
Stephen Fry
Der Lügner
Roman
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach

Titel der Originalausgabe
The Liar
ISBN 978-3-8412-0455-4
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Mai 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Bei Aufbau Taschenbuch erstmals 2003 erschienen;
Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
The Liar © 1991 by Stephen Fry
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EINS
I
II
III
ZWEI
I
II
III
IV
V
VI
DREI
I
II
III
IV
VIER
I
II
III
IV
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
I
II
NEUN
I
II
III
ZEHN
ELF
I
II
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
Danksagungen
Anmerkungen des Übersetzers
Kein Wort des Folgenden ist wahr
Ein Fame-T-Shirt hielt vor Mozarts Geburtshaus. Es schaute am Gebäude hinauf, und seine Augen glänzten. Es stand ganz still, starrte nach oben und glühte vor Bewunderung, während eine Gruppe ausgebleichter Jeans und fluoreszierender Bermudashorts hinter ihm vorbeidrängelte und hineinging. Dann schüttelte es den Kopf, grub in seiner Hosentasche und ging weiter. Eine dünne hohe Stimme hinter ihm ließ es mitten im Schritt verharren.
»Haben Sie je über das Phänomen der Quellen nachgedacht, Adrian?«
»Originale, meinen Sie?«
»Keine Originaltexte, Adrian, nein. Keine Originale. Denken Sie an Wasserquellen. An Brunnen und Heilwasser und Quellen. Wasserquellen im weitesten und lieblichsten Sinne. Jerusalem zum Beispiel ist eine Quelle der Religiosität. Eine kleine Stadt in der Wüste, aber Quelle der drei mächtigsten Religionen der Welt. Es ist die Hauptstadt des Judentums, der Schauplatz von Christi Kreuzigung und der Ort, von dem aus Mohammed gen Himmel fuhr. Religion scheint nur so aus seinem Sand zu sprudeln.«
Das Fame-T-Shirt lächelte in sich hinein und schritt ins Haus.
Eine Tweedjacke und ein blaues Knöpfkragenhemd aus Oxforder Baumwolle standen vor den Stufen. Jetzt waren sie an der Reihe, ehrfürchtig nach oben zu starren, während sich hinter ihnen die Flut menschlichen Verkehrs durch die Getreidegasse ergoß.
»Nehmen Sie Salzburg. Keineswegs die größte Stadt Österreichs, aber ein Jerusalem für jeden Musikliebhaber. Haydn, Schubert und … du meine Güte, ja, da sind wir ja … und Mozart.«
»Es gibt eine Theorie, daß besondere Linien über die Erde laufen und daß merkwürdige Dinge sich da ereignen, wo sie sich kreuzen«, sagte das Oxforder Baumwollknöpfhemd. »Planetenlinien heißen die, glaub ich.«
»Sie denken wahrscheinlich, ich gebe bloß wieder meinem Steckenpferd die Sporen«, sagte die Jacke, »aber ich finde, die deutsche Sprache ist verantwortlich.«
»Sollen wir hochgehen?«
»Auf jeden Fall.« Das Paar glitt ins schattige Innere des Hauses.
»Schauen Sie«, fuhr der Tweed fort, »all die Eigenschaften ironischer Abstraktion, die die Sprache nicht zu artikulieren vermochte, fanden Ausdruck in ihrer Musik.«
»Ich hätte Haydn nie für ironisch gehalten.«
»Es ist natürlich gut möglich, daß meine Theorie hoffnungslos falsch ist. Bezahlen Sie bei dem hübschen Fräulein, Adrian.«
In einer Kammer im ersten Stock, wo der kleine Wolfgang herumgetobt hatte, deren Wände er mit frühreifer Arithmetik bedeckt und deren Dachsparren er von kindlichen Menuetten hatte erzittern lassen, musterte das Fame-T-Shirt die Vitrinen.
Die Kämme aus Elfenbein und Schildpatt, die einst die zerstrubbelten Locken des jungen Genies geglättet hatten, schienen das T-Shirt nicht im geringsten zu interessieren, ebensowenig wie die Briefe und Wäschezettel oder die Geigen und Bratschen im Kinderformat. Seine gesamte Aufmerksamkeit wurde von den Bühnenmodellen in Anspruch genommen, die in Glastruhen in die Wände des ganzen Raums eingelassen waren.
Eine Truhe schien es ganz besonders zu faszinieren. Es schaute sie mit argwöhnischem Ausdruck an, fast als ob es erwartete, die kleinen Pappmaché-Figuren darin würden durch die Scheibe springen und ihm eins auf die Nase verpassen. Es schien die Gruppe ausgebleichter Jeans und säurefarbener Shorts vergessen zu haben, die sich neben es drängelte und in einer Sprache lachte und Witze riß, die es nicht verstand.
Das Modell, in das es so sehr vertieft war, war das eines Festsaals, in dem ein mit Speisen überhäufter Eßtisch stand. Zwei kleine Männer waren neben den Tisch gestellt worden, der eine vor Furcht zusammengekrümmt, der andere die Hand in die Hüfte gestemmt, mit einer Gebärde weltmännischer Verachtung. Beide Figuren schauten auf das Modell einer weißen Statue im Bühnenhintergrund, die mit dem anklagenden Finger eines italienischen Verkehrspolizisten oder eines Mobilmachungsposters in Kriegszeiten auf sie herabzeigte.
Die Tweedjacke und der blaue Knöpfkragen hatten gerade den Raum betreten. »Sie fangen an dem Ende an, Adrian, und wir treffen uns in der Mitte.«
Die Jacke beobachtete, wie die Oxforder Baumwolle zum anderen Ende des Zimmers schritt, und näherte sich dann der Vitrine, deren Glas immer noch von der intensiven Musterung durch das Fame-T-Shirt beschlagen war.
»Don Giovanni«, sagte der Tweed, der hinter es trat, »a cenar teco m’invitasti, e son venuto. Don Giovanni, ich bin gekommen, deine Ladung hab ich vernommen.«
Das T-Shirt starrte immer noch auf das Glas. »Non si pasce di cibo mortale, Chi si pasce di cibo celeste«, flüsterte es. »Wohl des irdischen Mahles entbehret, Wer von himmlischer Speise sich nähret.«
»Ich glaube, Sie haben etwas für mich«, sagte der Tweed.
»Goldener Hirsch, unter dem Namen Emburey. Kleines Päckchen.«
»Emburey? Middlesex und England? Ich wußte gar nicht, daß Sie sich für Kricket interessieren.«
»Ich habe ihn aus der Zeitung. Sah nach einem sehr englischen Namen aus.«
»Das ist er auch. Auf Wiedersehen.«
Der Tweed ging weiter und gesellte sich zum blauen Hemd, welches eine Unterhaltung mit einer Französin begonnen hatte.
»Ich erzählte dieser Dame gerade«, sagte das Hemd, »daß ich glaube, die Ausstattung für Die Zauberflöte da drüben ist von David Hockney.«
»Ganz sicher«, sagte der Tweed. »Hockney hat für mich zwei Stile. Wild und natürlich oder kalt und klinisch. Ich erinnere mich, einmal bemerkt zu haben, es gebe zwei Arten Hockney. Feldhockney und Eishockney.«
»Wie bitte?«
»Das ist ein Witz«, erklärte das blaue Hemd.
»Ach so.«
Der Tweed untersuchte ein Ausstellungsstück.
»Diese Figur hier müßte eigentlich die Königin der Nacht sein.«
»Sie ist ein Charakter gänzlich von höchst Außergewöhnlichem, glaube ich«, sagte die Französin. »Ihre Musik – mein Gott, wie einfach göttlich sie ist. Ich bin selbst Sängerin, und die Königin zu spielen ist der Lieblingstraum meines Herzens.«
»Es ist auf jeden Fall eine höllisch schwere Rolle«, sagte die Oxforder Baumwolle. »Verflixt schwierig, finde ich. Was ist das für eine unglaublich hohe Note, die sie erreichen muß? Ein hohes C, nicht wahr?«
Die Antwort der Französin überraschte nicht nur das blaue Knöpfkragenhemd und seine Begleiter, sondern den ganzen Raum. Denn sie starrte das blaue Hemd an, die Augen aufgerissen vor Angst, öffnete weit ihren Mund und stieß eine schrille Soprannote von solcher Reinheit und Leidenschaft aus, wie sie sie in ihrer gesamten nachfolgenden – und bemerkenswerten – Opernkarriere niemals wiederholen sollte.
»Großer Gott«, sagte der Tweed, »ist es wirklich so hoch? Soweit ich mich erinnern kann …«
»Donald!« sagte das Knöpfkragenhemd. »Schauen Sie!«
Die Tweedjacke drehte sich um und sah die Ursache des Schreis und die Ursache weiterer, technisch weniger ausgereifter Schreie, die überall zu erschallen begannen.
Mitten im Zimmer stand ein Mann in einem Fame-T-Shirt, der wie eine Marionette zuckte und sprang.
Nicht das Unschickliche eines solches Tanzes an einem solchen Ort bestürzte alle, es waren Anblick und Ton des Blutes, das aus seiner Kehle quoll und schäumte. Während er herumhüpfte und stampfte, schien der Mann zu versuchen, den Fluß aufzuhalten, indem er sich mit beiden Händen den Hals zudrückte, aber die Vehemenz, mit der das Blut herauspumpte, vereitelte dies.
In Augenblicken wie diesem steht die Zeit still.
Alle, die später Freunden, Psychiatern, Priestern oder der Presse die Szene erzählten, sie alle erwähnten das Geräusch. Einigen erschien es als rasselndes Gurgeln, anderen als blubberndes Krächzen: Der alte Mann in der Tweedjacke und sein junger Begleiter waren sich darin einig, daß sie nie wieder eine Espressomaschine hören könnten, ohne erneut an jenes grauenvolle Todeskeuchen denken zu müssen.
Alle erinnerten sich an die erschreckende Menge Blut, die Kraft, mit der es dem Mann durch die Finger schoß. Alle erinnerten sich an den Chor der Baßstimmen, die sich in Panik erhoben, als hilfsbereite Hände der roten Fontäne trotzten und vorsprangen, um es der zuckenden Figur auf dem Boden bequem zu machen. Alle entsannen sich, wie nichts die wilde Flut der Fontäne zu stillen vermochte, die aus dem Hals des Mannes drang und die Worte ›I’m Going to Live For Ever‹ auf seinem T-Shirt mit einem dunklen Fleck auslöschte. Alle erwähnten sie, wie lange es zu dauern schien, bis er starb.
Aber nur einer von ihnen erinnerte sich, einen unglaublich fetten Mann mit kleinem Kopf und glattem Haar aus dem Raum schlüpfen zu sehen, wobei er ein Messer aus seiner Hand springen ließ wie einen lebenden Fisch.
Nur ein Mann sah das, und er behielt es für sich. Er griff nach der Hand seines Begleiters und führte ihn aus dem Zimmer.
»Kommen Sie, Adrian. Ich glaube, wir sollten uns von dannen machen.«