Die Kanzlermaschine
Wie die CDU funktioniert
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
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ISBN (E-Book) 978-3-451-34695-8
ISBN (Buch) 978-3-451-30592-4
„Wir wollen jetzt die Kirche im Dorf lassen.“
Helmut Kohl am 22. Oktober 1998 bei seinem letzten
Lagebericht im Bundesvorstand der CDU in Bonn
„Ran an den Speck, wir haben noch viel vor.“
Angela Merkel am 5. Dezember 2012 auf dem Parteitag
in Hannover nach ihrer Wiederwahl als Parteivorsitzende
Inhalt
Kanzlermaschine auf dem Prüfstand
Nicht Partei, sondern Union
Merkels Modernisierung
Aus Ausländern werden Migranten
Das Betreuungsgeld-Paradox
KT und die Wehrpflicht
Die Kernschmelze
Bildung ohne Hauptschule
Mindestlohn – die Graswurzelbewegung
Strukturen einer Großfamilie
Der Kreisverband – Heimathafen der Partei
Die Regionalkonferenz: Sich kümmern
Bürgersprechstunde mit der letzten Reihe
Die Logik der Parteitage
Beiboote der Macht
Der Tod der Karteileiche –
Mitglieder, Anhänger, Wähler
Der Beliebigkeitsbazillus –
Programme, Werte, Stile
Die Großstadt-Sehnsucht
Das konservative Rätsel
Das „C“
It’s the economy, stupid
Merkels Leerrohre – Die CDU vor der Wahl
Koalitionen, Emotionen
Nach Merkel
Nachwort
Literatur
Eigentlich war es der Moment des größten Triumphs. Die CDU konnte nach der Großen Koalition wieder eine bürgerliche Regierung bilden. Am Ziel aller Träume, sollte man meinen. „Angie, Angie“ riefen die Anhänger und Mitarbeiter der Parteivorsitzenden Angela Merkel am späteren Abend des 27. September 2009 im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin zu, als sie vor das Mikrophon trat. „Wir haben etwas Tolles geschafft“, sagte die Kanzlerin. Sie lachte und herzte den damaligen Generalsekretär Ronald Pofalla, und die Menge jubelte. War das der Endpunkt eines über zehnjährigen Leidens? Nach der krachenden Niederlage Helmut Kohls 1998, nach dem selbstzerstörerischen Parteispendenskandal 1999, nach den Selbstzweifeln in den Schröder-Jahren, ob die CDU je wieder Regierungspartei werden könne. Nach der Großen Koalition, die einigen wie ein Regieren mit angezogener Handbremse vorkam, konnten jetzt wieder CDU/CSU und FDP das Land führen, wie unter Helmut Kohl, wie unter Konrad Adenauer. Endlich wieder glorreiche Zeiten. Doch dann sagte Merkel an diesem Abend im hohen Eingangsfoyer der Parteizentrale: „Ich will Bundeskanzlerin aller Deutschen sein.“ Das sei ihr Verständnis von diesem Amt. Gerade in den Krisenzeiten sei das wichtig. Von Merkel war kein Triumphgeheul zu erwarten, das wussten auch ihre Fans. Sicher hatte Merkel auch im Hinterkopf, dass das Ergebnis von 33,8 Prozent für sich genommen kein Erfolg war. Das schlechteste Ergebnis seit 1949 für die Union. Das sagte sie nicht, aber man konnte an ihrem Gesicht an diesem Abend diese Gedanken ablesen. Sie freute sich über die Feierlaune, aber sie feierte nicht mit. „Jetzt wartet Arbeit auf uns“, sagte sie. Noch so ein Merkel-Satz. Aber sie merkte noch indem sie es sagte, dass sie mit dieser Wendung nicht den Stimmungsnerv des Parteivolks traf. „Das soll jetzt keine Ernüchterung sein“, schob sie schnell nach und schloss mit: „Ihr könnt jetzt feiern, ich muss noch Medienarbeit machen“. Die Partei verzieh ihrer Kanzlerin in diesem Moment alles: ihre Nüchternheit, ihre Kontrolliertheit, ihre präsidiale Überparteilichkeit. Die Partei jubelte einfach weiter.
Diese Szene ist so etwas wie ein situatives Brennglas auf die Gefühlslage der CDU. Merkel hat die CDU aus dem tiefsten Loch ihrer Parteigeschichte herausgeführt, Merkel hat das Kanzleramt für die Kanzlerpartei zurückerobert. Die CDU versteht sich als die geborene Regierungspartei der Bundesrepublik. Sie ist gegründet worden auf den Trümmern des alten Deutschland, um das Land, das im Barbarentum versunken war, wieder aufzubauen. Krisenbewältigung sieht die CDU als ihre ureigenste Fähigkeit an. Und Krisenbewältigung ist auch Merkels ureigenste Fähigkeit. Die CDU hat im Kern überhaupt kein Problem damit, wieder Kanzlerpartei, mithin ein Kanzlerwahlverein zu sein. Sie ist eine Machtmaschine. Doch was hält sie am Laufen? Jede Partei braucht die Abgrenzung und die Polarisierung, ein Wahlkampf, Erfolg in der Demokratie, so will es scheinen, ist anders nicht denkbar. An dem Abend vor der blauen Wand mit dem CDU-Logo hat Merkel zu schnell umgeschaltet von Wahlkampfmodus auf Kanzlermodus. Merkel hätte für diesen Abend, zumindest für einen Augenblick, nicht Kanzlerin aller Deutschen, sondern die CDU-Kanzlerin sein können. Das hätte die Machtmaschine geschmiert. An diesem Abend hätte sie nicht von Arbeit, sondern von Sieg sprechen können. An diesem Abend hätte sie nicht nur Pofalla im Arm, sondern auch ein Glas in der Hand haben können. Aber so ist Merkel nicht. Und vielleicht ist Merkel so erfolgreich, weil sie so ist. Und weil sie so bleibt. Nichts war in der CDU der letzten zehn Jahre so beständig wie der besondere Charakter von Angela Merkel – und das Grübeln ihrer Partei darüber. Aus der Kohl-CDU ist eine Merkel-CDU geworden – über den kurzen Umweg einer Schäuble-CDU und phasenweise einer Art Anti-Kohl-CDU. Es ist eine neue Partei, die manches verloren hat von dem, was typisch für sie war. Doch ihrem Grundcharakter ist sie treu geblieben: Machtmaschine der Demokratie. Regieren kommt vor kritisieren, so das zentrale Selbstverständnis der CDU.
Merkel ist seit acht Jahren Kanzlerin, sie hat Sympathiewerte, die Mitbewerber wie Vorgänger bisweilen blass aussehen lassen. Auch die Umfragewerte der CDU bewegen sich seit 2009 nach oben, wenngleich noch offen ist, ob Merkel eine dritte Amtszeit wird antreten können. Die Geschichte Merkels in der CDU ist eine Geschichte des Fremdelns, eine Geschichte der erarbeiteten Liebe, eine Geschichte, die sich in der Begegnung Merkels mit ihren Anhängern an diesem Abend im Konrad-Adenauer-Haus spiegelt. Sie ist der Mittelpunkt und gehört doch nicht ganz dazu. Sie wird respektiert, bewundert, vielleicht sogar geliebt, und doch bleibt sie so etwas wie eingeheiratet. Auch wenn es beim Bundesparteitag in Hannover 2012 anscheinend eine emotionale Annäherung gab. Das überraschend gute Ergebnis von 98 Prozent bei ihrer Wiederwahl zur Parteivorsitzenden rührte sie zu Tränen, das war zu sehen – ein ungewöhnlicher Gefühlsausbruch. Im ZDF-Interview kurz danach hatte sie ihre Nüchternheit zurück: Das sei ein wunderbares Ergebnis, aber „allein aus Dankbarkeit wird man nicht gewählt“. Jetzt müsse sie weiter hart arbeiten.
Möglicherweise gab es für die CDU nach dem Sturz Kohls und nach der Parteispendenaffäre keine andere Chance. Wahrscheinlich sogar ist die Stiefmutter Merkel nach dem gefallenen Übervater der große Glücksfall für die Partei. Wahrscheinlich hätte kein anderer nach dem Desaster so gut aufräumen und neu anfangen können wie sie. In gut zehn Jahren hat Merkel die Machtmaschine CDU wieder flott gemacht. Dabei hat sie ordentlich umgebaut. Wenn sie erfolgreich ist, sind alle zufrieden. Das Fremdeln wird immer ein wenig bleiben, aber es wird stetig weniger werden. „Merkel ist Kult“, sagt einer in der Parteizentrale. Mit der Kultfigur Merkel lasse sich die Bundestagswahl 2013 gewinnen. Wenn das so kommt im September, dann feiern wieder alle im Konrad-Adenauer-Haus – und Merkel wird zu ihnen sprechen und dann noch etwas in die Nacht hinein arbeiten.
Die CDU ist zumindest in Teilen noch immer eine Partei in Abnabelung. Das ist inzwischen weniger gegen die Person Helmut Kohls gerichtet, hat nicht mehr so viel mit der leidigen Spendenaffäre zu tun. Es ist ein Erwachsenwerden, wie es Merkel in ihrem berühmten und immer noch lesenswerten offenen Brief 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschrieben hatte. „Die Partei muss also laufen lernen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen und wird trotzdem immer zu dem stehen, der sie ganz nachhaltig geprägt hat, vielleicht später sogar wieder mehr als heute.“ Das Ausziehen aus dem Haus des Vaters – oder das Abschieben desselben aufs Altenteil – ist dabei eben nicht nur eine Personalie, sondern eine inhaltliche Veränderung, ein „neuer Weg“. Der lange Schatten der 1980er-Jahre reicht bis ins 21. Jahrhundert. Die ideologisierten Themen wurden geradezu genüsslich geschliffen. So wie ein 18-Jähriger endlich Schnaps trinkt, Auto fährt und andere Dinge tut, die er lange nicht durfte. Nie wieder Denkverbote! Nie wieder „Lebenslügen“, das von Jürgen Rüttgers geprägte Wort scheint der Schlüsselbegriff der post-patriarchalen Epoche für die Mutterpartei des deutschen Bürgertums. Allerdings führte Rüttgers, der Zukunftsminister unter Helmut Kohl und eine Art Grenzgänger zwischen den Epochen Kohl und Merkel, den Begriff gerade in Abgrenzung zu Merkels neoliberaler Wende (manche sprechen auch von einer „Phase“) ein. Was „Lebenslüge“ war und was neue Gültigkeit beanspruchen konnte, musste neu ausgehandelt werden.
Dieser Modernisierungsprozess ist demjenigen gar nicht unähnlich, den Kohl selbst in den 1970er-Jahren begonnen hatte. So lässt sich Merkels Neuanfang als Bruch und als Fortsetzung Kohl’scher Aufbruchsrhetorik von 1982 lesen. Kohl hatte bei seinem Antritt als Kanzler vor 30 Jahren eine „geistig-moralische Wende“ ausgerufen. Bei den Feierlichkeiten zu diesem Jubiläum im Herbst 2012 deutete Merkel ihre Politik ganz in der Kontinuität Kohls. Das „Später-sogar-wieder-mehr-als-heute“ ist für die zur Kanzlerin gewordenen Denkmalstürzerin eingetreten.
Die CDU hat vor einigen Jahren eine Mitgliederwerbekampagne gemacht. Auf Postkarten waren Jugendfotos der Parteiprominenz abgebildet. Es sollte suggeriert werden, auch die Großen von heute waren mal normale junge Menschen. Der Ronald Pofalla ist da mit langen Haaren und Strickpulli zu sehen, Thomas de Maizière hat einen Wuschelkopf und trägt eine John-Lennon-Brille. Annette Schavan und Ursula von der Leyen sehen in jungen Jahren braver aus als heute. Es versammelt sich da eine parteigeschichtliche Generation, die in der Kohl-Union aufgewachsen ist, die aber nun eigene Vorstellungen entwickelt hat. Die Kinder und Enkel Kohls haben das Elternhaus umgebaut, es sind keine Revolutionäre, die ausreißen, aufbegehren, aburteilen. Und die Eingeheiratete ist natürlich nur scheinbar an allem schuld. Angela Merkel, die Protestantin aus dem Osten, FDJ-Mitglied, geschieden, keine Kinder – wenn jemand Kohl zu seinen Kanzlerzeiten gesagt hätte, wer ihm im Amt einmal nachfolgen wird, wäre er vom Glauben abgefallen. Dem Wesen nach ist aber die Angela-Merkel-Partei eigentlich immer noch die alte Kohl-Partei – böse Zungen würden sagen, nur „auf Links gezogen“. Viele berichten, in der Jungen Union und auch der CDU der 1980er-Jahre habe man nicht über Umweltpolitik oder Atomenergie sprechen dürfen, zumindest sei es noch aufregend und gefährlich gewesen. Genauso war es mit der Familienpolitik oder mit dem sogenannten „Ausländerproblem“, das heute in der CDU wie selbstverständlich lösungsorientiert als „Integrationsaufgabe“ bezeichnet wird.
Die Atomenergie ist fast abgeschaltet, Solarpanels sind aufs Dach montiert, die Kinder werden in die Kita geschickt. Wehrpflicht für die jungen Männer – passé, dafür dürfen diese sich jetzt gleichgeschlechtlich lieben und „verpartnern“. Kein obligatorischer Kirchgang mehr, aber Muslime gehören zur Familie. Einwanderungsland statt Gastarbeiterland. Selbst die Hauptschule musste dran glauben, nicht aus Willkür, sondern aus Einsicht, heißt es. Die ganze sogenannte, möglicherweise auch nachvollziehbare und folgerichtige programmatische Modernisierung der CDU lässt sich auch lesen als ein Abarbeiten an den Zwängen und Verboten des einstigen Übervaters und seiner Zeit. „Solange Du Deine Füße unter meinen Tisch stellst“ – das ist vorbei. Opa ist weg. Jetzt können die nachgeborenen Christdemokraten denken und machen was sie wollen. Dabei war es weder Kohl in Person, der als konservativer Lordsiegelbewahrer die CDU vor Veränderungen behütet hätte. Noch war die Kohl-Zeit eine Zeit der Stagnation. Aber in Kohls ausbalancierter Welt war ein weiteres Fortschreiben der CDU-Vorstellungen nicht mehr möglich. Die Kraft zur Modernisierung war schon Anfang der 1990er-Jahre, spätestens aber 1998 erschöpft. Deswegen brauchte es, so die Meinung der maßgeblichen Gruppierung in der Union, einen Neuanfang ohne Kohl.
„Mission erfüllt“, sagte ein CDU-Präsidiumsmitglied 2012 zur Entwicklung der Partei in den zurückliegenden zwölf Jahren. Die Modernisierung der CDU ist kein Ergebnis willkürlicher Entwicklungen, auch wenn sie sich manchmal ruckartig (siehe Fukushima) vollzog, sie ist keinesfalls allein die Idee und das Werk Merkels. Sie hat ihre Grundlagen in der Kohl-Zeit, fand ihre Umsetzung aber in der Absetzung von Kohl. Und sie entspricht wahrscheinlich sogar der Tradition der Union, Veränderung als Wesenszug einer bürgerlich-konservativen Werthaltung zu beschreiben. Nur über Ausmaß und Grenzen gibt es immer Streit. Nach der Wiedervereinigung machte sich auch der Einfluss der ostdeutschen Landesverbände bemerkbar. Die CDU-Ministerpräsidenten Sachsens, Thüringens und Sachsen-Anhalts wirken als veränderungsbereite Kraft auf den Gesamtkörper der Partei ein.
Doch der ganze – natürlich vor allem von der Opposition beklagte – Reformstau der später 1980er-Jahre, der nun abgearbeitet wird, ist allein noch keine Programmatik. Daraus erwächst noch keine Identität. Für die nächsten Jahre brauche es mehr, meinen Beobachter und Parteienforscher. Die Wehrpflicht oder auch die Kernenergie sind immer auch als „Herdfeuerthemen“ der Union angesehen worden. Dieses Herdfeuer hätten Merkel und Ihresgleichen ausgetreten, so die Kritiker. Woran, so die Frage, sollen sich die Parteimitglieder nun erwärmen, wenn sie bei Kälte und Regen raus müssen und Plakate kleben? Es brauche gemeinsam geteilte Wertvorstellungen und Themen, die polarisieren und die motivieren, in die Partei einzutreten, damit sich Mitglieder finden, die auch die Kärrnerarbeit der Partei erledigen. Dies gemeinsame Feuer war einmal der Anti-Kommunismus, als Allzweckwaffe der parteinternen Integration. Mit ihm ließen sich Gestalten wie Alfred Dregger, der eher den national-konservativen Unionsteil vertrat, und der legendäre Generalsekretär Heiner Geißler, der eher dem liberalen Lager zuzuordnen war, zusammenbinden – ja zusammenschweißen. Die Breite der Meinungen in der Union gibt es immer noch, nur woran hält man gemeinsam fest? Diese Frage scheint noch nicht gelöst. Das Christliche im Namen bietet sich da als einendes Band an, doch ist dieses so locker gespannt, dass es in der ganzen Geschichte der Union nur zur losen Klammer taugte. Auch das „C“ bedarf einer Neubestimmung.
Kohl war in seiner Anfangszeit einmal der Erneuerer der CDU, der aus der Honoratiorenpartei eine Mitgliederpartei machte. Doch der alte Grundstock, eine männliche Mitgliedschaft, die abends beim Bier Politik machen wollte, ein kirchlich geprägter vorpolitischer Raum, der Resonanzboden und Aktionsradius bot und eine klare Frontstellung gegen die Kommunisten und Vaterlandsverräter, gibt es so nicht mehr. Die „Mund-zu-Mund-Beatmung“, wie dies der CDU-Landespolitiker Werner Remmers einmal nannte, für die wie auch immer geartete Basis, bleibt Grundvoraussetzung der CDU als eine im Volk präsente Partei. Bei allen Definitionen des Begriffs Volkspartei scheint diese am schlüssigsten, die beschreibt, wie eine Partei bis in die Kapillargefäße einer Gesellschaft eindringt, dort, wo Politik und politische Einstellung und Engagement entstehen. Auch diese Art Parteiarbeit muss neu entdeckt und erfunden werden.
Neulich klagten die Kreisgeschäftsführer im Berliner Konrad-Adenauer-Haus ihrem Generalsekretär Hermann Gröhe und dem Bundesgeschäftsführer Klaus Schüler ihr Leid. Die Strukturen der Partei seien noch aus der Ära der Briefmarke, es gebe aber inzwischen auch bei CDU-Parteimitgliedern im hinterletzten Dorf im Taunus oder der Eifel Internet. Warum also schreibe die Satzung sogar für die Einladung zur Vorstandssitzung der Ortsunion den postalischen Weg vor? In der Parteizentrale hingegen dominiert vor allem die Sorge um sinkende Mitgliedszahlen. In den Kreisgeschäftsstellen, das ist so etwas wie der Maschinenraum der Partei, da wollen einige noch jünger werden, Kampagnenpartei werden, Aktionsbündnisse für einzelne Vorhaben inszenieren können. Schnell mit Facebook, Twitter etc. auf den neuen Marktplätzen aufschlagen.
Der programmatische Aufbruch nach der Kohl-Ära fand seinen Ausdruck unter dem Parteivorsitzenden Wolfgang Schäuble 1999 beim Parteitag in Erfurt. Die dort verabschiedeten Leitsätze gaben eine neue Richtung vor. 13 Jahre später wirken sie geradezu zaghaft angesichts dessen, was die Partei inzwischen für Veränderungen vollzogen hat. Am Beispiel des Umgangs mit Homosexualität wird dies exemplarisch besonders deutlich. In Erfurt wurde die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften explizit nicht erwähnt, aber subsumiert unter „andere nicht-eheliche“ Partnerschaften. Zwar solle jeder leben können wie er wolle, doch komme eine Gleichstellung und damit die Abwertung der Ehe nicht in Frage. Dies entspreche nicht dem Familienbild der CDU. Lange ist es her: Inzwischen gibt es eine eingetragene Lebenspartnerschaft, von Rot-Grün eingeführt, die weder von der Großen Koalition noch von Schwarz-Gelb abgeschafft worden ist. Vielmehr wird eine Gleichstellung der „Homo-Ehe“ Schritt für Schritt vorangetrieben. Und dies ist längst nicht mehr nur ein Ziel der „anderen“, auch der FDP, sondern auch eines Teils der Union selbst. Die „Homo-Ehe“ ist in der Union nach wie vor umstritten. Auch wenn Wahlforscher das Thema für CDU-Wähler als nicht mehr relevant ausmachen, ist es ein Beispiel für die programmatischen Baustellen der Partei.
Im Sommer 2012 haben 13 Unions-Bundestagsabgeordnete mit dem Vorschlag Schlagzeilen gemacht, das Ehegattensplitting auch für gleichgeschlechtliche Paare einzuführen. Damit werde eine der letzten gravierenden „Ungleichbehandlungen“ abgeschafft. Unter den Initiatoren waren die Vize-Fraktionsvorsitzende und langjährige Präsidentin des Katholischen Deutschen Frauenbundes, Ingrid Fischbach, sowie der hessische Landesvorsitzende der Christlichen Arbeitnehmerschaft (CDA), Matthias Zimmer. Beide sind katholisch, verheiratet, haben Kinder. Es ist einiges unübersichtlich geworden in der CDU. Für die Initiative gab es zunächst mal mächtig Gegenwind. Auch die Kanzlerin war „not amused“. So etwas schade der Partei in den Kerngebieten, hieß es. Fraktionschef Volker Kauder bestellte einige der Initiatoren zur Aussprache ein. Der Fraktionsvorsitzende im nordrhein-westfälischen Landtag, Karl-Josef Laumann, soll bei der Landesvorstandssitzung in Düsseldorf getobt haben. Ob denn keiner mehr das richtige Gespür für die Partei habe, soll er gefragt haben. Laumann ist ein Bauchmensch aus dem Münsterland, wenn einer weiß, wie die Menschen auf dem Land, die immer noch die Machtbasis der Partei sind, ticken, dann er. Doch wer noch? Und vielleicht sind ja auch die Münsterländer nicht mehr ganz so einheitlich zu beurteilen wie früher einmal. In den diversen Ortsvereinen, Kreisvorstandssitzungen, in der Jungen Union – überall wurde diskutiert. Ein klares Bild war nicht mehr zu gewinnen. Schließlich nahm die CDU das Thema mit auf ihren Parteitag, debattierte und stimmte ab. Diesmal gewannen noch die Gegner einer Gleichstellung. Doch die Verteidiger von Ehe und Familie waren nicht mehr allein. Sitzungsleiter Peter Hintze konstatierte eine „beachtliche Zahl“ an Stimmen, die sich für die steuerliche Gleichberechtigung aussprachen. So eine offene Debatte über Homosexualität hatte es in der Union vorher noch nicht gegeben. Die Wortmeldungen der Gegenseite waren zahlreich, darunter nicht nur bekennende Homosexuelle wie der aus dem ländlichen Ahaus stammende Abgeordnete Jens Spahn, sondern auch etwa die frühere Landesministerin Christa Thoben, Jahrgang 1941, die mit flammender Rede für die Gleichstellung warb und „mehr Ehrlichkeit“ in der Union anmahnte.
Dabei sind die Argumentationsmuster verwirrend geworden. Der CDU-Fraktionsvorsitzende im sächsischen Landtag, der bekennende Konservative Steffen Flath, begründete seine Ablehnung einer Gleichstellung der „Homo-Ehe“ mit seinem katholischen Glauben. „Die Ehe ist nach unserem Verständnis ein Sakrament“, daraus müsse sich die besondere Schutzwürdigkeit ergeben. Doch auch der Abgeordnete Spahn begründete die Gleichstellung mit der katholischen Soziallehre. Ausgerechnet er sprach von einer „Wertedebatte“. Wenn zwei Menschen füreinander Verantwortung übernähmen, sei dies unabhängig von dem Geschlecht achtenswert. Spahn kritisierte scharf den gönnerhaften Gestus, mit dem die Parteiführung „andere Lebensmodelle“ bewerte. Dies verbitte er sich. „Ich bin, wie ich bin“, so Spahn, der seine eigene Homosexualität öffentlich gemacht hat, sich aber auch zu seinem katholischen Glauben bekennt.
Mit derartigem Selbstbewusstsein hatten Schwule sich noch auf keinem Parteitag der CDU geäußert. Auch der Antrag, bei dieser sensiblen Frage geheim abzustimmen, wurde abgelehnt. Doch einem Redner wurde es mulmig. Ob die Debatte nicht zum „Bruch“ führen könne, fragte er. Ein Raunen ging durch den Saal. Der Schlagabtausch war ungewöhnlich, aber gefährlich war er für die CDU nicht mehr. Generalsekretär Hermann Gröhe baute die Debatte gar in die glanzvolle Selbstdarstellung ein. Die Auseinandersetzung zeige selbstverständlich die Lebendigkeit der Partei. Wie lebendig und wendig die Partei tatsächlich ist, zeigte sich dann wenige Monate später nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Adoptionsrecht. Mitte Februar 2013 setzte die innerparteiliche Debatte um die Gleichstellung homosexueller Paare – geradezu wie auf Knopfdruck – wieder ein. Überraschenderweise hatten ausgerechnet der Fraktionschef Volker Kauder und der Finanzminister Wolfgang Schäuble, der längst als ein heimlicher Ehrenvorsitzender gilt, nun zunächst für eine Gleichstellung votiert. „Es ist halt nicht mehr alles wie früher“, soll Schäuble im Fraktionsvorstand seinen, zum Teil erheblich jüngeren, vermeintlich konservativeren Kollegen entgegnet haben. Doch die Widerstände sind noch groß, auch bei Angela Merkel, sich so schnell über den Parteitagsbeschluss hinwegzusetzen.
Der Antagonismus ist in der CDU tatsächlich ein seit langem eingespieltes Ritual von Reformern und Bewahrern. Nur wurde dies bislang bei diesem Thema noch nicht durchexerziert. Die Debatte um die „Homo-Ehe“ greift nicht mehr die Seele der Partei an. Dennoch: die Modernisierung der Partei hat den Beliebigkeitsbazillus mit eingeschleppt. Alles scheint nun möglich in der Union, viele wissen nicht mehr, welche inhaltliche Wendung als nächste kommt. Zur Debatte um die „Homo-Ehe“ schreibt Jasper von Altenbockum in der FAZ: Die Union betreibe eine Politik, die „nicht mehr lenkt, sondern nur noch reagiert“. Dies sei besonders dramatisch, wenn es um die Keimzelle der Gesellschaft ginge. Das Ergebnis sei eine Politik, „die als Kunst des Unmöglichen eine leere Leinwand hinterlässt.“ Dennoch ist die Krankheit, an der die CDU leidet, mehr eine gefühlte denn eine reelle. Die CDU war nie eine Programmpartei, der die geschriebenen Grundsätze und Ziele wichtiger gewesen wären als das realpolitische Handeln nach den Gegebenheiten der Aktualität. Sie schätzt die Ergebnisse mehr als die Grundsätze. Auch war die CDU nie Avantgarde. Nicht das Vorpreschen, sondern das Hinterherlaufen hinter gesellschaftlichen Entwicklungen ist ihr gerade zu eingewebt. Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach hat 2010 diese gewisse Gegensätzlichkeit festgestellt. Zum einen haben nur 25 Prozent der Bevölkerung ein „klares Bild“ von den Zielen der CDU/CSU. Ein „weniger klares Bild“ haben 57 Prozent. Bei den Anhängern ist es nur geringfügig besser. (Noch schlechter ist es bei der SPD.) Zugleich scheinen aber die Befragten dies nicht sonderlich stark zu beklagen, denn sie geben dennoch an, mehrheitlich Union zu wählen.
Ein pragmatischer Politikstil scheint beliebt zu sein. Mehr noch: Bei allen Parteien wird Nüchternheit gegenüber Ideologie bevorzugt. „Die Gesellschaft drängt heute mehr auf Effizienz als auf klare weltanschauliche Positionierung“, schreibt Köcher. Das bedeutet, das Defizit einer programmatischen Deutlichkeit scheint nicht per se ein Problem zu sein – möglicherweise eher das Erfolgsgeheimnis. Der „pragmatische Zugriff “ sei den Wählern mehrheitlich entgegengekommen, schreibt der Politologe Franz Walter. „Es ist diese nüchterne, illusionslose Anthropologie der CDU, die der Partei in Konkurrenz mit den Sozialdemokraten viele Jahre den Vorteil brachte.“ Anders als die Anhänger und Wähler scheinen es allenfalls die langjährigen Parteimitglieder zu sein, die unter dem Beliebigkeitsbazillus leiden. Die schnelle Energiewende der Kanzlerin hat manchen an der Basis geärgert und auch wütend gemacht, doch selbst beim einflussreichen Mittelstand hört man in den Hinterzimmern: Wenn sie gut ausgeht, die Energiewende, dann gefällt es auch allen, dann werden alle dafür gewesen sein. Anders bei der SPD, die liebt die Agenda 2010 noch immer nicht, obwohl sie ein Erfolg war, weil sie eben an den heiligen Grundsätzen vorbeizugehen schien. Und doch nagt der angebliche Beliebigkeitsbazillus an der Seele der CDU. Das Gefühl, dass alles zusammengehört und -passt, schwindet mächtig. Die CDU muss sich für die neue Offenheit so etwas zulegen wie eine Profilbildung und gleichzeitig „Vielfaltmanagement“ betreiben, wie es Walter nennt. Sie muss umgehen lernen mit einer neuen inhaltlichen Breite, die noch kein einigendes Band, noch keine symbolische Verknüpfung hat. „Vielfaltmanagement“ bedeutet auch mit einem viel volatileren Wählerpotential umzugehen, das sich fern der alten Milieus, vielleicht entlang neuer gesellschaftlicher Großgruppen, aber eigentlich doch von überall rekrutieren lässt.
Angela Merkel formulierte in ihrem Brief von 1999 einen weiteren wichtigen Satz, der ihr heute noch immer nachhängt, den sie sich sozusagen selbst als Merksatz aufgeschrieben hat: „Die Partei hat eine Seele“. Sie bezieht es auf den Umgang mit Helmut Kohl und seinem Erbe, das eben auch emotional bestimmt sei. „Deshalb kann es für uns nicht die Alternative ‚Fehler aufklären‘ oder ‚das Erbe bewahren‘ geben.“ Wenn es um das Bild Helmut Kohls, um seine Leistungen und um die CDU gehe, gehöre beides zusammen. Doch die Frage nach der „Seele der Partei“ stellt sich immer wieder. Die Antwort von Merkel 1999 lautet: „Wenn wir diesen Prozess annehmen, wird unsere Partei sich verändert haben, aber sie wird in ihrem Kern noch dieselbe bleiben – mit großartigen Grundwerten, mit selbstbewussten Mitgliedern, mit einer stolzen Tradition, mit einer Mischung aus Bewahrenswertem und neuen Erfahrungen (…) – und mit einem Entwurf für die Zukunft.“ Das war ihre Hoffnung. Wie ist es um diesen Prozess in der Merkel-CDU von heute bestellt?
Ein kurzer vergleichender Blick auf die SPD zeigt, wie verschieden die großen Volksparteien funktionieren. Nicht nur historisch gesehen ist die Sozialdemokratische Partei, die gerade jetzt 150 Jahre alt wird, viel ausgeprägter als die CDU immer noch Programmpartei, eine auf Inhalten und auch Ideen bis hin zu Ideologien sich stützende Organisation. Strukturen und Mutgliedschaft sind in der Sozialdemokratie von zentraler Bedeutung, diese grundsätzlichen Unterschiede zwischen Union und SPD bestehen fort, auch wenn die Partei Willy Brandts nach der Regierungszeit von Gerhard Schröder einen massiven Mitgliederschwund erleiden musste – und nun, was die Zahl der Beitrag zahlenden Anhänger angeht, in etwa mit der Union gleichgezogen hat. Im Vergleich zu den kleineren Parteien ist der Unterschied der Baupläne noch gravierender. Zu den Grünen etwa, die stark von einem thematischen Block und einer gewissen kulturellen Subkultur geprägt sind – ähnlich allenfalls in jüngster Zeit die Piraten.
Die Union ist nach dem Krieg als sogenannte Sammlungsbewegung entstanden, sie hat „bürgerliche“ Kräfte ganz unterschiedlicher Herkunft, Gesinnung und Motivation aufgelesen und vereint. „Union“ ist eben nicht „Partei“. Der Politologe Josef Schmid beschreibt das in einem Aufsatz in den „Frankfurter Heften“ bündig: „Sie versteht sich als Union, die allen Platz bietet, und weniger als Teil, wie es der Herkunft des Wortes Partei (Pars = Teil) entspräche“. Die CDU ist nicht als Kampfgemeinschaft Gleicher, sondern als Verbindung Unterschiedlicher zum gemeinsamen Handeln entstanden. Katholische Rheinländer gehörten ebenso dazu wie protestantische Norddeutsche, der Handwerksmeister von der Schwäbischen Alb sowie der Großindustrielle aus dem Ruhrgebiet, Bergarbeiter wie Selbstständige, Stadtbevölkerung wie Landbewohner. Das Christliche war verbindend, doch wurde darunter schon in den ersten Jahren nach dem Krieg sehr Unterschiedliches verstanden. Die Aufbruchsmetaphorik war in Gründungsaufrufen vorherrschend, keineswegs nur ein restaurativer oder bewahrender Geist eines bürgerlichen Konservativismus allein tonangebend. Hinzu kommt die regional sehr unterschiedlich sich ausbildende Charakteristik des Christdemokratischen. Die Union ist auch als Verbund von starken Landesverbänden gewachsen, deren Unterschiede und Eigenheiten bis heute bemerkbar sind. Schließlich sind bestimmte Milieus, vor allem die katholischen, das Mistbeet der Partei gewesen. Mit deren Schrumpfung gehen auch die Probleme der Partei einher.
Von größter Bedeutung ist bei der Beschreibung der Bandbreite auch das Ahlener Programm von 1947, das bezeichnenderweise in den Räumen eines bischöflichen Gymnasiums im katholischen Westfalen verabschiedet wurde. Es sieht eine Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems vor und eine Verstaatlichung von Schlüsselindustrien – und klingt auch aus heutiger Sicht „links“. Der Begriff eines „Christlichen Sozialismus“ ist dabei das Reizwort, das aber nicht so stark ausbuchstabiert wurde. Das Ahlener Programm ist noch immer der historische Ankerpunkt für diejenigen, die den Gedanken der sozialen Gerechtigkeit in der CDU hochhalten. Dass dies aber nicht die einzige bestimmende inhaltliche Maßgabe der neuen CDU wurde, dafür sorgte in den ersten Jahrzehnten unter anderem auch die prägende Gestalt Konrad Adenauers.
Das Ausbalancieren der drei immer wieder beschworenen „Wurzeln“ – das Soziale, das Konservative und das Liberale – gehört zum Gründungsimpuls der CDU. Die Vereinigung des widerstreitenden Bürgertums trotz aller Gegensätze ist die Lehre aus der Weimarer Republik und dem Zivilisationsbruch des Dritten Reiches und tief im genetischen Code der Partei eingeschrieben. Der Politologe Herfried Münkler nennt diese Balance zwischen Traditionalisten und Modernisierern das „Erfolgsrezept“ der CDU. Insofern sollte die Partei eigentlich gerade nicht am Ausgleichsuchen und einem verschwommenen Profil leiden. Dieses Ausgleichen des bürgerlichen Spektrums ist ihr historischer Wesenszug. Der Politologe Udo Zolleis spricht vom „Mediationsprinzip“, welches die CDU weiter verbessern müsse, um die Interessen der Wählerschaft aufzugreifen und „nach bestimmten Prinzipien auszugleichen“. Er nennt es einen „Politikformulierungsprozess“, der neben der Personalrekrutierung eine wichtige „Integrationsklammer“ darstelle. In der Devotionalienhandlung der CDU-Bundesgeschäftsstelle gibt es dafür ein passendes Werbegeschenk. Neben Kugelschreibern, Einkaufs-Chips und Luftballons bietet der Partei-Shop auch ein Näh-Set mit dem CDU-Logo an. „Wir halten zusammen“, lautet die Beschwörungsformel auf der Handarbeitsausstattung. Bunte Fäden und eine lange Nadel – das ist CDU, das verschenkt keine andere Partei an ihren Marktplatzständen.
In diesem Sinne könnte die Klage über den angeblichen Beliebigkeitsbazillus nur das normale Ach und Weh des Parteibetriebs sein, ein Phantomschmerz. Zusammenhalt ist alles – oder ist das Ausgleichen zu weit gegangen? Der Parteienforscher Franz Walter sieht in der Fixierung auf die Mitte die Gefahr der Paralyse. Doch in der Merkel-CDU sorgt ja gerade die programmatische Beweglichkeit für Verwirrung. Das wird noch zu erörtern sein. Die SPD, um sie als Antipoden noch mal zu nennen, hingegen ist von ihrem Gründungsmythos her gesehen eine Aufstands- und Revolutionspartei. Wer Kritik an den bestehenden Verhältnissen übt, muss Zuspitzung als Grundeigenschaft verinnerlichen. SPD-Mitglieder verzeihen die Provokation eher als die Langeweile. Bei der CDU ist es umgekehrt. Auch so ließe sich die Zustimmung an der Basis für Angela Merkel deuten.
Die CDU hat sich nur langsam zur Programmpartei entwickelt. Das erste Grundsatzprogramm, das auch so hieß und eine besondere Wirkung entfaltete, wurde 1978 in Ludwigshafen verabschiedet (1968 wurde mit dem Berliner Programm ein Vorläufer formuliert). Zuvor gab es Leitsätze oder Wahlprogramme. Doch vom Selbstverständnis der CDU war das Programmatische noch weit weg. Erst Generalsekretär Peter Hintze postulierte Anfang der 90er Jahre die CDU als Programmpartei. Diese nachholende Programmarbeit hatte etwas Kontingentes, Zufälliges, bisweilen Überflüssiges, entsprach aber einer gewissen Sehnsucht: Endlich Partei sein, nicht nur „Union“. Das „U“ im Namen ist ähnlich wie das „C“ anstrengend, aber eben auch ein Alleinstellungsmerkmal. Und obwohl heute im politischen Alltag davon kaum die Rede ist, der Unions-Gedanke ist immer noch wichtig und erklärt die Klagen über fehlende Zuspitzung und Profilbildung, die eine „Partei“ besser kann als eine ausgleichende Sammlungsbewegung.
In den 70er Jahren war dieser Antagonismus zwischen Wollen und Sein personifiziert in dem neuen, jungen dynamischen Parteivorsitzenden, dem katholischen Gemütsmenschen Helmut Kohl, und dem feinsinnigen Quereinsteiger, dem adeligen Intellektuellen und protestantischen Pflichtmenschen Richard von Weizsäcker. Von Weizsäcker leitete die Programmkommission, Kohl hatte ihn beauftragt. Am Ende war Kohl Kanzler, von Weizsäcker Präsident und das Grundsatzprogramm mehr oder weniger unwichtig. Zumal der Entwurf von Weizsäckers durch die Kohl’sche Ausgleichs- und Machtgewinnungs-Redaktion musste. Der Weizsäcker-Entwurf lohnt noch immer die Lektüre und erweist sich als überraschend zeitlos. Manches gilt noch immer, 40 Jahre später. Da ist zum Beispiel von „Wahlfreiheit“ für Frauen die Rede, die Beruf und Familie verbinden wollen. Da wird von Partnerschaftlichkeit in der Ehe gesprochen und zugleich eine gleichmacherische Emanzipation kritisiert. Thesen, mit der die jugendliche Bundesfamilienministerin Kristina Schröder noch 2012 für gewisses Aufsehen sorgen konnte.