Klare Worte

Den Haag, 6. April

Jutta Beyer aus Berlin war sich immer noch nicht ganz sicher, was sie eigentlich in Den Haag sollte. Sie war sich aber auch nicht sicher, ob irgendeiner ihrer Kollegen es wusste.

Sie selbst bevorzugte klare Strukturen, wie sie in der Abteilung 4 des Landeskriminalamts Berlin herrschten. Dort war sie Kriminalobermeisterin gewesen und hatte sich mit organisierter Kriminalität und ausgeklügeltem Bandenwesen herumgeschlagen, wovon Deutschland gegenwärtig geradezu überschwemmt wurde. Neben den russischen und osteuropäischen Gruppierungen unterwanderte auch die italienische Mafia, allen voran die Königin des europäischen Kokainhandels, die geheimnisvolle ’Ndrangheta aus Kalabrien, die Gesellschaft. Im Westen Deutschlands war es nach wie vor am schlimmsten – Nordrhein-Westfalen wurde regelrecht überrollt von internen Auseinandersetzungen der Mafia. Schließlich hatte die Arbeitsbelastung im Landeskriminalamt so bizarre Formen angenommen, dass selbst Jutta Beyer bereit war, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen und sich auf etwas Neues einzulassen.

Da kam das Angebot von Europol.

Am 1. Juli würde die europäische Polizeibehörde Europol ihr zehnjähriges Jubiläum feiern, und bis zum Ende des Jahres sollte eine Umstrukturierung stattfinden. Außerdem plante man, aus dem mit Efeu umrankten ehemaligen Schulgebäude im schönsten Stadtviertel von Den Haag in einen riesigen Wolkenkratzer mit Büroetagen umzuziehen – Europol sollte zu einer formellen EU-Behörde werden. Nach wie vor war Europol eine nichtoperative Instanz, deren Mitarbeiter weder Personen festnehmen und verhören noch bei Verbrechen ermitteln durften, doch nun erstreckte sich das Mandat auf alle Formen von grenzüberschreitenden Verbrechen. Die Beschränkung auf organisierte Kriminalität galt nicht mehr. Die meisten Eingeweihten waren sich darin einig, dass dies ein deutlicher Schritt hin zu einer Europapolizei war, zu einem europäischen FBI.

Jutta Beyers Enthusiasmus darüber, an diesem historischen Ereignis teilhaben zu können, kannte keine Grenzen. Sie liebte historische Ereignisse, seit man sie als Zwölfjährige auf die Berliner Mauer gehoben hatte, während die Menschen aus dem Osten und Westen zu beiden Seiten das Gestein mit Hämmern und Hacken traktierten. In ihrem hellblauen Kleid, ihren Teddy in der Hand, stand sie auf einem niedrigen Mauersockel und blickte hinüber in den Westen. Zahlreiche Zeitungen rund um den Globus veröffentlichten Fotos von ihr. Historische Fotos.

Und historische Dimension könnte ihre neue Aufgabe auch haben.

In Berlin ließ sie niemanden zurück, sie hatte keine Familie und auch keine engen freundschaftlichen Verbindungen. Da war es ein wunderbares Gefühl, dem ausufernden Kleinkrieg gegen rechtsextremistische Banden, brutale russische Mafiosi mit niedrigem Intellekt, italienische Unterhändler und dem Füllhorn von Drogenhändlern den Rücken zu kehren und sich stattdessen dem Gebiet der weitaus bedeutenderen organisierten Kriminalität zuzuwenden.

Ihr Enthusiasmus erlosch jedoch rasch. In Den Haag war sie in einer internationalen Gruppe gelandet, deren Auftrag und Grenzen erstaunlich unscharf definiert waren. Oft hatte sie versucht, den operativen Chef der Gruppe – allein diese Bezeichnung in einer nichtoperativen Gruppe – zu einer Erklärung zu bewegen, worum es bei dem Ganzen eigentlich ging. Der Mann war extrem professionell und sympathisch, aber sie hatte den Eindruck, dass er ihr etwas vorenthielt. Ja, der gesamten Gruppe. Deren Mitgliederzahl auf absurde Art ebenfalls diffus war.

Zumindest das hatte der Chef ihr verraten: Die Strukturen der Gruppe waren gewollt flexibel. Das war der tiefere Sinn. Diejenigen, die nach Den Haag umgezogen waren, bildeten nur den harten Kern, denn diejenigen, die in ihren Heimatländern arbeiteten und sich nur zeitweise dem Team anschlossen, machten einen ebenso großen Teil der Mannschaft aus. Aber in welcher Hinsicht sich die neue Opcop-Gruppe eigentlich von ihrer Mutterorganisation Europol unterschied, blieb unklar. Zumal diese Europol Liaison Officers, diese verdammten ELOs, auch bei ihnen überall herumsprangen.

Einen Monat war sie jetzt hier, seit dem 1. März, und in dieser Zeit hatte sie sich hauptsächlich damit beschäftigt, Papiere hin und her zu schieben und sich mit dem Computersystem vertraut zu machen. Aber eigentlich verbrachte sie die meiste Zeit damit, sauer zu sein, da sie nicht genau wusste, was sie tun sollte und vor allem tun durfte. Es kam ihr vor, als wären der gesamten Europol-Behörde auf merkwürdige Weise die Hände gebunden.

Sie war eine Polizistin, die die Dinge endlich anpacken wollte, aber klare Richtlinien und Grenzen benötigte.

Doch bislang bestanden die Aktivitäten der Opcop-Gruppe hauptsächlich in Zusammenkünften. Sitzungen, bei denen man sich in erster Linie mit administrativen Fragen beschäftigte. Und zu einer solchen war sie auch an diesem frühen Montagmorgen Anfang April unterwegs.

In Den Haag, dieser seltsamen kleinen Puppenstubenstadt, hatte der Frühling Einzug gehalten. Es war in der Tat ein sehr schöner Morgen, an dem sie durch die Stadt radelte. Obwohl sie auch in Berlin häufig mit dem Rad unterwegs gewesen war, empfand sie den holländischen Radfahrer als sehr eigene Spezies. Die Leute fuhren, wie es ihnen gerade passte, bevorzugt mit drei, vier Kindern auf dem Lenker und einer Ente oder Guillotine auf dem Gepäckträger, entgegen allen Verkehrsregeln. Wo Jutta Beyer Regeln doch so schätzte.

Daher war es nahezu ein versöhnlicher Anblick, als sie den Raamweg hinaufradelte und sich das von wildem Grün umrankte Europol-Gebäude wie eine Oase nach einer langen Wanderung durch die Wüste vor ihr auftürmte. Als sie auf den Parkplatz einbog, bot sich ihr ein eigentümliches Bild. Das Gebäude von Europol sah irgendwie aus wie ein Weihnachtsbaum, den man mittels einer Schrottpresse zusammengefaltet hatte. Als sie beinahe mit Marek Kowalewski kollidierte, dem polnischen Kollegen mit dem etwas zu breiten Lächeln, verflüchtigte sich das Bild. Sie parkten ihre Fahrräder nebeneinander.

»Sollen wir sie zusammenschließen?«, fragte Marek und rasselte wie ein Gespenst mit seinem Fahrradschloss.

»Lieber nicht«, entgegnete Jutta und schloss ihr Fahrrad mit der eigenen Kette an.

Dass sie anschließend gemeinsam durch die Korridore zum Versammlungsraum gingen, konnte Jutta kaum vermeiden. Ebenso wenig wie die Begegnung mit der außergewöhnlich brüsken Rumänin Lavinia Potorac – einer ehemaligen Turnerin mit durchtrainiertem Körper, der stets in sackartiger Kleidung steckte, und einem unerträglichen Charakter. Sie kam gerade aus der Damentoilette und grüßte mit einem kurzen Nicken. Vor der Tür zum Versammlungsraum stand der elegante Madrilene Felipe Navarro und richtete gerade den Knoten seiner Krawatte. Lavinia Potorac schüttelte mit finsterer Miene den Kopf, zog ihren Ausweis durch das Lesegerät, tippte den Code ein und stieß die Tür mit voller Wucht auf. Navarro stoppte die Tür mit der Hand und hielt sie Jutta und Marek mit einer galanten Geste auf. Keiner der beiden dankte ihm.

Der Rest der bunten Schar hatte bereits Platz genommen. Jutta registrierte Miriam Hershey aus London und Laima Balodis aus Wilna, die bereits beste Freundinnen waren; daneben den etwas weltfremden Athener Angelos Sifakis und die in allen Lagen streitbare Französin Corine Bouhaddi. Ebenfalls anwesend waren Fabio Tebaldi, der mit Morddrohungen konfrontierte junge Mafiajäger aus San Luca an der Zehenspitze des italienischen Stiefels, und der Altmeister der Gruppe, der etwas sonderbare Schwede Arto Söderstedt. Wenn er nicht doch Finne war, Jutta Beyer wusste es nicht genau.

Außerdem waren momentan einige der nationalen Mitarbeiter in Den Haag. Sie erkannte keinen von ihnen wieder, die Gruppe blieb für sie diffus und konturlos.

Dazu trug auch diese Sprache bei. Sie alle waren gezwungen, sich mit »the EUnglish language« abzumühen, dieser merkwürdig klanglosen Kunstsprache, die innerhalb der EU verwendet wurde. Obwohl alle einen Grundkurs absolviert hatten, waren die Gespräche noch immer mühselig.

Jutta Beyers Stimmung hatte beinahe ihren Siedepunkt erreicht, als sie ihren gewohnten Platz im Versammlungsraum einnahm. Irgendetwas im Zimmer war verändert worden, aber Jutta hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn in diesem Moment setzte sich Kowalewski etwas zu dicht neben sie. Und lächelte sie an. Noch breiter als sonst. Wahrscheinlich wollte er mit ihr übers Wochenende plaudern. Sie nahm sich unnötig viel Zeit, um ihre Unterlagen auszupacken, und hoffte inständig darauf, dass der Chef endlich hereinkommen würde.

Aber dem war nicht so. Die Zeit verging. Es war schon nach acht Uhr, und die Möglichkeiten, Papierstapel, Stifte und Notizbuch auf dem Tisch anzuordnen, waren irgendwann erschöpft. Nun würde sie doch mit Marek sprechen müssen. Sie wusste, dass sie manchmal sehr unhöflich sein konnte, wenn sie genervt war oder ihr jemand zu nahekam.

Doch als sie schließlich aufsah, stellte sie erleichtert fest, dass Kowalewski sich bereits abgewandt hatte. Und nun rief er laut: »Let’s play Chinese whispers, children!«

Alle Anwesenden sahen zu ihm hin. Sie hatten sich bereits an sein zwanghaftes Bedürfnis gewöhnt, den Klassenclown zu geben. Aber diesmal trafen ihn überwiegend erstaunte, wenn nicht sogar vorwurfsvolle Blicke.

»Shit«, sagte Kowalewski und legte die Ohren an. »Heißt das nicht so auf Englisch? Dieses Spiel, bei dem einer ein Wort flüstert und die anderen es weiterflüstern müssen?«

»Du hast also noch nicht gehört, was passiert ist?«, fragte die dunkelhaarige Engländerin Miriam Hershey und ließ ihren Blick zwischen Marek Kowalewski und Arto Söderstedt hin- und herschweifen. Doch der machte lediglich eine abwehrende Handbewegung.

»Was denn?«, fragte Kowalewski mit Nachdruck.

Söderstedt streckte den Rücken durch, sodass es hörbar in seinem hellhäutigen Körper knackte, und sagte: »Let’s just say I’ve had my fair share of Chinese whispers.« Von Stiller Post hatte er wirklich genug.

Jutta Beyer dankte dem Himmel, dass der Chef in diesem Augenblick den Raum betrat und alle ihre Aufmerksamkeit auf ihn richteten. Er nickte ihnen rasch zu und nahm hinter seinem Pult Platz. Der Leiter der Opcop-Gruppe war ein recht stilvoller Mann in mittleren Jahren mit mittelblondem, etwas längerem Haar, das an den Schläfen schon ein wenig grau geworden war. Und in der Region um den Hosenbund herum war sein Körper nicht mehr ganz so schmal. Auf der Wange hatte er einen kleinen roten Fleck, und er kam aus Schweden. Sein Name war Paul Hjelm.

»Guten Morgen. Ich kann euch heute mitteilen, dass Europol nun einen großen Schritt hin zu einer operativen Institution gemacht hat«, sagte er in seinem halbwegs gepflegten Englisch. »Am vergangenen Donnerstag wurde nämlich unser Kollege Arto Söderstedt in London in einen Vorfall verwickelt, bei dem es sich zwar nur um einen Unfall handelte, der die Führungsgruppe hier im Haus aber dazu veranlasste, am Wochenende bestimmte Prinzipien zu diskutieren. Ich weiß, dass ihr Prinzipien furchtbar leid seid, ich bin es auch.«

Er schaute auf die versammelte Opcop-Gruppe, und einige seufzten. Hjelm fuhr fort: »Vor allem aber bin ich es leid, die Dinge zu verschleiern. Ihr habt nun bereits einen guten Monat hier in eurer neuen Anstellung hinter euch, und es wird Zeit für klare Worte. Seid ihr bereit für klare Worte?«

»Mehr als bereit«, antwortete Felipe Navarro und richtete erneut seinen Krawattenknoten. »Wir haben uns zwar auf das Ganze eingelassen, ohne genau zu wissen, worum es hier geht, aber dass die Sache derart unklar ist, verblüfft uns doch ein wenig. Schließlich sollte eine neuartige internationale Polizeieinheit ins Leben gerufen werden.«

»Uns war nicht klar, dass das Neuartige darin besteht, dass wir nichts zu tun haben würden«, fügte Corine Bouhaddi sarkastisch hinzu.

Paul Hjelm lächelte kurz und sagte dann: »Man hat euch ja erklärt, dass Opcop ›Overt Police Cooperation‹ bedeutet, also offene Polizeiarbeit unter dem Dach von Europol. So lautet die offizielle Bezeichnung, aber praktisch gesehen sind wir ›Operating Cops‹. Wir sind eine Einheit, die erproben soll, inwieweit eine internationale Polizeitruppe handlungsfähig ist. Und währenddessen wird Europol zu einer formalen EU-Behörde umstrukturiert.«

»Erproben?«, rief Fabio Tebaldi aus. »Was zum Teufel soll denn ›erproben‹ bedeuten?«

»Zunächst einmal muss ich aufs Deutlichste betonen, dass alles, was hier in diesem Raum gesprochen wird, höchster Geheimhaltung unterliegt. Wer sich nicht an die Schweigepflicht hält, muss mit einer Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren rechnen. ›Erproben‹ bedeutet, dass wir eine Einheit sind, die sich offiziell erst in Zukunft mit eigenen Ermittlungen befassen darf.«

Nun ging ein überraschtes Raunen durch den Raum. Denn Europols Aufgabe bestand bisher lediglich darin, die nationalen Polizeieinheiten bei der Koordination und Informationsbeschaffung zu unterstützen, Europol ermittelte nicht selbst aktiv. Und nun sollten die Polizisten von Opcop auch selbst Ermittlungsarbeit leisten, anstatt nur Befehle entgegenzunehmen und Daten abzugleichen.

»Im Grunde ist es ganz einfach«, fuhr Paul Hjelm fort. »Die internationale Kriminalität ist dabei, uns über den Kopf zu wachsen. Um wenigstens eine geringe Chance gegen die organisierte Kriminalität zu haben, die sich ja nie auf nur ein Land beschränkt, muss die Polizei ebenfalls international aufgestellt sein. Bis jetzt ist das von den Regierungen aber noch nicht abgesegnet. Wir sind also der Vortrupp, die Avantgarde, die heimlichen Wegbereiter. Wir werden erproben, ob es überhaupt möglich ist, polizeiliche Ermittlungen auf europäischer Ebene durchzuführen.«

Er hielt inne und ließ den Blick aus seinen blauen Augen über die Zuhörerschaft schweifen. Die erfahrenen Kriminalbeamten aus allen Ecken Europas tauschten skeptische Blicke aus. Etwas anderes war auch nicht zu erwarten gewesen. Er hoffte nur, dass sie seine eigene Skepsis nicht bemerkten.

Es war, wie erwartet, Corine Bouhaddi, die das Ganze auf den Punkt brachte: »Aber wie, bitte schön, sollen wir polizeiliche Ermittlungen im Geheimen durchführen?«

»Sehr gute Frage«, entgegnete Paul Hjelm. »Natürlich sieht die Praxis anders aus. Wir dürfen nur nicht herumposaunen, dass es diese Opcop-Gruppe gibt. Notfalls müssen wir immer auf die Polizeibehörden unserer jeweiligen Nationen verweisen können. Weitere Direktiven sind euch heute Morgen per Mail zugesandt worden.«

»Dürfen wir Waffen benutzen?«, fragte die Rumänin Lavinia Potorac.

»Wenn wir erfolgreiche Ermittlungen durchführen wollen, müssen wir auch bewaffnet sein, die Antwort lautet also Ja. Wir müssen uns aber bewusst machen, dass bei einem Schusswechsel etwas mehr als sonst auf dem Spiel steht. Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass keine Spuren bis zu unserer Gruppe zurückverfolgt werden können, es ist aber keineswegs sicher, dass mir das immer möglich ist.«

Jutta Beyer reckte den Arm in die Luft. Die übrigen Anwesenden im Raum sahen sie verwundert an. Selbst Hjelm wirkte ein wenig irritiert und erteilte ihr mit einer kleinen Handbewegung rasch das Wort.

»Was passiert«, fragte sie, »wenn uns eine Ermittlung in ein EU-Land führt, das nicht durch die Gruppe vertreten ist? Zum Beispiel Ungarn oder Holland?«

Paul Hjelm nickte bedächtig. »Die EU hat aktuell siebenundzwanzig Mitgliedsstaaten. Eine Gruppe von siebenundzwanzig Polizisten wäre jedoch nicht nur so teuer, dass sich die Rechenkünstler der EU querstellen würden, sie wäre auch nicht handlungsfähig. Mehrere kleinere Länder werden sich daher bis auf Weiteres damit abfinden müssen, von einem Nachbarland repräsentiert zu werden. Wenn sich alles gut entwickelt, wird es später ein Rotationsprinzip geben. Ohne die großen Vier geht es aber nicht. Also sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien ständig vertreten. Schweden repräsentiert im Augenblick den Norden und Polen und Rumänien mit Litauen den Osten. Spanien steht für Südwesteuropa, Griechenland für Südosteuropa, Deutschland repräsentiert den deutschsprachigen Raum und die Beneluxländer und Großbritannien die Inselstaaten. Das ist nicht in jeder Hinsicht gerecht, und es gab auch bereits Proteste aus Holland, das sich jedoch momentan damit trösten muss, Gastgeberland unseres Hauptquartiers zu sein.«

Paul Hjelm hielt einen Augenblick inne und rieb sich den Nacken, dann fuhr er fort: »Und wie ihr seht, sind über das Wochenende in unserem Versammlungsraum einige Veränderungen durchgeführt worden.«

Die Polizisten sahen sich um. In die holzgetäfelten Wände waren Bildschirme eingepasst worden, die ausgeschaltet erst auf den zweiten Blick zu erkennen waren. Und wenn man sie zählte, was mindestens die Hälfte der Mitglieder der Opcop-Gruppe gerade zu tun schien, stellte sich heraus, dass es siebenundzwanzig Stück waren.

»Ziemlich kunstvolle Tischlerarbeit, oder?«, fragte Hjelm mit einem schiefen Lächeln.

»Eurovision Song Contest, meine Güte!«, rief Marek Kowalewski aus.

»Aber nur für Eingeweihte«, konterte Corine Bouhaddi trocken.

»Für die siebenundzwanzig Eingeweihten.« Paul Hjelm nickte. »Bleibt nur zu hoffen, dass wir sie nicht allzu oft brauchen, aber wir werden in jedem Fall regelmäßig Vollversammlungen mit sämtlichen nationalen Opcop-Beauftragten abhalten. Es muss also keiner das Gefühl haben, er sei außen vor.«

Felipe Navarro, dem es nur mit großer Selbstüberwindung gelang, die Finger von seinem Krawattenknoten zu lassen, räusperte sich. »Aber wahrscheinlich hat sich jeder von uns schon Gedanken darüber gemacht, dass Schweden hier in der Gruppe sehr stark vertreten ist«, sagte er. »Die EU hat momentan ziemlich genau eine halbe Milliarde Einwohner. Davon sind neun Millionen Schweden. Das sind weniger als zwei Prozent.«

»Aber wir bewohnen ziemlich genau zehn Prozent der geografischen Fläche«, warf da ein recht kleiner Mann mit dunklem Teint ein, der auf dem Platz neben Arto Söderstedt saß. Er arbeitete offenbar auf Länderebene und absolvierte gerade einen Pflichtbesuch im Hauptquartier. Die meisten hatten bisher angenommen, er sei Spanier, aber als Navarro am vergangenen Freitag versuchte, ein paar spanische Sätze mit ihm zu wechseln, antwortete er nur stockend und mit lateinamerikanischem Akzent.

»Bist du etwa auch Schwede?«, platzte es – zu seinem Ärger auf Spanisch – aus Navarro heraus.

»Tut mir leid«, erwiderte der Mann in auch nicht gerade flüssigem EUnglish. »Ich heiße Jorge Chavez. Und ich habe mich noch nicht endgültig entschieden, ob es so gut ist, Schwede zu sein.«

Jetzt räusperte sich Paul Hjelm geräuschvoll und sagte: »Es gibt ein schwedisches Gruppenmitglied, nämlich Arto Söderstedt. Dass der Chefposten mit einem Schweden, also meiner Wenigkeit, besetzt wurde, ist reiner Zufall. Der Direktor ist, wie ihr wisst, Brite, und die stellvertretenden Direktoren kommen aus Frankreich, Italien und Spanien. Die großen Länder haben also keinen Grund, sich zu beklagen.«

»Ich frage mich nur«, warf der Süditaliener Fabio Tebaldi ein, »ob die schwedische Polizei tatsächlich in der Lage ist, bei schweren internationalen Verbrechen angemessen zu reagieren. Da oben im Norden seid ihr doch weitgehend verschont davon.«

»Das ist ein Mythos«, entgegnete Jorge Chavez. »Der Mythos vom idyllischen nordischen Paradies. Aber das ist Bullshit.«

»Ihr seid jedenfalls gut darin, euch neutral zu verhalten«, warf Corine Bouhaddi angriffslustig ein.

»Na, na«, meinte Paul Hjelm beschwichtigend. »Wir haben uns wirklich bemüht, die Gruppe so repräsentativ wie möglich zusammenzustellen. Wir haben eine gerechte Geschlechter- und Altersverteilung, und ich glaube, dies gilt auch in geografischer Hinsicht.«

»Ich bin der Meinung, dass das gar nicht der springende Punkt ist«, stimmte ihm Miriam Hershey zu. »Ich bin britische Jüdin und fühle mich durchaus repräsentiert. Lasst uns das Thema beenden und zu den wichtigen Dingen kommen.«

»Nämlich: Gibt es irgendwelche Aufträge für uns?«, ergänzte Laima Balodis, als wären die beiden Zwillinge.

Paul Hjelm starrte das ungewöhnliche Duo einen kurzen Moment lang an und antwortete dann: »Nein.«

»Nein?«, kam es aus der Menge.

»Noch nicht. Aber jetzt sind wir jedenfalls bereit. Are we ready?«

Wie im Umkleideraum einer Fußballmannschaft, dachte Jutta Beyer genervt.

Die Antwort war ein Gemurmel, aus dem heraus sich schließlich eine Stimme erhob. Es dauerte eine Weile, bis es Angelos Sifakis gelang, sich Gehör zu verschaffen. Dann fragte er leise: »Aber was ist denn eigentlich in London passiert?«

»In London?«

»Was war so wichtig, dass die Vollversammlung sich gezwungen sah, das Wochenende damit zu verbringen, über Prinzipien zu diskutieren? Und schließlich zu diesem Ergebnis kam?«

»Ach so«, sagte Paul Hjelm, der auf dem Schlauch gestanden hatte. »Das.«

»Tja, das«, schaltete sich Arto Söderstedt ein. »Das war auf dem G20-Treffen in London. Ein Mann ist in meinen Armen gestorben. Ein Asiate.«

»Arto war als Beobachter dort, und er wurde nicht in kriminelle Handlungen verwickelt«, beteuerte Hjelm. »Aber das hätte genauso gut passieren können. Und dann hätte er keine Handlungsbefugnis gehabt. Wir sind am Wochenende zu dem Schluss gekommen, dass sich keiner von euch in so einem Fall machtlos fühlen soll.«

»Der Verbrecher ist möglicherweise der Linksverkehr«, sagte Söderstedt. »Weshalb ich nun doch glaube, dass es sich um einen Chinesen gehandelt hat. Japan hat Linksverkehr, China Rechtsverkehr. Der Mann hat den Polizeiwagen ganz einfach nicht gesehen, der auf der linken Spur angebraust kam.«

»Also schlichtweg ein Unfall?«, fragte Sifakis, in dessen Stimme möglicherweise eine Spur Enttäuschung mitschwang.

»Schlichtweg ein Unfall«, bestätigte Paul Hjelm. »Wenn auch ein ziemlich außergewöhnlicher.«

»Aber er wollte etwas von mir«, sagte Söderstedt. »Er hat mir etwas zugeflüstert. Unmittelbar bevor er starb.«

»Arto, das haben wir doch schon ausdiskutiert«, wiegelte Hjelm ab, und er klang müde. »Du musst das vergessen. Das weißt du. Selbst wenn es irgendeinen Verdacht auf ein Verbrechen gäbe, wir haben keinerlei Anhaltspunkte. Das Opfer ist noch nicht einmal identifiziert. Aber sein ungewöhnlicher Tod hat die Opcop-Gruppe aktiviert, und die wird jetzt in ihre wunderbare Bürolandschaft zurückkehren, fleißig ihre internen Mails lesen und abwarten, bis ich angemessene Aufträge ausgemacht habe. Das Meeting ist hiermit beendet.«

Die Opcop-Gruppe blickte ihren Chef verdutzt an. Das epochemachende Meeting verlief gewissermaßen im Sande. Wie ein spärliches Rinnsal in einem trockenen Flussbett verließ die Gruppe den Raum. Nur drei Männer blieben zurück.

Es waren Paul Hjelm, Arto Söderstedt und Jorge Chavez, und die Erleichterung der drei, wieder Schwedisch sprechen zu können, war deutlich.

»Mir fällt gerade ein, dass ich noch nie zuvor einen Chefposten innehatte«, sagte Hjelm. »Hoher Polizeibeamter war ich, ja. Aber nie Chef. ›Are we ready?‹ Meine Güte, wie peinlich.«

»Jetzt weißt du jedenfalls, wie Politik funktioniert«, meinte Chavez.

»Nun komm schon«, warf Söderstedt ein. »Du bist jetzt schon einen Monat lang der Chef von diesem Haufen. Es läuft doch gut.«

»Ich weiß, dass du die Sache mit diesem Chinesen weiterverfolgen wirst«, sagte Hjelm und sah ihm in die Augen. »Aber jetzt wissen alle von dem Vorfall. War es denn wirklich nötig, das hier aufs Tapet zu bringen?«

»Ich hab doch gesagt, du weißt jetzt, wie Politik funktioniert«, wiederholte Chavez. »Arto hingegen weiß es nicht. Aber er ist ja auch nicht der Chef.«

»Lediglich hoher Polizeibeamter«, warf Söderstedt ein. »Außerdem will ich, dass die Sache auf unserer Agenda steht.«

»Offenbar hast auch du gelernt, wie es in der Politik läuft«, sagte Chavez. »Das hätte ich von unserem ungekrönten König der Fettnäpfchen nicht erwartet.«

Paul Hjelm legte seine Hände flach auf das Katheder und betrachtete sie eine Weile. Dann sagte er: »Wie steht ihr eigentlich zu dem Ganzen? Meint ihr, Opcop ist eine Totgeburt?«

»Es wird nicht einfach werden – aber das Modell ist vermutlich das einzige zukunftstaugliche«, meinte Söderstedt. »Jedenfalls, wenn wir die großen Schurken fangen wollen. Wir entwickeln uns gerade zu einer Gesellschaft, in der man einfach davonkommt, wenn man das Verbrechen über die Grenzen verschiebt.«

»Aber steuern wir so nicht auf eine Überwachungsgesellschaft zu?«, entgegnete Hjelm. »Haben wir nur die Wahl zwischen dem einen oder dem anderen?«

»Das sollten wir lieber heute Abend bei einem Bier diskutieren«, meinte Chavez. »Bis jetzt ist es jedenfalls herrlich, Strohwitwer zu sein, Jungs.«

»Das bin ich schon seit dem Jahreswechsel«, klagte Hjelm. »Während du erst am Freitag gekommen bist. Das ist ein Unterschied.«

»Aber dafür hast du meine Frau für ein paar Wochen hiergehabt, du Bandit«, konterte Chavez.

»Das ist eben die Kehrseite der Arbeit im Ausland«, meinte Söderstedt. »Ab morgen bin ich übrigens nicht mehr allein. Meine Familie zieht hierher.«

»Oh, wirklich?«, stieß Hjelm aus. »Davon hast du noch gar nichts erzählt.«

»Ich habe es nicht zu hoffen gewagt, aber jetzt scheint es in der Tat zu klappen. Anja hat aushandeln können, dass sie für ihren Job nicht vor Ort sein muss, und wir haben ja nicht mehr so viele Kinder im Haus.«

»Nicht mehr als vierzehn?«, fragte Chavez.

In dem Moment ertönte ein eigentümlicher Summton aus Hjelms Computer auf dem Katheder. Mit einer routinierten Handbewegung klickte er mit der Maus ein Symbol an und sagte: »Es ist an der Zeit, die Akustik dieser Kathedrale zu testen.«

Ein bläulicher Blitz schien durch den Versammlungsraum zu zucken. Es dauerte einen Moment, bis sie ihn an einer bestimmten Stelle an der Wand lokalisierten. Ein bläulich blitzendes Quadrat leuchtete in der Reihe der dunkelgrauen Flächen auf. Auf dem Bildschirm erschien ein weibliches Gesicht. Es sah allerdings gar nicht sanftmütig aus. Eher aufgebracht. Die Wangen waren leicht gerötet.

»Oh, Mann!«, platzte es aus Söderstedt heraus. »Schließt schnell die Türen. Wenn die anderen das zu sehen bekommen, werden sie Pogrome gegen uns Schweden anzetteln.«

»Hallo«, sagte die dunkelhaarige Frau auf dem Bildschirm. »Funktioniert es?«

»Du hast gerade unsere neu installierte Europol-Videokommunikationsanlage eingeweiht«, erklärte Paul Hjelm. »Hallo, Schatz.«

»Schatz?«, wiederholte die Frau. »Ist das hier nicht ein offizieller Europol-Kanal?«

»Er kann es sein«, antwortete Hjelm. »Und zwar dann, wenn ich es sage.«

»Die Macht ist ihm tatsächlich zu Kopf gestiegen«, seufzte Jorge Chavez. »Ich bin voll und ganz deiner Meinung, Kriminalkommissarin Kerstin Holm, das hier ist ein offizieller Europol-Kanal, der nicht mit Privatgesprächen kontaminiert werden darf.«

Auf dem Bildschirm tauchte ein anderes Gesicht auf. Mit blonden kurzen Haaren, aber ebenso unverkennbar weiblich.

Beim Anblick dieses Gesichts fuhr Chavez fort: »Hej, Schatz, bist du etwa auch da?«

»Wer ist denn dieser eigentümliche Spanier?«, fragte Sara Svenhagen in Stockholm und machte wieder Platz für ihre Chefin.

»Es handelt sich hier um einen offiziellen Anruf von der schwedischen Einheit der Opcop-Gruppe in Stockholm«, sagte Kerstin Holm.

»Das Ganze erinnert allerdings mehr an eine Schlangengrube«, ließ Arto Söderstedt verlauten.

»Seht zu, dass ihr diesem aufmüpfigen Finnen das Maul stopft«, forderte Kerstin Holm, »und hört gut zu, was ich zu sagen habe.«

»Ich höre«, erwiderte Paul Hjelm klar und deutlich.

Kerstin Holm räusperte sich und sagte: »Ich glaube, ich habe den ersten Fall für die Opcop-Gruppe aufgetan.«