Die Putzfrau

Nacka, Stockholm, 2. April

Wie die Putzfrau einige Stunden später selbst zugeben würde, wusste sie, dass sie spätestens um neunzehn Uhr das Haus hätte verlassen haben müssen. Aber sie wusste nicht, aus welchem Grund. Es hatte irgendetwas mit dem Alarm zu tun. Mit der Alarmanlage des Hauses. Sie brauchte an nichts weiter zu denken, so hatte man ihr eingeschärft, an nichts, außer an die Alarmanlage und daran, dass sie die Haustür um spätestens 19:00 Uhr von außen zuschloss. Bis dahin sollte sie alles geputzt haben.

Der ersten Vernehmungsleiterin gegenüber sagte sie aus, sie putze die Villa einmal die Woche, immer donnerstags, und es gäbe dort keine Besonderheiten. Es war eine Villa unter vielen. Die Putzfrau war bisher keinem der Familienmitglieder begegnet, nur als sie sich vorstellte, hatte die Frau des Hauses ihr ausführlich erklärt, was alles zu tun sei. Seither waren donnerstags alle außer Haus. An diesem Tag traf sie ohnehin keinen an, denn die Eheleute waren über das verlängerte Wochenende nach Paris geflogen, und ihr Sohn wollte bei einem Freund übernachten.

Möglicherweise spielte dieses Wissen eine gewisse Rolle bei den nachfolgenden Ereignissen. Denn sie war etwas entspannter, während sie putzte. Summte ein altes Volkslied aus ihrem Heimatdorf Bengbu vor sich hin, aber ohne Erinnerungen aufkommen lassen zu wollen.

Doch was sie dazu verleitete, sich auf das Sofa im Wohnzimmer zu legen, und weshalb sie obendrein auch noch einschlief, blieb ein Rätsel. Dergleichen hatte sie noch nie zuvor getan. Sie erledigte ihre Putzaufträge immer einwandfrei. Denn sie hatte große Angst, etwas falsch zu machen.

Wie alle anderen auch.

Und dennoch passierte es.

Sie hatte fertig geputzt, das alte Volkslied hallte noch in ihr nach, sie war zufrieden mit ihrer Arbeit – und fühlte sich in einer Art und Weise frei, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr erlebt hatte. Sie setzte sich aufs Sofa und fand sich bald in einer halb liegenden Position wieder, sank tiefer und tiefer in die Polster, die die angenehmsten waren, auf denen sie je gelegen hatte. Das Sofa wiegte sie in den Schlaf.

Eigenartig aber war, dass sie zwei Minuten vor 19:00 Uhr erwachte. Es dämmerte bereits, und sie brauchte eine ganze Weile, bis sie begriff, wo sie war. In dem Moment sprang die Uhr des luxuriösen DVD-Players auf 18:59 Uhr um. Und erst da fiel es ihr ein.

Sie sprang förmlich vom Sofa auf, raffte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und rannte in Richtung Haustür. Sie sah die Tür am Ende des unendlich langen Korridors und die kleine Box an der Wand daneben, das Gerät, das sie unter keinen Umständen berühren durfte.

Sie war schon lange nicht mehr gerannt, und sie war zu langsam.

Zwei Meter von der Haustür entfernt hörte sie, wie es in dem Gerät an der Wand klickte und das Kästchen einen dumpfen Summton von sich gab, bevor ein kleines blaues Lämpchen an seiner Unterkante aufleuchtete und zu blinken begann.

Sie stürzte auf die Tür zu, hielt jedoch inne, als ihre Hand bereits wenige Zentimeter über dem Türgriff war. Wie verhext starrte sie auf das Gerät mit dem blinkenden Lämpchen. Es war mit einer kleinen Uhr ausgestattet, auf der eine Zeitangabe zu lesen war. 06:30.

Das muss die Alarmanlage sein, dachte sie, obwohl es ihr schwerfiel, klar zu denken. Die Alarmanlage war aktiviert. Wenn sie den Türgriff jetzt herunterdrückte, dachte sie weiter und zog sachte ihre Hand zurück, würde der Alarm ausgelöst werden. Die Anlage würde anfangen zu piepen und zu lärmen, die Nachbarn würden angerannt kommen, bewaffnete Securityleute würden auftauchen, und sie würde nicht nur ihren Job verlieren, sondern außerdem im Gefängnis landen, die Polizei würde sie vernehmen, und ihr gesamtes Leben würde in die Brüche gehen.

Sie atmete aus. Und zog die Hand endgültig zurück. Zwang sich, nachzudenken. Vermutlich bedeuteten die Zahlen 06:30 auf dem Display, dass der Alarm morgens um halb sieben deaktiviert wurde.

Wenn es ihr gelänge, nicht in einem Anflug von Panik den Türgriff herunterzudrücken und die Tür aufzureißen, blieben ihr zwei Möglichkeiten. Sie könnte entweder ihre Arbeitgeber in Paris anrufen, sie bei ihrem romantischen Wochenendausflug behelligen und damit hinnehmen, dass sie ihren Job verlieren würde, nachdem man sie gehörig ausgeschimpft hätte. Aber immerhin würde sie aus der Villa kommen. Doch sie könnte auch etwas anderes tun.

Die Eheleute waren weit weg, mit ihnen müsste sie nicht rechnen. Der Sohn allerdings war ein Unsicherheitsfaktor. Aber danach zu urteilen, wie sein Zimmer allwöchentlich aussah – es sauber zu machen nahm jedes Mal mehr als die Hälfte der Zeit in Anspruch –, würde er wohl kaum vor morgen früh um halb sieben hereingestürzt kommen. Es bestand höchstens das Risiko, dass er heute Abend zu Hause auftauchen würde, weil er irgendwelche Utensilien für die Übernachtung bei seinem Freund vergessen hatte, oder dass er eine Party plante, weil er sturmfrei hatte. Aber die würde er sicher auf den morgigen Freitag legen. Und dann wäre sie längst weg.

Nein, das wahre Risiko waren die Nachbarn. Sie könnten sie morgen früh sehen und die Polizei rufen. Aber sie kannte die Nachbarn, jedenfalls einige, da sie auch bei ihnen putzte. Außerdem besaß sie die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen.

Sie blieb neben der beängstigend blinkenden Alarmanlage stehen und versuchte, so rational zu denken, wie sie es lange nicht mehr getan hatte. Es stand schließlich viel auf dem Spiel. Sie war nicht legal in diesem Land.

Allmählich nahm der Entschluss, im Haus zu bleiben, Form an. Sie würde ganz einfach über Nacht bleiben. Keiner würde etwas davon erfahren. Sie würde ihren Job retten. Außerdem war es nicht gerade so, dass zu Hause irgendjemand auf sie wartete. Und nach ihrem Zuhause sehnte sie sich nun wirklich nicht. Denn es war kein richtiges Heim. Eine heruntergekommene Einzimmerwohnung mit Küchenecke im fünften Stock in Vällingby, die sie sich mit drei anderen illegalen Putzfrauen teilte, die nicht unbedingt das Verlangen verspürten, ihre eigene Bude zu putzen, wenn sie nach einem vierzehnstündigen Arbeitstag nach Hause kamen.

Ja, dachte sie, warum sollte sie nicht für eine Nacht bleiben und ein wenig Luxus genießen? Aus der Not eine Tugend machen? Natürlich durfte sie kein Licht machen. Oder sie musste sich in den Räumen ohne Fenster aufhalten oder in den Räumen mit diesen lichtundurchlässigen Jalousien, die sie so ungern abstaubte.

Die Villa war so groß, dass es in der Tat ein vollständig eingerichtetes Zimmer ohne Fenster im Erdgeschoss gab. Es war das Arbeitszimmer des Mannes und in der Regel leicht zu putzen. Der Hausherr hatte offenbar einen Sinn für Ordnung.

Aber sie hatte nicht vor, ins Arbeitszimmer zu gehen. Nein, völlig unerwartet begann sie mutig zu werden. Sie wollte ins Schlafzimmer der Eheleute hinaufgehen, jenes Zimmer mit den am dichtesten abschließenden Jalousien, dem großen Flachbildschirmfernseher an der Wand und den vielen DVDs. Außerdem wollte sie etwas essen. Sie wusste, was sich im Kühlschrank und in den Küchenschränken befand. Die zahlreichen Köstlichkeiten würden wahrscheinlich schlecht werden, wenn sich ihrer keiner erbarmte.

Sie schlich in die Küche. Es war immer noch hell genug, um auch ohne Beleuchtung etwas sehen zu können, und das Licht im Kühlschrank brauchte sie wohl nicht zu fürchten. Außerdem konnte sie ja den kleinen Knopf herunterdrücken, damit das Licht nicht anging.

Sie kannte den Kühlschrank in- und auswendig, denn eine ihrer wichtigsten Aufgaben bestand darin, ihn zu putzen. Ihre Arbeitgeberin hatte nämlich keine besonders ausgeprägten hausfraulichen Qualitäten. Nach außen wollte sie einen perfekten Eindruck machen, aber einer versierten Putzfrau reichte ein kurzer Blick hinter die Fassade aus, um ein ganz anderes Bild zu erhalten. Die Frau des Hauses war eine richtige Schlampe.

Jeden Donnerstag musste sie den Kühlschrank vollständig ausräumen und säubern, und am darauffolgenden Donnerstag sah er dennoch wieder so aus, als hätte dort ein Meteorit eingeschlagen.

Dennoch gab es dort auch eine Reihe hochwertiger Lebensmittel, die bereits fertig zubereitet waren. Sie hatte sich zwar nie ganz an die fremdartige schwedische Kost gewöhnt, warum auch immer, aber es gab genügend anderes. Schmackhafte Käsesorten, leckeres Brot, sogar einige ausgesuchte asiatische Delikatessen – und Wein. Aber ganz so weit wollte sie es dann doch nicht treiben. Keinen Wein.

Sie deckte ein kleines Tablett mit verschiedenen Leckereien und nutzte die letzten Spuren des Tageslichts an diesem Aprilabend, um die Treppe hinaufzusteigen. Als sie das Schlafzimmer betreten hatte, warf sie vorsichtig einen Blick aus dem Fenster. Niemand, keine Nachbarn, die in ihre Richtung schauten. Vorsichtig zog sie die Jalousien herunter und vergewisserte sich, dass sie das Fenster bis über den Rahmen hinaus abdeckten. Nun konnte kein Lichtstrahl nach draußen dringen.

Sie stellte das Tablett auf einen leeren Nachttisch, ging zum Fernseher, nahm die Fernbedienung in die Hand und begann zu zappen. Doch sie verlor schnell die Lust. Lieber wollte sie einen richtigen Film sehen.

Sie fand die DVD unmittelbar. Ang Lee. Wunderbar. Der Regisseur, der ihre Gedanken lesen konnte. Wo Traum und Wirklichkeit ein und dasselbe waren. Wo hu cang long. Oder: Crouching Tiger, Hidden Dragon.

Die folgenden zwei Stunden vergingen wie im Flug. Als der Abspann des Films lief, stellte sie fest, dass das Tablett leer war. Außerdem musste sie auf die Toilette.

Die Uhr auf dem DVD-Player zeigte kurz nach halb zehn an. Vielleicht sollte sie sich noch etwas zu essen holen? Und möglicherweise einen weiteren Ang-Lee-Film ansehen. In der DVD-Sammlung gab es mehrere.

Sie griff sich das Tablett und ging vorsichtig die Treppe hinunter. Inzwischen war es im Haus stockdunkel. Aber sie tastete sich langsam und bedächtig voran. Als sie am Arbeitszimmer des Mannes vorbeikam, registrierte sie darin einen Lichtschein. Vor Schreck ließ sie das Tablett fallen. Scheppernd krachte es auf den Boden. Der Nachhall schien unendlich. Ihr Herz pochte heftig.

Ist der Sohn etwa nach Hause gekommen? Sitzt er dort drinnen und surft heimlich auf dem Computer seines Vaters?

Sie schlich bis zur Tür. Ihr Herz schlug wie verrückt in ihrer Brust. Dann warf sie einen Blick in den Raum. Jetzt hatte sie nichts mehr zu verlieren.

Doch da war niemand.

Sie wagte sich weiter in das Arbeitszimmer hinein. Schließlich konnte sie den gesamten Raum einsehen.

Kein Mensch weit und breit. Aber der Computer war eingeschaltet. Kreisförmige Gebilde huschten in eigentümlichen Mustern über den Bildschirm. Sie ging auf den Schreibtisch zu, griff nach der Maus und bewegte sie leicht.

Da erschien ein völlig anderes Bild auf dem Bildschirm. Eine Internetstartseite. Eigentlich nichts Besonderes, aber es war merkwürdig, dass der Mann vergessen hatte, den Computer auszuschalten, bevor er nach Paris gefahren war.

Sie setzte sich und begann langsam, den Inhalt des Computers zu erforschen. Sie wollte herausfinden, was er für Geheimnisse barg. Sie öffnete das E-Mail-Programm. Sollte sie wirklich einen Blick hineinwerfen?

Sie hatte bereits so viele Tabus gebrochen, dass es nun anscheinend keinerlei Grenzen mehr gab. Aber zunächst ging sie die Liste der zuletzt aufgerufenen Seiten durch, und dann begab sie sich selbst auf die Suche im Internet.

Nach einer Weile tippte sie einen langen, schwer zu buchstabierenden schwedischen Begriff ein, woraufhin es ungewöhnlich lange dauerte, bis die Trefferliste erschien. Danach gab sie dasselbe Wort in die Suchfunktion des Computers ein. Keine unmittelbaren Treffer.

Mit rasendem Puls begann sie, die E-Mails durchzusehen. Es kam ihr vor, als werfe sie einen verbotenen Blick in das Herz eines fremden Menschen.

Die Zeit verging. Viel Zeit.

Sie las eine ganze Menge. Und sah noch mehr.

Sie sah Dinge, die sie nicht sehen wollte.

Als sie plötzlich ein Geräusch hinter sich hörte, drehte sie sich erschrocken um. Mit offenem Mund blickte sie in zwei beachtliche Pistolenläufe. Zwei Männer standen mit gezogenen Waffen im Arbeitszimmer.

All ihre Albträume wurden mit einem Schlag Realität. Sie starrte auf die Schusswaffen und begriff, dass ihr Leben zu Ende war. Es war eine glasklare, vollkommen rationale Erkenntnis.

In dem Moment kam ein dritter Mann ins Zimmer. Er ging auf sie zu und nahm behutsam, aber bestimmt ihre Hände von der Tastatur. Als sie zu ihm aufschaute, sah sie, wie unglaublich groß er war.

Der Mann räusperte sich und hielt ihr seinen Polizeiausweis hin. »Mein Name ist Kriminalkommissar Jon Anderson von der Abteilung Internetkriminalität der Reichskriminalpolizei«, sagte er mit fester Stimme. »Kann es sein, dass Sie im Internet nach Kinderpornografie gesucht haben?«