Vorspiel
Stockholm, 6. April
Aus ihrem neuen Bürofenster betrachtet, sah der Frühling irgendwie anders aus. Zwar hatte der April begonnen wie sonst auch – mit heftigen Wetterumschwüngen –, und auch die ersten kühn emporstrebenden Knospen im wie üblich vernachlässigten Innenhof des Polizeigebäudes erinnerten sie an die Vorjahre.
Dennoch schien die Tatsache, dass sie nun in einem anderen Raum in einem anderen Teil des Gebäudes auf Kungsholmen in Stockholm saß, offenbar ihre Wahrnehmung verändert zu haben.
Die Macht der Gewohnheit, dachte sie. Wie stark sie doch ist. Unser gesamter Organismus strebt nach Regelmäßigkeit, Gewohnheit, Wiedererkennung. Während unsere Seele, solange sie am Leben ist, letztlich nach dem Gegenteil strebt.
Wir sind für immer und ewig dazu verdammt, uns gespalten zu fühlen. Bei dem Gedanken musste sie laut auflachen. Doch als sie ihr eigenes Lachen hörte, verstummte sie sofort und warf instinktiv einen Blick zur Decke. Schließlich sah sie ihren Blick im Spiegel und wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte.
Im Großen und Ganzen agierte Kriminalkommissarin Kerstin Holm wie ein beschatteter Mensch.
Dieser Fall, der noch kaum als Fall bezeichnet werden konnte, war ihr bereits bis ins Mark gedrungen. Etwas an ihm vermittelte ihr ein körperliches Unbehagen. Das erstaunte sie. In all ihren Jahren als Polizistin hatte sie bedeutend schlimmere Dinge erlebt. Aber dieser Fall kam ihr völlig unberechenbar vor. Er öffnete der Polizei ganz neue Türen, bei denen sie sich nicht sicher war, ob man sie wirklich aufstoßen sollte.
Das Stockholmprogramm, dachte sie. Das umfassende Programm der EU zur gemeinsamen Überwachung und Bekämpfung des Terrorismus. Eine Bezeichnung, die nach Kerstin Holms Geschmack etwas zu sehr an das Stockholmsyndrom erinnerte. Mit Sicherheit war eine Zusammenarbeit der europäischen Staaten bei grenzüberschreitenden Verbrechen unabdingbar. Aber darüber hinaus ging es auch um eine erweiterte Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA. Durch die Speicherung des digitalen Fingerabdrucks diverser Mitbürger sollte eine Überwachung effektiver gestaltet werden. Außerdem sollten während des EU-Gipfeltreffens in Stockholm im Dezember gesetzliche Hindernisse für Überwachung, Abhörverfahren und Analysen aus dem Weg geräumt werden.
Veränderungen, dachte sie. Der Organismus reagiert abwehrend darauf, aber die Seele? Wollte sie diese Veränderungen wirklich? War es tatsächlich das einzige Gegenmittel für die immer cleverer und rücksichtsloser werdende zunehmend grenzüberschreitende Kriminalität?
In seiner Gesamtheit war das Stockholmprogramm gegenüber den RaV-Gesetzen von ungeheurer Dimension.
»RaV-Gesetze« war die allgemeine Bezeichnung für eine Reihe von schwedischen Gesetzesänderungen, die zum vergangenen Jahreswechsel in Kraft getreten waren und die Schaffung des »Gesetzes über die Personenfahndung innerhalb des Nachrichtendienstes der Verteidigung« möglich gemacht hatten. Das bedeutete unter anderem, dass die Radioanstalt der Verteidigung, eben die RaV, künftig das Recht hatte, im Radio- und Kabelverkehr zu fahnden, also über Internet- und Telefonleitungen mithilfe von Suchbegriffen, zum Beispiel Organisationsnamen oder Codewörtern. Solche Begriffe konnten beispielsweise Wörter wie »Kinderpornografie« sein.
Da die RaV jedoch nicht vor dem 1. Oktober Zugang zu den Netzen der Telefonanbieter erhalten würde, kam die Entscheidung, die in Den Haag getroffen und auch Auswirkungen auf die Arbeit in Stockholm haben würde, etwas unerwartet.