Vorwort
Einleitung
Wie alles anfing
Die Wochen der Diagnose
Mai 2007
Ein neuer Lebensabschnitt
Im Büro
Erste Kontrolle
Herbst 2007
Abschalten
Immer weiter
Veränderungen
Juni 2008
Durchatmen
Wendungen
Entscheidungen
Mit „Ohne Haare“
Juni 2009
August 2009
Woche der Wahrheit
Zurück im Leben
Rückkehr ins Berufsleben
Zweite Rückkehr
Wieder Aufregung
November 2010
Nachwort 264
Danke
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Copyright (2012) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
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eISBN: 978-3-86268-772-5
Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden,
kann man schönes bauen.
(J. W. Goethe)
Die Gedanken sind frei, sagt man.
Manche sind aber so fesselnd, dass sie einen nicht mehr loslassen.
(Jean Magnus Weselbach)
Joachim Lenz wuchs mit drei Geschwistern in der Eifel, in der Nähe von Mayen, auf. Beruflich gelangte er in jungen Jahren nach Koblenz und lernte dort seine Frau kennen. Mit ihr und den beiden gemeinsamen Söhnen lebt er heute im Hunsrück, in einem Höhenstadtteil der Stadt Boppard.
Seit 2007 ist sein Leben stark von der Krebserkrankung geprägt. Darum sind seine Hobbys zugunsten der Gesunderhaltung vor allem sportlicher Natur.
Zum Schreiben kam er letztlich durch die Erkrankung. Unter anderem ist er noch Mitautor in einem Mut-mach-Buch mit dem Titel „Alles ist möglich – auch das Unmögliche“.
Lieber Leser,
in jungen Jahren habe ich es leider versäumt und als Junge hat man das zu meiner Jugendzeit eher auch nicht gemacht, ein Tagebuch zu schreiben. Ich selbst war schon immer ein begeisterter Leser und fing irgendwann an mich mit dem Gedanken zu tragen einmal selbst ein Buch zu schreiben.
Ein eigenes Buch.
Mein Buch!
Träume sind dazu da um gelebt zu werden und ich erfülle mir mit meinem Buch einen.
Nur fehlte bis zum Jahre 2010 der nötige Kick hierzu. Es fehlte die Zeit und vor allem aber auch das Thema. Ideen waren schon da, wurden aber nie zu Ende gedacht.
Immer standen andere Dinge an, die erledigt werden wollten und der Traum meines Buches blieb auf der Strecke beziehungsweise wurde nie begonnen.
Doch wie so oft im Leben hat ein Schicksalsschlag dann nachgeholfen und mir sowohl die Idee als auch die nötige Zeit beschert.
Wie sarkastisch.
Aber wahr.
Im Frühjahr 2007 erkrankte ich an einem follikulären, indolenten Non-Hodgkin-Lymphom (nicht aggressiver, langsam voranschreitender Lymphknotenkrebs) mit Knochenmarkbefall und wie ich heute leider weiß, nicht heilbar.
Der Leser muss nun nicht gleich nachschlagen und fragen:
„Hallo?!? Was ist das denn?“
Tun Sie es nicht.
Ich selbst habe fast ein halbes Jahr gebraucht um nur halbwegs zu verstehen, was mir da beschert wurde und was es im Einzelnen bedeutet.
Mir ist schon bewusst, dass ich mich, mit diesem Buch, auf einem Terrain bewege auf dem sich auch sehr viel Prominenz tummelt.
Noch ein Buch mit Erfahrungen und Gedanken eines Krebspatienten.
Mein Bestreben ist es aber mein persönliches Leben mit dieser Erkrankung aus der Sicht und Erfahrung eines Durchschnittsbürgers zu schildern.
Eben eine menschliche Krankheitsgeschichte, wie sie jeden von uns jederzeit treffen kann. Das musste ich nur allzu schmerzlich an mir selbst erfahren.
Genau das und die negativen, aber auch die positiven Ereignisse in einer solchen Situation haben mich unter anderem am Ende dann auch dazu ermuntert.
Lesen Sie aus dem Leben eines normalen Menschen im alltäglichen Umgang mit seiner lebensbedrohlichen Krankheit.
Viel Spaß nun beim Lesen.
Ende Juni 2006 feierte mein Schwiegervater seinen 75. Geburtstag. Am nächsten Morgen blinkte die Personenwaage bei 100 Kilogramm.
Zum ersten Mal in meinem Leben!
Was nun?
Wie damit umgehen?
Einfach so weiter machen und sich gehen lassen?
Nein!
Auf gar keinen Fall.
Noch am selben Tag beschloss ich mein Sportprogramm in der Form umzustellen, das man schon von einem regelrechten Fitnessprogramm reden konnte. Anstatt bei Gelegenheit einmal die Woche sportlich aktiv zu werden, verpflichtete ich mich selbst zu mindestens zwei bis drei Trainingseinheiten pro Woche. Um einer gewissen Eintönigkeit vorzubeugen betätigte ich mich in den drei Sportarten Joggen, Radfahren und Inlineskaten. Zusätzlich wurde weniger und vor allem gesünder gegessen.
Ende August 2006, am 40. Geburtstag meiner Frau, war ich runter bis auf 91 Kilogramm. Ganz schön stolz war ich als ich feststellte, dass es dem einen oder anderen Gast sogar auffiel.
Einmal angefangen, wollte ich es natürlich nicht dabei belassen. In etwas reduzierter Form machte ich weiter und schaffte es auch noch schnell unter die 90 Kilogramm.
Doch der Schein sollte trügen.
Lange glaubte ich voller Überzeugung an den Erfolg meiner ergriffenen Maßnahmen gegen die Übergewichtigkeit. Sicher hatte das ganze Sportprogramm auch seinen Anteil daran. Aber heute bin ich mir sicher, dass es auch schon mit dem Krebs zusammen hing.
Denn ein Gewichtsverlust von 10 – 15 Prozent, der sich innerhalb eines kurzen Zeitraums vollzieht, gehört unter anderem zu den Symptomen meines Krebses. Genau wie Nachtschweiß und Müdigkeit.
Wie Schuppen fiel es mir von den Augen als ich damit zum ersten Mal konfrontiert wurde.
Nur so wie ich anfangs eingestellt war, gab ich das ja nicht zu.
Abgenommen hatte ich weil ich etwas dafür getan hatte, zum Schwitzen war ich schon immer veranlagt und müde war ich ständig weil ja an jedem Werktag in der Woche schon um 4:30 Uhr schon der Wecker klingelte.
War doch alles logisch.
Oder?
Und genau so gab ich das später bei jedem Arzt zum Besten. Voller eigener Überzeugung.
Im November 2006 unterzog ich mich, nach jahrelanger Quälerei, in einer Spezialklinik einer Hämorrhoiden-Operation. In dieser Klinik deshalb, weil dort ein deutschlandweiter Spezialist praktizierte.
Er wendete eine weltweit neue Methode zur schmerzarmen und gewebeschonenden Operation, die so genannte MISSH (minimalinvasiven, subanodermalen, submucösen Hämorrhoidektomie), an.
Und??
Alles klar??
Muss es nicht.
Einem Laien fällt es eben sehr schwer sich kundig zu machen und bis ins Detail zu verstehen worum es hierbei überhaupt geht.
Natürlich habe ich das damals versucht.
Die Erkenntnis aus diesem Überangebot an Wissen und die, für einen „Nicht-Lateiner“, doch arg unverständlichen Formulierungen, halfen mir später bei der Recherche nach Informationen bezüglich meiner Krebserkrankung, um dabei frühzeitig zu erkennen: „Bis hierhin und nicht weiter!“
Hoch lebe unser Internet!
Aber was medizinische Diagnosen betrifft erschlägt es den Laien einfach nur. Wer schon einmal versucht hat einen solchen Text zu lesen, der weiß wovon ich rede. Schon nach kurzer Zeit ist man, weil man versucht die Fachbegriffe zu verstehen, auf ganz anderen Internet-Seiten gelandet, von denen man sich diesbezüglich eine Auflösung ins Deutsche erhofft. Man klickt immer weiter und als Ergebnis steht am Ende oft nur eine Verzettelung im World Wide Web, die man so gar nicht geplant hatte. Das eigentliche Problem bleibt dabei dann doch allzu oft auf der Strecke.
Wer sich hier, so ganz nebenbei, an einen gewöhnlichen Arztbesuch erinnert fühlt, muss sich deshalb nicht schämen. Nachgewiesenermaßen ergeht es dabei fast jedem von uns so. Vielfach wissen wir gar nicht was der Arzt uns gerade erzählt hat.
Jedenfalls hatte die Heilpraktikerin, Frau Ratcliff, bei der unsere ganze Familie schon seit Jahren wegen unterschiedlichster Krankheiten in sehr erfolgreicher Behandlung war, die Adresse der Spezialklinik ausfindig gemacht.
Dr. Gutlach, ein neuer Arzt in unserer Hausarztpraxis, stellte auf meinen Wunsch hin den Kontakt her.
Die Patienten unserer Hausarztpraxis wurden normalerweise immer nach W. zu einem Gastroenterologen überwiesen (Gastroenterologie befasst sich mit Diagnostik, Therapie und Prävention von Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts sowie der mit diesem Trakt verbundenen Organe Leber, Gallenblase und Bauchspeicheldrüse). Dr. Gutlach selbst hatte erst kürzlich eine Fortbildung bei dem Facharzt in W. gemacht und alles sprach dafür auch mich dorthin zu schicken.
Bei Hämorrhoiden-Operationen sind aber auch heute vielfach noch „Metzger“ am Werk und als ich diverse abschreckende Geschichten dazu gehört hatte war mir klar, dass ich mit meinen Hämorrhoiden nicht zu jedem gehen würde.
Dr. Gutlach zeigte sich sehr interessiert an der Arbeit seines Kollegen in der Spezialklinik mit dieser neuen Methode. Er arbeitete damals mal nur so zum Reinschnuppern in der Praxis unserer Hausärzte. Vater und Sohn praktizierten hier gemeinsam. Der Senior sollte in den Ruhestand gehen und der Junior suchte einen neuen Partner. Wunschpartner war eben sein Studienkollege Dr. Gutlach.
Hier zeigte sich damals schon, welch aufgeschlossener Mensch Dr. Gutlach ist. Von Anfang an, auf seine Art und Weise, sympathisch und vertrauensvoll. Ein Arzt auf dessen Rat man gerne hört, denn er beharrt nicht nur auf Althergebrachtem.
Insgesamt musste ich einmal vor und einmal nach der Operation in diese Klinik und für den Eingriff dann drei Tage stationär dort bleiben. Es war eine Privatklinik und das hat man überall gemerkt. Hätte im Vordergrund nicht die unangenehme Operation am Allerwertesten gestanden, hätte man sogar das Gefühl eines Pensionsaufenthaltes bekommen können.
Es war alles in allem ein sehr angenehmer Aufenthalt, die Operation verlief ohne Komplikationen und der Heilungsprozess war, nach sage und schreibe drei Wochen, vollständig abgeschlossen.
Dr. Gutlach war begeistert und ich im Übrigen natürlich auch.
Aber warum erzähle ich das überhaupt?
Zum einen, weil ich auch zu den Menschen gehöre, die Krankenhäuser am liebsten meiden, selbst dann wenn es nur darum geht Besuche abzustatten. Und wer hätte im November 2006 schon geahnt, dass das nun erst der Auftakt einer schier endlos erscheinenden Kette von Arztbesuchen, Untersuchungen, Krankenhausaufenthalten und Therapien sein sollte?
Heute kann mich in der Beziehung so schnell nichts mehr beängstigen oder aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil.
Ruhig, besonnen und berechnend versuche ich mich durch diesen Dschungel zu kämpfen.
Und zum zweiten war das die erste Begegnung mit Dr. Gutlach. Ich war hier schon begeistert von seiner Art und Weise wie er mit den Patienten umging. Aber irgendwann verschwand er aus der Praxis. Das tat nicht nur mir leid.
März 2007
Anfang März fing ich mir eine Lungenentzündung ein. Das ist ja heutzutage nicht mehr weiter schlimm. Sie wurde auch direkt erkannt und behandelt. Ich wurde zwei Wochen krankgeschrieben, bekam die entsprechenden Medikamente und ging dann wieder arbeiten. Okay, so ganz richtig fit war ich noch nicht. Aber was soll’s, man ist mit fast 41 Jahren ja noch kein uralter Mensch.
In der Folgezeit stellte ich aber dann fest, dass sich am Hals Knoten gebildet hatten. Ich dachte mir weiter nichts dabei und machte bei einem Abendessen meine Frau Rica einmal darauf aufmerksam.
Sie betrachtete sich die Verdickungen und meinte, dass ich das unbedingt Frau Ratcliff zeigen müsste. Bei ihr hatte ich zum Glück auch unmittelbar danach einen Termin. Sie war zu der Zeit immer noch mit der Wundnachbehandlung meiner Hämorrhoiden-Operation zu Gange.
Rica wusste sofort, dass es geschwollene Lymphknoten waren und hatte schnell auch einen Verdacht, den sie mir aber vorenthielt.
Ich hatte, naiv wie ich war, keinen Schimmer, was diese Knoten hätten bedeuten können.
Noch eine Entzündung im Körper?
Noch von der Lungenentzündung?
Mir war das so egal zu dem Zeitpunkt, dass ich mir noch nicht einmal die Mühe machte mich weiter damit zu befassen, ja wenigstens mal schlau machte, womit das in Zusammenhang stehen könnte. Was sollte ich schon groß haben?
In der letzten Märzwoche fuhr ich an die Mosel zu Frau Ratcliff. Sie bestätigte Ricas Verdacht und bat mich umgehend zu meinem Hausarzt zu gehen.
Wie sie mir später einmal gestand, hatte sie in diesem Moment schon eine böse Vorahnung. Um mich aber nicht zu beunruhigen, behielt auch sie es für sich. Sie schickte mich nach Ihrer Therapie, mit Absicht, vor allem aber um mich nicht zu beunruhigen, ahnungslos nach Hause.
Auch hätte sie mit ihrer Behandlungsmethode ohnehin kein zweifelfreies und zudem medizinisch anerkanntes Ergebnis liefern können. Sie hatte nur einen Verdacht und um den nun zu widerlegen oder eben auch zu bestätigen war es zwingend notwendig die Fachmediziner aufzusuchen.
Zwei Tage später stellte ich mich beim Hausarzt vor. Er stellte mich total auf den Kopf. Er ist jemand, der mit den Patienten Klartext redet und hier wurde ich nun zum ersten Mal mit der Diagnose Non-Hodgkin-Lymphom (NHL, bösartige Krebserkrankung des lymphatischen Systems) konfrontiert.
Genau das, was Rica schon in Büchern und im Internet recherchiert hatte und Frau Ratcliff rein nur auf Abtasten vermutet hatte, sie mir aber beide vorenthielten um mich nicht unnötig nervös zu machen. Ich hatte ja, bis hierher, noch überhaupt keine Ahnung was das sein sollte. Er redete zwar etwas von Krebs, aber ich verstand nicht was er wollte. Ich war hier noch nicht bereit darauf einzugehen.
Der Hausarzt versuchte aber auch direkt den Wind wieder aus den Segeln zu nehmen: „Erstmal die Blutwerte abwarten und dann mal schauen was dabei raus kommt. Das ganze könnte auch wirklich nur von einer ganz simplen Entzündung im Körper kommen, z. B. im Nachgang der Lungenentzündung oder der Hämorrhoiden-Operation. Und davon würde er ganz stark ausgehen. Die Laborwerte würden darüber schon recht gut Aufschluss geben.“
„Siehst du“, dachte ich, „was soll das? Es ist doch alles in Ordnung. Viel Wind um nichts.“
Am selben Tag schickte er mich dann noch in ein Röntgeninstitut nach W. Das ging schon recht schnell und kurzfristig. Ob es daran lag, dass er doch eher an ein NHL glaubte und keine Zeit verlieren wollte? Denn normalerweise wartet man schon eine gewisse Zeit auf einen solchen Termin. Selbst als Privatpatient. Oder lag es doch nur daran, dass ich Privatpatient bin?
Am Tag nach dem Röntgen fuhr ich abends wieder in die Hausarztpraxis.
Der Röntgenbefund war negativ.
Die Laborwerte waren in Ordnung, bis auf folgende Auffälligkeiten:
Überhöhte Werte bei Epstein-Barr-, Toxoplasmose- und Cytomegalie-Viren.
Keine Auffälligkeiten bei den fünf entscheidenden Blutwerten gegenüber meinem letzten Blutbild vor der Hämorrhoiden-Operation im November 2006 :
Leukozyten (weiße Blutkörperchen), Erythrozyten (rote Blutkörperchen), Hämoglobin (eisenhaltiger, roter Blutfarbstoff in den Erythrozyten, Sauerstofftransporteur im Körper), Hämatokrit (Anteil aller zellulären Bestandteile am Volumen des Blutes) und Thrombozyten (Blutplättchen, wichtige Rolle bei der Blutgerinnung, entstehen im Knochenmark).
Es war alles im grünen Bereich.
Mein Hausarzt konnte ein NHL aber immer noch nicht ganz ausschließen. Er redete von nur 5% Restrisiko. Um das zweifelsfrei ausschließen zu können wollte er mich zu einem Spezialisten, einem Onkologen (Onkologie ist der Zweig der Medizin, der sich mit der Vermeidung, Diagnose, Therapie und Nachsorge bei Krebserkrankungen befasst), nach W. schicken. Dort sollte u. a. eine Rückenmarkpunktion endgültigen Aufschluss geben.
Ich willigte natürlich ein.
Von da an begannen die wohl bis dato beschissensen Wochen in meinem Leben.
Ungewissheit kann so zermürbend sein!
Ein ständiges Gefühl von Aufgewühltheit.
Das Gefühl nicht mehr zur Ruhe kommen zu können.
Zeitweise bestand echt die Gefahr von den vielen, vielen Gedanken aufgefressen zu werden.
Ich lief nur mit einem Tunnelblick rum, versuchte aber den normalen Alltag in Familie und Beruf weiter zu leben. Redete mir selbst ein, dass ich das sehr gut im Griff hatte und versuchte mich gegenüber anderen nicht auffällig zu verhalten. Gedanklich war ich aber in vielen Situationen völlig abwesend. Nebensächlichkeiten, die normaler Weise wirklich keinerlei Bedeutung haben, erinnerten mich ständig daran. An das, was vielleicht kommen konnte.
Vielleicht mein Lebensende?
Heute, im Nachhinein, muss ich sagen, dass das mit dem „normal weiterleben“ wohl nicht ganz so war. Wenigstens meiner Frau konnte ich da nichts vor machen. Sie wusste ja was los war, da gab es eben nichts zu verbergen. Und bei meiner Frau schon gar nicht. Sie ist einfach ein Mensch, die ihren drei Männern sofort ansieht wenn da etwas nicht stimmt, bzw. einer von uns dreien, wie in diesem Falle ich, sich mit irgendetwas auseinandersetzt und nicht richtig zum Ziel kommt.
Sie versuchte natürlich zu helfen.
Aber ich wollte mir nicht helfen lassen.
Denn es gab ja nichts wo es zu helfen galt.
Noch war nichts bewiesen.
Jetzt schon so viel seelische Anspannung.
Ich hatte doch noch gar keine Krebsdiagnose.
Die Untersuchungen hierzu standen ja erst an.
Wie sollte denn das erst werden, wenn die Untersuchungen mir ein positives Ergebnis bescheren würden?
Also versuchte ich in diesen Tagen weiterhin so zu tun und mir ganz stark einzureden, dass da nichts schlimmes, nämlich kein Krebs, war.
Ich gab mir Mühe so wenige Gedanken wie möglich daran zu verschwenden, dass ich Krebs haben könnte.
Irgendwie musste das ganz weit weg.
Ich, Krebs?
Wie das denn?
Viel Wind um Nichts!
Aber es ging kaum mehr aus dem Kopf.
Dieses Nichts.
Den richtigen Schalter dafür konnte ich nicht finden.
Im Büro informierte ich hierüber ziemlich schnell meine drei engsten Kollegen und meinen Fachbereichsleiter, sowie dessen Stellvertreterin. Alle zeigten natürlich große Betroffenheit.
An meinem Arbeitsplatz zeigte sich meine Art mit der noch nicht endgültigen Diagnose umzugehen, ganz anschaulich.
Egal wann wir im Büro in diesen Wochen darauf zu sprechen kamen, ich redete immer nur von einer ganz geringen Wahrscheinlichkeit und notwendigen Untersuchungen um eine Diagnose Krebs auszuschließen.
Ich habe wirklich daran geglaubt.
An mein Gerede und das ich keinen Krebs hatte.
April 2007
Mitte April hatte ich dann einen Termin bei dem Facharzt für Onkologie in W. Nun sollte sich also zu 100% aufklären, was in meinem Körper vorging. Zumindest ging ich davon aus.
Im Wartezimmer füllte ich die üblichen Fragebögen aus. Ohne großartig darüber nachzudenken unterschrieb ich auch ein vorgefertigtes Formular mit dem ich mich einverstanden erklärte, im Fall der Fälle an Studien teilzunehmen. Ich war zu dem Zeitpunkt noch relativ entspannt.
Ich sollte ja vielleicht Krebs haben.
Und man hatte mir erst nach 14 Tagen einen Termin gegeben. Also konnte es doch für den Onkologen wirklich nur eine von vielen Routineuntersuchungen sein, bei der zu erwarten war, dass nichts Schlimmes heraus kommen konnte. Oder?
Nach einer relativ langen Wartezeit nahm der Spezialist mich per Handschlag in Empfang und bat mich zunächst in sein Sprechzimmer. Auch hier musste ich nun noch einmal erzählen weshalb ich dort war.
So etwas finde ich bis heute umwerfend:
Jedem Arzt immer wieder alles zum x-ten Mal vorkauen zu müssen. Man spult ständig dieselbe Kassette ab.
Nur nervig. Aber total.
Irgendwann später erlaubte ich mir einmal einem der Ärzte die Frage nach dem Warum zu stellen. Es würde doch alles haarklein in den Berichten und Befunden stehen. Als Antwort bekam ich dann die banale Aussage, dass man es aber noch einmal von mir selbst hören wolle.
Der Onkologe machte aber, trotz dieser für mich nervigen Zeitverschwendung, einen sicheren und kompetenten Eindruck und ich fühlte mich in Folge dessen gut bei ihm aufgehoben.
Dann ging es endlich in ein Untersuchungszimmer und er stellte mich gründlich auf den Kopf. Aber schon während der Ultraschalluntersuchung sagte er zum ersten Mal, dass es wahrscheinlich, so wie es sich ihm hier darstellte, tatsächlich doch ein NHL wäre.
Puuuhhh!
Schock!
Nun war tiefes und langsames Durchatmen angesagt.
Schweißausbruch!
Aber er machte einfach weiter, als ob nichts Außergewöhnliches geschehen sei.
Er ging gar nicht auf mich ein.
Allerdings stellte ich auch keine Fragen.
Ich war schier sprachlos.
Für ihn war es ja Tagesgeschäft. Also was sollte er sich zum jetzigen Zeitpunkt groß darüber äußern?
Nach dem Ultraschall machte er eine Feinnadel-Punktion eines Lymphknotens und unterzog die entnommene Flüssigkeit in der eigenen Praxis einer zytologischen Untersuchung (mikroskopische Gewebeuntersuchung). Von dem hierzu nötigen Einstich in einen Knoten im Hals hatte ich nichts mitbekommen. Die hätten in dem Moment Gott weiß was mit mir anstellen können.
Während den hieraus resultierenden Labortests schickte der Onkologe mich eine Stunde vor die Tür. So lange bräuchten sie für ein Ergebnis.
Das wurde der längste und ätzendste Spaziergang meines Lebens, obwohl ich im Grunde gar nicht weit lief.
Wo ich da in W. hergegangen bin, weiß ich heute schon gar nicht mehr. Am Ende kam ich, wie am Faden gezogen, wieder bei der Praxis an.
Ziellos, verwirrt, aufgewühlt, voller Angst lief ich durch die Straßen. Was mir da alles durch den Kopf ging?
Bis hin zu einem schnellen Tod echt alles.
Verzweiflung, Gedankenlosigkeit, Leere, aber auch Hoffnung.
Gedanken über Leben und Tod.
War es das jetzt?
Aber was dann?
Was passiert mit meiner Familie?
Wie werden sie das verkraften, und damit umgehen können?
Was kommt nun alles auf mich zu?
Mein Leben und das schnelle, nun wohl nahende Ende, im Zeitraffer.
Antworten fand ich keine. Wie auch?
Wieder in der Praxis, in seinem Sprechzimmer, erfuhr ich, dass der Test eine Bestätigung seiner Theorie sei. Der Test wies definitiv auf ein NHL hin.
Na toll!
Zweiter Schock!
Wieder Leere.
Mein Gegenüber redete und redete, fachliche Ausführungen hier, weitere Vorgehensweise da. Teilweise hatte ich gar nicht mehr mitbekommen was er mir alles sagte. Irgendwann kam er aber bei all seiner Rederei doch noch auf den für mich wichtigen und wachrüttelnden Punkt:
Um wirklich ganz sicher zu gehen müsste er zunächst eine Knochenmarkpunktion machen (dient der Beurteilung der Blutbildung und der Diagnose oder Ausbreitungsdiagnostik von Erkrankungen des Knochenmarks), dazu eine Computertomographie (CT, computergestützte Schnittbilderzeugung) und am Ende stünde auch noch eine Operation zwecks Entnahme eines Lymphknotens für den histologischen Befund (Untersuchung von Gewebeproben) an. Kurzes Durchatmen.
Hoffnung.
„Also erstmal doch noch nur eine Vermutung?
Also weiterhin Ungewissheit?“
„Nein“, entgegnete er mir.
Er war sich im Grunde schon so gut wie sicher, dass es ein NHL war. Aber eine wissenschaftliche, medizinisch einwandfreie Diagnose würde ein genau festgelegtes Szenario vorgeben. Eben all das, was er heute an Untersuchungen gemacht und eben noch zusätzlich aufgezählt hatte. Es ging hierbei auch darum jetzt den genauen Status zu definieren.
Umgehend machte eine Sprechstundenhilfe bei einem Professor im Klinikum Waldendorf einen Termin für ein Vorgespräch und für die Operation in meinem Namen aus. Außerdem besorgte sie mir Termine für das CT im Röntgeninstitut in W. und die Knochenmarkpunktion hier in der onkologischen Praxis.
Ich konnte alles nur noch abnicken.
Na toll.
Und schon war ich nur noch eine Nummer.
Wie ich persönlich damit klar kam, wie ich es meiner Frau und den Kindern beibringen sollte und wie die wiederum damit klar kommen würden, interessierte hier niemanden.
Okay, ich war ja auch in einer onkologischen Facharztpraxis und nicht bei einem Psychologen. Und ich sprach dort auch niemanden auf dieses, mein zusätzliches Problem, an. Neben der Tatsache wahrscheinlich wirklich Krebs zu haben tat sich also sofort eine zweite Baustelle auf. Wie würden meine Lieben daheim damit klar kommen?
Wieder zu Hause beruhigte Rica mich natürlich. Das ging dann soweit, dass ich nach kurzer Zeit schon wieder alles verdrängte und, wie bereits geschildert, der festen Überzeugung war, dass es kein Krebs wäre.
In meinen Augen irrten sich alle.
So ein Quatsch.
Und genau das kolportierte ich weiterhin in allen Gesprächen nach außen. Ich versuchte meine Mitmenschen, die wenigen die bis dahin sowieso nur informiert waren, vor allem aber mich, auf diese Weise zu beruhigen.
Die Einzigen, die aber schon jetzt von meinem Krebs überzeugt waren, waren Rica und Frau Ratcliff.
Für sie war die Sache klar und eindeutig.
Aber sie ließen mich in meiner Schutzhaltung gewähren.
Zwei Tage später empfing mein Patenkind seine Erste heilige Kommunion. Natürlich ist das in unserer Religion ein hoher Feiertag und die ganze Familie war eingeladen daran teilzunehmen. Gerne folgten wir dieser Einladung.
Es gab Zeiten da bestand meinerseits an solchen Familienfeiern kein großes Interesse. Es war mir schon manchmal fast lästig.
Und bei drei eigenen Geschwistern, vier Geschwistern auf Seiten der Frau, plus die Eltern und Nichten und Neffen kommt da, übers Jahr verteilt, einiges zusammen. Oft dachte ich in den Jahren zuvor: „Verdammt, in der Zeit könnte man auch Sinnvolleres erledigen.“
Aber was ist sinnvoller als die Pflege der eigenen Familienbande und der Zusammenhalt innerhalb der Familie?
Wenn es mal wirklich eng wird im Leben!
Wer hilft einem dann?
Meistens ist es die Familie.
Mit zunehmendem Alter und dem Heranwachsen meiner beiden Söhne bekam ich langsam wieder ein Gespür dafür.
Und heute kann ich nur sagen: „Gott sei Dank.“
Bei herrlichem Wetter feierten wir ein schönes Fest.
Die Stimmung war gut, wurde allerdings zwischendurch durch einen Schwächeanfall eines Gastes getrübt. Er fing sich aber schnell wieder. Was ein Glück. Gar nicht auszudenken wenn ihm etwas Schlimmes zugestoßen wäre.
Meine Schwägerin war deshalb selbst schon kurz vor einem Zusammenbruch. Aber alles ging gut.
Nur ein Gast war an diesem Tag irgendwie nicht so recht anwesend.
Ich!
Jedoch gab ich mir auch hier allergrößte Mühe mir nichts anmerken zu lassen.
Sobald ich aber nicht in Gespräche verwickelt war dachte ich zwangsläufig an das, was mir am vergangenen Freitag vom Onkologen mitgeteilt worden war. In meinen Kopf war ein einziges Durcheinander.
Hatte ich Krebs oder nicht?
Das war die alles entscheidende und daher für mich derzeit einzige wichtige Frage die es zu beantworten galt.
Ein Gefühl, als ob in meinem Kopf ein Fußballstadion voller Menschen, aufgeteilt in zwei Gruppen, ja zwei Fangemeinden, sei. Ohrenbetäubender Lärm.
Alle rufen und schreien durcheinander. Alle wollen sich mitteilen und ihren Favoriten nach vorne brüllen:
„Du hast Krebs!“
„Du hast keinen Krebs!“
Wer würde gewinnen?
Natürlich fand ich keine Antwort.
Das Spiel endete auch an diesem Sonntag nicht.
Es dauerte nicht die berühmten 90 Minuten.
Nein, dieses besondere Spiel sollte erst zirka drei Wochen später enden.
Ein paar Tage nach meinem 42. Geburtstag.
Echt Hammer. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich bewusst eine solche Erfahrung. Wie unerträglich und erdrückend das Warten auf eine endgültige Diagnose sein kann. Dieses Hin und Her zwischen gesund sein oder vielleicht doch todkrank sein.
Drei Tage nach der Kommunion hatte ich den CT-Termin im Röntgeninstitut in W. Von einem mir sehr nahe stehenden Arbeitskollegen, man kann aber wohl eher von einem Freund sprechen, wusste ich ungefähr, was mich dort erwarten würde.
Er war vor ein paar Jahren selbst an Krebs erkrankt und kannte sich in dieser ganzen, für mich völlig fremden Welt, ein wenig aus. Die Gespräche mit ihm halfen mir dabei, nicht allzu nervös zu sein.
Im Grunde ist ein CT nichts Außergewöhnliches oder besonders Aufregendes. Man muss sich für die Aufnahme fast ganz ausziehen, alle sich am Körper befindenden Metallteile ablegen und sich dann auf eine Pritsche legen. Dabei Ruhe bewahren und der Dinge harren, die da über einen kommen.
Soweit so gut, wenn da nicht zum einen das vorherige Trinken eines so genannten Kontrastmittels und zum anderen die Kontrastmittelinjektion während der Aufnahme wären (dienen zur besseren Darstellung auf den Aufnahmen).
Bei der Wartezeit im Wartezimmer stellte man mir, in einem 1 Liter fassenden Glasbehälter (die Ähnlichkeit mit einer Saftkaraffe war schon verblüffend), das Kontrastmittel vor die Nase. Dazu einen kleinen Plastikbecher.
Dann bat man mich den ganzen Liter, über eine Stunde verteilt, leer zu trinken und die letzte halbe Stunde keine Toilette mehr aufzusuchen.
Vorsichtig hielt ich meine Nase an den Karaffenrand.
Geruchlos!
Im Gegensatz dazu aber nicht geschmacklos.
Noch heute, wenn ich zu Kontrolluntersuchungen dort sitze, habe ich das Gefühl, ich würde irgendeine Grundierung oder so etwas in der Richtung trinken.
Total eklig.
Pure Chemie.
Eigentlich zum Kotzen.
Aber in solchen Situationen kann ich mich unwahrscheinlich auf die Sache und die zwingende Notwendigkeit konzentrieren. Im Gehirn werden einfach ein paar Schalter umgestellt und ich funktioniere. Ohne dabei in irgendeiner Form zu schwächeln. Diese Eigenschaft sollte mir noch häufig von Nutzen sein. Pflichtbewusst erledigte ich also meine Aufgabe.
Zur Ablenkung las ich während der Wartezeit in der Tageszeitung, die auf den zukünftigen Reisen durch die vielen Wartezimmer mein ständiger Begleiter wurde.
Nervend war ein älterer Herr, bei dem ein Anfangsverdacht auf Hautkrebs bestand. Der gute Mann hatte allergrößtes Bedürfnis sich jedem anzuvertrauen und seine Krankheitsgeschichte los zu werden. Zum Glück saß ich so weit weg von ihm, dass ich nicht zu seinen direkten Opfern zählte. Indirekt störte sein ständiges Gesülze aber leider meine Konzentration beim Lesen.
Pünktlich auf die Minute hatte ich die mir gereichte Chemiebombe geleert und der Aufruf für das CT ließ auch nicht mehr allzu lange auf sich warten.
In die rechte Armbeuge wurde mir eine Nadel gesetzt, durch die die Kontrastmittelinjektion während der Aufnahme automatisch getätigt wurde.
Die Aufnahme selbst war völlig harmlos, abgesehen natürlich von den radioaktiven Strahlen, denen man ausgesetzt ist.
Man unterzieht sich einer 1000-mal stärkeren Röntgenstrahlung als bei einer normalen Durchleuchtung. Eine US-Studie der Columbia University warnt davor, dass sie Krebs überhaupt erst auslösen kann und rechnet mit 15000 Toten pro Jahr durch zu häufigen Einsatz dergleichen.
Hallo?!?
Die Injektion hatte es in sich. Das Zeug wurde so heiß im Körper, dass man genau merkte, wo es durch die Blutbahn schoss. Dazu das Gefühl einer übervollen Harnblase und ein Geschmack im Mund, als ob man an einem Eimer mit Metallspänen gelutscht hätte.
Herzlichen Glückwunsch.
Wenn das mal alles so gesund war?
Wollten die mich hier so mit Gift abfüllen, dass ich danach zwangläufig an Krebs erkranken musste?
Natürlich nicht.
Im Vorfeld hatte ich ja wieder einige Formulare ausgefüllt. Und dort stand klar zu lesen, dass es schon hier und da Nebenwirkungen geben könne aber dass alles ganz harmlos sei.
Bla, Bla, Bla…
Im sich daran anschließenden, aufgrund der Ernsthaftigkeit der eventuellen Erkrankung aber meiner Meinung nach viel zu kurzen, Arztgespräch wurden dann leider schon wieder die für mich weiterhin reinen Hypothesen des Onkologen bestätigt.
Verdammt!
Das CT nun auch!
Die Schnur zog sich wieder ein Stück weit enger zusammen. Aber ich verspürte immer noch Boden unter den Füßen.
Nach dieser totalen radioaktiven Durchleuchtung musste ich am gleichen Tag noch zum Onkologen in die Praxis.
Knochenmarkpunktion!
Vom Röntgeninstitut ging es dann zurück zum Onkologen. Reines Durchschleusen der Nummern, ach, natürlich Patienten.
Dort durfte ich dann erstmal wieder ins Wartezimmer.
Immer dieses elende Warten.
In diesen Tagen bekam ich den Eindruck alle Welt hätte Krebs. Fünf Ärzte praktizierten in dieser Praxis und die Bude war immer voll.
Zum Glück hatte ich ja meine Tageszeitung. Schon jahrelang bezogen wir unsere Zeitung. Ich wusste gar nicht, wie viel und was alles – und das jeden Tag aufs Neue – da drin stehen kann.
Irgendwann wurde ich dann, wie hier üblich, vom Arzt persönlich im Wartezimmer abgeholt. Ohne Umwege übers Sprechzimmer ging es in einen Behandlungsraum.
Er bat mich, mich mit dem Gesicht zur Wand zu legen und verpasste mir eine örtliche Betäubung. Natürlich das übliche Geschwätz von kleinem Pieks etc. Aber ich merkte wirklich nichts. Spritzen nehme ich seit je her „mal einfach nur so“ mit.
Der Arzt verabschiedete sich dann zunächst zu einem anderen Patienten. Massenabfertigung?
Nein, bestimmt nicht.
Eine Arzthelferin schaute zwischendurch zu mir rein um zu testen, ob die Betäubung wirkte. Als es dann so weit war, legte der Arzt los.
Ich hatte keine Ahnung was das werden würde. Nach einer Weile meinte er, dass das so nicht ginge. Er müsse auf mich drauf steigen.
„Scheiße“, dachte ich, „was haben wir denn jetzt?“
Mit einer angeblich riesengroßen Nadel sticht man bei einer solchen Punktion durch den Beckenknochen ins Knochenmark.
Keine Ahnung wie groß dieses Teil in Wirklichkeit ist.
Noch bei keiner Punktion hat man mir bis heute dieses „Riesenteil“ gezeigt.
Um beim Anblick nicht schon vorher zu verkrampfen, sollte ich deshalb ja mit dem Gesicht zur Wand liegen.
Sehr beängstigend.
Was dachten die, mit was für einer Mimose sie es zu tun hätten?
Die Arzthelferin erzählte mir beim späteren Ruhen, dass viele diese Behandlung nur mit Vollnarkose über sich ergehen ließen und auch bei einigen schon während der Punktion der Kreislauf zusammen geklappt sei, da es sich halt als nicht so einfach erwiesen hätte.
Irgendwie war das bei mir wohl auch nicht so ohne weiteres möglich. Er kniete dabei tatsächlich plötzlich förmlich auf mir.
Von der Punktion an sich merkte ich dann, bis auf einen kurzen Moment der Entnahme (da entsteht wohl eine Art Vakuum) fast nichts. Der arme Arzt war anschließend nass geschwitzt. Neben der Betäubung kam mir hierbei meine Schmerzunempfindlichkeit wohl sehr zu Gute.
Im Behandlungsraum musste ich dann ca. eine halbe Stunde unter Beobachtung liegen bleiben. Die Betäubung sollte abklingen und man wollte sicher gehen, dass ich nicht doch noch Kreislaufprobleme bekäme.
Mit ein paar wenigen Worten ging der Onkologe noch auf das CT ein. Aber ich erfuhr nichts wirklich Neues im Vergleich zu dem Gespräch mit dem Radiologen.
Eine endgültige Diagnose gab es also immer noch nicht. Das entnommene Knochenmark musste in ein Labor eingeschickt werden.
Das Fußballspiel in meinem Kopf ging also weiter.
Ständig wurden weitere Halbzeiten angepfiffen.
Früh stellte ich hier schon fest, dass es kurze Unterbrechungen des Spiels,
„Haste Krebs oder haste keinen?“,
immer dann gab, wenn ich durch irgendetwas abgelenkt war.
Hier lernte ich zum ersten Mal verstehen, warum sich mein Freund und Kollege damals, und das bis zum heutigen Tage, mit ehrenamtlichen Tätigkeiten überhäuft hat. Hast du etwas zu tun, und musst dabei auch noch deinen Grips anstrengen, vergisst du ganz einfach dein eigentliches Problem. Die Probleme, die dadurch wiederum entstehen könnten, sind zunächst mal völlig belanglos.
Interessieren einen nicht.
In keinster Weise.
Warum auch?
Das tatsächlich wichtige Problem ist ja ein anderes.
So kam es mir in den Tagen zwischen CT, Knochenmarkpunktion und der anstehenden Operation sehr gelegen, am Wochenende danach bei einer meiner Schwestern beim Verputzen ihres Hauses helfen zu können.
Es war ein sonniger, arbeitsreicher und sehr kurzweiliger Tag.
Tagsüber kein Gedanke an irgendeinen Krebs.
Einfach nicht da.
Bis zum Feierabend.
Ab dann kreisten die Gedanken wieder. Besonders beim Nachhausefahren, als ich eine gute halbe Stunde alleine war. Keine Ahnung wie ich nach Hause kam. Völlig abwesend. Wohl mindestens so gefährlich für den Straßenverkehr wie jemand der unter Alkohol- oder Drogeneinfluss steht.
Mit keinem Wort erwähnte ich tagsüber die in der kommenden Woche anstehende Operation bzw. meine mögliche Erkrankung.
Genau aus diesem Grunde, wo ich jetzt so bitterböse erfahren musste wie schlimm schon nur die Gedanken daran sein konnten, wollte ich niemanden aus der ganzen Familie darüber informieren. Erst dann, wenn es endgültig feststand.
Für meine Familie hätte doch nur das Wort Krebs, nun in Verbindung mit meiner Person und mit all den schon gehörten miesen Geschichten, im Vordergrund gestanden. Diese Verzweiflung galt es meiner Meinung nach zu vermeiden.
Die Einzigen die informiert waren, waren wirklich nur, wie bereits einmal erwähnt, eine Hand voll ausgewählter Arbeitskollegen.
Sonst niemand.
Auch unsere beiden Jungs ließen wir in diesen Tagen bewusst außen vor. Sie waren damals 13 1/2 bzw. 15 1/2 Jahre alt. Also der Eine mitten in der Pubertät und der Andere am Anfang selbiger. Ich wollte die Beiden nicht zu früh bzw. umsonst in ein solches Gefühlschaos stürzen. Was hätte das für nie wieder gutzumachende Folgen haben können?
Dass ich zu der Zeit über die Maßen viele Arzttermine hatte, bekamen beide ohnehin nicht mit. Durch Schule und Freizeitaktivitäten waren beide zur Genüge mit sich selbst beschäftigt.
Außerdem war ich mir ja sicher keinen Krebs zu haben. Das war gleich noch ein Grund die beiden nicht zu beunruhigen. Rica war hier zum Glück mit mir auf einer Linie. Überhaupt hatte sie ständig alles unter Kontrolle, einschließlich meiner Person, was man von mir wohl, rein im Bezug auf mein Handeln und meine Denkweise, nicht immer behaupten konnte.
Wenigstens dahingehend nicht, dass ich während der Phase der Ungewissheit einfach nicht Herr meiner Gedanken wurde.
Für den Montag danach, in der letzten Aprilwoche, hatte ich einen ersten Termin in der Klinik Waldendorf, zwecks Lymphknotenentnahme für die histologische Laboruntersuchung, bekommen.
Es ging um die übliche Vorstellung beim Arzt, für die Operation nötige Voruntersuchungen und Vorgespräche. Natürlich unterhielt sich nicht der hierfür zuständige Spezialist mit mir, sondern der an diesem Tag diensthabende Stationsarzt. Hier merkte ich sofort, dass der Patient nur ein Nümmerchen von vielen ist, die hier durchgeschleust werden. Ist halt so und regte mich auch nicht sonderlich auf.
Gesundheitsmanufaktur!
Der an diesem Tag zuständige Arzt wirkte arg gelangweilt – aber was noch schlimmer war, total unentschlossen.
Meine Akte lag vor ihm, er stöberte drin rum aber wollte trotzdem von MIR wissen was ER denn machen sollte.
„Na prima. Aber nachher dick abkassieren“, dachte ich mir.
Nach kurzem Hin und Her, „ja wie … ah so … na wo sollen wir denn einen Knoten raus operieren …“, legte ICH am Ende tatsächlich fest, dass er in der Leiste einen Lymphknoten entnehmen sollte.
Beim Onkologen hatte ich aufgeschnappt, dass das wohl am günstigsten sei.
„Nur schnell raus hier“, dachte ich noch.
Dann ging es zum Röntgen.
Schon wieder Strahlen!
Für mich völliger Schwachsinn. Hätte man nicht die CT-Bilder für ausreichend erklären und vor allem besser ansehen können? Röntgenbilder von ganz zu Beginn gab es ja zu allem Überfluss auch schon.
Nein, sie bräuchten aktuelle Bilder von unmittelbar vor der Operation.
Basta!
So wird unser Geld verschleudert.
Der dickste Hammer dieses Voruntersuchungstages sollte aber erst noch folgen.
Auch bei einer Anästhesistin sollte ich mich noch vorstellen. Schließlich war zu klären, ob unter Teil- oder Vollnarkose operiert werden würde. Zu meiner Überraschung war das dort aber gar nicht zentrales Thema.
Die scheinbar von sich sehr überzeugte Dame empfing mich direkt auf die Mitleidstour. „Ach sie Armer, so was aber auch, wir, mein Mann und ich, hatten da auch einen Bekannten mit einem NHL, der hat Chemo bekommen und …“
„Nichts und“, unterbrach ich sie recht schroff und schon ziemlich angenervt.
„Erstens steht noch gar nicht fest ob ich ein NHL habe, zweitens unterlassen sie bitte dieses Geschwätz und drittens hätte ich gerne Vollnarkose. Und Tschüss.“
Beim Verlassen des Raumes blieb ich aber noch von selbst stehen und fragte nach, wo denn meine Unterschrift hin sollte. Den ganzen Aufklärungskram könne sie sich sparen. Ich hätte vor kurzem erst eine Hämorrhoiden-Operation hinter mich gebracht und wisse bestens Bescheid.
Dann machte ich mich aber umgehend aus dem Staub.
Was können Ärzte abgestumpft und gefühllos sein. Heute denke ich mir, dass das derselbe Effekt ist wie wenn unser einer im Büro immer Tag ein, Tag aus, das Gleiche erledigen muss. Da stumpft man ja selbst ab und verliert jegliche Lust und Motivation.
Völlig entsetzt verließ ich damals die Klinik.
Zwei Tage später, mittwochs, sollte ich dann morgens ganz früh da sein, um 8:00 Uhr. Bei der Anmeldung ging der Ärger schon wieder los.
In was für einer Abzockanstalt war ich da nur gelandet?
Die wollten mich tatsächlich für zwei Tage auf der Station behalten, mit der Begründung, dass ich Privatpatient sei. Kassenpatienten durften für haargenau denselben Eingriff nur ambulant erscheinen. Das sagten die mir frei weg ins Gesicht. Ich sollte die Nacht zur Beobachtung dort bleiben und es mir gut gehen lassen. Wenn etwas Unvorhergesehenes aufträte, wäre ich sofort vor Ort, dann sollte ich den nächsten Morgen noch die Visite mit dem Chefarzt abwarten und im Laufe des Tages dürfte ich dann nach Hause.
Diese Option eines zweitägigen stationären Aufenthalts kam unvorhergesehen. Die hatte ich nicht auf dem Plan und die kam für mich auch nicht in Frage. Und von dem Moment wo ich wusste, dass Kassenpatienten nach einem solchen Eingriff nach Hause müssen, schon gleich gar nicht.
Ja wo sind wir denn?
Ich diskutierte so lange mit den Leuten der Verwaltung rum, bis sie entnervt aufgaben.
Also ambulant!
Ging doch!
Auf der Station angekommen stellte sich heraus, dass die gar kein Bett frei hatten.
Aber mich über Nacht hier behalten wollen.
Hallo?!?
Echt aller bestens durchorganisiert, der Laden.
Kurzerhand landete ich in einem Umkleidezimmer und zwar genau in dem, wo sich die Ärzte an- und auszogen. Die schoben mich mit einem Bett einfach dort hinein.
Schnell wurde mir ein Beruhigungsmittel verabreicht und es sollte alsbald losgehen. Das war aber wohl nur ein Vorwand um mich in Wirklichkeit erst einmal einfach nur ruhig zu stellen. Nur damit ich dort keinen Terz machte.
Während ich so da lag und vor mich hin dämmerte, kam die operierende Ärztin irgendwann und fragte mich allen Ernstes, was sie an mir machen sollte.
Die hatte keinen Schimmer.
„Ach so, einen Lymphknoten für eine Histologie entfernen. Ja wo denn? In der Leiste? Okay.“
Als wir das dann, zum wiederholten Male, geklärt hatten, sollte es dann wirklich bald losgehen.
Oh nein … für was war ich denn bei diesem Hirni von Arzt zum Vorgespräch?
Gott sei Dank markierte sie die Stelle an der Leiste.
Wer weiß was die mir sonst entfernt hätten?
Aber dann geriet ich wieder in Vergessenheit. Um die Mittagszeit erinnerte man sich wohl an mich und nahm sich dann doch endlich meiner an.
Rica wurde fast verrückt vor Wut.
Sie war von morgens an dabei. Es sollte angeblich auch nicht lange dauern. Früh da sein, zeitnahe Operation, Aufwachphase, kurze Kontrolle und nach Hause. So hieß es jedenfalls in dem Vorgespräch.
Ich merkte zu dem Zeitpunkt von nichts etwas. Ich war völlig ohne Zeitgefühl und nur am Schlafen von den Beruhigungsmitteln. Als ich dann irgendwann wach wurde, wunderte ich mich wie spät es schon war.
Nach der Operation hatten sie mich in ein Dreibettzimmer geschoben und da sollte ich nun doch über Nacht bleiben.
Das durfte nicht wahr sein.
Deshalb am Ende die ganzen Verzögerungen?
Aber nicht mit mir.
Oder wusste hier keiner vom Anderen was abgeht? Kopf und Arsch redeten in dieser Klinik wohl nicht miteinander.
Und wieder ging die Diskutiererei los.
Wieder mit einer ganz anderen Ärztin.
Wieder alles von vorne durchkauen.