John Green
Die erste Liebe
[nach 19 vergeblichen
Versuchen]
Aus dem Amerikanischen
von Sophie Zeitz
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel An Abundance of Katherines bei Dutton Books, New York. Published by arrangement with Dutton Children’s Books, a division of Penguin Young Readers Group, a member of Penguin Group (USA) Inc.
Die Schreibweise in diesem Buch entspricht
den Regeln der neuen Rechtschreibung.
ISBN 978-3-446-24206-7
© 2006 by John Green
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien 2008
2. E-Book-Version August 2016
Umschlag: Maren von Stockhausen
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Meiner Frau Sarah Urist Green
In Anagrammen:
Ruhige Starrnase / Irres Gartenhaus /
Ihr Restansauger / Tigers Ausharren /
Rasthaeuser-Ring / Ihre Russgranate /
Sture Sangria-Ehr’ / Reisegans Arthur /
Hartes Isar-Grün / Arena ihres Trugs
»Aber das Schöne ist nicht, den Menschen zu besitzen.
Das Schöne ist: einen Mitstreiter auf deiner Seite zu haben.«
Philip Roth, Der menschliche Makel
[1] Am Morgen nachdem das anerkannte Wunderkind Colin Singleton seinen Highschool-Abschluss gemacht hatte und ihn zum neunzehnten Mal in seinem Leben ein Mädchen namens Katherine sitzen ließ, legte er sich in die Badewanne. Colin hatte schon immer lieber gebadet als geduscht. Einer seiner Grundsätze im Leben lautete: Tu nichts im Stehen, was du auch im Liegen erledigen kannst. Sobald das Wasser heiß aus dem Hahn kam, stieg er in die Wanne, dann saß er da und sah mit seltsam leerem Blick zu, wie das Wasser von ihm Besitz nahm. Langsam kroch es an seinen angewinkelten, gekreuzten Beinen hoch. Verschwommen nahm er wahr, dass er zu groß und zu lang für die Wanne war – er sah aus wie ein fast erwachsener Mensch, der Kind spielt.
Als das Wasser seinen mageren, sehnigen Bauch überspülte, musste er an Archimedes denken. Mit vier Jahren hatte Colin ein Buch über Archimedes, den griechischen Philosophen, gelesen, der in der Badewanne entdeckte, dass Volumen sich durch Wasserverdrängung messen ließ. Es heißt, dass Archimedes, als er die Entdeckung machte, splitternackt durch die Straßen rannte und »Heureka!«1 rief. In dem Buch stand, dass viele wichtige Entdeckungen mit einem »Heureka-Erlebnis« einhergingen. Schon damals hatte Colin unbedingt einmal ein paar wichtige Entdeckungen machen wollen, und abends, als seine Mutter nach Hause kam, stellte er ihr diesbezüglich ein paar Fragen.
»Mami, kann ich auch ein Heureka-Erlebnis haben?«
»Schätzchen«, sagte sie und nahm seine Hand, »was fehlt dir denn?«
»Ich will ein Heureka-Erlebnis«, antwortete er im gleichen Ton, in dem andere Vierjährige um einen Plastik-Batman betteln.
Seine Mutter fühlte seine Stirn und lächelte ihn an, das Gesicht so nah, dass er ihren Lippenstift riechen konnte. »Aber ja, mein Schatz. Natürlich bekommst du eins.«
Doch Mütter lügen. Das gehört zu ihrem Job.
Colin holte tief Luft, dann ließ er sich am Wannenrand hinabgleiten und tauchte unter. Ich weine, dachte er, als er im schaumigen, beißenden Wasser die Augen öffnete. Ich habe das Gefühl, dass ich weine, also weine ich wahrscheinlich, doch ich kann es nicht wissen, weil ich unter Wasser bin. Aber Colin weinte nicht. Erstaunlicherweise war er zu deprimiert zum Weinen. Er war zu verletzt. Es fühlte sich an, als hätte Katherine ihm den Teil, der weinte, weggenommen.
Schließlich zog er den Stöpsel, stand auf, trocknete sich ab und kleidete sich an. Als er aus dem Bad kam, saßen seine Eltern zusammen auf seinem Bett. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn seine Eltern gleichzeitig in seinem Zimmer waren. In den letzten Jahren hatte es Folgendes bedeutet:
1. Deine Großmutter/Dein Großvater/Deine Tante Suzie, die/ den du nie kennengelernt hast, die/der aber furchtbar lieb war, ist leider gestorben.
2. Du lässt wegen eines Mädchens namens Katherine die Schule schleifen.
3. Babys entstehen durch einen Akt, den du irgendwann vielleicht mal interessant findest, aber im Moment würdest du nur Albträume davon bekommen, und manchmal tun die Menschen etwas mit den dafür vorgesehenen Körperteilen, ohne dass ein Baby rauskommt, zum Beispiel küssen sie sich an Stellen, die nicht das Gesicht sind.
Es bedeutete nie:
4. Als du in der Badewanne warst, hat ein Mädchen namens Katherine angerufen. Es tut ihr leid. Sie liebt dich immer noch und hat einen schrecklichen Fehler gemacht und wartet unten auf dich.
Trotzdem konnte sich Colin der Hoffnung nicht erwehren, dass es Fall 4 war, weswegen seine Eltern zusammen auf seinem Bett saßen. Normalerweise war er Pessimist, doch bei Katherines machte er offenbar eine Ausnahme: Jedes Mal hegte er die Hoffnung, dass sie zu ihm zurückkämen. Plötzlich erinnerte er sich an das Gefühl, sie zu lieben und von ihr geliebt zu werden, und er schmeckte Adrenalin in seinem Mund – vielleicht war es doch nicht vorbei, vielleicht würde er bald wieder ihre Hand in seiner spüren und ihre laute, freche Stimme hören, die zu einem Flüstern schrumpfte, wenn sie ganz schnell und leise Ich liebe dich sagte, so wie sie es immer sagte. Sie sagte Ich liebe dich, als würde sie ihm ein Geheimnis anvertrauen, ein großes Geheimnis.
Colins Vater stand auf und kam auf ihn zu. »Katherine hat mich auf dem Handy angerufen«, sagte er. »Sie macht sich Sorgen um dich.« Colin spürte, wie sein Vater ihm die Hand auf die Schulter legte, und dann kam er einen Schritt näher und nahm ihn in den Arm.
»Wir machen uns auch Sorgen um dich«, sagte seine Mutter. Sie war eine kleine Frau mit braunem, lockigem Haar und einer einzelnen weißen Strähne über der Stirn. »Und wir sind sehr überrascht. Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Colin in die Schulter seines Vaters. »Sie ist einfach – sie hat die Nase voll. Sie mag nicht mehr. Das hat sie jedenfalls gesagt.« Und dann stand auch seine Mutter auf, und alle umarmten sich, überall Arme, und seine Mutter fing zu weinen an. Irgendwann befreite sich Colin aus all den Armen und setzte sich aufs Bett. Er hatte das dringende Bedürfnis, allein zu sein, so schnell wie möglich, als würde er explodieren, wenn sie nicht gleich gingen. Buchstäblich explodieren. Eingeweide an den Wänden, sein hochbegabtes Gehirn auf der Tagesdecke verspritzt.
»Wir sollten uns zusammensetzen und deine Möglichkeiten abwägen«, sagte sein Vater. Im Abwägen war sein Vater gut. »Nicht um den Silberstreifen am Horizont zu suchen, sondern weil du jetzt anscheinend ziemlich viel Zeit in den Sommerferien hast. Vielleicht willst du an der Uni einen Sommerkurs belegen?«
»Ich muss wirklich erst mal allein sein, heute wenigstens«, antwortete Colin, während er versuchte, Ruhe zu bewahren, damit sie endlich gingen und er nicht explodieren musste. »Können wir morgen abwägen?«
»Natürlich, Schätzchen«, sagte seine Mutter. »Wir sind für dich da, den ganzen Tag. Komm einfach runter, wenn du dich danach fühlst. Wir haben dich lieb, und du bist etwas ganz Besonderes, Colin, und du darfst dir von diesem Mädchen auf keinen Fall etwas anderes einreden lassen, denn du bist der tollste, schlauste Junge auf der ganzen …« In diesem Moment stürzte der ganz besondere, tolle, schlaue Junge aus der Tür, rannte ins Bad und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Es war eine Explosion, irgendwie.
»Oje, Colin«, rief seine Mutter.
»Ich will allein sein«, rief Colin zurück. »Wirklich. Bitte.«
Als er aus dem Bad kam, waren sie fort.
Während der nächsten vierzehn Stunden las Colin, ohne eine Pause zum Essen, Schlafen oder Kotzen einzulegen, immer wieder das Jahrbuch durch, das er erst vor vier Tagen erhalten hatte. Außer dem üblichen Jahrbuchkram enthielt es zweiundsiebzig persönliche Eintragungen seiner Mitschüler. Zwölf hatten einfach nur unterschrieben, sechsundfünfzig lobten außerdem seine Intelligenz, fünfundzwanzig wünschten, sie hätten ihn besser gekannt, elf schrieben, Englisch mit ihm hätte Spaß gemacht, sieben erwähnten den Ausdruck »Pupillenschließmuskel«2, und immerhin siebzehn endeten mit: »Bleib cool!« Cool bleiben war für Colin Singleton etwa so unmöglich wie schlank bleiben für einen Pottwal oder reich bleiben für einen Bangladeshi. Wahrscheinlich meinten es alle siebzehn als Witz. Und während er darüber nachdachte, begann er außerdem zu grübeln, wie fünfundzwanzig seiner Mitschüler, mit denen er zum Teil zwölf Jahre lang in die gleiche Klasse gegangen war, behaupten konnten, sie hätten ihn gern »besser gekannt«. Als hätte es keine Möglichkeit gegeben.
Doch die meiste Zeit der vierzehn Stunden las er die Widmung von Katherine XIX., immer wieder.
Col,
auf alle Orte, an denen wir gewesen sind. Und auf alle Orte, die noch auf uns warten. Und immer flüstere ich dir zu, wieder und wieder und wieder und wieder: ichliebedich.
Liebe, ewig
K-a-t-h-e-r-i-n-e
Irgendwann schien ihm das Bett zu gemütlich für seinen Seelenzustand, und er legte sich auf den Boden, wo er so lange Anagramme aus »Liebe, ewig« machte, bis ihm eins davon gefiel: Bleiwiege. Und dann lag er da, mit seinem bleischweren Schmerz, und wiederholte im Kopf ihre Worte, die er längst auswendig konnte, und er wollte weinen, aber stattdessen war da nur eine dumpfe Leere auf Höhe seines Solarplexus. Weinen fügte etwas hinzu: Weinen war man selbst, plus Tränen. Doch das Gefühl, das Colin hatte, war das grausame Gegenteil von Weinen. Es war er selbst, minus etwas. Die ganze Zeit musste er über dieses Wort nachdenken – ewig – und spürte dabei direkt unter dem Brustkorb ein brennendes Reißen. Es tat so weh wie die schlimmste Tracht Prügel, die er je eingesteckt hatte. Und er hatte jede Menge eingesteckt.
[2] Der Schmerz hielt bis kurz vor zehn Uhr abends an, als ein dicklicher, behaarter Junge libanesischer Abstammung ohne Anklopfen in Colins Zimmer platzte. Colin drehte den Kopf und blinzelte zu ihm auf.
»Was zum Henker ist hier los?«, fuhr Hassan ihn an.
»Sie hat Schluss gemacht«, antwortete Colin.
»Ich hab davon gehört, Sitzpinkler, und ich würde dich auch gerne trösten, aber meine Blase ist so voll, dass ich ein brennendes Haus löschen könnte.« Hassan marschierte am Bett vorbei und riss die Badezimmertür auf. »O Gott, Singleton, was hast du gegessen? Hier stinkt es nach – AHHH! KOTZE! KOTZE! IIIHHH!« Und während Hassan brüllte, dachte Colin: Stimmt. Das Klo. Hätte runterspülen sollen.
»Vergib mir, wenn ich daneben gepinkelt habe«, sagte Hassan, als er zurückkam. Er setzte sich auf die Bettkante und gab Colin, der am Boden lag, einen sanften Tritt. »Ich musste mir mit beiden Händen die Nase zuhalten und Donnerlümmel frei schwingen lassen. Mächtiges Pendel, der Kleine.«
Colin lachte nicht.
»Gott, dir scheint es echt mies zu gehen, wenn du a) nicht über meine Donnerlümmelwitze lachst und b) vergisst, das eigene Gewürge wegzuspülen.«
»Ich will in ein Loch kriechen und sterben.« Ohne sichtbare Regung hatte Colin in den cremefarbenen Teppichboden gesprochen.
»O Mann.« Hassan seufzte.
»Alles, was ich je wollte, war, von ihr geliebt zu werden und aus meinem Leben etwas Bedeutendes zu machen. Jetzt schau mich an. Ich meine, schau mich an«, sagte Colin.
»Ich sehe es, Kafir3. Und ich sag dir eins: Was ich sehe, gefällt mir nicht. Und ich setze noch eins drauf: Was ich rieche, gefällt mir auch nicht.« Er legte sich zurück und ließ Colins Unglück einen Moment lang im Raum stehen.
»Ich … ich bin ein Versager. Was, wenn es das jetzt war? Was, wenn ich in zehn Jahren in einem beschippten Großraumbüro sitze, Zahlen in den Computer tippe und Baseballstatistiken auswendig lerne, um in meiner Phantasieliga abzusahnen, und sie gibt es nicht, und ich werde nie etwas Bedeutendes leisten, sondern bin einfach nur eine totale Niete?«
Hassan setzte sich wieder auf und legte die Hände auf die Knie. »Siehst du, genau deshalb solltest du an Gott glauben. Ich rechne nicht mal mit einem Platz in einem Großraumbüro, und mir geht’s so gut wie einem Schwein in der Jauchegrube.«
Colin seufzte. Obwohl Hassan selber nicht besonders religiös war, versuchte er hin und wieder aus Spaß, Colin zum Islam zu konvertieren. »Ja, genau. An Gott glauben. Tolle Idee. Ich würde auch gerne daran glauben, dass ich auf dem Rücken eines flauschigen Riesenpinguins ins Weltall reisen und Katherine XIX. bei Schwerelosigkeit flachlegen könnte.«
»Singleton, du hast Gott dringender nötig als sonst jemand, den ich kenne.«
»Na und? Du hast es dringend nötig, aufs College zu gehen«, murmelte Colin. Hassan stöhnte. Er hatte ein Jahr vor Colin seinen Highschool-Abschluss gemacht, doch dann hatte er erst mal eine »Pause« eingelegt, obwohl er von der Loyola University in Chicago angenommen worden war. Und weil er sich auch für das kommende Herbstsemester noch nicht angemeldet hatte, sah es aus, als würde er seine Pause um ein weiteres Jahr verlängern.
»Lass mich aus dem Spiel«, sagte Hassan lächelnd. »Ich bin hier nicht der, der zu fertig ist, um vom Teppich aufzustehen oder seine eigene Kotze runterzuspülen, Mann. Und weißt du, warum? Ich habe Gott.«
»Versuch nicht immer mich zu konvertieren«, knurrte Colin.
Doch Hassan sprang auf, setzte sich auf Colin, drückte seine Arme auf den Boden und rief: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet! Los, sag es, Sitzpinkler! La ilaha illa-llah!4« Colin ächzte unter Hassans Gewicht, doch er musste lachen, und Hassan lachte auch. »Ich will nur deinen Arsch vor der Hölle retten!«
»Geh runter, sonst komme ich schneller hin, als dir lieb sein kann«, keuchte Colin.
Hassan stand auf, dann wurde er ernst. »Also gut. Was genau ist das Problem?«
»Sie hat mich sitzen lassen, genau das ist das Problem. Und ich bin allein. O Gott, ich bin wieder allein. Und nicht nur das, ich bin außerdem eine totale Niete, falls du es noch nicht gemerkt hast. Ich habe fertig, ich bin Geschichte, ein Ex. Exfreund von Katherine XIX. Exwunderkind. Exhochbegabter Teenager voller Potenzial. Jetzt bin ich nur noch voller Probleme.« Wie Colin Hassan unzählige Male erklärt hatte, gab es zwischen hochbegabt sein und genial sein einen himmelweiten Unterschied.
Wunderkinder können sehr schnell lernen, was andere ausgeklügelt haben; Genies entdecken Dinge, von denen noch keiner je gehört hat. Wunderkinder lernen; Genies handeln. Aus der überwältigenden Mehrheit der Wunderkinder wird kein Genie, wenn sie erwachsen sind. Colin war so gut wie sicher, dass er zu dieser unglücklichen Mehrheit gehörte.
Hassan setzte sich aufs Bett und zupfte an seinem Doppelkinn. »Was ist das eigentliche Problem – das mit Katherine oder das mit dem Genie?«
»Ich liebe sie einfach so«, antwortete Colin. Doch eigentlich waren in seinem Kopf beide Probleme untrennbar miteinander verknüpft. Das Problem war, dass er, dieser außerordentliche, besondere, brillante Junge – eben genau das nicht mehr war. Das Problem war, dass er keine Rolle mehr spielte. Colin Singleton, anerkanntes Wunderkind, anerkannter Veteran in Katherine-Konflikten, anerkannter Langweiler und Sitzpinkler, spielte keine Rolle mehr für Katherine XIX., und er spielte keine Rolle für den Rest der Welt. Plötzlich war er nicht mehr irgendjemandes Freund oder irgendjemandes Genie. Und das war – um die komplexe Ausdrucksweise zu verwenden, die man von einem Wunderkind erwartet – zum Kotzen.
»Weil, die Sache mit dem Genie«, fuhr Hassan fort, als hätte Colin gerade nichts von Liebe gesagt, »das ist Quatsch. Es geht immer nur darum, berühmt sein zu wollen.«
»Nein, das ist es nicht. Ich will etwas Wichtiges tun«, sagte er.
»Eben, wie ich gesagt habe, du willst Ruhm. Berühmtsein ist das neue Beliebtsein. Und Amerikas nächstes Topmodel wirst du bestimmt nicht, so viel steht fest. Also willst du Amerikas nächstes Topgenie werden, und jetzt – nimm’s nicht persönlich – jetzt heulst du rum, weil es noch nicht passiert ist.«
»Du bist keine große Hilfe«, murmelte Colin in den Teppich. Dann drehte er sich um und sah Hassan an.
»Steh auf«, sagte Hassan und hielt ihm die Hand hin. Colin nahm sie, zog sich hoch und wollte wieder loslassen. Doch Hassan hielt ihn fest. »Kafir«, sagte er, »du hast ein sehr kompliziertes Problem mit einer sehr einfachen Lösung.«
[3] »Tapetenwechsel«, sagte Colin. Zu seinen Füßen standen ein vollgestopfter Seesack und ein Rucksack, voll mit Büchern, der fast platzte. Er und Hassan saßen auf einem schwarzen Ledersofa. Auf dem identischen Sofa gegenüber saßen Colins Eltern.
Colins Mutter schüttelte missbilligend den Kopf, mechanisch wie ein Metronom. »Wohin?«, fragte sie. »Warum?«
»Seien Sie mir nicht böse, Mrs. Singleton«, sagte Hassan und legte die Füße auf den Couchtisch (was nicht erlaubt war), »aber Sie haben das Entscheidende nicht verstanden. Es gibt kein Wohin oder Warum.«
»Denk an all die Dinge, die du diesen Sommer tun könntest, Colin. Du könntest Sanskrit lernen«, sagte sein Dad. »Du wolltest doch immer schon Sanskrit lernen.5 Wird es dir überhaupt Spaß machen, ziellos durch die Gegend zu fahren? Das sieht dir gar nicht ähnlich. Ehrlich gesagt, es kommt mir vor wie eine Kapitulation.«
»Eine Kapitulation vor was, Dad?«
Sein Dad schwieg. Er schwieg nach jeder Frage, und dann, wenn er sprach, benutzte er ganze Sätze ohne Ähs oder Hms, als hätte er seine Antwort auswendig gelernt. »Es schmerzt mich, dir das zu sagen, Colin, aber wenn du dich intellektuell weiterentwickeln möchtest, musst du genau jetzt härter daran arbeiten als je zuvor. Sonst riskierst du, dass du dein Potenzial verschwendest.«
»Theoretisch«, antwortete Colin, »habe ich mein Potenzial vielleicht schon längst verschwendet.«
Möglicherweise lag es daran, dass Colin seine Eltern nie enttäuscht hatte: Weder trank er Alkohol oder nahm Drogen oder rauchte Zigaretten oder schminkte sich mit schwarzem Eyeliner oder ging abends lange aus oder war schlecht in der Schule, noch ließ er sich die Zunge piercen oder »KATHERINE LUV 4 LIFE« quer über den Rücken tätowieren.
Vielleicht hatten sie auch Schuldgefühle, als hätten sie irgendwie versagt und ihn erst in diese Lage gebracht. Oder sie wollten einfach ein paar Wochen für sich alleine haben, um ihre romantischen Gefühle wieder aufleben zu lassen. Jedenfalls saß Colin Singleton nur fünf Minuten nachdem er zugegeben hatte, dass er sein Potenzial verschwendete, reisefertig am Steuer von »Satans Leichenwagen«, seinem langen grauen Oldsmobile6, und gab Gas.
Hassan sagte: »Okay, jetzt müssen wir nur noch schnell zu mir, ein paar Klamotten einpacken und meine Eltern auf wundersame Weise davon überzeugen, dass sie mich mit dir allein verreisen lassen.«
»Sag, du hast einen Sommerjob. In einem Ferienlager oder so was«, schlug Colin vor.
»Gute Idee, außer dass ich meine Mutter nicht anlüge, weil, nur ein Hund belügt seine eigene Mutter.«
»Hmm.«
»Es wäre natürlich was anderes, wenn jemand anderes sie anlügt. Damit könnte ich leben.«
»Ich kann deine Mutter nicht anlügen«, widersprach Colin. Fünf Minuten später parkten sie in Ravenswood, einem Chicagoer Wohnviertel, in zweiter Reihe und sprangen aus dem Wagen. Mit Colin im Schlepptau stürmte Hassan das Haus. Im gut ausgestatteten Wohnzimmer fand er seine Mutter in einem Sessel, schlafend.
»Hey, Mama«, rief Hassan. »Wach auf.« Sie erschrak, doch dann lächelte sie und begrüßte die beiden auf Arabisch.
Auf Arabisch antwortete Colin: »Meine Freundin hat mich sitzen lassen, und ich habe Liebeskummer, deswegen wollen Hassan und ich, äh … äh, Ferien machen, mit dem Auto. Ich weiß nicht, wie man das auf Arabisch erklärt.«
Mrs. Harbish schüttelte den Kopf und spitzte die Lippen. »Habe ich dir nicht gesagt«, sagte sie mit arabischem Akzent, »dass du dich nicht mit Mädchen einlassen sollst? Hassan ist ein guter Junge, er trifft sich nicht mit Mädchen. Und schau, wie glücklich er ist. Du solltest von ihm lernen.«
»Genau das will er mir auf dieser Reise beibringen«, sagte Colin, auch wenn nichts weiter entfernt von der Wahrheit war. Hassan, der inzwischen seine Sachen gepackt hatte, kam ins Wohnzimmer zurück, mit einem halb offenen Seesack beladen, aus dem die Kleider quollen. »Ohiboke7, Mama«, sagte er und beugte sich zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben.
Plötzlich stand Mr. Harbish im Pyjama in der Tür und sagte auf Englisch: »Du gehst nirgendwohin.«
»Aber, Dad. Wir müssen. Schau ihn dir an. Er ist total fertig.« Colin starrte Mr. Harbish an und versuchte, so verzweifelt wie möglich auszusehen. »Er geht mit mir oder ohne mich, aber wenn ich mitkomme, kann ich mich wenigstens um ihn kümmern.«
»Colin ist ein guter Junge«, sagte Mrs. Harbish zu ihrem Mann.
»Ich rufe jeden Tag an«, sagte Hassan. »Außerdem sind wir nicht lange weg. Nur, bis es ihm wieder besser geht.«
Colin, der jetzt vollständig zu improvisieren bereit war, kam eine Idee. »Ich besorge Hassan einen Job«, sagte er zu Mr. Harbish. »Ich glaube, wir müssen beide lernen, wie wichtig harte Arbeit ist.«
Mr. Harbish brummte zustimmend und wandte sich an seinen Sohn. »Erst mal musst du lernen, wie wichtig es ist, seine Zeit nicht mit so fürchterlichen Serien wie dieser Richterin Judy zu verschwenden. Wenn du in einer Woche anrufst und sagst, du hast einen Job, kannst du von mir aus so lange bleiben, wie du willst.«
Hassan ignorierte die Schmähung und murmelte unterwürfig: »Danke, Dad.« Dann küsste er seine Mutter auf beide Wangen und marschierte zur Tür.
»Was für ein Arsch«, sagte Hassan, als sie wieder sicher in Satans Leichenwagen saßen. »Es ist eine Sache, mich der Faulheit zu bezichtigen. Aber den Namen von Amerikas bester Fernsehrichterin zu verunglimpfen – das geht unter die Gürtellinie.«
Gegen ein Uhr früh war Hassan eingeschlafen. Colin fuhr auf der I-65 durch Indianapolis nach Süden, trunken von mit Büchsenmilch verdünntem Tankstellenkaffee und der berauschenden Einsamkeit der nächtlichen Straße. Es war eine heiße Nacht für Anfang Juni, und weil seit der Jahrtausendwende die Klimaanlage nicht mehr funktionierte, waren alle Fenster offen. Das Schöne am Autofahren war, dachte er, dass es nicht zu wenig und nicht zu viel Aufmerksamkeit verlangte – ein Wagen am Randstreifen, Polizei vielleicht, Fuß vom Gas, Zeit den Sattelschlepper zu überholen, Blinken, Blick in den Rückspiegel, Hals verrenken, um den toten Winkel zu überblicken, ja, alles gut, linke Spur – gerade so viel, um Colin von dem nagenden Loch in seinem Bauch abzulenken.
Um sich zu beschäftigen, dachte Colin an andere Löcher in anderen Bäuchen. Er dachte an Erzherzog Franz Ferdinand, der 1914 ermordet worden war. Als er das blutige Loch in seiner Mitte sah, sagte der Erzherzog: »Nichts passiert.« Was für ein Irrtum! Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Erzherzog eine wichtige Rolle in der Geschichte spielte, auch wenn er weder ein Wunderkind noch ein Genie gewesen war: Seine Ermordung löste den Ersten Weltkrieg aus, und sein Tod führte zu 8528831 weiteren.
Colin vermisste sie. Sie zu vermissen hielt ihn wacher als der Kaffee, und als Hassan ihn vor eine Stunde gefragt hatte, ob er ans Steuer dürfte, hatte Colin Nein gesagt, weil das Fahren ihn in Gang hielt – unter hundertzwanzig bleiben; Gott, habe ich Herzklopfen; Kaffee schmeckt mir nicht; ich bin total überdreht; Abstand halten; okay, Lastwagen überholen; okay, zurück auf die rechte Spur; und jetzt nur noch meine Scheinwerfer gegen die Dunkelheit. Beim Fahren war die Einsamkeit des Ungeliebtseins weniger erdrückend. Fahren war eine Form von Denken, die einzige Form, die er aushielt. Trotzdem, der Gedanke lauerte irgendwo da draußen, direkt außerhalb des Scheinwerferlichts: Er war sitzen gelassen worden. Von einem Mädchen namens Katherine. Und das zum neunzehnten Mal in seinem Leben.
Wenn es um Mädchen geht (und bei Colin ging es meistens um Mädchen), hat jeder so seine Vorlieben. Colin Singletons Vorliebe hatte nichts mit dem Aussehen zu tun, Colin Singletons Vorliebe war rein verbal: Er stand auf Katherines. Nicht auf Katie oder Kat oder Cathy oder Kati oder Trine oder Ina oder Kate oder, Gott behüte, Katharina. K-A-T-H-E-R-I-N-E. Er hatte neunzehn Freundinnen gehabt. Alle hatten Katherine geheißen. Und alle – jede Einzelne – hatten ihn am Ende sitzen lassen.
Für Colin teilte sich die Welt in zwei Typen von Menschen: Sitzenlasser und Sitzengelassene. Manche behaupten vielleicht, dass sie schon beides gewesen sind, aber darum geht es nicht – jeder hat eine Veranlagung zu dem einen oder dem anderen Schicksal. Die Sitzenlasser müssen nicht immer die Herzensbrecher sein und die Sitzengelassenen nicht immer die mit dem gebrochenen Herz. Doch jeder hat eine Tendenz.8
Vielleicht hätte sich Colin daran gewöhnen sollen, an das Auf und Ab von Beziehungen. Partnerschaften endeten früher oder später immer gleich: mit Liebeskummer. Wenn man darüber nachdachte, und das tat Colin viel, endete jede romantische Beziehung mit 1) Trennung, 2) Scheidung oder 3) dem Tod. Doch Katherine XIX. war anders gewesen, zumindest hatte er das Gefühl gehabt. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte sie zurückgeliebt, leidenschaftlich. Er liebte sie immer noch – er spürte, wie ihm die Worte beim Fahren durch den Kopf tanzten: Ich liebe dich, Katherine. Ihr Name klang anders, wenn er ihn in den Mund nahm. Dann war es nicht mehr der Name, von dem er so lange besessen war, sondern ein Wort, das nur sie beschrieb, ein nach Flieder duftendes Wort, das das Blau ihrer Augen einfing und ihre langen Wimpern.
Während der Wind durch die offenen Fenster blies, dachte Colin über Sitzenlasser und Sitzengelassene und den Erzherzog nach. Hinten auf dem Rücksitz grunzte und schnüffelte Hassan im Schlaf, als ob er träumte, er wäre ein Schäferhund, und Colin spürte das gnadenlose Reißen in seinem Bauch und dachte: Es ist alles SO KINDISCH! UND SO LÄCHERLICH! DU BIST PEINLICH! VERGISS ES VERGISS ES VERGISS ES! Nur wusste er nicht genau, was »es« war.
Colins Eltern hatten Colin immer für völlig normal gehalten, bis zu einem bestimmten Junimorgen. An jenem Morgen saß der zwei Jahre und einen Monat alte Colin in seinem Hochstuhl und frühstückte eine undefinierbare Masse pflanzlichen Ursprungs, während sein Vater am anderen Ende des kleinen Küchentischs die Chicago Tribune las. Colin war dünn für sein Alter, aber dafür lang, und er hatte kleine braune Ringellöckchen, die mit einsteinscher Unvorhersehbarkeit in alle Richtungen abstanden.
»Dre-i Le-i-chen gefunden«, erklärte Colin, nachdem er einen Löffel Brei heruntergeschluckt hatte. »Nein, will Gemüse«, sagte er dann zu seinem Brei.
»Was hast du gesagt, Kleiner?«
»Dre-i Le-i-chen gefunden. Ich will Pommfritz, bitte, danke.«9
Colins Vater drehte die Zeitung um und starrte die fette Schlagzeile über dem Knick auf der Titelseite an. Das war Colins erste Erinnerung: Sein Dad lässt die Zeitung sinken und strahlt ihn an. Er hatte die Augen weit aufgerissen, und sein Lächeln ging von einem Ohr zum anderen. »CINDY! DER JUNGE LIEST DIE ZEITUNG!«
Colins Eltern gehörten zu den Leuten, die furchtbar gern lasen. Seine Mutter war Französischlehrerin an der Kalman School, einer teuren, renommierten Privatschule im Zentrum Chicagos, und sein Vater war Soziologieprofessor an der Northwestern University im Norden der Stadt. Und nachdem Colin die drei Leichen in der Zeitung gefunden hatte, fingen seine Eltern mit ihm zu lesen an – überall und jederzeit, vor allem englische, aber auch französische Bilderbücher.
Vier Monate später schickten sie ihn in einen Kindergarten für hochbegabte Kinder. Im Kindergarten hieß es, Colin sei schon zu weit für den Kindergarten, und außerdem nahmen sie keine Kinder, die noch nicht aufs Töpfchen gingen. Sie schickten ihn zu einer Psychologin an der University of Chicago.
Und so landete das nicht ganz stubenreine Wunderkind in einem kleinen fensterlosen Büro an der South Side bei einer Frau mit Hornbrille, die Colin fragte, ob er in langen Zahlen- und Buchstabenreihen Muster erkennen konnte. Dann bat sie ihn, geometrische Figuren zuzuordnen. Sie fragte ihn, welches Bild nicht zu den anderen passte. Sie fragte ihn eine schier endlose Reihe herrlicher Fragen, und Colin liebte sie deswegen, denn bis dahin hatten die meisten Fragen, die man ihm stellte, damit zu tun gehabt, ob er die Hosen voll hätte oder bitte noch einen Löffel von dem ekligen Matschebrei essen würde.
Nach einer Stunde Fragen sagte die Frau: »Colin, ich danke dir für deine große Geduld. Du bist ein ganz besonderer Junge.«
Du bist ein ganz besonderer Junge.
Diesen Satz würde Colin noch sehr oft in seinem Leben hören, aber aus irgendeinem Grund bekam er nie genug davon.
Die Frau mit der Hornbrille bat seine Mutter herein. Als die Professorin Mrs. Singleton mitteilte, dass Colin hochbegabt sei und ein ganz besonderer Junge, spielte Colin mit einem Haufen Holzbuchstaben. Er zog sich einen Splitter in den Finger, als er n-e-b-e-l zu l-e-b-e-n umlegte – das erste eigenhändige Anagramm, an das er sich erinnerte.
Die Professorin erklärte Mrs. Singleton, dass Colins Begabung gefördert werden müsse, er aber nicht bedrängt werden sollte, und sie warnte: »Setzen Sie keine übertriebenen Erwartungen in ihn. Kinder wie Colin können Informationen sehr schnell verarbeiten. Sie zeigen eine außerordentliche Fähigkeit, sich auf Aufgaben zu konzentrieren. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass er den Nobelpreis gewinnt, ist bei ihm nicht größer als bei jedem anderen einigermaßen intelligenten Kind.«
An jenem Abend schenkte sein Vater ihm ein neues Buch – Die Geschichte vom Missing Piece von Shel Silverstein. Colin setzte sich neben seinen Dad aufs Sofa und blätterte mit seinen kleinen Händen die großen Seiten um. Er las und las und machte nur eine Pause, um zu fragen, ob »gucken« das Gleiche wie »kucken« war. Als er durch war, schlug er den Buchdeckel mit großer Geste zu.
»Hat es dir gefallen?«, fragte sein Dad.
»Ja«, sagte Colin.
Ihm gefielen alle Bücher, allein, weil ihm das Lesen gefiel, das Wunder, wie sich ein paar Striche auf dem Papier in seinem Kopf in Worte verwandelten.
»Und worum geht es in dem Buch?«, fragte sein Dad.
Colin legte ihm das Buch auf den Schoß und sagte: »Dem Kreis fehlt ein Teil. Das fehlende Teil sieht aus wie eine Pizza.«
»Wie eine Pizza oder wie ein Stück Pizza?« Sein Vater lächelte und legte ihm seine großen Hände mit den abgekauten Fingernägeln auf den Kopf.
»Wie ein Stück Pizza. Und der Kreis geht dann das fehlende Teil suchen. Und er findet ganz viele falsche Teile. Und dann findet er das richtige Teil. Aber er lässt es liegen. Da hört es auf.«
»Hast du auch manchmal das Gefühl, du bist ein Kreis, dem ein Teil fehlt?«, fragte sein Dad.
»Ich bin doch kein Kreis, Daddy. Ich bin ein Junge.«
Das Lächeln seines Vaters ließ ein wenig nach – das Wunderkind konnte lesen, doch es konnte nicht sehen. Hätte Colin damals nur erkannt, dass auch ihm ein Teil fehlte, und dass seine Unfähigkeit, sich selbst in der Geschichte des Kreises wiederzufinden, ein schwerwiegendes Problem darstellte – vielleicht hätte er dann gewusst, dass der Rest der Welt ihn einholen würde, irgendwann. Oder, um es mit einer anderen Geschichte auszudrücken, die er auswendig gelernt, aber nie richtig begriffen hatte: Wenn er verstanden hätte, dass es in der Geschichte vom Hasen und vom Igel um mehr ging als nur um einen Hasen und einen Igel, dann wäre ihm wohl eine Menge Ärger erspart geblieben.
Als er drei Jahre später in der Kalman School eingeschult wurde – ohne Schulgeld zahlen zu müssen, weil seine Mutter zum Lehrkörper gehörte –, war er nur ein Jahr jünger als die meisten seiner Klassenkameraden. Sein Vater drängte ihn zwar, mehr und intensiver zu lernen, doch Colin war keines dieser Wunderkinder, die schon mit elf zur Uni gehen. Und seine Eltern wollten, dass er ein halbwegs normales Schulleben führte, aus Sorge um das, was sie sein »soziales Wohlergehen« nannten.
Allerdings war es um sein soziales Wohlergehen zu keinem Zeitpunkt besonders gut bestellt. Colin war schlecht darin, Freunde zu finden. Er und seine Klassenkameraden hatten keine gemeinsamen Interessen. Seine Lieblingsbeschäftigung in der Pause, zum Beispiel, war Roboter spielen. Mit steifen Schritten und steifen Armen ging er auf Robert Caseman zu und sagte mit monotoner Stimme: »ICH BIN EIN ROBOTER. ICH KANN JEDE FRAGE BEANTWORTEN. WILLST DU WISSEN, WER DER VIERZEHNTE PRÄSIDENT VON AMERIKA WAR?«
»Na gut, Kollaps«, sagte Robert, »ich habe eine Frage: Warum bist du so bescheuert?« Roberts Lieblingsspiel in der ersten Klasse war, Colin »Kollaps« zu nennen, bis Colin weinte, was normalerweise nicht lange dauerte, weil Colin, wie seine Mutter sagte, »sensibel« war. Colin wollte einfach nur Roboter spielen. Was war so falsch daran?
In der zweiten Klasse waren Robert Caseman und seine Kumpel schon etwas reifer geworden. Inzwischen hatten sie kapiert, dass Worte nicht wirklich wehtaten, man aber mit anderen Mitteln Gewalt anwenden konnte, und so erfanden sie den strecklichen Iwan.10 Sie befahlen Colin, sich auf den Boden zu legen (was er aus irgendeinem Grund auch tat), und dann hielten ihn vier Jungs jeweils an einem Arm oder Bein und zogen. Es war eine Art Vierteilung, nur dass sie unter Siebenjährigen nicht tödlich ausging, sondern bloß peinlich und dumm. Colin bekam das Gefühl, dass keiner ihn mochte, und ehrlich gesagt, er hatte recht. Sein einziger Trost war, dass er eines Tages etwas Wichtiges vollbringen würde. Er würde berühmt werden. Und die anderen nicht. Das sei der wahre Grund, erklärte ihm seine Mutter, warum die anderen ihn ärgerten. »Sie sind neidisch.« Aber Colin wusste es besser. Sie waren nicht neidisch. Sie konnten ihn nur nicht leiden. Manchmal war es so einfach.
Und daher waren er und seine Eltern überaus froh und erleichtert, als Colin Singleton kurz nach Beginn des dritten Schuljahrs sein soziales Wohlergehen dadurch bewies, dass er (für kurze Zeit) das Herz der hübschesten Achtjährigen in ganz Chicago eroberte.
[4] Gegen drei Uhr früh machte Colin in der Nähe von Paducah in Kentucky vor einer Raststätte halt, kurbelte die Lehne zurück, bis sie gegen Hassans Beine auf dem Rücksitz stieß, und legte sich schlafen. Nach etwa vier Stunden wachte er auf. Hassan trat ihm von hinten in den Rücken.
»Kafir – du hast mich eingeklemmt. Mach die beschippte Lehne hoch. Ich muss beten.«
Er war gerade mitten im Traum der Erinnerungen an Katherine. Im Halbschlaf griff Colin nach unten, zog den Hebel und ließ den Sitz nach vorn schnappen.
»O Mann«, sagte Hassan. »Ist gestern Nacht in meinem Mund was gestorben?«
»Hm. Ich schlafe noch.«
»Schmeckt nach Verwesung. Hast du Zahnpasta dabei?«
»Es gibt einen Fachbegriff dafür. Foetor hepaticus. Passiert im späten Sta…«11
»Uninteressant«, sagte Hassan wie jedes Mal, wenn Colin von einem abseitigen Thema anfing. »Zahnpasta?«
»Im Waschbeutel im Seesack im Kofferraum«, antwortete Colin.
Als Hassan die Autotür und einen Moment später den Kofferraum zuschlug, rieb sich Colin den Schlaf aus den Augen und sah ein, dass es Zeit zum Aufstehen war. Hassan kniete draußen auf dem Asphalt in Richtung Mekka, und Colin schleppte sich zum Klo. (In seiner Kabine hatte jemand an die Wand gekritzelt: NADENNE BESORGT ES DIR. Colin fragte sich, was Nadenne besorgte, Sex oder Drogen, und zum ersten Mal seit er reglos auf dem Boden in seinem Zimmer gelegen hatte, gab er sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung hin und machte Anagramme: Nadenne besorgt es dir – ein Gnadenbrotesser).
Dann trat er hinaus in die warme Morgenluft Kentuckys und setzte sich zu Hassan an den Picknicktisch, der gerade die Tischplatte mit seinem Taschenmesser bearbeitete.
»Was machst du da?« Colin verschränkte die Arme auf dem Tisch und ließ den Kopf hängen.
»Während du auf dem Klo warst, habe ich mich hier am Arsch der Welt in Kentucky an den Picknicktisch gesetzt und musste feststellen, dass jemand eingeritzt hat: GOTT HASST HOMO, was, abgesehen davon, dass es grammatikalisch ein Albtraum ist, vollkommen absurd ist. Ich mache gerade daraus: GOTT HASST CORNICHONS. Dem ist schwer zu widersprechen. Jeder hasst Cornichons.«
»J’aime les cornichons«, murmelte Colin.
»Du aimes viele bescheuerte Sachen.«
Während Hassan an GOTT HASST CORNICHONS arbeitete, wanderten Colins Gedanken wie folgt: 1) Cornichons, 2) Katherine XIX., 3) die Kette mit dem Rubin, die er ihr vor fünf Monaten und siebzehn Tagen gekauft hatte, 4) die meisten Rubine kamen aus Indien, das 5) früher zum Britischen Reich gehörte, dessen Premierminister 6) Winston Churchill war, und 7) wie interessant es war, dass die meisten guten Politiker wie Churchill und Gandhi eine Glatze hatten, während 8) viele böse Diktatoren wie Hitler, Stalin und Saddam Hussein einen Schnurrbart trugen. Andererseits trug 9) Mussolini nur manchmal einen Schnurrbart, und 10) viele gute Wissenschaftler hatten auch einen Schnurrbart, zum Beispiel der Italiener Ruggero Oddi, der den 11) Sphinkter Oddi der Galle entdeckte, einen von mehreren wenig bekannten Schließmuskeln neben dem 12) Pupillensphinkter.
Und wo wir gerade davon sprechen: Als Hassan Harbish, nachdem er zehn Jahre lang von einem Privatlehrer zu Hause unterrichtet wurde, in der zehnten Klasse in der High School auftauchte, war er ziemlich schlau, wenn auch kein Wunderkind. In jenem Herbst besuchten Colin und er den gleichen Mathekurs, obwohl Colin erst in die neunte ging. Sie sprachen kein Wort miteinander, weil Colin es längst aufgegeben hatte, sich mit Leuten anzufreunden, die nicht Katherine hießen. Er hasste fast alle Schüler an der Kalman School, was in Ordnung ging, denn im Großen und Ganzen hassten ihn alle zurück.
Nach zwei Wochen hob Colin die Hand, und Ms. Sorenstein sagte: »Ja, Colin?«
Colin hatte die Hand unter der Brille auf das linke Auge gedrückt und hatte ganz offensichtlich ein Problem.
»Darf ich bitte mal kurz raus?«, fragte er.
»Ist es wichtig?«
»Ich glaube, ich habe eine Wimper in meinem Pupillenschließmuskel«, erklärte Colin, und die ganze Klasse brach in Gelächter aus. Ms. Sorenstein ließ ihn gehen, und Colin rannte zum Waschraum, starrte in den Spiegel und fischte sich eine Wimper aus dem Auge, genau an der Stelle, wo sich der Pupillenschließmuskel befindet.
Nach der Stunde fand Hassan Colin auf der Steintreppe am Hintereingang der Schule, wo er allein sein Erdnussbutterbrot aß.
»Hör zu«, sagte Hassan, »heute ist der neunte Schultag meines ganzen Lebens, und trotzdem habe ich schon kapiert, was du in der Klasse laut sagen kannst und was nicht. Und was du nicht laut sagen kannst, ist alles, was mit deinem Schließmuskel zu tun hat.«
»Aber das ist ein Teil vom Auge«, verteidigte sich Colin. »Ich habe den Fachausdruck verwendet.«
»Pass auf, Kumpel. Du musst dein Publikum kennen. Auf einem Kongress von Augenärzten hättest du damit vielleicht Punkte gemacht, aber hier in Mathe fragt sich jeder bloß, wie deine Wimper dort landen konnte.«
Seitdem waren sie Freunde.
»Ich muss sagen, ich stehe nicht besonders auf Kentucky«, sagte Hassan. Colin hob den Kopf und legte das Kinn auf die Arme. Er ließ den Blick über den Parkplatz schweifen. Von seinem fehlenden Teil fehlte jede Spur.
»Auch hier erinnert mich alles an sie. Wir wollten zusammen nach Paris. Ich meine, ich will überhaupt nicht nach Paris, aber ich muss die ganze Zeit daran denken, wie glücklich sie im Louvre wäre. Wir würden in tolle Restaurants gehen und Rotwein trinken. Wir haben uns im Internet sogar schon Hotels angesehen. Das Geld von KranialKidz hätte dicke gereicht.«12
»O Mann, wenn dich Kentucky an Paris erinnert, dann haben wir wirklich ein Problem.«
Colin setzte sich auf und blickte über den ungepflegten Rasen hinter der Raststätte, wo ein Dobermann eine übergewichtige Frau über die braune, mit räudigem Gras gesprenkelte Erde zerrte. Dann sah er hinunter auf Hassans kunstvolle Handarbeit. »Cornichons«, erklärte Colin.
»O Gott. Gib mir die Autoschlüssel.« Colin griff in die Tasche und warf die Schlüssel über den Picknicktisch. Hassan fing sie im Aufstehen auf, dann drehte er sich um und marschierte auf den Wagen zu. Einsam trottete Colin hinter ihm her.
Sechzig Kilometer weiter, immer noch in Kentucky, hatte sich Colin ans Beifahrerfenster gekuschelt und war gerade dabei einzuschlafen, als Hassan verkündete: »Das größte Holzkruzifix der Welt – nächste Ausfahrt.«
»Wir fahren nicht raus, um das größte Holzkruzifix der Welt zu besichtigen.«
»Komm schon«, erwiderte Hassan. »Das Ding muss riesig sein.«
»Hassan, warum sollen wir anhalten und das größte Holzkruzifix der Welt besichtigen?«
»Das hier ist eine Fahrt ins Blaue! Hier geht es darum, etwas zu erleben!« Hassan klopfte aufs Lenkrad, um seiner Aufregung Ausdruck zu verleihen. »Wir müssen nirgends hin, wir haben kein Ziel. Aber willst du wirklich sterben, ohne das größte Holzkruzifix der Welt gesehen zu haben?«
Colin dachte kurz darüber nach. »Ja. Erstens ist keiner von uns beiden Christ. Zweitens, wenn wir den Sommer damit verbringen, an irgendwelchen blöden Autobahnsehenswürdigkeiten anzuhalten, macht es die Sache auch nicht wieder gut. Drittens erinnern mich Kruzifixe an sie.«
»An wen?«
»An sie.«
»Kafir, sie war Atheistin!«
»Nicht immer«, sagte Colin leise. »Vor langer Zeit hat sie mal ein Kreuz um den Hals getragen. Bevor wir zusammenkamen.« Er starrte durchs Fenster auf die vorbeifliegenden Kiefernwälder. Sein ausgezeichnetes Gedächtnis lieferte ihm die genaue Erinnerung an ein silbernes Kruzifix.
»Dein Sitzgepinkel ekelt mich an«, sagte Hassan, doch er trat aufs Gas und rauschte an der Ausfahrt vorbei.