PINK • Ein Imprint von Oetinger Taschenbuch
© Oetinger Taschenbuch GmbH, Hamburg 2013
Deutsche Erstausgabe
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Covergestaltung: Reinsclassen, Hamburg
E-Book-Umsetzung: 2013
ISBN 978-3-86456-015-6
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ANTONIA STEHT KERZENGERADE auf meinem Bett. Wie immer, wenn sie konzentriert ist, schließt sie für einen Moment die Augen. Unter dem hautengen Gymnastikanzug trägt sie Leggins.
Zoom aufs Gesicht: Die kurzen, braunen Haare sind zurückgegelt, die Lippen blutrot geschminkt.
Das Styling ist übrigens mein Werk. Hab ich gut hinbekommen, finde ich. Drama, Baby, Drama …
Wenn man Antonia, so wie ich, aus der Schule kennt und sie einem in diesem Aufzug über den Weg liefe, würde man sie im ersten Moment wohl kaum wiedererkennen. Denn normalerweise lacht Antonia fast immer, steht dabei keine zehn Sekunden still und ist schon von Weitem an ihrer zerzausten Frisur zu erkennen, die sie als Out-of-bed-Look bezeichnet. Ihr Zwillingsbruder Maximilian nennt sie deswegen ›Struwwelliese‹, ihre Mutter ›Kichererbse‹, und ihr Vater hat neulich – als sie beinahe vom Küchenstuhl kippte – ›Zappelphilippine‹ zu ihr gesagt. Tja, irgendwie haben alle drei mit ihren Spitznamen den Nagel auf den Kopf getroffen, obwohl sie reichlich kindisch klingen!
Doch heute ist alles anders. Heute ist Antonia nicht Antonia, sondern eine geheimnisvolle Fremde.
Auf mein Zeichen hin legt sie los und verwandelt sich in eine Juwelendiebin auf der Flucht vor der Polizei. Eine, die international gesucht wird, die ihren Verfolgern aber immer einen entscheidenden Schritt voraus ist …
Kamera läuft! Uuuund Action:
Antonia nimmt mit geballten Fäusten Schwung, stößt sich energisch von der Matratze ab, schlägt einen Salto rückwärts und landet leichtfüßig auf dem Fußboden.
Also – ich könnte das nicht!
Für Antonia aber sind akrobatische Übungen dieser Art nichts Besonderes. Das macht sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie ist nämlich Hamburger Schülermeisterin im Kunstturnen. Ich dagegen bin steif wie ein Kamerastativ.
Jetzt springt Antonia aus dem Stand auf meinen Schreibtisch und macht dort einen Handstand. Ich verfolge jede ihrer Bewegungen mit meiner Digicam und bin begeistert. Diesmal läuft alles perfekt nach Drehbuch!
Geschickt ist Antonia über die Wollfäden gehüpft, die kreuz und quer durch mein Zimmer gespannt sind, ohne sie zu berühren. Wenn diese Fäden wirklich Laserlichtschranken wären, hätte sie diesmal garantiert keinen Alarm ausgelöst.
Noch ein letzter Salto. Auch den steht sie sauber jenseits der Wollfäden.
»Und Cut!«, rufe ich. Dann schalte ich den Camcorder ab, mit dem ich alles gefilmt habe. »Alles im Kasten.«
»Cool«, freut sich Antonia und strahlt übers ganze Gesicht, »dann fehlt jetzt nur noch die Fluchtszene.«
Wir drehen einen Film. Beziehungsweise erst einmal einen kurzen Clip. Denn der Plan ist folgender: Dreamteam Entertainment produziert einen granatenstarken Trailer, geht damit auf Sponsorensuche und kann bald den ersten richtigen Spielfilm finanzieren!
Dreamteam Entertainment, das sind wir: Neele, die das Drehbuch für Diamantenfluch geschrieben hat, außerdem Antonia, unsere Hauptdarstellerin, und natürlich ich: Josephine Kappelmann, genannt Josie, vierzehn Jahre, Regisseurin.
Vielleicht eines Tages sogar jüngste Regisseurin der Welt, die je einen Kinofilm drehte. Oder noch besser: die jüngste Regisseurin, die einen Oscar gewinnt … Als erste Frau der Welt hat das Kathryn Bigelow geschafft, mein großes Vorbild. Und ich bin wild entschlossen, ihr nachzueifern!
Und hier, meine Damen und Herren, sehen Sie den Shootingstar unter den Regisseuren, Josie Kappelmann, auf dem roten Teppich in einem spektakulären Abendkleid. Sie gilt als Geheimtipp für den diesjährigen Academy Award …
Na ja. Man wird ja wohl träumen dürfen. Vorerst bin ich von einem Oscar allerdings weiter entfernt als Hamburg von Hollywood.
Andererseits: Wenn große Firmen wie Microsoft in einer Garage starten konnten, warum sollte dann eine große Regisseurinnenkarriere nicht in einem Jugendzimmer in Hamburg beginnen können?
Eigentlich spricht alles für eine große Zukunft als Regisseurin, denn ich liebe Filme. Nein, falsch, das ist völlig untertrieben: Ich bin geradezu verrückt nach Kino! Und das, seit ich mit sieben Jahren Matilda gesehen habe – meinen absoluten Lieblingsfilm.
Ich habe ihn übrigens auch in meinem Filmblog vorgestellt – JosiesMovies.
Matilda handelt jedenfalls von Matilda Wurmwald, die nicht nur superklug ist, sondern auch telekinetische Kräfte hat. Leider lebt sie in einer Ultra-Honk-Familie und besucht eine Schule, die von einer gemeinen Lehrerin namens Frau Knüppelkuh beherrscht wird. Doch gemeinsam mit Fräulein Honig macht Matilda dem üblen Treiben ein Ende.
Diesen Film muss man sich anschauen. Unbedingt! Auch wenn er eigentlich für Kinder gemacht ist. Aber ich finde, man ist nie zu alt, um Matilda zu lieben. Jedenfalls sollte man sich niemals zu alt dafür fühlen.
Matilda machte mich also zum Filmfan.
Aber zur Filmerin machte mich meine Mutter.
Als ich acht war, schenkte sie mir meine erste Kamera. Eigentlich war es ein simpler Fotoapparat, aber mit Videofunktion. Und ab diesem Moment wusste ich, was ich werden wollte …
Die Kamera war übrigens das letzte Geschenk, das ich von Mama bekam, bevor sie starb. Ganz plötzlich. An einer Blutvergiftung. Das hat uns vor sechseinhalb Jahren ganz schön aus der Bahn geworfen. Manchmal kann das Leben tausendmal trauriger sein als jeder französische Problemfilm mit trübseliger Klaviermusik, bekümmerten Menschen und deprimierendem Dauerregen. Solche Filme haben zwar auch kein Happy End, aber sie sind immerhin nach höchstens drei Stunden zu Ende.
Die Wirklichkeit dagegen hat nicht mal eine Rückspultaste: Von einem Tag auf den anderen war Mama nicht mehr da.
Nur in meinen ersten Filmen, da kann ich sie noch immer sehen. Da lacht sie nach wie vor über meine Grimassen und erzählt mir eine Gutenachtgeschichte und wünscht mir morgens, bevor ich in die Schule gehe, einen superschönen Tag.
Inzwischen habe ich mir vom gesparten Geld längst eine bessere Digicam gekauft, aber meine erste Kamera hat einen Ehrenplatz im Regal. Zwischen meinen Lieblings-DVDs und den Filmlexika. Ich werde sie bestimmt immer behalten.
Genauso wie ich Mama im Herzen behalte. Ich wette, sie sitzt da oben auf einer Schönwetterwolke und ist mächtig stolz auf mich.
»Das ist meine Tochter da unten!«, wird sie strahlend rufen, wenn ich bei der Oscarverleihung 2025 über den roten Teppich schreite – und die anderen Engel werden nicht schlecht staunen.
»Sag mal, träumst du?«, unterbricht Antonia meine Gedanken. Sie steht schon in Startposition für die nächste Szene. Die letzte übrigens, die wir noch drehen müssen, um den Trailer zu beenden. Dann fehlen nur noch Schnitt und Musik.
»Nein, ich bin nur konzentriert«, behaupte ich und verschiebe die großen Baustellenlampen, die ich vorhin aus dem Keller hochgeschleppt habe, um einen geheimnisvollen Schatteneffekt zu erzeugen.
In diesem Moment wird ganz plötzlich die Tür aufgerissen, und ein hässliches kleines Monster mit wutverzerrtem Gesicht stürmt herein. Es hat eine ungesunde rote Gesichtsfarbe, die in besonders lächerlichem Kontrast zur lila-grünen Kriegsbemalung um die weit aufgerissenen Augen steht.
Fehlt nur noch ein wenig unheimliche Geigenmusik – und schon wäre das die perfekte Anfangsszene eines Horrorschockers!
Obwohl das ganz und gar nicht dem Drehbuch entspricht, schwenke ich sofort herum und filme das Monster. Das übrigens Käthe heißt und meine Schwester ist.
Es gibt einfach nichts Nervigeres als eine sechzehnjährige Schwester, wenn man selber vierzehn ist.
Große Schwestern sind die Pest!
Vor allem große Schwestern wie Käthe.
»Ihr seid wie Feuer und Wasser«, seufzt Paps immer, wenn wir streiten. Und das ist nicht gerade selten der Fall. Käthe und ich sind einfach zu unterschiedlich, schon rein äußerlich: Obwohl sie zwei Jahre älter ist als ich, bin ich deutlich größer. Doch das ist noch längst nicht alles: Käthe ist einfach strunzlangweilig! Sie interessiert sich nur für Schuhe, Klamotten, Make-up. Nicht zu vergessen: Schuhe … Ja, wirklich – ihr Horizont ist ziemlich begrenzt, und die Themen, über die man mit ihr reden kann, finde ich einfach nur zum GÄHNEN.
Am schlimmsten aber ist Käthes Hang zu theatralischen Szenen. Sie neigt zu völlig unbegründeten Wutanfällen, und meistens bin ich das Opfer ihres Zorns. So wie jetzt gerade:
»Du hast meinen Lieblingslippenstift geklaut, Josie!« Ihre Stimme klingt schrill, und sie stampft mit dem Fuß auf wie ein trotziges Kleinkind.
»Ach Käthe«, setze ich zu meiner Beschwichtigungsrede an, natürlich nicht ohne gleichzeitig meine Kamera auf sie zu richten.
Sie hasst das.
Aber ich kann nicht anders – wenn mir jemand eine so abgefahrene Show bietet, muss ich sie einfach filmen.
Vielleicht kann ich ihr Gezeter später neu synchronisieren? Dann könnte ich die Szene sogar in unseren Trailer einbauen. Im Idealfall passt ein Satz wie »Sie haben meinen Diamanten gestohlen – verflucht sollen Sie sein bis in alle Ewigkeit!« einigermaßen zu Käthes Lippenbewegungen. Das wäre genial.
Noch furchterregender wirkt das Ganze natürlich aus der Froschperspektive. Ich werfe mich auf den Boden und filme das grauenhafte Monster von unten nach oben. Scary Käthe. Nicht geeignet für Kinder unter zwölf Jahren.
Jetzt gehe ich auf Zoom und filme ihr wutverzerrtes Gesicht in Nahaufnahme, während Käthe weiter auf mich einbrüllt:
»Du sollst mich nicht Käthe nennen. Ich bin Katy! Respektiere das endlich!!!« Dabei überschlägt sich ihre Stimme mehrfach. Das hört sich so albern an, dass ich laut lospruste. Mein Lachen und die Tatsache, dass ich ihren Ausbruch nach wie vor filme, bringen sie noch mehr auf die Palme.
»Du gemeine Diebin, du hinterlistige Kuh!«, tobt sie jetzt.
Ja, so ist sie. Meine allerliebste Schwester Käthe.
Okay, ich gebe zu: Eigentlich heißt sie Katharina. Aber seit einigen Monaten nennt sie sich affigerweise Katy – wie Katy Perry. Als sie das eines Tages beim Abendbrot feierlich verkündete, musste ich so sehr kichern, dass ich einen Schluckauf bekam. Jedenfalls nenne ich mein albernes Schwesterherz seit jenem Abend Käthe. Denn ich finde, das passt perfekt zu ihr. Katy? Kann sie vergessen!
»Nun beruhige dich doch, Kä…, ähm, Katharina«, versucht Antonia nun die Wogen zu glätten. Doch dieser Schuss geht nach hinten los. Denn kaum schaut Käthe in ihre Richtung, erkennt sie das verräterische Rot wieder, mit dem ich Antonias Lippen angemalt habe.
»Ha! Das ist der Beweis! Ihr beide steckt unter einer Decke …«, triumphiert sie lautstark und deutet mit ausgestrecktem Finger auf Antonias vor Schreck offen stehenden Mund.
Jetzt wird es mir zu bunt: Da platzt Käthe einfach so mitten in meine Dreharbeiten, macht einen Wirbel, als ginge es um Leben und Tod, und das alles nur wegen eines dämlichen Lippenstiftes!
»Cool down, Käthe«, pflaume ich sie an, jetzt wieder im Stehen. »Niemand hat hier irgendwas gestohlen. Das ist doch völliger Unsinn! Was sollte ich wohl mit einem Lippenstift von dir anfangen? Wir haben das Teil nur kurzfristig geliehen. Für das Styling. Schließlich ist mein Zimmer gerade ein Filmset.«
Währenddessen filme ich Käthes unnachahmliches Mienenspiel absichtlich verwackelt. Subjektive Kamera. Das wirkt dramatisch und dokumentarisch zugleich.
»Filmset, dass ich nicht lache!«, krächzt Käthe.
Wer weiß, wie lange der Streit noch hin- und herginge, wenn nicht Paps den Kopf zur Tür hereinstrecken würde: »Kinder, was ist denn hier los? Ich brauche Ruhe – wie in aller Welt soll ich sonst Klausuren korrigieren?«
Er ist nämlich Professor für Schiffsbau und eigentlich voll okay, wenn er nicht gerade über das angebliche Chaos in meinem Zimmer meckert. Dafür, dass er uns seit Mamas Tod allein erzieht, sind wir doch wirklich ganz gut geraten.
Ich jedenfalls.
Käthe setzt zu einer erneuten Schimpftirade an, aber Paps verlangt einen »sachlichen Ton« und gibt jeder von uns eine Minute Zeit, die Situation zu erklären.
Kameraschwenk zu Käthe, die mit Sachlichkeit so ihre Schwierigkeiten hat. Ich schweige, innerlich grinsend, und denke mir dazu einen passenden Off-Kommentar – am besten vom Dr. House-Synchronsprecher:
Scary Käthe bringt ihre Emotionen nicht unter Kontrolle und liefert ein auf freier Wildbahn erstmals gefilmtes Beispiel dafür, wie gefährlich ein gereiztes Monster zu sein vermag.
In ihren sechzig Sekunden bringt sie immerhin ganze sieben Schimpfwörter unter und erntet damit einen tadelnden Blick von Paps.
Ich dagegen bleibe ganz cool: »Wir haben uns den Lippenstift doch nur geborgt. Käthe war nicht da, deshalb konnten wir sie nicht fragen. Zum Dank nennen wir ihren Namen im Abspann unter dem Stichwort Maske.«
Paps findet das relativ fair und mahnt Käthe zu mehr Selbstbeherrschung. Zu mir sagt er: »Nächstes Mal fragt ihr vorher!«
Tapfere Heldin nickt mit einer Andeutung von Einsicht.
Käthe zieht beleidigt ab.
Bevor Paps die Tür hinter sich schließt, lässt er noch einen kritischen Blick durch mein Zimmer schweifen und gibt seinen unvermeidlichen Kommentar ab, den ich mindestens einmal täglich zu hören bekomme: »Sieht mal wieder ganz schön chaotisch bei dir aus, Josephine!«
Chaotisch? Da bin ich aber ganz anderer Meinung. Ist doch total gemütlich hier. Außerdem ist Käthes Zimmer viel schlimmer. Alles voller Tussikram: Haarbänder, Armreife, Ohrringe, Lidschatten, Schminkpinsel, Klamottenberge … und das meiste davon in Rosa. Scheußlich!
Bei mir dagegen findest du eigentlich nur Dinge, die mit meiner großen Liebe zu tun haben: dem Kino. Lampen, DVDs, Filmbücher, Poster, Requisiten und so. Und das zählt nicht als Durcheinander, sondern als kreative Inspiration.
Ich verspreche Paps feierlich, noch vor dem Abendbrot wenigstens die Wollfäden zu entsorgen. Kein Problem, die Szene mit den Laserlichtschranken ist ja im Kasten.
Endlich können Antonia und ich in Ruhe an der letzten Trailerszene weiterarbeiten.
Also – zurück in die Startposition …
Aber – hm. Wie wollen wir die Szene genau aufbauen? In einem Raum, der gerade mal fünf Meter breit und sechs Meter lang ist, lässt sich die hastige Flucht der Diebin nicht so leicht in die Tat umsetzen. Neeles Drehbuch ist in diesem Punkt relativ ungenau formuliert. Wir müssen improvisieren.
»Wir machen das vor der grünen Wand«, entscheide ich.
Eine Wand meines Zimmers, vor der weder Schrank noch Regale oder Bett stehen, habe ich neulich knallgrün angestrichen. Nicht weil ich die Farbe der Hoffnung so liebe, sondern weil ich die Wand als Greenscreen nutzen will. Wenn ich Antonia davor aufnehme, kann ich später tricksen und die grüne Wand im Computer gegen jeden beliebigen anderen Hintergrund austauschen. Ganz egal, ob Kuhstall oder Märchenschloss. Haben wir gerade in der Film-AG gelernt.
Aber das Platzproblem haben wir damit noch nicht gelöst. Moment – so könnte es doch funktionieren:
»Kannst du versuchen, auf der Stelle zu laufen?«, schlage ich vor. »Ich filme dich einfach halbnah anstatt in der Halbtotalen, dann sind die Beine nicht drauf. Mit einem anderen Hintergrund sieht das dann aus wie echt.«
Doch Antonia ist nicht überzeugt: »Das sind völlig andere Bewegungsabläufe – rennen und auf der Stelle laufen.« Sie muss es ja wissen, immerhin ist sie die Sportlichere von uns beiden. Nicht mal in Basketball kann ich sie schlagen, und das, obwohl sie zwei Köpfe kleiner ist.
»Na gut«, überlege ich, »dann filmen wir eben nicht hier im Zimmer, sondern in der Tiefgarage. Tiefgaragen kommen immer spannend rüber, darum kommen sie ja auch in so gut wie allen Gangsterfilmen vor, in denen es eine Verfolgungsjagd gibt.«
Betonwände, huschende Schatten, Dämmerlicht. Hastige Schritte, die langsam näher kommen. Dazu ein leiser Fagott-Ton, der Unheil ankündigt und ebenso langsam lauter wird.
Ja, so wirkt das abgefahren!
»Gute Idee«, nickt Antonia. Dann wirft sie einen Blick auf die Uhr und fragt: »Wo bleibt nur Neele?«
Stimmt – Neele wollte eigentlich gleich nach den Hausaufgaben dazustoßen. Mit ihr ist dann unser Dreamteam komplett.
»Das muss sie sein«, lache ich, als just in diesem Moment die Haustürklingel ertönt.
Und tatsächlich: Es ist eine völlig atemlose, rotwangige und aufgeregte Neele, die jetzt hereinstürmt. Ihre dunklen Augen glänzen ebenso wie ihr schwarzes langes Haar. Sie sieht aus wie eine Fee nach einer Achterbahnfahrt und platzt geradezu vor Mitteilungsdrang.
»Schaut, Mädels, da müssen wir hin, da machen wir mit!«, verkündet sie strahlend und zieht einen Flyer aus dem Rucksack.
»Großes Casting am nächsten Samstag«, lese ich laut vor: »Hübsche, schauspielerisch begabte Mädchen zwischen zwölf und fünfzehn für Rollen in TV-Serien, Filmproduktionen und Werbespots gesucht.«
Neele strahlt uns geradezu euphorisch an: »Na, was sagt ihr? Super, dass ich das entdeckt habe. Rein zufällig übrigens. Aber vielleicht ist es Schicksal? Das ist unsere große Chance!«
Ähm. Ist Neele jetzt völlig übergeschnappt? Ich meine: Wir haben doch einen Plan. Und ein Projekt. Wir sind Dreamteam Entertainment, das jüngste Filmstudio Hamburgs. Und wir wollen bald unseren ersten Blockbuster drehen, Diamantenfluch.
Was wir dagegen nicht sind: ein Haufen oberflächlicher Hühner, die hoffen, entdeckt zu werden, weil sie so hübsch lächeln und mit dem Po wackeln können.
Was denkt sich Neele bloß?
»Zeig her«, jubelt nun auch Antonia. »Mensch, genial! Klar gehen wir da alle drei hin.« Sie ist eindeutig Feuer und Flamme.
Ich muss mich hinsetzen.
Meine beiden besten Freundinnen sind wirklich und wahrhaftig gerade im Begriff, den Verstand zu verlieren. Ich sollte unseren Film am besten umbenennen – in Allein unter Wahnsinnigen.
»Ohne mich!«, stoße ich hervor.
Antonia und Neele starren mich an, als sei ich ein sprechender Goldhamster. Offenbar habe ich mich unklar ausgedrückt. Na gut, dann muss ich wohl deutlicher werden:
»Leute, wir sind doch keine Castingtussen! Was wollen wir denn dort? Wir haben ein Ziel vor Augen – unseren Film. Also, ICH jedenfalls will hinter der Kamera stehen, nicht davor. Ich träume echt nicht davon, Schauspielerin zu werden!«
Stille.
Atmo: Wie die Ruhe vor dem Sturm in einem Katastrophenfilm. Gleich kommt ein Wirbelsturm – oder wenigstens ein Orkan.
Dann zuckt Antonia mit den Schultern. »Also, ich schon.«
Und Neele stimmt ihr zu: »Und ich auch. Man kann durchaus Schauspielerin und Drehbuchautorin zugleich sein.«
Ich glaub, ich spinne! Können wir den letzten Dialog eventuell streichen und durch eine kernige Tornadoszene ersetzen?
Offenbar nicht. Ich muss also mit Argumenten überzeugen.
»Ihr wollt also lieber zu diesem Casting gehen, als den Trailer für Diamantenfluch zu beenden?«, will ich wissen und fürchte mich, ehrlich gesagt, ein wenig vor der Antwort. Das hier könnte das Ende von Dreamteam Entertainment sein, noch bevor die Sache überhaupt richtig angefangen hat.
»Wir können doch beides machen«, findet Antonia.
»Genau, Josie – und zu dritt macht das Casting bestimmt noch mehr Spaß!«, bettelt Neele.
Zu dritt? Meint sie etwa allen Ernstes …
»Iiiiich? Beim Casting? Du träumst wohl!«, entfährt es mir entsetzt. Meine beiden besten Freundinnen lassen mich im Stich. Das muss ich erst mal verkraften.
Puh.
Vielleicht sollte ich Diamantenfluch ohne die beiden durchziehen? Ich könnte meinen Kumpel Ole fragen, der wäre mit Sicherheit sofort dabei.
»Sei doch mal vernünftig«, sagt Antonia.
Ich hasse es, wenn sie so erwachsen tut! Versteh mich bitte nicht falsch: Ich mag Antonia. Sehr sogar. Denn sie hat immer gute Laune. Sie geht gern mit mir ins Kino. Ich kann mich voll auf sie verlassen – jedenfalls konnte ich das bisher. Aber wenn sie mir gute Ratschläge erteilen will, reagiere ich allergisch. »Spiel doch mit Puppen, wenn du jemanden bemuttern willst«, sag ich meistens genervt, und dann müssen wir beide lachen.
Heute ist es anders. Sie will mich nicht bemuttern, sondern überzeugen. Und zwar mit allen Mitteln. Energisch hakt sie mich unter und zerrt mich vor den Spiegel.
»Schau dich doch mal an«, ruft sie. »Du bist genau das, was diese Castingleute suchen: groß, schlank, blond, langhaarig, einfach perfekt. Josie Kappelmann, der künftige Shootingstar!«
Ich komme mir vor, als wäre ich ein besonders fetter Fang, der gerade auf dem Hamburger Fischmarkt angepriesen wird.
Loooos, Leute, zugreifen, einen frischen, fetten Aal pack ich euch noch mit rrrrrein!
»Und wenn schon«, sage ich stur, »das interessiert mich null. Falls ihr das noch nicht mitbekommen habt: Ich werde Regisseurin, nicht Schauspielerin!«
Wie oft soll ich das eigentlich noch wiederholen?
Neele und Antonia werfen einander stumme Blicke zu. Wahrscheinlich halten sie mich für einen besonders schwierigen Fall. Ich fasse es nicht: Meine beiden besten Freundinnen haben sich gegen mich verschworen!
»Andererseits«, sagt Neele nun gedehnt, »wo sonst hättest du die einmalige Gelegenheit, die Arbeit eines Regisseurs live mitzuerleben? So eine Schauspielrolle wäre für deine Zukunft als Filmemacherin wahnsinnig lehrreich!«
Na, das hat sie sich ja klug ausgedacht.
Aber so leicht lasse ich mich nicht rumkriegen!
»NA, WAS HAST DU so vor dieses Wochenende?«, frage ich Ole. Es ist Freitagnachmittag, Film-AG-Zeit. Wir sitzen nebeneinander im PC-Raum unserer Schule und arbeiten an unseren Filmprojekten. Ich habe gerade die beiden neuen Szenen für den Diamantenfluch-Trailer vom USB-Stick auf den Rechner kopiert. Ole dreht zurzeit eine Dokumentation mit dem Titel Hamburg-Safari über Wildtiere in der Großstadt und sichtet seine Aufnahmen von dieser Woche. Sogar einen Fischadler und einen Dachs hat er vor die Linse bekommen – spektakulär! Ole arbeitet so konzentriert, dass ich schon fast glaube, er hätte meine Frage gar nicht mitbekommen. Doch da habe ich ihn wohl unterschätzt:
»Ich geh heute Abend ins Kino«, antwortet er grinsend. Er ahnt schon, wie ich reagiere: »Alter, was für ’ne Überraschung!«, lache ich.
Dieses Gespräch führen wir – mit leichten Varianten – jeden Freitag, denn selten hat Ole etwas anderes vor, als ins Kino zu gehen. Wenn es jemanden gibt, der womöglich noch filmverrückter ist als ich, dann ist das Ole, mein bester Freund. Wir kennen uns seit dem Kindergarten und verstehen uns blind – vor allem, wenn es um unser gemeinsames Hobby geht. Manchmal wünsche ich mir, Ole wäre mein Bruder. Dafür würde ich seinen Eltern dann liebend gerne mein Schwesterherz Käthe überlassen. Ich wette, die wäre sofort dabei, denn Oles Eltern haben richtig viel Kohle. Oder, in Käthe-Währung umgerechnet: Geld für tonnenweise Schuhe …
»Ich brauche dringend noch hundert Paar Sandalen«, schmollt Prinzessin Käthe und stampft mit dem Fuß auf. Sie trägt ein rosa Minikleid und auf dem Kopf ein glitzerndes Krönchen.
Schnitt zu Oles Eltern, Zoom auf ihre ernsten Gesichter:
»Kein Problem, Liebes, wir müssen nur noch ein paar Dutzend Hamburger Kindern Zahnspangen verpassen, dann bekommst du deine Sandalen …«
Ole wäre es garantiert lieber, wenn seine Eltern ein bisschen ärmer, aber dafür öfter für ihn da wären, statt rund um die Uhr in ihrer kieferorthopädischen Praxis zu schuften und mehr zu verdienen, als sie ausgeben können.
Aber seine Familie kann man sich nun mal nicht aussuchen. Nur seine Freunde.
»Ich schau mir König von Deutschland an«, sagt Ole plötzlich und reißt mich aus meinem imaginären Drehbuch. Zuerst habe ich keinen Plan, was er meint. Kann er etwa Gedanken lesen? Spricht er womöglich von seinen Eltern und Käthe?
Offenbar nicht, wie ich erleichtert höre: