Das erste Kapitel
Papa Külz isst einen Aufschnitt
Jener Platz in Kopenhagen, an dem die Königliche Oper steht, heißt der Kongens Nytorv. Es ist ein außerordentlich freundlicher, geräumiger Platz. Und will man ihn mit der Muße betrachten, auf die er Anspruch hat, setzt man sich am besten vors Hotel d’Angleterre.
Unter freiem Himmel, vor der Front des Hotels, stehen in langen Reihen Stühle und Tische. Gäste aus aller Welt sitzen nebeneinander, lassen sich sorgfältig bedienen und finden sich notgedrungen mit den Annehmlichkeiten des Lebens ab. Übrigens kehren kein Stuhl und kein Gast dem Platz den Rücken. Man sitzt wie im Parterre eines vornehm bewirtschafteten Freilichttheaters, blickt gemeinschaftlich zur Fassade des Opernhauses hinüber und ergötzt sich an dem heiteren Treiben, das die Kopenhagener Bürger ihren Fremden darzubieten gewohnt sind.
Es ist schon recht sonderbar mit diesem Kongens Nytorv! Man mag jahrelang nicht mehr in Dänemark gewesen sein, und inzwischen gab’s auf jeden Fall in etlichen Staaten Revolution, vielleicht wurde der Usurpator von Afghanistan von den Parteigängern seines Cousins aufgeknüpft, und in Japan stürzten bei einem Erdbeben mindestens zehntausend Häuser ein, als seien sie aus Altenburger Skatkarten erbaut gewesen – wenn man dann wieder aus der Amagergade herauskommt, sich nach links wendet und zum d’Angleterre blickt, sitzen noch immer jene eleganten Frauen und distinguierten Fremden, in fünf Reihen gestaffelt, vorm Hotel, unterhalten sich in einem Dutzend Sprachen, mustern geduldig das fröhliche Treiben und verbergen mühsam hinter der Gelassenheit ihrer Mienen, wie gut die dänische Küche schmeckt.
Am Kongens Nytorv steht die Zeit still.
Infolge dieses Umstandes erübrigt es sich begreiflicherweise, den Zeitpunkt näher zu bestimmen, an dem Fleischermeister Oskar Külz den Platz überquerte und aufs Hotel d’Angleterre zusteuerte.
Külz trug einen grünen imprägnierten Lodenanzug, einen braunen Velourshut und einen buschigen, graumelierten Schnurrbart. In der rechten Hand hielt er einen knorrigen Spazierstock, in der linken Griebens Reiseführer für »Kopenhagen und Umgebung«.
Vor der Balustrade, hinter der die vordersten Tische standen, machte er halt und blickte nachdenklich und zögernd über die an den Stuhlketten aufgereihten Gäste hin. Hierbei bemerkte er, dass sich eine sehr geputzte und lackierte Dame flüsternd zu ihrem Begleiter beugte und dass dieser ihn musterte und milde belächelte, als gelte es, etwas zu verzeihen.
Das war entscheidend. Hätte jener Herr nicht gelächelt, so wäre Fleischermeister Külz weitergegangen. Und dann hätte die Geschichte, die jetzt allmählich beginnt, einen anderen Verlauf nehmen müssen, als sie schließlich und tatsächlich nahm.
So aber murmelte Külz das Wort »Schafszipfel« und setzte sich protzig und breitspurig an ein freies Tischchen. Damit geriet er in das Räderwerk von Ereignissen, die ihn zwar nichts angingen und die ihn doch in kürzester Zeit fünf Pfund seines Lebendgewichts kosten sollten.
Als Külz sich setzte, stöhnte der zierliche Stuhl vor Schmerz auf. Ein Pikkolo flitzte herbei und fragte: »Please, Sir?«
Der Gast schob den Velourshut ins Genick. »Menschenskind, ich kann kein Dänisch. Bring mir ein Töpfchen Helles! Aber ein großes Töpfchen.«
Der Pikkolo verstand nichts, verneigte sich und verschwand im Hotel. Külz rieb sich die Hände.
Dann tauchte ein befrackter Kellner auf. »Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?«
Der Gast blickte misstrauisch hoch. »Mit einem großen Pilsner«, erklärte er. »Schicken Sie mir nun noch den Geschäftsführer auf den Hals, oder ist es Ihnen lieber, wenn ich ein schriftliches Gesuch einreiche?«
»Ein Pilsner, sehr wohl!«
»Und was zum Essen. Einen kleinen Aufschnitt, wenn’s nicht zu viel Umstände macht. Mit verschiedenen Wurstsorten. Mich interessiert eure dänische Wurst beruflich. Ich bin ein Berliner Fleischermeister.«
Der Kellner verriet nicht, was er dachte, verneigte sich stattdessen und verschwand.
Külz stellte seinen Spazierstock an die Balustrade, stülpte den braunen Velourshut auf den vergilbten Horngriff und lehnte sich wohlgemut zurück. Die Stuhllehne ächzte.
Er betrachtete Stuhl und Tisch und sagte bekümmert: »Die reinsten Konfirmandenmöbel!«
Diese Bemerkung brachte es mit sich, dass ein Fräulein, das allein am Nebentisch saß, lachen musste.
Oskar Külz war überrascht. Er drehte den Oberkörper halbrechts, machte eine ungeschickte Verbeugung und sagte: »Entschuldigen Sie vielmals!«
Das Fräulein nickte ihm munter zu. »Wieso? Ich bin auch aus Berlin.«
»Aha!«, erwiderte er. »Deshalb sprechen Sie deutsch!« Anschließend wurde ihm die bodenlose Tiefsinnigkeit seiner Schlussfolgerung klar. Er schüttelte, ärgerlich über sich selber, den Kopf und stellte sich, da ihm nichts Klügeres einfiel, vor. »Mein Name ist Külz«, sagte er.
Sie schlug die Hände zusammen. »Sie sind Herr Külz? Nein, das ist lustig! Dann kaufen wir ja unser Fleisch bei Ihnen!«
»Bei Oskar Külz?«
»Das weiß ich nicht. Gibt es denn mehrere Külze?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Am Kaiserdamm.«
»Das ist Otto, mein Jüngster.«
»Eine ausgezeichnete Fleischerei«, versicherte sie.
»Doch, doch. Aber von Leberwurst versteht er nichts. Da sollten Sie mal bei Hugo Leberwurst kaufen! Das ist mein zweiter Junge. In der Schlossstraße in Steglitz. Der macht Leberwurst! Meine Herren!«
»Ein bisschen weit, wenn man am Kaiserdamm wohnt«, meinte sie. »Trotz seiner Leberwurst.«
»Dafür hat Hugo nun wieder keine blasse Ahnung von Fleischsalat. Der ist ihm nicht beizubringen!«, erklärte Vater Külz streng.
»So, so«, sagte das Fräulein.
»Fleischsalat, das ist die Spezialität von Erwin. Dem Mann meiner ältesten Tochter. In der Landsberger Allee. Erwin macht Ihnen eine Mayonnaise – dafür lassen Sie alles andere stehen und liegen, Fräulein!«
»Und wo ist Ihr eigenes Geschäft?«, fragte sie eingeschüchtert. Die vielen Fleischermeister begannen ihr langsam über den Kopf zu wachsen.
»In der Yorckstraße«, sagte er. »Im vorigen Oktober hatte ich das dreißigjährige Jubiläum. Mein Bruder Karl hat’s im nächsten Jahr. Im April. Nein, im Mai.«
»Ihr Herr Bruder ist auch Fleischer?«, fragte sie besorgt.
»Natürlich! Mit drei Schaufenstern! Am Spittelmarkt. Und Arno, mein Ältester, auch. Der hat seinen Laden am Breitenbachplatz. Na, und Georg, mein anderer Schwiegersohn, hat sein Geschäft in der Uhlandstraße. Dabei wollte Hedwig, meine zweite Tochter, alles andere eher heiraten – einen Lehrer oder einen Klavierspieler oder einen Feuerwehrmann, nur keinen Fleischer! Und dann hat sie doch den Georg genommen. Der war bei mir zwei Jahre lang erster Geselle.«
»Um alles in der Welt!«, sagte das Fräulein erschöpft. »Lauter Fleischer! Davon kann man ja träumen!«
»Es ist Schicksal!«, meinte Külz. »Mein Großvater war Fleischer. Mein Vater war Fleischer. Mein Schwiegervater war Fleischer. Uns liegt das Wurstmachen gewissermaßen im Blut.«
»Ein schönes Bild«, behauptete das Fräulein.
In diesem Augenblick kam der Oberkellner. Er schob einen Rolltisch, behutsam wie einen Kinderwagen für Zwillinge, vor sich her. Auf dem Rolltisch befanden sich ein Glas Bier und eine Platte mit Wurst und Braten.
Wenn ein Fleischermeister beim Anblick einer Wurstplatte erschrickt, muss das besondere Gründe haben.
Külz erschrak sehr.
»Das ist wohl ein Missverständnis«, sagte er. »Ich habe einen kleinen Aufschnitt bestellt, und Sie bringen eine Platte für zwölf Personen!«
Der Kellner zuckte die Achseln. »Der Herr wollte die dänische Wurst studieren.«
»Aber doch nicht bis Weihnachten!«, knurrte Külz.
Seine Nachbarin lachte und meinte: »Sie sind ein Opfer Ihres Berufs. Beißen Sie die Zähne zusammen, lieber Herr Külz, und lassen Sie sich’s gut schmecken!«
Auf dem Kongens Nytorv trippelten Tauben. Blau, grau und silbergrün war ihr Gefieder. Sie nickten eifrig mit den Köpfen. Weswegen sie mit den Köpfen nickten, lässt sich schwer beurteilen. Vielleicht war es nur eine schlechte Angewohnheit? Wenn ein Auto des Weges kam, flogen sie auf. Wie Wolken, die zum Himmel heimkehren.
Fleischermeister Külz ergriff Messer und Gabel. »Dazu bin ich nun ausgerissen«, murmelte er erschüttert.
Etliche Reihen weiter hinten, neben dem Hoteleingang, saßen zwei Herren und lasen. Vielleicht hielten sie die Zeitungen auch aus anderen Gründen vors Gesicht. Man hat sich seit Gutenbergs epochaler Erfindung zu sehr daran gewöhnt, anzunehmen, dass alle Leute, die etwas Gedrucktes vors Gesicht halten, tatsächlich lesen. Ja, wenn das so wäre!
Im vorliegenden Falle war es jedenfalls nicht so. Die beiden Herren lasen keineswegs, sondern benutzten die Zeitungen als Versteck. Über den Rand der Blätter hinweg beobachteten sie Fleischermeister Külz und das Berliner Fräulein. Der eine der Herren sah ungefähr wie ein Heldentenor aus, der sich seit seinem vierzigsten Jahre mit Rotwein statt mit Gesang beschäftigt hat. Nicht mit dem Anbau des Rotweins, sondern mit dessen Verbrauch. Die Nase konnte – will man sich eines musikalischen Ausdrucks bedienen – ein Lied davon singen. Sie war blaurot und erinnerte an Frostbeulen.
Der andere Herr war klein und unterernährt. Auch sein Gesicht war nicht mehr ganz neu. Die Ohren saßen ungewöhnlich hoch am Kopf. Wie bei einer Eule. Zudem standen sie ab, und der Sonnenschein machte sie transparent.
»Sicher eine bestellte Sache«, meinte der Tenor. Seine Stimme klang genau so, wie seine Nase aussah.
Der Kleine schwieg.
»Es soll wie ein zufälliges Zusammentreffen wirken«, fuhr der andere fort. »Ich glaube nicht an Zufälle.«
Der kleine Herr mit den verrutschten Ohren schüttelte den Kopf. »Es ist trotzdem Zufall«, meinte er. »Dass der alte Steinhövel dem Mädchen jemanden schickt, ist denkbar. Dass er einen Riesen schickt, der in Kopenhagen als Tiroler auftritt, ist Blödsinn. Ebenso gut könnte er dem Kerl ein Schild umhängen und draufschreiben, worum sich’s handelt.«
»Wäre mir entschieden lieber«, sagte der Rotweinspezialist. »Immer diese Unklarheiten.«
Der Kleine lachte. »Du kannst ja rübergehen und fragen.«
Der andere knurrte, trank sein Glas leer und füllte es wieder. »Und warum hat sie ihr Hotelzimmer noch nicht gekündigt?«
»Weil sie erst morgen abreist.«
»Und weil sie auf den Tiroler gewartet hat! Pass auf, ich habe recht! So wahr ich Philipp Achtel heiße!«
»Ach, du himmlische Güte!« Der Kleine kicherte. »So wahr du Philipp Achtel heißt? Nur genauso wahr?«
Herr Achtel wurde ärgerlich. »Lass deine Anspielungen!«, sagte er. Seine Stimmer klang noch verrosteter als vorher. Und er fuhr sich nervös mit der Hand übers Haar.
»Es ist schon ganz hübsch nachgewachsen«, erklärte der Kleine und zwinkerte belustigt. »Man sieht dir wirklich nicht an, dass du noch gar nicht lange aus dem Sanatorium zurück bist.«
»Halte deine Schandschnauze!«, sagte Herr Achtel. »Der Tiroler frisst übrigens wie ein Scheunendrescher.«
Der Kleine stand auf. »Ich rufe den Chef an. Mal hören, was er von Scheunendreschern hält.«
Beharrlich vertilgte Fleischermeister Külz eine Scheibe Wurst nach der andern. Aber es war eine Sisyphusarbeit. Schließlich legte er Besteck und Serviette beiseite, blickte unfreundlich auf die Platte, die noch reich beladen war, und zuckte die Achseln. »Ich geb’s auf!«, murmelte er und lächelte dem hübschen Fräulein zu.
»Hat’s geschmeckt?«
Er nickte ermattet. »Alles, was recht ist. Die Dänen verstehen was von Wurst.«
Der Oberkellner kam und räumte ab.
Külz holte eine Zigarre hervor und rauchte sie voller Empfindung an. Dann schlug er ein Bein übers andre und meinte: »Wenn mich meine Alte hier sitzen sähe!«
»Warum haben Sie denn Ihre Frau Gemahlin nicht mitgebracht?«, erkundigte sich das Fräulein. »Musste sie im Geschäft bleiben?«
»Nein, es war eigentlich anders«, erwiderte Külz elegisch. »Sie weiß gar nicht, dass ich in Kopenhagen bin.«
Das Fräulein blickte ihn erstaunt an.
»Meine Söhne wissen auch nichts davon«, fuhr er verlegen fort. »Meine Töchter auch nicht. Meine Schwiegersöhne auch nicht. Meine Schwiegertöchter auch nicht. Meine Geschwister auch nicht. Meine Enkel auch nicht.« Er machte eine Atempause. »Ich bin einfach getürmt. Schrecklich, was?«
Das Fräulein hielt mit ihrem Urteil zurück.
»Ich konnte plötzlich nicht mehr«, gestand Herr Külz. »Am Sonnabendabend ging’s los. Wieso, weiß ich selber nicht. Wir hatten im Laden viel zu tun. Ich ging über den Hof und wollte im Schlachthaus einen Spieß Altdeutsche holen. Ich blieb vor den Schlachthausfenstern stehen. Der zweite Geselle drehte Rindfleisch durch den Wolf. Wir verkaufen nämlich sehr viel Geschabtes. Ja, und da sang eine Amsel.« Er strich sich den buschigen Schnurrbart. »Vielleicht war gar nicht die Amsel daran schuld. Aber mit einem Male fiel mir mein Leben ein. Als hätte der liebe Gott auf einen Knopf gedrückt. Zentnerschwer legten sich alle Kalbslenden, Rollschinken, Hammelkeulen und Schweinsfüße der letzten dreißig Jahre auf meine Seele. Mir blieb die Luft weg!« Er zog nachdenklich an der Zigarre. »Mein Leben ist natürlich nichts Besondres. Aber mir hat’s genügt. Immer wenn ich dachte: ›Nun hast du dir ein paar Groschen gespart‹, wollte eines der Kinder heiraten. Und dann musste man einem der Jungen oder einem der Schwiegersöhne ein Geschäft kaufen. Oder es kam der Bruder oder ein Schwager und hielt die Hand hin. Nie habe ich für mich selber Zeit gehabt.« Er senkte den grauen Schädel. »Na ja, und gerade als mir das einfiel, sang dieses Mistvieh von einer Amsel. Sehen Sie, Fräulein, so ein langes Leben – und weit und breit nichts als Wurstspeile, Eisschränke, Hackklötze, Darmbestellungen und Pökelfässer! Das hält kein Schwein aus, geschweige ein Fleischer!« Der alte Mann hob müde die Hände und ließ sie wieder sinken. Und sein treuherziges Gesicht war voller Trauer.
»Und dann?«, fragte das Fräulein behutsam.
»Dann holte ich erst einmal den Spieß Altdeutsche nach vorn. Und nach Geschäftsschluss rechneten wir ab. Es war genau wie an jedem Sonnabend. Aber ich tat alles wie ein aufgezogener Automat. Und später fuhren wir zu Hedwig und Georg. Otto und seine Frau waren auch da. Und wir sprachen vom Umsatz, von den Engrospreisen und von den Kindern. Fritz hätte aus der Schule den Keuchhusten mitgebracht. Und der kleine Kurt hätte gesagt, wenn er erst groß wäre, würde er Obermeister in der Fleischerinnung.«
Oskar Külz zog sein Taschentuch hervor und trocknete sich die Stirn, auf der sich die Längsfalten wie unbeschriebene Notenlinien ausnahmen.
»Ich liebe meine Familie«, sagte er, »und meinen Beruf liebe ich auch. Aber plötzlich hing mir das alles zum Hals heraus. Die Wurstmaschine, die ich geworden bin, blieb mit einem Ruck stehen. Kurzschluss! Aus! Soll man wirklich nur arbeiten? Und soll man wirklich nur an andere denken? Ist die Welt dazu schön, damit man, ohne sich umzudrehen, vom Schlachthof geradenwegs auf den Friedhof galoppiert? Jeder Mensch denkt gelegentlich einmal an sich selber. Und nur der olle Külz soll das nicht dürfen?«
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollte man den Amseln polizeilich das Singen verbieten. Kann sein. Kann sein, auch nicht. Das ist nicht mein Gebiet. Am Sonntagmorgen, früh um fünf Uhr, stand ich jedenfalls auf. Sagte Emilie, meiner Frau, ich wollte in Bernau Selbmann besuchen. (Er und ich, wir waren seinerzeit miteinander bei Schmitz in Potsdam Gesellen.) Dann steckte ich mir Geld ein und fuhr auf den Stettiner Bahnhof. Dort sah ich nach, wann ein Schnellzug führe. Möglichst weit weg. Und am Sonntagnachmittag war ich in Kopenhagen.«
Er lächelte in der Erinnerung an seine Flucht. Er lächelte wie ein Junge, der die Schule geschwänzt hat. Das wirkte, vor allem im Hinblick auf seinen buschigen grauen Schnurrbart, wie ein Lächeln mit sehr, sehr viel Verspätung.
»Herr Külz«, meinte das Fräulein. »Sie sind ein alter Sünder.«
»Nicht doch!«
»Haben Sie sich wenigstens tüchtig umgeschaut?«, fragte sie.
»O ja«, sagte er. »Es reicht. Ich war in Roskilde. Ich war drüben in Malmö. Ich war an Hamlets Grab. Obwohl es sehr zweifelhaft ist, ob er drinliegt. Ich war oben in Gilleleje und habe im Meer gebadet. Liebes Fräulein, dass man nicht früher angefangen hat, sich die Welt anzusehen – ich könnte mich stundenlang backpfeifen.«
»Und wie oft«, fragte sie, »haben Sie Ihrer Familie geschrieben?«
»Überhaupt nicht«, erklärte er. »Die werden sich wundern, wie lange ich in Bernau bleibe!«
»Entschuldigen Sie«, sagte das Fräulein ernst, »aber das geht entschieden zu weit! Ihre Frau hat doch spätestens am Montag früh in Bernau angerufen und erfahren, dass Sie gar nicht dort waren!«
»Glauben Sie?«, fragte er. »Das sähe Emilie ähnlich.«
»Vielleicht glaubt man, dass Ihnen ein Unglück zugestoßen ist! Ihre Familie wird in tausend Ängsten schweben.«
»Soll sie schweben!«, bemerkte er gelassen. »Külz will auch mal seine Ruhe haben. Man ist ja schließlich kein Weihnachtsmann!«
Das Fräulein schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Ich weiß natürlich nicht genau, wie einem als Fleischermeister und Großvater zumute ist.«
»Eben«, meinte er.
»Aber eines weiß ich. Dass Sie jetzt schleunigst eine Ansichtskarte besorgen und Ihrer Frau schreiben. In der Hotelhalle gibt es Karten.«
Külz blickte das Fräulein von der Seite an.
Sie sagte: »Ich bitte darum.«
Er gab sich einen Ruck, stand auf, schritt ins Hotel und murmelte: »Schon wieder unterm Pantoffel!«
In der Hotelhalle war ein Kiosk. Külz holte seine Lesebrille aus dem Futteral, setzte sie auf und musterte die Ansichtskarten. Nach längerem Suchen entschied er sich für eine prachtvolle Hafenansicht, hielt die Karte der Verkäuferin entgegen und sagte: »Dazu eine Sechspfennigmarke. Oder kostet es nach Deutschland mehr?«
Die Verkäuferin hing an seinen Lippen.
»Eine Sechspfennigmarke«, knurrte er. »Ein bisschen dalli!«
Da meinte neben ihm ein kleiner Herr, der sich durch viel zu hoch gelegene Ohren auszeichnete: »Sechspfennigmarken werden Sie hier kaum bekommen. Sie würden Ihnen auch nicht viel nützen.«
»Dann muss sie mir eben eine Zwölf- oder Fünfzehnpfennigmarke geben!«
Der kleine Herr schüttelte den Kopf. »Die gibt’s hier auch nicht.«
»Das ist mir unverständlich. Wer Postkarten verkauft, hat auch Briefmarken zu haben.«
Der kleine Herr lächelte, und dabei rutschten seine Ohren noch höher. »Marken gibt’s hier schon«, sagte er. »Aber keine deutschen. – Vielleicht versuchen Sie’s mal mit dänischen?«
Das zweite Kapitel
Irene Trübner hat Angst
Der kleine Herr war sehr hilfsbereit gewesen. Guten Menschen bereitet es ja immer Vergnügen, anderen zu helfen. Sie sind Epikureer und befriedigen, indem sie Gutes tun, ihre moralische Lust.
Wie dem auch sei – Fleischermeister Külz hatte die angemessen frankierte prächtige Hafenansicht in der Hand und unterhielt sich mit dem kleinen Herrn. Sie sprachen schon seit fünf Minuten miteinander. Es geht nichts über die Sympathie zwischen reifen Männern.
Schließlich zeigte Külz dem fremden Herrn seine Brieftasche und ließ sich über die Kaufkraft der dänischen Banknoten, besonders im Vergleich zum deutschen Geld, ausführlich unterrichten. Der kleine Herr hätte fast vergessen, die Brieftasche zurückzugeben.
Darüber mussten beide Männer herzlich lachen.
»Nun muss ich aber wieder an meinen Tisch«, meinte der Berliner. »Mein Name ist Külz. Es hat mich sehr gefreut.«
»Ganz meinerseits«, erwiderte der kleine Herr. »Ich heiße Storm.«
Sie schüttelten einander die Hand.
Im selben Augenblick fuhr vorm Hotel ein Zeitungsbote vor, sprang vom Rad und rannte mit einem Packen Zeitungen durchs Portal in die Halle. Das Fräulein im Kiosk blickte auf die Schlagzeilen und bekam auf den Backen runde rote Flecken. Der Bote lief rasch zu seinem Rad zurück und fuhr hastig weiter. Auf der Straße blieben die Passanten stehen und blickten gemeinsam in die neuen Blätter.
Die Gäste in der Halle spürten, dass etwas los war. Sie drängten zum Kiosk und kauften Zeitungen. Sie lasen die Nachrichten und redeten in sämtlichen Weltsprachen durcheinander.
»Es ist wie beim Turmbau zu Babel«, stellte Külz fest. »Ich bin eigentlich gar nicht böse darüber, dass ich kein Wort von diesem Spektakel verstehe.«
Der kleine Herr nickte höflich. »Zweifellos. Unkenntnis ist eine Gabe Gottes. Wer viel weiß, hat viel Ärger.« Er kaufte eine Zeitung und überflog die erste Seite.
»Nun werde ich doch neugierig«, sagte Külz. »Was ist denn geschehen? Gibt’s Krieg?«
»Nein«, meinte Storm. »Es sind Kunstgegenstände verschwunden. Im Werte von einer Million Kronen.«
»Aha«, sagte Külz. »Na, dann will ich mal meine Ansichtskarte schreiben.« Er gab Herrn Storm freundlich die Hand und ging.
Der kleine Herr blickte ihm verdutzt nach. Dann trat er vors Portal und setzte sich zu Herrn Philipp Achtel. Auch dieser las das eben erschienene Blatt. Er studierte die erste Seite aufs genaueste. Dann sagte er: »Was es so alles gibt!«
»Von den Tätern fehlt vorläufig jede Spur«, meinte Herr Storm.
»Hoffentlich erwischt man sie bald.«
»Bevor sie noch mehr mausen.«
»Eben.«
Sie lächelten dezent und schwiegen eine Weile. Dann fragte Herr Achtel: »Und was ist mit dem Tiroler?«
Storm blinzelte unwirsch zu Külz hinüber, der den Rücken beugte und seine Karte schrieb. »Erst dachte ich, der Mann sei dumm. Aber ich glaub’s nicht mehr. So dumm kann man ja gar nicht sein! Er verstellt sich. Ich finde es übrigens ausgesprochen plump, sich derartig dämlich zu stellen.«
»Nicht die schlechteste Taktik! Und was meint der Chef?«
»Ich soll ihm folgen. Und dir schickt er den Karsten!« Storm wies mit dem Kopf zu Külz hin. »Er fragte mich, was in der Zeitung stünde. Ich sagte es ihm. Er antwortete: ›Aha! Na, da will ich mal meine Ansichtskarte schreiben.‹ Merkwürdig, was?«
»Ein gefährlicher Großvater«, entgegnete Herr Achtel. »Die Harmlosen sind die Schlimmsten.«
Oskar Külz schob die Ansichtskarte beiseite, steckte den Bleistift ins Notizbuch zurück und atmete erleichtert auf. Dann wandte er sich dem Fräulein zu. »Würden Sie hier unterschreiben?«, fragte er. »Dann wird nämlich meine Emilie eifersüchtig, und das wirkt immer so komisch.« Er lachte gutmütig.
Das Fräulein schrieb eine Zeile und legte die Karte wieder auf den Tisch zurück.
Er nahm die Karte und las, was seine Nachbarin geschrieben hatte. »Besten Dank!«, sagte er dann. »Besten Dank, Fräulein Trübner.«
»Bitte sehr.«
»Sie müssen bald heiraten«, meinte er nachdenklich.
»Warum denn?«
»Weil Sie einen so traurigen Namen haben! Ich kannte einen Mann, der hieß Schmerz. Das war einer der unglücklichsten Menschen, die es jemals gegeben hat.«
»Weil er Schmerz hieß?«
»Sicher! Dem hat nicht einmal das Heiraten geholfen!«
»Wahrscheinlich, weil er auch noch nach der Hochzeit Schmerz hieß«, bemerkte sie scharfsinnig. »Aber davon abgesehen: Ich kann doch nicht den ersten besten Mann heiraten, bloß weil er Fröhlich oder Lustig heißt!«
Der alte Fleischermeister wiegte den grauen Schädel.
Sie meinte: »Außerdem bin ich nicht entfernt so trübsinnig, wie mein Name es verlangt.«
»Doch«, sagte er. »Doch, doch! Besonders seit ich die Ansichtskarte besorgt habe. Wieso eigentlich?«
Über ihrer Nasenwurzel bildete sich eine schmale senkrechte Falte. »Das hat seinen guten Grund, Herr Külz.«
»Haben Sie Ärger?«
»Nein«, sagte sie. »Aber Angst.« Sie tippte mit einem Finger auf die erschienene Zeitung. »In dem Blatt steht eine Nachricht, die mich sehr erschreckt hat.«
»Doch nicht etwa die Geschichte von dem geraubten Kunstkram? Und von der Million?«
»Ganz recht. Diese Geschichte!«
»Ja, was geht denn das Sie an?«, fragte er leise.
Sie blickte sich behutsam um. Dann zuckte sie die Achseln. »Das kann ich Ihnen hier nicht erzählen.«
In demselben Augenblick schritt ein junger Mann an ihnen vorüber. Er war groß und schlank und schien viel Zeit zu haben. Er machte vor dem Portier, der an der Treppe stand, halt, legte zum Gruß einen Finger an die Hutkrempe und fragte: »Wohnt hier im Hotel ein Fräulein Trübner aus Berlin?«
»Jawohl«, erwiderte der Portier. »Sie sitzt gerade dort vorn an der Balustrade. Neben dem großen, dicken Touristen.«
»Das trifft sich ja großartig!«, meinte der schlanke Herr. »Danke schön!« Er legte zum Gruß einen Finger an die Hutkrempe und kehrte um.
Der Portier salutierte und blickte hinter ihm her.
Der junge Mann ging auf die Balustrade zu. Aber er blieb keineswegs an dem Tisch Fräulein Trübners stehen. Er sah die Dame, nach der er sich eben erkundigt hatte, nicht einmal an! Sondern er schlenderte gleichgültig an ihr vorüber, trat auf die Straße hinaus und verschwand im Gewühl.
Der Portier riss die Augen auf. Und obwohl er von Berufs wegen so manches verstand – das verstand er nicht.
»Würden Sie mir einen großen Gefallen erweisen?«, fragte Fräulein Trübner.
»Für eine Kundin von meinem Otto tu ich alles«, erklärte Fleischermeister Külz. »Mit Ausnahme von Mord und Totschlag.«
»Das wird sich hoffentlich vermeiden lassen«, sagte sie ernst. »Begleiten Sie mich, bitte! Ich muss etwas besorgen. Und unterwegs will ich Ihnen erzählen, worum sich’s handelt. Ich habe das Gefühl, dass man uns beobachtet.«
»Das sind die Nerven«, bemerkte er. »Hedwig, meine zweite Tochter, hat das früher auch gehabt. Nach dem ersten Kind verliert sich das für gewöhnlich.«
»So lange kann ich unmöglich warten«, meinte Fräulein Trübner. »Kommen Sie! Lassen Sie uns gehen!«
»Na schön!«, brummte der alte Külz. Er winkte dem Oberkellner und bezahlte.
»Eure Wurst ist großartig«, sagte er anerkennend. »Besonders die Dauerwurst.«
Der Ober verneigte sich. »Sehr liebenswürdig. Ich werde es dem Küchenchef mitteilen.«
»Wissen Sie zufällig, woher Sie die Fettdärme beziehen?«
»Ich weiß es zufällig nicht«, sagte der Ober. »Als Kellner hat man mit Wurst nur flüchtig zu tun.«
»Sie Glücklicher«, meinte Külz.
Fräulein Trübner zahlte auch.
Dann standen die beiden auf und traten gemeinsam auf die Straße. Es war ein seltsames Paar: die junge, schlanke, schneidig gekleidete Dame und der dicke, breite, kolossale Lodentourist.
Die vorm Hotel sitzenden Gäste starrten neugierig hinter ihnen her.
Herr Storm und Herr Philipp Achtel erhoben sich eilig, legten ein paar Münzen auf den Tisch und steuerten dem Ausgang zu.
Külz blieb an der Bordkante stehen und deutete auf einige Tauben, die über das Pflaster trippelten. »Das sind Koburger Lerchen«, erklärte er. »Mein Bruder züchtet Tauben. Ich habe ihm gesagt, er soll das lassen. Ein Mensch, der Kälber totschlagen muss, sollte keine Tauben streicheln. Das ist geschmacklos. Aber er lässt es sich nicht ausreden.«
»Kommen Sie, Herr Külz!«, bat sie leise.
Achtel und Storm schoben sich durch die Tischreihen. An der Balustrade stieß der Kleine den andern mit dem Ellbogen an und trat zu dem Tisch, an dem Külz gesessen hatte.
Er beugte sich über den Tisch und entnahm dem Streichholzständer ein Zündholz. Dann brannte er sich eine Zigarette an. Dann legte er das niedergebrannte Zündholz in den Aschenbecher.
Achtel wartete ungeduldig. Auf der Straße fragte er ärgerlich: »Was war denn los?«
Storm zog lächelnd eine Ansichtskarte hervor. »Mein Freund Külz hat das da auf dem Tisch liegenlassen.«
Sie beugten sich über die Karte und lasen sie.
Auf der Karte stand: »Liebe Emilie! Entschuldige mein plötzliches Verschwinden. Ich erkläre es Dir, wenn ich wieder zu Hause bin. Habe eben eine Kundin von Otto getroffen. So ein Zufall, was? Na ja, wenn Gott will, schießt ein Besen. Macht Euch wegen mir keine Sorge. Unkraut verdirbt nicht. – Herzlichst Dein Oskar.«
Und unter dieser ungelenken Handschrift stand in schlanken, flotten Buchstaben: »Unbekannterweise grüßt Irene Trübner.«
Die beiden Herren sahen einander unschlüssig an.
»Hat der Kerl die Karte aus Versehen liegenlassen?«, fragte Storm.
»Blödsinn!«, sagte Achtel. »Schau dir doch den Text an! Dieser Tiroler ist ein ganz ausgekochter Junge. Er hat ’ne Kundin von Otto getroffen! Das ist natürlich eine Anspielung. Erst mimt er den Dummen. Und dann macht er sich mit Hilfe einer Ansichtskarte über uns lustig. Eine unglaubliche Frechheit!«
Herrn Storms zu weit oben angebrachte Ohren, die von der Hutkrempe herabgedrückt und rechtwinklig abgebogen wurden, sahen aus, als wollten sie sich sträuben.
»Wenn Gott will, schießt ein Besen«, wiederholte Philipp Achtel böse. »Und da kommt Karsten.«
Sie begrüßten ihren Kollegen und schritten in gemessenem Abstand hinter Fräulein Trübner und Herrn Külz her. Storm zerriss die an Frau Emilie Külz in Berlin adressierte Kopenhagener Hafenansicht in viele kleine Stücke und streute sie aufs Pflaster.
Die junge Dame und Fleischermeister Oskar Külz hatten keine Ahnung, dass ihnen drei Männer folgten, die sich außerordentlich für sie interessierten.
Den drei Männern folgte, wieder in gemessenem Abstand, ein großer, junger Mann.
Die drei Männer hatten keine Ahnung, dass auch ihnen jemand folgte, der sich außerordentlich für sie interessierte.
Wie das Leben so spielt!