Sandra Gernt
Impressum:
© dead soft verlag, Mettingen 2012
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© the author
Cover: M. Hanke
Coverabbildung: © magann – fotolia.com
Giraffe: © Stephi – fotolia.com
1. Auflage
ISBN 978-3-943678-19-2 (print)
ISBN 978-3-943678-20-8 (Epub)
Bisher erschienen in dieser Reihe:
Eisiges Feuer
Jenseits der Eisenberge
Prolog
Ausdruckslos betrachtete der Priester das unscheinbare Amulett, das ihm der Geweihte aus Irtrawitt überbracht hatte. Mehrmals ließ er es an der silbernen Kette durch seine Finger gleiten. Er spürte die Kraft, die darin gebannt lag.
„Du bist sicher, dass der junge Corlin überlebt hat?“, fragte er schließlich.
„Ja, Herr. Der Layn hat ihn brandmarken lassen, es ist also recht sicher, dass er weitestgehend unbeschadet in den Minen angekommen ist. Maggarn berichtete zwar, dass der Mann unter den erlittenen Qualen gebrochen zu sein schien, aber es ist bedeutsam, dass er für die Sicherung dieses Kleinodes gekämpft hat, nicht wahr?“
Der Priester dachte nach, dann nickte er. „Ich hatte gehofft, es würde sich leichter lösen lassen, und wie es scheint, habe ich den gleichen Fehler wie alle anderen gemacht: Ich habe den jungen Corlin unterschätzt.“
„Nicht überschätzt, Herr?“
Wieder dachte der Priester lange nach.
„Möglicherweise auch das. Warten wir ab, wie sich das alles entwickeln wird. Zumindest besteht noch Grund zur Hoffnung, jetzt, wo das Amulett gesichert ist.“
„Hoffnung für wen, frage ich mich“, murmelte der Bote.
„Für uns alle, mein Freund. Für Onur, für den Corlin und seinen Geliebten. Vielleicht sogar für den Layn, wer weiß?“
Als der Priester wieder allein war, legte er das Amulett in ein Kästchen, das er sorgfältig verschloss.
„Hoffnung, fürwahr!“, flüsterte er dabei. „Wie sagt man so schön? Hoffnung ist der Fluch, der mich am Sterben hindert!“
Lys blickte sich um, ohne Hoffnung oder Illusionen. Hier war also seine nächste Station. Würde er hier als Sklave arbeiten, bis er tot umfiel, ohne Kirian noch ein einziges Mal sehen zu dürfen? Seinen Sohn? Seine Freunde und all jene, die von ihm abhängig waren? Die er im Stich gelassen hatte, um irgendwo in der Fremde zugrunde zu gehen? Und Kumien … Lys weigerte sich, an ihn zu denken. Der Weg hierher war anstrengend gewesen, obwohl Terk und seine Leute ihn weitestgehend in Ruhe gelassen hatten. Nach zwei Tagen und drei Nächten in Eisenschellen fühlte es sich seltsam an, ungefesselt dastehen zu dürfen. Er kämpfte mit dem Gleichgewicht, leider gab es nichts, woran Lys sich hätte festhalten können. Also versuchte er sich nicht zu bewegen, bis seine Beine sich wieder daran gewöhnt hatten, ihn zu tragen.
Ein großer blonder Mann mit einer Peitsche im Gürtel las den Brief, den die Sklavenaufseher ihm übergeben hatten. Sein neuer Mebana. Dann wandte er sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu Lys um. Er musterte ihn von allen Seiten, fühlte nach seinen Muskeln, als sei er ein Pferd, dessen Wert für den Verkauf geschätzt werden musste.
Ob Pferde sich auch so fühlen? Oder Kühe?
Er hielt den Kopf gesenkt, versuchte sich nicht einzugestehen, wie stark die Angst war, die dort in seinem Bauch wütete. Wie tief die dumpfe Düsternis der Verzweiflung sich in ihm ausgebreitet hatte, niemals zu erfahren, was mit Kirian geschehen war. Er war so müde, müde …
„Mein Name ist Pocil, ich bin der Lageraufseher. Wie du mich anzureden hast, weißt du hoffentlich“, sagte der Mann schließlich und begutachtete dabei das Brandzeichen auf Lys’ Arm. Es war noch immer schmerzhaft und berührungsempfindlich. Pocil grinste, als Lys zusammenzuckte. In seinen hellblauen Augen funkelten Intelligenz und Gier. Er schien kein so schlichtes, grobes Gemüt wie die meisten anderen Sklavenaufseher zu besitzen. Angenehm war seine Nähe dadurch trotzdem nicht. Sein Schweißgeruch stieß Lys ab, er wäre lieber geflohen, als ihm so nahe zu sein, dass er jedes Barthaar auf dem schlecht rasierten Kinn sehen konnte.
„Normalerweise schicken wir abgelegte Lustsklaven nicht in die Mine, zumindest im ersten Monat nicht. Wenn ihr ehemaliger Mebana sich bis dahin nicht gerührt hat, um sie zurückzuholen, ist es sowieso zu spät und man kann sie auch arbeiten lassen. In der Schonzeit dürfen sie uns Aufsehern dienen. Feine Sache, wir bekommen selten was Nettes zur Unterhaltung geboten.“ Er packte ihn an den Handgelenken, blickte kurz stirnrunzelnd auf die Narben an Lys’ Armen, riss ihn herum und zerrte ihm das Hemd über den Kopf. Lys war zu überrascht von der plötzlichen Attacke, um zu schreien; er erstarrte in Pocils Griff. Der Lageraufseher strich ihm über den vernarbten Rücken, was Lys sich atemlos vor Panik gefallen lassen musste.
„Du hast für die härteren Vergnügungen gedient, wie ich sehe? Denn so störrisch siehst du gar nicht aus, dass man Grund hätte haben können, dich weich zu prügeln.“ Er ließ ihn los und drückte ihm das Hemd in die Hände. Schwer atmend zog sich Lys wieder an. Auf den Gedanken, dass man ihn als Spielzeug für die Aufseher hergeschickt haben könnte, war er überhaupt nicht gekommen!
„Jammerschade, dass der Layn ausdrücklich befiehlt, dass niemand deinen hübschen Hintern anfassen darf. Jungs sind zwar nicht unsere bevorzugte Unterhaltung, aber man nimmt, was man kriegen kann.“ Pocil griff ihm zwischen die Beine, was Lys aufkeuchend ertrug. Krampfhaft hielt er den Blick zu Boden gerichtet, versuchte, sich innerlich hinter Schutzbarrieren zu verstecken. Er wollte nichts spüren und durfte sich nicht wehren.
Ich bin nicht hier, du berührst nur eine leere Hülle, ich bin nicht hier!
„Seltsam scheu für einen Lustknaben …“ Misstrauisch sah Pocil über die Schulter.
„Habt ihr von verbotenen Früchten genascht?“, rief er Terk zu, der sich schon wieder für den Rückweg rüstete.
„Bin ich lebensmüde? Wenn er irgendwem gehört hätte, gut, aber er gehört dem Layn. Maggarn hat klar gemacht, dass man die Finger von ihm lassen sollte, falls man Wert darauf legt, sie alle zu behalten.“
„Stimmt das?“, fragte Pocil Lys, der mit gesenktem Kopf nickte. Er konzentrierte sich auf die staubigen Stiefel des kräftigen Mannes, die Geräusche im Hintergrund – ein fluchender Mann in der Baracke rechts von ihnen, Stimmengewirr und Gesang von Frauen, ein weinendes Kind, das metallisches Hämmern aus einer nah gelegenen Schmiede, der Wind, der durch Bäume strich, gackernde Hühner … Alles nahm er wahr, um die Hand ausblenden zu können, die nach wie vor um sein Geschlecht geschlossen war, ihn hart durch den Stoff der Hose rieb.
Pocil verstärkte den Druck, bis Lys vor Schmerz leise stöhnte; dann gab er ihn lachend frei.
„Na, mir soll’s egal sein. Du kommst in die Mine, bist kräftig und gesund genug. Hoy, Alsa! Zeig dem Jungen hier die richtige Hütte, der gehört jetzt zu Arkins Leuten. Und Mattin, komm her, für dich ist auch ein Brief gekommen. Wusste gar nicht, dass du lesen kannst!“ Pocil winkte ein kleines Mädchen in einem zerrissenen, schmutzigen Kleid heran, das vor einer der Hütten saß und einen Korb flocht. Sie ließ die Arbeit sofort fallen und eilte mit gesenktem Kopf heran. Lys folgte ihr stumm.
Das hätte er mir selbst zeigen können. Der Korb ist verdorben, sie muss neu anfangen ..., dachte er. Aber was nutzte es schon, sich über jene zu erregen, die man zu Herren ernannt hatte? Er sollte also wirklich in der Erzmine arbeiten. Dort würde er vermutlich nicht lange überleben, und das war gut so. Lys wusste, er hatte nicht mehr die Kraft, noch länger zu kämpfen. Fluchtwege zu suchen, weiter nach Kirian zu forschen in diesem Land, in dem er durch das Brandzeichen immer als Sklave erkannt werden würde. Kumiens Land …
Alsa lief vor zu einer Hütte, die sich durch nichts von den anderen unterschied und bedeutete ihm scheu mit einer Geste, vor der Tür zu warten, während sie selbst im Inneren verschwand. Nur einen Moment später kam sie wieder heraus gerannt und drückte sich an Lys vorbei, sicherlich, um zurück zu ihrem Flechtwerk zu gelangen. Eine Frau erschien aus dem Dämmerlicht der Baracke. Sie musterte ihn kaum weniger abschätzend als der Sklavenaufseher zuvor. Sie war klein und hager, in ihren zu einem Zopf geflochtenen dunklen Haaren bezeugten zahlreiche graue Strähnen ihre Jahre. Auch ihr faltiges, von Kummer und Entbehrung gezeichnetes Gesicht sprach davon, wie alt sie schon sein musste. Ihre dunklen Augen hingegen schienen einer jungen Frau zu gehören, die lediglich von zu viel Leid und Arbeit vor ihrer Zeit verblühte. Sie musterte ihn intensiv und schien nicht zufrieden mit dem, was sie sah, nickte ihm aber zu.
„Mein Name ist Irla. Tritt ein, such dir eine Ecke, in der du niemanden störst. Ich werde mich später um dich kümmern.“
Wie betäubt folgte Lys ihr in die Hütte hinein, wo ihn eine Geruchsmischung aus Rauch und Kohleintopf empfing. Er erblickte eine Reihe von Frauen und Kindern, die auf festgestampftem Lehmboden hockten und mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt waren. Eine weitere Tür befand sich ihm gegenüber, sie führte wohl zu der Latrine, die Lys von außen gesehen hatte. In der Mitte, nahe beim Kochfeuer, lag ein Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht. Irla kniete neben ihm und sprach auf ihn ein, während sie einen Verband um seinen Ellenbogen anlegte.
Mit gerunzelter Stirn blieb Lys stehen und zögerte. Irla hatte ihm befohlen, sie nicht zu stören. Er wusste allerdings, dass der Mann dort keinen Verband brauchte, erkannte es an der Art, wie er den Arm hielt – das Ellenbogengelenk war ausgekugelt. Sehr schmerzhaft, doch leicht zu heilen, wenn man wusste, wie. Ließ man den Arm allerdings so, wie er war, würde es nur schlimmer werden, vielleicht konnte der Mann ihn am Ende gar nicht mehr bewegen. Ob man wohl verkrüppelte Sklaven tötete?
Eigentlich wollte er sich nicht darum kümmern, was ging es ihn an? Er war erschöpft, hatte Schmerzen, und man hatte ihm verboten, sich einzumischen. Dieser Drang, sich ständig einmischen zu müssen, hatte ihn genau in diese Lage hier gebracht … Trotzdem hockte er sich neben Irla nieder.
„Ich kann ihm helfen“, sagte er leise.
Sie betrachtete ihn missbilligend, protestierte aber nicht, als Lys den Verband einfach abnahm, vorsichtig den verletzten Arm des Mannes ergriff und aufstand.
„Nicht dagegenhalten!“, befahl Lys. Eine der älteren Frauen erkannte, was er vorhatte, packte den Mann beim Oberarm und nickte Lys zu. Ein energischer Ruck – der Verletzte schrie kurz auf – dann war der Arm bereits gerichtet. Verblüfft starrte der Mann ihn an.
„Das … das war alles?“, murmelte er und bewegte zögerlich die Hand.
„Der Arm muss noch geschont werden!“, bestimmte Irla und legte ihm mit schnellen Bewegungen eine Schlinge an. Lys verzog sich derweil in eine Ecke, wie es ihm befohlen worden war, und wartete dort ab, was man mit ihm anstellen würde. Er wollte schlafen …
Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, zuckte er erschrocken zusammen. Er musste unbemerkt eingenickt sein, verwirrt blickte er in Irlas faltiges Gesicht.
„Danke“, sagte sie lächelnd. „Von uns Alten hat niemand die Kraft, Gelenke zu richten, und kaum einer der jungen Leute besitzt das Geschick. Emins Arm wäre vielleicht nicht mehr zu retten gewesen, wenn die Männer heute Abend zurückkommen.“
Lys nickte stumm und schloss für einen Moment die Augen. Wahrscheinlich würde sie ihm gleich eine Arbeit zuweisen, er musste sich zusammennehmen!
„Bist du schwer verwundet?“
„Was?“ Ihre Frage traf ihn unvorbereitet. „Nein – nein, ich bin nur …“
„Alle Sklaven, die neu ankommen, sind verletzt. Dass du Emin helfen konntest, bedeutet wohl, dass du nicht zu heftig gepeitscht wurdest, ich will trotzdem deinen Rücken sehen.“ Er starrte sie entsetzt an und wich zurück, als sie nach ihm griff. Sie seufzte ungeduldig, zog ihn mit sich, ohne seine schwachen Proteste zu beachten, und drückte ihn neben dem Feuer zu Boden. Lys setzte sich, die Beine fest an die Brust gezogen. Er sah, wie einige der Kinder ihn ernst beobachteten. Es war schmerzlich zu sehen, dass selbst die Kleinsten nicht wagten, offen zu lächeln.
„Runter damit!“, befahl Irla, und zupfte an seinem Hemd. Ihr Ton weckte Ängste, die Lys nicht beherrschen konnte. Er wollte sich wehren, dennoch krallten sich all seine Finger in den Stoff, die Arme hielt er eng an sich gepresst.
„Muss ich ein Messer holen, um es dir vom Leib zu schneiden?“, fragte sie scharf, riss sich dann sichtlich zusammen und fuhr mit sanfterem Ton fort: „Ich kann dir helfen. Hab keine Angst, dir geschieht nichts.“
Lys schaute sie misstrauisch an, zwang sich schließlich, das Hemd auszuziehen und ergab sich seiner stumpfen Hoffnungslosigkeit. Nichts fühlen, nichts denken, nichts davon, nicht mehr …
„Hinlegen, los!“ Sie drückte ihn gewaltsam nieder, wäre dabei fast weggerutscht, weil er gar keinen Widerstand mehr leistete. Ihre kühlen Finger waren angenehm, er spürte kaum, was sie mit seinen Wunden anstellte, nur, wie der Schmerz nachließ. Sie hieß ihn, sich auf die Seite zu drehen, um an seinen Arm heranzukommen, legte einen Verband um das Brandmal und versorgte schließlich noch die von den Eisenfesseln wund geriebene Haut. Die ganze Zeit über hielt er das Gesicht abgewandt, um sie nicht ansehen zu müssen, und kontrollierte seine Angst, indem er sich auf die Atmung konzentrierte.
„Das war’s.“ Irla riss ihn aus der Trance, automatisch blickte er zu ihr auf.
„Was warst du vorher?“, fragte sie neugierig, während er sich steif wieder anzog, den Rücken zu ihr gewandt.
Verwirrt starrte er über die Schulter.
„Na, als was hast du vorher gedient? Du hast viele Narben, also bist du wohl schon lange ein Sklave? Oder schon von Geburt an?“
Lys schüttelte den Kopf, zu erschöpft für lange Erklärungen. „Bin erst seit Kurzem, ich meine, seit einigen Wochen …“, stammelte er zusammenhanglos.
„Geh und schlaf“, unterbrach sie ihn lächelnd. „Ich weiß nicht warum, denn ich wurde hier geboren; aber beinahe jeder neue Sklave bricht erst einmal zusammen, wenn er hier angekommen ist.“
Er torkelte zurück in die Ecke, die er sich ausgesucht hatte, und rollte sich dort eng zusammen, die Beine fest an den Bauch gezogen. Ausruhen, das war eine gute Idee. Eine Stunde, vielleicht auch zwei …
*
„Was denkst du?“, meinte Nalie sachlich, und wies mit dem Kinn auf den schlafenden jungen Mann. „Der muss was Schlimmes angestellt haben, sonst hätte man so einen hübschen Jungen doch nicht in die Minen geschickt, sondern als Spielzeug dabehalten!“
Irla zuckte die Schultern.
„Er ist körperlich deutlich stärker, als er aussieht, aber selten hab ich jemanden gesehen, der so innerlich zerstört ist und trotzdem noch, hm, so anwesend. Nicht so leer, wie man es erwarten könnte. Wer weiß, was man ihm alles angetan hat, um ihn so zu zerbrechen. Er wird nicht lange hier überleben.“ Sie beugte sich tiefer über ihre Arbeit. „Nun gut, es ist nicht schwer zu erraten, was man ihm angetan hat.“
„Deshalb wolltest du seinen Namen nicht wissen? Obwohl er Emin geholfen hat?“
Irla schnaubte verächtlich. „Warum soll ich mich damit belasten? Wahrscheinlich bestatten wir ihn morgen früh schon. Du weißt doch, besser, sich gar nicht erst an sie zu gewöhnen. Sollte er die Nacht überleben, kann er mir beim Frühstück immer noch sagen, wie er heißt.“
*
Lys fuhr hoch, als er geschäftigen Lärm um sich hörte. Die Hütte füllte sich mit Männern, die anscheinend von der Minenarbeit zurückkehrten. Viele lachten und sprachen unbekümmert miteinander, ließen sich von den Frauen Essen anreichen, begrüßten die Kinder, machten es sich bequem. Sie schauten zu ihm herüber, wie er dort in der Ecke hockte, den Kopf auf den angezogenen Beinen gelegt. Er spürte ihre Blicke, es war ihm gleichgültig. Er gehörte nicht zu ihnen und wollte auch nicht Teil ihrer Gemeinschaft werden.
Ein junger Mann, fast noch ein Kind, setzte sich ihm gegenüber und starrte ihn offen an. Lys duckte sich unwillkürlich noch tiefer zusammen, obwohl es keinen Grund gab, sich zu fürchten.
„Hey“, sagte der Junge laut und stieß Lys an. „Hey, versteck dich nicht vor mir!“
Lys hob ergeben den Kopf. Besser, er gehorchte, vielleicht bekam er so schneller seine Ruhe.
„Mutter will, dass du heute Nacht hier bleibst.“ Der Tonfall machte deutlich, dass der Junge nicht viel davon hielt. „Du sollst essen und deine Gelegenheit haben, dich morgen nützlich zu machen.“ Er stellte eine Schale neben Lys ab. „Ich denke, du bist zu schwach, um durchzuhalten, also geh nicht davon aus, dass du morgen Nacht ebenfalls hier sitzen und uns das Essen wegnehmen kannst!“
„Lass gut sein, Tiko“, sagte eine tiefe Stimme.
Lys erstarrte.
Das war ein Irrtum, das konnte nicht sein!
„Sieh, er ist erschöpft, wahrscheinlich auch ziemlich verstört über all das, was geschehen ist. Irla sagte, er ist erst vor Kurzem versklavt worden. Das heißt aber keineswegs, dass er sich nicht eingewöhnen kann!“
Langsam wandte Lys den Kopf. Er musste sich vergewissern, es musste sein, er musste wissen, ob er sich irrte! Er sah in das lächelnde Gesicht eines bärtigen Mannes mit langen schwarzen Haaren. Kirians Gesicht. Doch kein Erkennen funkelte in den dunklen Augen, nichts was bewies, dass dies wirklich sein Liebster war. Er stand auf, ließ diesen Fremden mit Kirians Gesicht dabei nicht aus den Augen. Das Lächeln schwand, Kirian wurde bleich. Schmerz verzerrte seine Züge, bevor er torkelnd zurückwich und stöhnend zu Boden sackte.
„Bleib weg, weg …!“, flüsterte er, und begann am ganzen Leib heftig zu zucken.
Jemand zog Lys zur Seite, während sich zwei Männer um Kirian bemühten, damit er weder sich noch andere verletzte. Niemand regte sich sonderlich auf, anscheinend waren sie an diese Anfälle gewöhnt.
„Halt dich von ihm fern“, herrschte ein dunkelhaariger Mann ihn an. Es klang feindselig. „Lamár hat sein Gedächtnis verloren, also, er erinnert sich an nichts aus seiner Vergangenheit, verstehst du? Manchmal sieht oder hört er aber etwas, das er wohl kennt, und bekommt davon schlimme Schmerzen. Dich hat er womöglich schon mal gesehen, oder du siehst jemanden aus seiner alten Zeit ähnlich. Also, bleib fern von ihm, du Lustknabe!“
Lys fühlte sich, als hätte er einen Schritt ins Bodenlose getan, unter sich ein tiefer Abgrund, hinter sich Feinde, die er nicht einmal kannte. Er hatte Kirian gefunden, und doch war der lange Weg umsonst gewesen. Hilflos starrte er auf den Mann, den er so sehr liebte, der sich seinetwegen gequält am Boden wand, und presste die Faust gegen die Lippen, um nicht zu schreien. Das konnte nicht sein, das durfte nicht wahr sein! Er krümmte sich zusammen, wollte nichts mehr sehen, nichts hören. Einfach nur vergessen und hoffen, dass dies ein Albtraum war.
Ihr Götter, wie könnt ihr bloß so grausam sein …
Lamár wachte früh auf, alle anderen schliefen noch. Er hatte sowieso die halbe Nacht wach gelegen, und daran war der Fremde schuld. Leise setzte er sich hin, um Tiko nicht zu wecken, der direkt neben ihm lag, und versuchte, im matten Licht der Glut des Herdfeuers zu erkennen, wohin der Fremde sich verkrochen hatte. Schon der Gedanke an ihn verstärkte die Schmerzen, die ihn seit gestern Abend nicht mehr losgelassen hatten. Als er ihn entdeckte, brachte das nur noch schlimmere Qualen. Lamár musste hastig wegblicken.
„Soll ich ihn nächste Nacht den Wächtern überlassen?“, wisperte Tiko neben ihm. Lamár zuckte zusammen, er hatte nicht bemerkt, dass der Junge aufgewacht war. Mit zusammengebissenen Zähnen brummte er etwas, das als Verneinung gemeint war.
„Ich weiß nicht, was er mit mir zu tun hat, ich kann mich nicht an ihn erinnern. Vielleicht ist er ein Feind, vielleicht ein Freund, ich weiß es nicht.“
„Dir tränen die Augen vor Schmerz, wenn du ihn anblickst und so schlimm wie gestern hab ich dich noch nicht zusammenbrechen sehen. Nach Wiedersehensfreude sieht das wirklich nicht aus“, zischte Tiko wütend.
„Er macht mir Angst, Tiko, aber ich kann nicht jeden umbringen, den ich fürchte. Ihn nachts auszusperren wäre Mord, du weißt, was ich darüber denke. Er mag kein Krieger sein wie Yego es war, trotzdem breche ich auch ihm lieber eigenhändig das Genick, als ihn den Wächtern zum Spielen zu übergeben!“, raunte Lamár mühsam.
„Wer weiß, vielleicht würden wir ihm einen Gefallen tun? Einem Lustsklaven werden sie wohl kaum das Gesicht einschlagen, um Spaß zu haben. Wer sagt, dass er sich nicht genau danach sehnt?“ Tiko kicherte gehässig, was eisige Schauder über Lamárs Rücken jagte.
„Lass ihn in Ruhe, hörst du? Bevor ich nicht mehr über ihn weiß, rührst du ihn nicht an.“
Lamár wusste, dass Tiko dieser Befehl nicht schmeckte, doch der widersprach nicht und ließ das Thema fallen.
Beim Frühstück beobachtete Lamár, wie Irla sich dem Fremden näherte, der teilnahmslos in seiner Ecke kauerte und keinerlei Anstalten machte, seinen Anteil am Essen zu fordern.
„Wie heißt du?“, hörte er sie fragen.
„Erek.“
Dieser Name brachte etwas in Lamár zum Schwingen, wie er es erwartet hatte, doch weniger gewaltsam als befürchtet. Ein vertrauter Name, das bewiesen die Nadelstiche in seinem Schädel, die er auslöste. Weitaus weniger vertraut als der Mann, zu dem er gehörte, wie es schien.
Sein Name hat wohl keine große Rolle für mich gespielt … also kann er kein Feind sein. Aber auch kein Freund. Ich hätte schwören können …
Aus den Augenwinkeln sah er zu, wie Irla den Fremden untersuchte und befragte, wie sie es bereits mit ihm getan hatte, um sicherzugehen, dass er stark genug für die Arbeit war. Der junge Mann bewegte sich steif, er schien jede Berührung zu scheuen.
Ihr Götter, er ist völlig kaputt, wie Irla schon sagte. Ein Reh, kein reißender Wolf. Warum also macht er mir Angst?
„Er kann arbeiten, Arkin, sollte sich allerdings nicht überlasten. Seine Brandwunde ist mir noch zu frisch, wenn zu viel Dreck drankommt, entzündet sich das nur.“
„Gut, es gibt genug Hilfsarbeiten, bei denen du anpacken kannst, Erek“, erwiderte Arkin. „Wenn du stärker wärst, könntest du an der Winde arbeiten. Nun, es findet sich schon was. Die Arbeit in der Mine ist fruchtbar wie ein Kaninchenhort, sie vermehrt sich ganz von allein.“
Beim morgendlichen Aufstellen, das Lamár hasste wie sonst nichts am Tag, spürte er, wie er vor Übelkeit zu schwanken begann, als ihn Ereks Blick voller hoffnungsloser Trauer streifte. Der Fremde wurde blass und suchte sich schnell einen Platz in der Reihe, der weit entfernt von Lamár lag, doch zu spät: Brüllender Schmerz explodierte in seinem Schädel.
Das nächste, was Lamár bewusst wahrnahm, war Arkin, der versuchte ihm auf die Beine zu helfen, während um ihn herum geschrien wurde. Als sich seine Sicht klärte, erkannte er Tiko, der von zwei Aufsehern festgehalten wurde, damit er sich nicht auf Erek stürzen konnte, der regungslos am Boden lag. Pocil brüllte Befehle, die niemand beachtete, Mattin und die restlichen Aufseher versuchten, die Sklaven wieder in ordentliche Reihen zu bringen.
„Arkin, tu etwas!“ Lamár stöhnte gequält. „Ich komme allein zurecht.“
Arkin schaffte, was den Aufsehern unmöglich war: Mit einigen energischen Kommandos zwang er alle Arbeiter an ihre Plätze zurück, scheuchte Tiko fort, der sich kleinlaut zu Lamár stellte und zog Erek auf die Beine, der sich zwar den Bauch hielt, doch nicht wirklich verletzt zu sein schien.
„Hab ihm nur einen einzigen Schlag versetzt, der hat sich fallen lassen wie ein leerer Sack“, murmelte Tiko verächtlich.
„Sei froh, dass er nicht zurückgeschlagen hat, sonst hätte Pocil euch beide auspeitschen lassen! Wer weiß, was dir jetzt blüht …“
Der Lageraufseher kam bereits auf sie zu, noch bevor Lamár ausgesprochen hatte, packte Tiko am Kragen und schüttelte ihn durch.
„Was sollte das, Sklave?“, fauchte er wütend. „Was schlägst du hier deine Kameraden, völlig ohne Grund? Sei dankbar, dass der Neue noch arbeiten kann, sonst hättest du dir deine Lektion verdient! Gib mir keinen Grund in der nächsten Zeit, dich zu bemerken, verstanden?“
„Ja, Mebana“, knirschte Tiko gedemütigt, den Blick gesenkt, soweit das in dieser Haltung – von Pocil, der ihn um mehr als eine Kopflänge überragte, auf die Zehenspitzen gezogen – überhaupt möglich war.
Lamár sorgte dafür, dass er beim Marsch zur Mine hinter Tiko gelangte, und flüsterte ihm eindringlich zu: „Lass den Fremden in Ruhe, sag ich dir! Sobald du ihn verletzt, macht Pocil Ernst, davon hat niemand etwas gewonnen!“
„Ich mag ihn eben nicht“, zischte der Junge wütend. „Er tut dir weh, einfach dadurch, dass er hier ist. Ein Lustsklave des Layns, ich bitte dich! Was wollen wir mit dem hier? Wir arbeiten mit den Händen, nicht mit dem Hintern!“
„Beherrsch dich, Kleiner. Wenn er so schlaff ist, wie du glaubst, überlebt er die Arbeit keine drei Tage und das Problem löst sich von allein. Wenn seine Muskeln nicht nur schön aussehen, ist er uns nützlich. Das Problem, das ich mit ihm habe, geht dich nichts an, also misch dich nicht ein!“
Tiko ließ den Kopf hängen. Lamár wusste, er war ein Held für den Jungen. Von ihm zurechtgewiesen zu werden war für Tiko schlimmer als alle Prügel, die die Wächter ihm androhen konnten.
Jetzt musste er nur noch herausfinden, was es mit dem Fremden da auf sich hatte, dann würde vielleicht wieder Ordnung in sein Leben kommen. Vielleicht war Erek sogar die Antwort auf einige Fragen, die ihn so sehr quälten?
*
Lys wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit ungefähr vier Stunden schon schleppte er Körbe voller Gestein und Schutt aus den Tunneln, über die Treppen hoch zur Winde. Sein Rücken brannte wie Feuer, sein ganzer Körper schmerzte unerträglich und er war erschöpft. Die Jungen, mit denen er diese Arbeit hier teilte, wechselten sich immer nach einer Stunde ab und verschwanden, um irgendwelche anderen, leichteren Aufgaben zu übernehmen. Niemand hatte sich mit ihm abwechseln wollen. Es war heiß und stickig hier unten, die Dunkelheit und Enge bedrückten ihn. Schlimmer als all das aber war die offene Ablehnung der anderen Sklaven – und Kirian.
Innerlich leer gebrannt lehnte er sich an die Tunnelwand, genoss für einen Augenblick die Kälte des Gesteins – da packte ihn eine Hand von hinten und verdrehte ihm den rechten Arm auf den Rücken.
„So allein, Lustknabe?“, zischte ihm der dunkelhaarige Mann, der ihn gestern Abend schon bedroht hatte, ins Ohr. Orchym war sein Name, er schien mit Kirian befreundet zu sein. Bizarr, dass Kirians Freunde in ihm eine Gefahr sahen!
„Und so müde bist du? Brauchst du vielleicht eine kleine Abkühlung?“ Orchym hielt Lys den Mund zu, den Arm weiterhin verdreht, und trieb ihn voran. Lys bemerkte andere Männer aus den Augenwinkeln, unter ihnen Tiko. Sie schlossen sich Orchym an. Panisch versuchte er sich freizukämpfen. Alle Gedanken setzten aus, er wusste, sie hatten irgendetwas Schlimmes mit ihm vor. Er wusste, er würde noch mehr Schmerz und Folter nicht überleben. Eine winzige Stimme sagte ihm, dass er sich besser völlig ergeben sollte, wie stets, doch dafür fehlten ihm einfach die Kraft und der Wille. Also schrie er gegen Orchyms Hand und wand sich mit aller Macht, soweit es möglich war, ohne sich die Schulter auszukugeln, auch wenn es aussichtslos war, gegen den stahlharten Griff dieses Mannes anzukämpfen.
Sie zerrten ihn in einen Tunnel hinein, Tiko marschierte mit einer Laterne vorneweg.
„Willst du wohl still sein!“, grollte Orchym, „wenn Arkin dich hört, gibt es Ärger für uns, und das würde dir gar nicht schmecken, verlass dich drauf!“
„Hier, der Tümpel, rein mit ihm!“, sagte Tiko triumphierend. Lys erkannte eine dunkle Pfütze am Boden, wo sich das Wasser von den Tunnelwänden sammelte.
„Du musst durstig sein nach so viel Arbeit!“ Einer der Männer lachte, packte ihn am freien Arm und drückte ihn gemeinsam mit Orchym zu Boden. „Nimm nicht alles auf einmal!“
Lys hatte noch nicht einmal Zeit zu schreien, da tauchten sie seinen Kopf bereits in eiskaltes Wasser. Es war stockdunkel, selbst mit weit geöffneten Augen konnte er nichts sehen. Lys versuchte gegen die Hände anzukommen, die ihn unten hielten, aber es war unmöglich. Schnell verließ ihn alle Kraft, selbst für die Todesangst, die ihn sofort umklammert hatte, als ihm bewusst wurde, dass er hier sterben sollte. Erinnerungen fielen über ihn her, an die furchtbaren Momente, in denen er fast durch Kirians Hand erstickt wäre.
Kirian …
Seltsamer Frieden überkam ihn. Es war gut, dass er Kirian wenigstens noch einmal vor seinem Tod gesehen hatte. Lys wurde ruhig, er war bereit einzuatmen und den Kampf zu beenden, das qualvolle Brennen, das seine Brust zerriss – da wurde er hochgezerrt und wie ein alter Lumpen neben dem Tümpel fallen gelassen.
Nach Luft ringend, keuchend und stöhnend blieb er liegen. Er hörte zornige Stimmen durcheinander brüllen:
„… alle wahnsinnig!“ –
„Was geht dich das an?“ –
„… Verräter, auf welcher Seite …“
„Schluss jetzt!“ Eine Stimme setzte sich durch, von jemandem, der sich schützend vor Lys hinkniete. „Wir bringen uns nicht gegenseitig um, es sei denn in einem ehrlichen Duell! Was ihr hier macht, ist einfach nur Wahnsinn. Wer sollte glauben, dass jemand ganz aus Versehen in einem knietiefen Tümpel ertrinkt? Wollt ihr wirklich alle bestraft werden?“
Lys wusste, dass er die Stimme des Mannes kannte, konnte sie aber nicht einordnen und seinen Verteidiger aus dieser Lage heraus nicht deutlich erkennen. Noch immer rang er keuchend und hustend um Luft, zu schwach, um den Kopf zu heben.
„Warum beschützt du ihn?“, fauchte Tiko. „Ist doch nur ein dreckiger Lustknabe, hier geht kein Arbeiter verloren! Er schadet uns, er schadet Lamár!“
„Außerdem wollten wir ihn nicht umbringen“, fuhr Orchym dazwischen. „Ein bisschen erschrecken, damit er sich von Lamár fernhält. Wir sind keine Mörder!“
„Hm, wenn er verreckt wäre, hätte keiner getrauert, oder?“ Tiko schnaubte verächtlich.
„Ihr fasst ihn nicht an, sage ich!“ Die Stimme des Fremden wurde bedrohlich. „Oder wir zwei müssen uns mal darüber unterhalten, ob du wirklich das Recht hast, über Leben und Tod zu entscheiden wie ein Layn, nur weil dein Vater zufällig der Minenaufseher ist! Erek mag sein was er will, er hat dafür gesorgt, dass ich heute hier stehe und arbeiten kann, statt als Krüppel aussortiert zu werden!“
Stille fiel über die Männer. Lys kämpfte sich mühsam auf die Knie hoch und sah verblüfft, wie die Wut seiner Gegner von Betroffenheit verdrängt wurde.
„Daran hatte ich nicht mehr gedacht, Emin“, sagte Orchym schließlich und streifte Lys mit einem verlegenen Blick.
„Was ist hier los?“
Arkin.
Der alte Mann trat mit einer Laterne in der Hand in den Tunnel und starrte sie der Reihe nach düster an.
„Nichts“, versicherte Tiko etwas zu rasch. „Nichts, wir …“
„Ich wollte Pause machen“, mischte sich Lys ein. Verwirrt schauten ihn alle an. Er konnte kaum sprechen, ohne zu husten, hielt sich aber entschlossen aufrecht. „Ich wollte Pause machen. Hab Orchym gefragt, wo ich trinken und mir das Gesicht waschen kann. Mir war zu heiß. Er hat mich hergeführt.“
„Und deshalb siehst du aus wie eine ertränkte Ratte und alle anderen sind auch nass?“, fragte Arkin Unheil verkündend.
„Die anderen standen hier und diskutierten über Bruchlinien im Gestein. Orchym hat sich zu ihnen gestellt. Ich bin gestolpert und mit dem Kopf unter Wasser gelandet. Vor lauter Panik hab ich nicht sofort hoch gefunden. Emin hat mich rausgezogen.“
Lys hielt Arkins forschendem Blick stand. Er wusste, mit dieser Lüge würde er sich hier Sicherheit erkaufen. Die anderen versuchten hastig, nicht allzu verblüfft zu wirken und nickten eifrig, als Arkin fragte: „Stimmt das so?“
„Bringt ihn nach vorn und gebt ihm trockene Sachen. Danach sehen wir weiter“, befahl Arkin. Er musterte sie alle noch einmal drohend, dann wandte er sich um und verschwand.
Eine ganze Weile lang wagte niemand etwas zu sagen oder sich zu rühren. Schließlich wurde es Lys zu kalt, hier völlig durchnässt auf dem Boden zu hocken und er stand langsam auf.
„Danke“, flüsterte er Emin dabei zu. Niemand hielt ihn zurück, als er mit gesenktem Kopf an ihnen vorbeiging.
*
Lamár beobachtete den Fremden, wie er einsam in seiner Ecke hockte, von niemandem beachtet, wie jeden Abend. Er hatte darauf verzichtet, Tiko, Orchym und die anderen anzubrüllen, als die Geschichte über den Vorfall am Tümpel bei ihm angelangt war – sinnlos, sich hinterher darüber aufzuregen, es war ja doch nicht mehr zu ändern. Wie jedem anderen, Arkin eingeschlossen, war ihm klar, was wirklich vorgefallen war. Lediglich dadurch, dass er Emin vor den Augen aller anderen anerkennend auf die Schulter geklopft hatte, zeigte er deutlich, was er von der Sache hielt. Er hätte nie gedacht, dass Emin, der immer schweigsam und ruhig im Hintergrund blieb, so viel Mut besitzen könnte.
Erek hatte mit seiner Lüge verhindert, dass seine Angreifer bestraft wurden und sich dadurch in den letzten Tagen Frieden gesichert. Niemand sprach mit ihm, wenn es sich vermeiden ließ, aber sie wechselten sich zumindest mit ihm bei den Arbeiten ab und gaben ihm seinen Anteil an Essen und Wasser. Lamár wünschte so sehr, er könnte mit ihm reden, er war sich so sicher, dass er Erek schon einmal gesehen hatte! Mittlerweile konnte er es zumindest ertragen, den jungen Mann von hinten oder von der Seite zu erblicken, ohne sofort vor Schmerz zusammenzubrechen. Ein kleiner Fortschritt … für den er sich stundenlang hatte quälen müssen.
Schön geduldig bleiben. Langsam daran gewöhnen. Vielleicht kann ich ihm in diesem Tempo erst in einem Monat offen ins Gesicht schauen und erst in einem Jahr mit ihm sprechen. Fein! Dann muss ich eben dafür sorgen, dass er so lange überlebt!
Arkin hatte von sich aus mehrmals versucht, Erek auszufragen, was er über Lamárs Vergangenheit wusste, woher er kam, welche Geschichte zu ihm gehörte; doch Erek hatte abgewunken und kein Wort verraten. Lamár würde sich nicht so leicht abwimmeln lassen, wenn er erst einmal soweit war. Es tat ihm leid, wie die anderen Erek behandelten, schließlich war es nicht seine Schuld, dass Lamár durch ihn Schmerzen litt. Außerdem konnte er gut und ausdauernd arbeiten, war also keine Last.
Wie er da sitzt … keiner soll ihn sehen, er sieht keinen von uns. Fern von der Welt und für alle verloren …
„Er schafft es nicht.“ Lamár fuhr zusammen, als Irla sich plötzlich zu ihm herüberbeugte und ihn leise ansprach. „Anfangs dachte ich noch, er hätte die Kraft zu überleben, er wirkte zwar verstört und innerlich verletzt, aber er war hier, in dieser Welt. Seit dem Angriff scheint er dieses letzte bisschen Kraft verloren zu haben. Er starrt jetzt schon seit Stunden ins Nichts, und als ich ihm sein Essen gegeben habe, war seine Augen so tot und leer wie bei einer Leiche. Er hat nichts gegessen, schau, seine Schale ist unberührt. Gestern war es genauso.“
„Vielleicht fängt er sich wieder“, murmelte Lamár.
„Vielleicht, ich kenne ihn nicht, ich weiß nicht, was er durchgemacht hat. Aber ich glaube es nicht, Lamár. Ich habe viele Menschen gesehen, die diesen Blick trugen, und keiner von ihnen hat danach noch lange gelebt.“
„Dann müssen wir ihn zwingen! Zur Not stopfen wir ihm mit Gewalt das Essen in den Rachen!“, grollte Lamár zwischen Wut und Verzweiflung. „Er darf nicht einfach sterben, ohne mir zu sagen, was er weiß!“
Irla lachte freudlos. „Du kannst ihn zwingen zu essen, zu schlafen, zu arbeiten … Doch du kannst ihn nicht zwingen zu leben. Er muss sich nicht mal selbst etwas antun. Wer so ist wie er wird ganz schnell krank. Entweder erleidet er vor Schwäche einen Unfall, die Wächter schlagen ihn tot, weil er nutzlos ist oder er stirbt ganz einfach an einem Fieber.“
Lamár wollte hitzig etwas erwidern, wurde allerdings von einer Bewegung abgelenkt, die er nur aus dem Augenwinkel wahrnahm. Marjis war aufgestanden, das kleine Mädchen, das seine Mutter verloren hatte und seitdem mit jedem neuen Tag weiter zu schwinden schien. Normalerweise hörte und sah man nichts von ihr, sie war selbst für eine Vierjährige viel zu klein und zart. Niemand wusste, warum sie überhaupt noch lebte. Sie mitten im Raum stehen zu sehen, war ungewohnt, und viele Sklaven blickten neugierig zu ihr auf. Marjis schien sie alle nicht wahrzunehmen. Ihre hellen blauen Augen waren allein auf Erek gerichtet, sie näherte sich ihm zögernd. Als sie noch etwa einen halben Schritt hinter ihm war, kauerte sie am Boden nieder und kroch auf allen vieren auf ihn zu. Fasziniert beobachteten nun alle, was dort geschah, niemand sprach ein Wort oder regte sich, um die Spannung nicht zu brechen, die sie alle erfasst hatte.
Lys spürte die federleichte Berührung am Knie, sah aber keinen Grund, deshalb aus der weltentrückten Versunkenheit aufzutauchen. Er fühlte sich nicht wohl in diesem gedankenleeren Trancezustand und ein Teil seines Bewusstseins beschwerte sich über seinen schmerzenden Körper, der diese Zwangshaltung nicht länger beibehalten wollte, über Hunger, Durst und Erschöpfung. Er wusste, er bräuchte nur die Hand auszustrecken und würde Essen finden. Er müsste nur darum bitten und man würde ihm Wasser geben. Seine Decke lag neben ihm, er könnte sich hinlegen und schlafen. All dies war zu viel für ihn, eine zu große Anstrengung. Also schwebte er weiter dahin im dunklen Nichts, wo er nicht von Gedanken, Hoffnungen oder Ängsten gequält wurde.
Wieder diese Berührung, ein Zupfen an seiner Hand. Da war jemand und wollte etwas von ihm. Lys schloss die Augen und verharrte in den Schatten, die sich über seinen Geist gelegt hatten. Wenn er nicht reagierte, würde man ihn hoffentlich in Ruhe lassen …
Zwei kleine Hände zerrten nun energisch an seinem rechten Arm. Lys gab nach und ließ den Arm von den Knien fallen, hob aber nicht den Kopf. Es war friedlich hier, im Nirgendwo …
Ein kleiner Körper drängte sich gegen ihn. Lys blinzelte verwirrt und blickte in ein winziges Mädchengesicht, umrahmt von verfilzten dunklen Locken. Er konnte sich nicht erinnern, dieses Kind jemals zuvor gesehen zu haben, was ihn noch mehr verwirrte. Sie starrte ihn ernst und misstrauisch an, drückte sich dabei gegen seine Beine. Lys kannte diese Aufforderung von Lynn, seinem Sohn, und reagierte im Reflex: Er setzte sich aufrecht und öffnete die Arme. Nur einen Moment später war das kleine Mädchen auf seinen Schoß gekrabbelt und umarmte ihn so fest, als würde sie ertrinken und er wäre ihr einziger Halt.
„Wie heißt du?“, fragte er das Kind verblüfft. Lange schwieg sie, den Kopf an seine Schulter gepresst, doch irgendwann wandte sie sich ihm zu.
„Marjis“, hauchte sie und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Ich bin Erek“, erwiderte er.
Sie musterte ihn sehr lange, mit so viel konzentriertem Ernst, dass er sich schließlich zu ihr hinabbeugte und kaum hörbar in ihr Ohr wisperte: „Das ist gelogen, du hast recht. Mein Name ist Lys. Pst, das darf niemand wissen.“
Marjis nickte und lächelte wieder scheu, was ein wenig von dem stumpfen, viel zu alten Ausdruck in ihren Augen vertrieb. Lys hielt sie an sich gedrückt, er wusste nicht zu sagen, ob er sie vor dem Untergang bewahrte oder sie ihn. Auch, als sie eingeschlafen war, hielt er sie im Arm. Er trieb weiter im schwarzen Nichts, aber er fühlte sich nicht mehr verlassen dort, denn nun hatte er jemanden, der ihn begleitete.
„Sie hat seit dem Tod ihrer Mutter kein Wort mehr gesprochen und niemanden an sich herangelassen“, sagte Irla erschüttert. Mittlerweile hatten sich alle Sklaven wieder abgewandt, aßen, sprachen miteinander, lachten; etwas abseits von den anderen war das unterdrückte Seufzen eines Liebespaares zu hören. Lamár hingegen blickte immer noch wie gebannt auf Erek, den er nur von der Seite sehen konnte, das Gesicht im Schatten verborgen, und auf Marjis Lockenkopf.
„Wie es scheint, hat sie gespürt, dass er genauso ist wie sie“, murmelte er. „Sie haben beide alles verloren.“
„Womöglich gibt es doch Hoffnung.“ Irla stand auf und kehrte zurück an ihren Platz am Herdfeuer.
Das hoffe ich – für ihn, für Marjis und für mich.
Schreie. Blut. Eine nach ihm ausgestreckte Hand. Das Gesicht des Fremden, von unerträglichen Qualen verzerrt.
Neues Bild. Der Fremde, er duckt sich ängstlich. Taumelt zurück unter dem Schlag, stürzt zu Boden.
Neues Bild. Zusammengekrümmt liegt Erek in einem Verlies, bewusstlos, gefesselt.
Neues Bild. Ein Trupp bewaffneter Reiter. Sie nehmen den hochgewachsenen Blonden in ihre Mitte, fesseln ihn, obwohl er kaum auf eigenen Beinen stehen kann. Ein feister Mann gibt ihm, Lamár, einige Münzen und dankt ihm, bevor er mit dem Fremden davon reitet.
Lamár schreckte schweißgebadet hoch. Jemand stieß ihn von der Seite an und murmelte: „Sei ruhig!“
Unterdrückt stöhnend ließ er sich zurücksinken. Alle schliefen, es waren sicherlich noch einige Stunden bis zur Morgendämmerung – die Feuerstelle in der Mitte der Hütte war zwar abgedeckt, doch sie glomm noch viel zu kräftig, als dass die Nacht weit fortgeschritten sein konnte.
Er lauschte auf die tiefen Atemzüge der anderen, das leise Schnarchen, das Rascheln, wenn sich jemand bewegte. Nicht zum ersten Mal, seit er in dieser Gemeinschaft aufgenommen worden war, weckten ihn nachts schlimme Träume auf. Für gewöhnlich erinnerte er sich allerdings an nichts, sobald er die Augen öffnete. Nur der dumpfe Schmerz in seinem Kopf zeugte davon, dass er im Schlaf versucht hatte, zurück in seine Vergangenheit zu reisen. Doch diesmal war es anders. Lamár sah die Bilder, die ihn gequält hatten, deutlich vor sich.
Er setzte sich auf und blickte in die Ecke, in der Erek lag. Er schien fest zu schlafen, zumindest regte er sich nicht. Er hatte sich tief in seine Decke vergraben und wie üblich seitlich zusammengerollt; nur sein Haar war zu sehen. Marjis konnte Lamár nicht erkennen, aber es stand außer Frage, dass sie irgendwo dort bei ihm war. Sie ließ Erek nie einen Moment allein, sobald er abends aus der Mine zurückkehrte. Beiden schien es gut zu tun, Marjis sprach zwar nur zu ihm, wirkte allerdings nicht mehr ganz so scheu, sobald sich ein anderer ihr zuwandte, und hatte nicht mehr diesen greisenhaften Ausdruck im Gesicht. Erek hielt sich abseits von allen anderen, sprach nur, wenn er etwas gefragt wurde, erledigte stumm jede noch so erniedrigende Arbeit, die man ihm auftrug. Doch er aß, hielt sich aufrecht und war nicht mehr in dieser weltentrückten Trance verloren.
Erek gab sich viel Mühe, stets dort zu sein, wo Lamár gerade nicht war. Dieser Eifer, ihm aus dem Weg zu gehen, wirkte schon fast lächerlich, auch wenn Lamár ihm dafür dankbar war. Wann immer sich aber ihre Blicke kurz trafen, zeigten sich Trauer und Hoffnungslosigkeit im Gesicht des Fremden, von solcher Intensität, dass es selbst den Wächtern aufgefallen war – sie spotteten darüber, fragten Lamár, ob er sich nicht mal um seinen abgelegten Liebhaber kümmern wollte. Mattin allen voran. Lange würde das nicht mehr gut gehen …
Aufgewühlt legte sich Lamár wieder nieder und versuchte zu vergessen, was der Traum hochgespült hatte. Soviel Gewalt!
Falls das wirklich Erinnerungen sein sollten, dann will ich nicht wissen, wer ich einmal war. Ich hab ihn ja fast zu Tode geprügelt! Vielleicht – vielleicht war ich gar kein Söldner, sondern ein Sklavenjäger? Er erschauderte unbehaglich. Doch was sollten diese Bilder sonst bedeuten? Offenbar hatte er, Lamár, den jungen Mann gewaltsam gefangen genommen und an Sklavenhändler verkauft. Wahrscheinlich hab ich mich irgendwann mit dem Falschen angelegt und wurde selbst versklavt … Dieser Gedanke war unerträglich!
Ihr Götter, gebt, dass ich nicht ein solches Monster wie Ruquinn war, bitte, das darf nicht sein!