Wenn jede Minute zählt
von
Marcus Hünnebeck
Impressum
Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency
© Chichili Agency 2013
Urheberrechtshinweis:
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency” reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Inhalt
Ein Junge wird von einem Psychopathen entführt. Kommissar Peter Stenzel bleiben nur fünf Tage Zeit, das Leben des Kindes zu retten.
Während die Stunden verrinnen, spitzen sich die Ereignisse zu. Nach und nach wächst in Stenzel der Verdacht, dass sich der Täter mit diesem Verbrechen an ihm persönlich rächen will. Doch das wahre Ausmaß des teuflischen Plans offenbart sich ihm erst, als es fast zu spät ist ...
Der 11jährige Fabian Groß hörte das Piepen seines Handys, als er das Buch für den Deutschunterricht aus seinem Schultornister herauszog. Es war Montagmorgen, zwei Minuten vor acht. Er und seine Klassenkameraden hatten sich in ihrem Raum eingefunden und warteten auf die Lehrerin. Rasch griff er nach dem mobilen Telefon und öffnete mit einem Tastendruck die eingegangene Kurznachricht.
Einladung! Komm heute um 14.30 Uhr in den Computerladen im Monheimer Rathauscenter und erlebe brandaktuell und exklusiv das neueste Nintendo-Game. Deine Nintendo-Kundenbetreuung.
Fabian war versucht, seinen Freunden diese Nachricht zu zeigen. Doch die Aussicht, als erster Schüler seiner Klasse das Spiel kennenzulernen, ließ ihn innehalten. Von einer solchen Gelegenheit sollte man niemandem erzählen, dachte er in einem Anflug von Egoismus. Während er sich fragte, woher Nintendo überhaupt seine Rufnummer kannte, trat die Lehrerin in den Raum und er musste das Handy ausschalten.
Fotos halten die Wirklichkeit fest und zeigen eine Realität, die sich lediglich durch Manipulation ändern lässt. Auf von ihm geschossenen Bildern war die Welt in Ordnung. Er konzentrierte sich auf seinen Auftrag. Man hatte ihn engagiert, um im Rahmen der Feierlichkeiten zum zwölften Geburtstag des Monheimer Rathauscenters Bilder zu machen. Er bemerkte ein junges Paar, das gerade das Blumengeschäft verließ. Sie hielt einen prächtigen Strauß Rosen in ihren Armen und wirkte überglücklich. Ein schönes Motiv, daher drückte er den Auslöser. Egal, was ihnen in der Zukunft passierte, dieser Glücksmoment war ihnen nicht mehr zu nehmen, und er hatte ihn festgehalten.
Als er sich umdrehte, blickte er auf einen überlebensgroßen Clown, der sich auf seinen durch lange Hosenbeine verborgenen Stelzen in der Menge bewegte und mit dem Publikum Scherze trieb. Klick. Klick. Unvermittelt setzte auf einer in der Nähe der Rolltreppen aufgebauten Bühne die Musik einer Big Band ein. Der Clown fasste erschrocken an sein Herz und simulierte einen Anfall. Das Publikum lachte, während er zwischen den Leuten hin und her schwankte. Klick. Klick. Momente für die Ewigkeit.
Dem Fotografen fiel die wachsende Zahl der Kinder ins Auge, die den Spaßmacher umschwärmte. Er nahm sie ins Visier, da Eltern gerne Bilder von ihren Kindern besitzen und dafür auch überhöhte Preise zahlen. An jedem verkauften Abzug verdiente er mit.
Fabian Groß schaute auf seine Pokemon-Armbanduhr, eines der vielen Geschenke zu seinem Geburtstag. Es war kurz nach zwei. Wenn er sich nicht beeilte, kam er zu spät zum Musikunterricht, den er so hasste. Wegen dem er zu allem Überfluss die Präsentation des Spiels verpassen würde.
Warum bloß hatten sich seine Eltern in den Kopf gesetzt, dass er unbedingt ein Instrument lernen musste? Er hatte dazu überhaupt keine Lust. Lieber spielte er Fußball oder sah sich Zeichentrickserien im Fernsehen an. Wenn sie ihm wenigstens ein angesagtes Instrument gekauft hätten. Aber nein. Es musste unbedingt eine Trompete sein, weil es Familientradition war, Trompete spielen zu lernen. Er hasste die schiefen Töne, die er darauf produzierte, und träumte inzwischen sogar nachts davon.
Fabian trat ein wenig schneller in die Pedale. Er befand sich in der Fußgängerzone, die am Rathauscenter endete. Eigentlich musste er hier vom Rad steigen, doch solange ihn die Polizei nicht erwischte, sollte das seine geringste Sorge sein. Während er auf das Rathauscenter zusteuerte, nahm er den Trubel wahr, der dort herrschte. Vor dem Haupteingang am Eierplatz war eine Bühne aufgebaut, auf der gerade eine Band spielte. Magisch angezogen vom hämmernden Schlagzeug und der kreischenden E-Gitarre verlangsamte der Junge seine Fahrt. Ja, das war cool. Warum erlaubten ihm seine Eltern nicht, Schlagzeug oder Gitarre zu lernen?, fragte er sich, wütend über ihre altmodischen Ansichten. Er stoppte das Fahrrad und betrachtete die vier Musiker auf der Bühne. Wieder schoss ihm das einzig passende Wort durch den Kopf: Cool.
Erneut warf Fabian einen Blick auf die Uhr. Nun müsste er sich gewaltig sputen, um nicht zu spät zu kommen. Doch plötzlich verspürte er den Wunsch, seinen eigenen Willen durchzusetzen. Was würde ihm passieren, wenn er die Stunde einfach ausfallen ließ? Nichts. Vermutlich erfuhren seine Eltern noch nicht einmal davon. Und außerdem: Wer brauchte schon eine Trompete? Die Jungs auf der Bühne auf keinen Fall. Und er auch nicht. Kurzerhand entschied er sich. Bis halb drei wollte er der Band zusehen, sich anschließend das Spiel zeigen lassen, um dann in aller Ruhe nach Hause zu fahren. Eine erste versäumte Stunde seit Beginn des Unterrichts vor zwei Monaten konnte nicht so schlimm sein.
Der Fotograf sah sich um. Die Musik der Big Band und das Gehampel des Clowns gingen ihm inzwischen auf die Nerven. Aber solche Aufträge halfen dabei, am Ende des Monats genug Geld zu haben, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Er wandte sich von der Bühne ab und schlenderte langsam an den Geschäften vorbei: ein Schuhgeschäft, eine Modeboutique, der Blumenladen. Als er sich dem Ausgang näherte, registrierte er bei einem Blick nach draußen die Menschenansammlung vor der Outdoor-Bühne. Vielleicht war es ja eine gute Idee, wenn er einige Bilder unter freiem Himmel aufnahm. Er ließ die nächsten Geschäfte hinter sich und trat durch die Drehtür ins Freie.
Nach den Schlusstakten eines Rolling-Stones-Coversongs spendete das Publikum großzügig Beifall. Er drückte dreimal den Auslöser, um die Band abzulichten, und machte fünf Fotos von den Zuhörern. Unterdessen ertönte die Stimme des Sängers, der das letzte Lied ankündigte.
Während die Gitarren einsetzten, erblickte der Fotograf das Kind. Für einen kurzen Moment setzte sein Herzschlag aus. Ganz in der Nähe stand der Junge, der das Schlüsselelement seines lang ausgeklügelten Plans war. Klick.
Enttäuscht wandte sich Fabian von dem Geschehen ab. Erst zwanzig nach zwei und das Konzert der Band war schon beendet. Er beschloss, den Computerhändler eher aufzusuchen, ungeheuer gespannt auf das Spiel. Fabian schob sein Rad zu einem der Fahrradständer und sicherte es mit einer Kette vor Dieben. Dann betrat er das Innere der Einkaufspassage und steuerte den Computerladen an.
Klick. Es war ein Leichtes, dem Jungen unbemerkt zu folgen. Letztlich erwarteten alle Passanten, einen Fotografen bei einem solchen Fest zu sehen. Zudem konnte er sein Gesicht gut verbergen, indem er immer wieder seine Kamera davor hielt und ein belangloses Motiv ablichtete. Plötzlich war sein Auftrag unerheblich, nur noch der Junge zählte. Klick.
Nach ein paar Metern wurde ihm bewusst, welches Geschäft der Knabe ansteuerte. Deswegen ließ er sich ein Stück zurückfallen und sah seine Vermutung bestätigt, als der Junge im Computerladen verschwand.
Während er wartete, verschoss er die restlichen Bilder des Films. Doch das war alles nicht mehr wichtig.
Enttäuscht musste Fabian feststellen, dass es gar kein neues Spiel gab. Offenbar hatte ihm irgendein Scherzkeks einen Streich gespielt. Nachdem er den Computerhändler gefragt hatte, welches Spiel heute auf den Markt gekommen sei, hatte dieser mit den Achseln gezuckt und »Keins« vor sich hin gebrummt. Fast hätte ihm Fabian die Kurzmitteilung gezeigt, aber der Mann wirkte so unfreundlich, dass er lieber schnell das Weite gesucht hatte.
Mittlerweile war es kurz nach halb drei. Langsam konnte er sich auf den Rückweg zu seinem Fahrrad machen. Vielleicht würde er noch an einem Kiosk halten, um sich zwei oder drei Packungen Digimon-Sammelkarten zu besorgen, und wenn er gemütlich fuhr, kam er pünktlich zu Hause an.
Kaum hatte Fabian das Geschäft verlassen, trat ein Mann mit einer umgehängten Kamera auf ihn zu.
»Hi«, meinte dieser freundlich, und obwohl sich Fabian nicht sicher war, glaubte er, den Mann zu kennen.
»Hi«, erwiderte er, während er weiterging. Der Fotograf begleitete ihn und schoss dabei immer wieder Bilder.
»Du spielst doch beim SSV oder? Ich habe dich vorletztes Wochenende beim Turnier gesehen. Ihr wart gut. Du ganz besonders.«
Fabian nickte. Mit allem, was der Mann sagte, hatte er recht. Seine Mannschaft hatte das Turnier gewonnen, sein Tor war im Finale das vorentscheidende gewesen.
»Ja, das war ein schönes Turnier.«
»Hättest du Lust, dich von mir fotografieren zu lassen? Ich bin auf der Suche nach einem originellen Motiv für diesen Tag.«
»Hier drinnen?«
»Nein. Ich habe etwas Besonderes im Sinn. In meinem Kofferraum liegen ein kleines, zusammenklappbares Tor und ein Fußball. Was hältst du davon, wenn wir das auf dem Eierplatz aufstellen und ich eine Serie von Fotos schieße, wie du auf das Tor ballerst?«
Fabian dachte nach. Das Angebot schmeichelte ihm. Allerdings würde er nicht rechtzeitig zu Hause sein, falls er sich darauf einließ. Seine Mutter konnte Unpünktlichkeit nicht ausstehen. Sie machte sich dann immer so schnell Sorgen.
»Hm. Ich weiß nicht. Eigentlich muss ich nach Hause.«
»Ach so. Schade. Für so richtig gute Fotos kriege ich nämlich 100 Euro. Die Hälfte hätte ich dir abgegeben.«
Ungläubig blickte Fabian den Mann an.
»Wirklich?«
»Klar.«
Der Junge rechnete im Kopf aus, wie viele Packungen Sammelbilder er sich von 50 Euro kaufen könnte. Damit wäre er auf dem Schulhof ein Star.
»Wie lange dauert das denn?«
»Keine zehn Minuten. Wir müssten eben in die Tiefgarage, das Tor aus dem Kofferraum holen, es auf dem Eierplatz aufstellen und schon gehtʼs los.«
»Okay. Aber nur, wennʼs wirklich nicht länger als zehn Minuten dauert. Ich darf nicht zu spät kommen.«
»Versprochen.«
Fabian nickte.
Gemeinsam näherten sie sich der Rolltreppe. Nun kam der schwierigste Teil. Wenn ihn jetzt jemand mit dem Jungen sah, würde er sich vielleicht später daran erinnern. Doch dieses Risiko musste er eingehen.
Die ganze Zeit über hielt er sich die Kamera vor das Gesicht und betätigte andauernd den Auslöser. Er ließ den Jungen einen Meter vorgehen, und während sie sich auf der Fahrt nach unten befanden, drehte er sich von ihm weg, schoss weitere Bilder.
»Das ist eine interessante Perspektive«, erklärte er dem Jungen, der nichts erwiderte.
Schließlich erreichten sie das Ende der Treppe und betraten die Tiefgarage. Glücklicherweise kam ihnen niemand entgegen.
»Ich stehe hier um die Ecke.«
Diesmal ging er vor. An seinem Fahrzeug blickte er sich um. Keine Augenzeugen. Er steckte den Autoschlüssel in das Kofferraumschloss, wartete mit dem Aufschließen jedoch, bis der Junge neben ihm stand.
»So. Gleich brauche ich deine Hilfe. Das Tor ist etwas sperrig.«
»Hm-mh.«
Er ließ den Deckel des Kofferraums nach oben gleiten. Neugierig schaute der Junge in die schwarze Leere hinein. In diesem Augenblick knallte der Fotograf ihm die schwere Kamera an den Kopf. Als der Junge bewusstlos zusammensackte, fing er ihn auf und legte ihn in den Kofferraum. Nun musste er sich beeilen. Er wusste nicht, wie lange sein Opfer ohne Besinnung blieb. Achtlos deponierte er die Kamera neben dem Jungen und schlug den Kofferraum zu. Zügig schritt er zu dem Kassenautomaten und fischte dabei das Parkticket aus seiner Jackentasche. Er schob es in den Schlitz und zahlte die Parkgebühr. Äußerlich gelassen schlenderte er auf seinen Wagen zu. Noch waren aus dem Kofferraum keine Geräusche zu hören. Er öffnete die Fahrertür, stieg ein und startete den Motor. Betont vorsichtig parkte er aus. Nicht auszudenken, wenn ihm jetzt jemand ins Heck fuhr.
Er näherte sich der Schranke und sah entsetzt, dass ihre Automatik den Geist aufgegeben hatte. Ein Angestellter des Rathauscenters stand dort und ließ sich gerade von einem Autofahrer das Ticket geben. Nach einer kurzen Überprüfung gab er die Fahrt frei.
Nun war er an der Reihe. Falls der Junge jetzt erwachte und losschrie, war alles vorbei. Er kurbelte das Fenster hinunter.
»Da will die Automatik wohl heute auch Geburtstag feiern«, sagte er dem Mann, der daraufhin matt lächelte.
»Scheint mir auch so.«
Bestimmt hatte der Schrankenwärter den Spruch nicht zum ersten Mal gehört. Flüchtig überprüfte er das Ticket und öffnete die Sperre per Hand. Der Fotograf nickte zum Dank, während er bereits auf das Gaspedal drückte.
Neunzig Minuten später kehrte er zurück und schoss mit einer anderen Kamera weitere Bilder. Nachdem er den Jungen in das schon lange ausgesuchte Versteck gebracht hatte, hatte er ihn mit Schlägen dazu gezwungen, ihm einige Informationen zu geben. Unter anderem über das Fahrrad, das auf seinen Besitzer wartete. Zuletzt nahm er das Handy und den Schlüssel für das Fahrradschloss an sich.
Als er genug Fotos gemacht hatte, holte er das Rad des Jungen und verfrachtete es in den Kofferraum. Dann verließ er den Ort des Geschehens.
Mit Unbehagen drückte Kriminaloberkommissar Peter Stenzel die Klingel seiner Nachbarn. Sie hatten ihn angerufen, nachdem sie sich nicht mehr weiterzuhelfen wussten. Darauf wartend, dass ihm jemand die Tür öffnete, blickte er auf das hölzerne Schild neben der Klingel. Hier wohnen Christiane, Frank und Fabian Groß. Bestimmt hatte Fabians Verspätung nichts zu bedeuten, redete sich Stenzel ein. Andererseits konnte er die Besorgnis der Familie Groß gut verstehen. Aufgrund seines Jobs wusste er, dass es genug Irre auf dieser Welt gab. Unsicher fuhr er sich durch das lichter werdende Haar. Was sollte er ihnen bloß sagen?
Noch während er darüber nachgrübelte, riss Frank Groß die Tür auf. Kaum erkannte er Stenzel, verschwand der Glanz der Hoffnung aus seinen Augen.
»Peter«, murmelte sein Nachbar enttäuscht. »Danke, dass du vorbeigekommen bist. Tritt doch ein.«
Groß’ Blick wanderte an Stenzel vorbei Richtung Straße. Als erwartete er, seinen Sohn auftauchen zu sehen. Unterdessen musterte Stenzel den Familienvater. Groß war 35 Jahre alt, ein erfolgreicher Geschäftsmann, stets korrekt gekleidet, auch in dieser schwierigen Situation. Offensichtlich hatte Christiane ihn aus seinem Büro in der Nachbarstadt gerufen, da er noch immer seinen Businessanzug trug. Nur die Krawatte war ein wenig gelockert, die einzige Unordentlichkeit, die Frank sich in dieser Lage zugestand.
Mechanisch wie ein Roboter trat Groß zurück und bat Stenzel mit einer Handbewegung endgültig ins Haus.
»Versuch etwas Beruhigendes zu Christiane zu sagen«, flüsterte er flehentlich. »Sie ist völlig außer sich.«
Stenzel nickte und im gleichen Moment kam ihm seine Nachbarin entgegen.
»Peter!«, begrüßte sie ihn hektisch. »Hast du etwas von Fabian gehört?«
Sie bemühte sich angestrengt, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Nein«, antwortete er. »Aber das heißt nichts, Christiane. Mach dir keine Sorgen, bestimmt hat er die Zeit vergessen.«
»Fabian vergisst nie die Zeit«, rief sie hysterisch.
Frank legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. Zum ersten Mal fiel Stenzel auf, wie unterschiedlich die beiden wirken konnten. Sie trug ein ausgeleiertes Sweatshirt und eine an den Knien beschmutzte Jeans. Vermutlich hatte sie im Garten gearbeitet, während sie auf die Rückkehr ihres Sohnes gewartet hatte. Unter ihren Augen erkannte er kleine Falten, und ihm wurde bewusst, dass er Christiane Groß sonst geschminkt zu sehen bekam. Nun spiegelte ihr Aussehen die Besorgnis wider, die sie empfand.
»Erzählt mir bitte, was ihr in Erfahrung gebracht habt.«
Frank deutete ins Wohnzimmer, wohin ihm Stenzel folgte. Christiane informierte ihn, dass Fabian nicht bei seinem allwöchentlichen Musikunterricht aufgetaucht war.
»Was ist mit Freunden? Klassenkameraden? Ist er vielleicht bei einem von denen?«
Ratlos schüttelte Christiane den Kopf.
»Ich habe alle angerufen. Selbst diejenigen, die Fabian auf den Tod nicht ausstehen kann. Er ist bei keinem.«
»Wir haben auch mit seinen Kameraden aus dem Fußballverein geredet«, ergänzte Frank Groß. »Fehlanzeige.«
»Und über sein Handy ist er seit Stunden nicht mehr zu erreichen. Nach einigen Sekunden höre ich lediglich seine von der Mailbox aufgezeichnete Stimme. Ihr müsst ihn suchen«, beschwor sie ihn. »Mit Hunden, Hubschraubern, was weiß ich.« Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich ihre Stimme in ein verängstigtes Kreischen. »Ihr müsst ihn suchen.«
Stenzel setzte sich in einen der Ledersessel. Wie sollte er ihr die Wahrheit beibringen? Der Junge wurde seit gerade einmal drei Stunden vermisst, was in seinem Alter nichts Ungewöhnliches war. Niemand würde eine Suchaktion für ihn starten, das wusste Stenzel genau. Schon gar nicht in dem Ausmaß, welches sich Christiane wünschte.
An seinem Zögern erkannte sie anscheinend, was ihm durch den Kopf ging.
»Bitte«, fügte sie hinzu.
Es machte keinen Sinn, ihr die Sachlage zu verschweigen.
»Wir müssen diese Nacht abwarten, Christiane. Ich kann erst morgen früh etwas in die Wege leiten.«
»Nein«, stöhnte sie. »Nein! Das ist zu spät.«
Stenzel richtete seine Aufmerksamkeit auf Frank.
Er wirkte enttäuscht, konnte aber eine unabänderliche Tatsache akzeptieren. Tröstend legte er seiner Frau den Arm um die Schulter.
»Bestimmt kommt er gleich nach Hause.«
»Und wenn nicht?«, rief sie aus. »Ihr könnt nicht von mir erwarten, dass ich mich bis morgen früh gedulde. Das könnt ihr nicht erwarten!«
Sie schüttelte den Arm ihres Mannes ab und stand auf.
»Dann suche ich ihn halt allein, und wenn ich die ganze Nacht unterwegs bin.«
»Christiane.« Stenzel versuchte, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. »Fabian ist nur ein paar Stunden zu spät dran.«
»Mein Sohn ist nie ein paar Stunden zu spät dran«, äffte sie ihn nach.
Stenzel fragte sich, ob Fabian Reißaus genommen haben könnte. Weg von seinem Elternhaus. Unbewusst sah er sich um. Es wirkte alles so steril. Sauber. Geregelt. Eine dieser Regeln beinhaltete, dass man keine drei Stunden zu spät kam.
Christiane eilte vom Wohnzimmer in die Diele, griff sich ihren Autoschlüssel und ein auf dem Schuhschrank liegendes Handy.
»Du bleibst hier«, befahl sie ihrem Mann. »Wenn du etwas hörst, sagst du mir Bescheid.«
Frank nickte ergeben. Der Entschlossenheit seiner Frau hatte er nichts entgegenzusetzen.
»Und ich hoffe«, sagte sie an Stenzel gewandt, »du setzt morgen früh tatsächlich alle Hebel in Bewegung. Falls es notwendig sein sollte.«
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verließ sie das Haus.
»Das hat sie nicht so gemeint«, murmelte Frank um Verständnis bittend.
»Kein Problem. Ich wäre an ihrer Stelle mindestens genauso nervös.«
»Ach, du hast bestimmt recht. Fabian ist einfach ein paar Stunden zu spät dran.«
»Hoffen wirʼs.«
Nachdem Stenzel diese Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass er damit nicht wirklich rechnete. Auch wenn Sterilität und strenge Regeln einen Jungen in Fabians Alter irgendwann zur Auflehnung treiben konnten.
Zehn Minuten später verabschiedete er sich von seinem Nachbarn. Dieser versprach ihm, Entwarnung zu geben, wenn der Junge auftauchen sollte. Stenzel zog die Tür zu und schlenderte die paar Meter die Straße hinauf zu seinem eigenen Heim. Von außen wirkten die Häuser in dieser Reihenhaussiedlung identisch. Im Innern konnte es hingegen so unterschiedlich zugehen. Stenzel drehte den Schlüssel im Schloss herum, öffnete die Tür und hörte seinen 5-jährigen Sohn, der ihm begeistert entgegenrannte und jauchzend »Papi« rief.
So unterschiedlich.
Mühelos fing er seinen Sohn auf, hob ihn hoch und kuschelte mit ihm. Er presste seine Nase in den blonden Schopf des Kindes und sog gierig diesen unverwechselbaren Geruch ein, an dem er seinen Sohn mit geschlossenen Augen in einer großen Schar Kinder wiedererkennen würde. Im Hintergrund erschien seine Frau.
»Hallo, Schatz«, begrüßte er sie, trat zu ihr und sie küssten sich flüchtig.
»Hallo. Warst du bei den Großʼ?«, erkundigte sich Nicole.
»Ja.«
»Und?«
Stenzel schüttelte den Kopf, wollte dieses Thema nicht vor seinem Sohn David besprechen. Doch dieser wusste schon Bescheid.
»Ja, Papi. Was ist mit Fabian? Ist er wieder zu Hause?«
Während er seinen Sohn absetzte, gingen ihm so viele Gedanken durch den Kopf. Sein Beruf brachte es mit sich, dass er Bescheid wusste über die Perversen, die viel zu lange unerkannt durch die Welt liefen. Die viel zu viele Gelegenheiten erhielten, Kinder in ihre Fallen zu locken. Kinder wie Fabian. Oder David.
Wie sollte er dies seinem Sohn erklären, ohne ihm zu viel Angst einzujagen? Wie sollte er erklären, dass es Leute gab, die anderen Leid zufügten? Ihnen das Leben zerstörten. Er hatte dies am eigenen Leib miterlebt, und es hatte sein Leben verändert. Seit jenem Vorfall gab es nicht einen Tag, an dem er nicht wenigstens kurz daran dachte. Kaum eine Nacht, in der er nicht davon träumte. War es nicht seine Aufgabe als Vater, diese Tatsachen vor seinem Sohn so lange wie möglich geheim zu halten? Oder machte er David dadurch zu einem leichteren Opfer? Weil er nicht früh genug lernte, welche Gefahren draußen lauerten?
»Nein. Er ist noch nicht zu Hause. Aber bestimmt kommt er bald heim.«
Stenzels Blick fiel auf Nicole, die leicht, fast unmerklich, den Kopf schüttelte. Sie missbilligte seine Antwort, unterließ es jedoch, David eine andere zu geben.
Was sieht sie in mir?, dachte Stenzel. Bestimmt nicht mehr den Mann, in den sie sich vor ein paar Jahren verliebt hat.
»Hoffentlich ist Fabian bald wieder zu Hause«, sagte David und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Komm, Schatz«, meinte Nicole. »Gleich fängt die Biene Maja an.«
Damit entfernte sich seine Familie, während Stenzel in der Diele stehen blieb.
Was sieht sie in mir?, überlegte er erneut. Um eine Antwort zu finden, trat er vor den Spiegel im Flur. Äußerlich hatte er sich in den letzten sieben Jahren wenig verändert. Sein dunkles Haar wurde an einigen Stellen licht und inzwischen fanden sich ein paar graue Strähnen darin. Ansonsten konnte Stenzel zufrieden sein. Weil er regelmäßig Sport trieb und allenfalls sporadisch Alkohol trank oder kalorienreiche Speisen aß, wog er 75 Kilo bei einer Größe von 183 Zentimetern. Am besten gefiel ihm sein eckig geformtes Gesicht, vor allem die klare Linie, die den Übergang von den Wangen zum Kinn bildete. Auch seine ausdrucksstarken, blauen Augen mochte er, obwohl er jetzt in ihnen Besorgnis las. Das alles, fürchtete er, nahm Nicole gar nicht mehr wahr. Genauso wenig, wie ihn nur noch selten ihr freundlich wirkendes, oval geschnittenes Gesicht, ihre langen Beine oder die vollen Lippen verzückten. Sieben zusammen verbrachte Jahre relativierten die Anziehungskraft des Äußeren. Stattdessen, vermutete er, sah sie einen Mann, der nicht über seinen eigenen Schatten springen konnte. Der seinem Sohn nicht erzählen konnte, dass es viel Leid in der Welt gab, weil er selbst nicht daran erinnert werden wollte. Nicht mehr seit jenem verhängnisvollen Tag. Doch zum Vergessen übte er den falschen Beruf aus.
Stenzel wandte sich von seinem Spiegelbild ab und folgte seiner Familie ins Wohnzimmer. Erst als David im Bett war, schaffte er es, mit seiner Frau über Fabian zu reden.