in die SS-Reiterstaffel eingetreten. Mutter und uns war er unheimlich. Ende 1938 hatte die Firma Schwarzkopf meinem Vater, der ihre Produkte in Niederschlesien vertrieb, die Vertretung entzogen und sie einem SS-Mitglied übergeben. Mein Vater hatte sich geweigert, sich von meiner Mutter scheiden zu lassen. Heinz Schwarzkopf wusste zwar, dass mein Vater weiter »in der Außendienstleistung« für die Firma unterwegs war, duldete es aber stillschweigend. Die alte Frau Schwarzkopf, seine Mutter, und der Vertriebsdirektor Willy Weber, die meinen Vater sehr schätzten, hatten Heinz Schwarzkopf dazu gedrängt.
Ende Dezember 1943 kehrten wir zurück in unsere Breslauer Wohnung. Ich war froh, Berlin zu verlassen, die Monate in Hotels und auf der Straße waren schrecklich gewesen. Alfons Thienelt hatte meinen Vater angerufen und Entwarnung gegeben. In den nächsten Wochen gingen jedoch, zumindest aus meiner Kindersicht, seltsame Dinge in unserer Wohnung vor.
Peters Kinderbett verschwand einfach. Ich fand meine Rollschuhe nicht mehr, mit denen ich mich früher von unserem Hund hatte ziehen lassen. Als ich abends aus meinem Zimmer kam, sah ich Mutter, wie sie das Porzellan-Service einwickelte. Nur unseren Esstisch behielten wir noch.
Eine Breslauer Spedition brachte die Kisten in ein Lager von Schwarzkopf im niederschlesischen Naumburg, wie ich nach dem Krieg erfuhr. Wir sahen unsere Sachen nie wieder, wie auch das Auto meines Vaters, einen DKW, vor dem er uns gern fotografiert hatte. Einen Teil der Kisten versteckten meine Eltern auch in Thiemendorf nahe Görlitz, wo die Eltern meines ehemaligen Kindermädchens Erna einen Bauernhof hatten.
Franz Michalski, geb. 1934 in Görlitz [1]
Im Oktober 1944 bekam meine Mutter einen Brief. Es handelte sich um die Aufforderung zur Zwangsarbeit in einem Lager. Die erste hatte sie ignoriert und seitdem nichts mehr gehört. »Im Interesse einer reibungslosen Abfertigung wird gebeten, die angegebene Zeit genau einzuhalten«, las ich vor. Als Datum war der 17. Oktober 1944 angegeben, als Uhrzeit 15.30 Uhr. Der 17. Oktober war mein zehnter Geburtstag.
Fast zeitgleich wurde mein Vater in Berlin aufgefordert, sich »unbedingt erforderlich« am 23. Oktober 1944 bei der Organisation Todt zur Zwangsarbeit zu melden. Mein Vater verließ die Stadt sofort und ging in den Untergrund. Er wurde steckbrieflich zur reichsweiten Fahndung ausgeschrieben. Keiner konnte uns mehr helfen, auch Alfons Thienelt nicht. Es gelang ihm nicht, Mutters Abholung zu verzögern.
An meinem Geburtstag riecht die Wohnung schon mittags nach Kuchen. Das Mehl dafür haben wir seit Wochen angespart. Peter und ich sollen den Esszimmertisch festlich decken. Unser Silberbesteck gibt es nicht mehr, wir nehmen die einfachen Gabeln und Löffel. Mutter bringt eine Kanne mit Kaffee und gießt ihn in Tassen. Dann zündet sie die Kerzen an, wir dürfen nichts anrühren.
Es ist 15.30 Uhr, als es an der vorderen Tür klopft, die Gestapo ist pünktlich, wie im Brief angekündigt. Meine Mutter nimmt uns an der Hand. Neben dem Dienstbotenausgang stehen zwei Koffer, darin nur das Allernötigste. Über die Hintertreppe laufen wir durch den Hof in die Seitenstraße. So haben wir es die Tage zuvor miteinander abgesprochen. Ich trage einen Koffer, meine Mutter den anderen. Wir eilen Richtung Bahnhof. Ich fühle mich gehetzt. Nicht wegen der Gestapo, die uns verfolgen könnte. Meine Sorge ist, dass wir den Zug verpassen.
Am Bahnhof wartet Gerda Mez, eine Kollegin von Vater bei Schwarzkopf. Sie hat die Fahrkarten besorgt. Ich mag Gerda. Sie ist groß, blond, etwas füllig, so ganz anders als meine dunkle, zarte Mutter. Gerda scheint furchtlos. Sie hasst die Nazis, weil ihr Verlobter vor ihnen nach Palästina fliehen musste und sie nicht mehr nachkommen konnte. Sie schimpft manchmal laut über sie, äfft sie nach, auch vor uns Kindern. Sie bringt uns zum Lachen.
Der Zug nach Wien ist so voll, dass wir uns im Gang drängeln. Genau wie wir gehofft hatten. Auf dem Bild ihrer Kennkarte trägt Gerda ein unter dem Kinn geknotetes Kopftuch, wie es bei Frauen in Mode ist. Bei einer Haltestelle steigen Feldgendarmen zu, die die Papiere kontrollieren. Sie blicken kurz auf Gerdas Foto. Dann steckt sie mir ihre Kennkarte im Gedränge zu. Ich arbeite mich vor bis zu Mutter, die ein Kopftuch trägt. Meine Hand berührt ihre, dann hält sie die Kennkarte in der Hand. Ich bilde mir ein, ich höre ihr Herz klopfen, vielleicht ist es auch meins. Dass die Frau auf dem Foto ihr überhaupt nicht ähnelt, fällt den Militärpolizisten wegen der Kopftuchmode nicht auf. Mich und Peter lassen sie in Ruhe. Sie suchen nach Deserteuren und Juden.
Dreimal geht unser Spiel gut, dreimal müssen wir umsteigen – in Wien nach Graz und schließlich in einen kleinen Zug nach Feldbach in der Steiermark. Ich habe viel Zeit, um nachzudenken: Ob die Gestapo-Männer meinen Geburtstagskuchen gegessen haben? Bestimmt haben sie gedacht, wir kämen gleich wieder, und haben zunächst gewartet – wie meine Mutter es geplant hatte. Wann haben sie wohl die Finte bemerkt? Ich male mir ihre Wut aus, als sie bemerkten, dass wir das Essen nur inszeniert hatten und schon entwischt waren.
Wir erreichen den Bahnhof in Feldbach in der Dunkelheit. Er ist nicht überdacht, der Schnee liegt meterhoch, nur ein Pfad ist von den Menschen plattgetrampelt. Wir steigen bei Schneetreiben aus. Ich sehe den Pferdeschlitten vor dem Bahnhofsgebäude erst, als wir fast davorstehen. Mein Vater klettert herunter. Er ist in einen weichen Pelz gehüllt, am liebsten würde ich mich sofort hineinwerfen. Doch er drängt uns zur Eile.
Erst jetzt fällt mir der Mann auf dem Kutschbock auf. Er begrüßt meine Mutter mit Handkuss. Dabei streift sein strichdünner, schwarzer Oberlippenbart ihren Handrücken. Er trägt eine große Pelzmütze. Uns Kindern wirft er Pelzdecken zu, damit wir uns einhüllen. Wir winken Gerda zum Abschied. Sie muss zurück nach Berlin, damit man sie in der Firma nicht vermisst.
Mein Vater hatte die Familie Muth, zu der wir fuhren, auf einer seiner Reisen für Schwarzkopf kennengelernt. Ausgestattet mit einem Sonderausweis, war er oft tagelang in Österreich, Tschechien und den annektierten Gebieten unterwegs gewesen, um über alle möglichen Kanäle Treibstoff, Verpackungsmaterialien und Glas aufzutreiben. Die Muths waren eine Fabrikantenfamilie aus Berlin, die Zahnpasta herstellte. Wegen der Bombenangriffe hatten sie ihre Produktion in die Steiermark verlegt, ins Dreiländerdreieck zwischen Österreich, Ungarn und Slowenien. Dort hatten sie ein Schloss gemietet, Schloss Poppendorf, das etwa 60 Kilometer vor Graz lag. Es gehörte einem exzentrischen Mann, der sich Marquis de Respaldizza nannte.
Der Marquis lenkte den Pferdeschlitten. Er sah aus wie ein Operettenfürst, damals war er etwa 35