Fremder Vogel
London, 6. April
Das Leben als Ornithologe in London war eine fortwährende Prüfung. Denn die außerordentlich dicht bebaute Großstadt hatte keineswegs eine große, artenreiche Vielfalt an Vögeln zu bieten. Umso größer die Herausforderung, pflegte ihr Mentor Cuthbert von der ornithologischen Abteilung der Natural History Society immer zu sagen, doch sie hegte den Verdacht, dass er wegen seiner zunehmenden Leibesfülle immer seltener die Neigung verspürte, seine Wohnung bei Charing Cross zu verlassen. Cuthbert hatte von seinem durchgesessenen Sofa aus eine ganze Reihe erstaunlicher Beobachtungen auf seinem Balkon im dritten Stock gemacht und dokumentiert, doch sie war sich nicht sicher, ob er diese Neuntöter und Teichrohrsänger, diese Kreuzschnäbel und Haubentaucher und die Weihen tatsächlich in der realen Welt gesehen hatte. Aber laut sagen würde sie es nicht.
Immerhin war es Cuthbert gewesen, der sie vor zwanzig Jahren an die Hand genommen hatte, eine aufgeregte junge Nachwuchsornithologin, die sich in allzu hohem Maß für Vögel interessierte. Er hatte sie neben seinem Geborgenheit vermittelnden, beleibten Körper in der U-Bahn Northern Line platziert, wo er bis hinauf nach Golders Green sitzen blieb und sie dann eilig aus dem Waggon schob, während er sagte: »Also los, Audrey, du wirst sehen, was für eine schöne Wanderung ich für dich geplant habe.«
Als der frühe Morgenzug zwei Jahrzehnte später an der völlig menschenleeren Station seine Türen mit einem Ruck öffnete, hallten Cuthberts Worte in ihr nach, als hätte er sie gestern gesagt. Und genau genommen war seitdem auch nichts Besonderes mehr geschehen. Zwanzig Jahre ihres Lebens ohne ein einziges herausragendes Ereignis. Audrey interessierte sich immer noch in allzu hohem Maß für Vögel. Für sie waren die Vögel im Laufe der Zeit zu mit Flügeln ausgestatteten Boten aus einer besseren Welt geworden. Den Rest ihres Lebens verharrte sie sozusagen in eingefrorenem Zustand bei Cuthbert, bei der ersten Wanderung durch Hampstead Heath, bei dem Augenblick, als sie von seiner Homosexualität erfuhr, ohne es allerdings richtig zu begreifen.
Es war immer noch eine schöne Wanderung. Eigentlich ihre Lieblingswanderung. Sobald man die eintönigen Viertel nordwestlich des Parks hinter sich gelassen hatte, befand man sich mitten in der Natur.
Es war kalt, die Aprilsonne hatte es gerade erst über den Horizont geschafft. Audrey trug wie immer robuste Kleidung – das Wetter stellte für einen erfahrenen Ornithologen nie ein Problem dar –, und als sie durch das Tor des kleinen Tiergeheges im Golders Hill Park oben im Nordwesten wanderte, war sie scheinbar ganz allein.
Sie spazierte entlang ihrer gewohnten Strecke durch Hampstead Heath – oder genauer gesagt entlang Cuthberts Strecke, die ihr in den zwei Jahrzehnten in Fleisch und Blut übergegangen war. In den eigentlichen Park hinein, den Hügel hinauf bis zum Hill Garden und dann durch die etwas bewaldetere West Heath, die ihr immer etwas gruslig vorkam. Sie hatte Schwierigkeiten, sich an diese merkwürdigen Auswüchse an den Ästen und unten im Moos zu gewöhnen, und es wurde eher noch schlimmer, seitdem sie wusste, um was es sich dabei handelte. Sie verspürte keinerlei Lust, sie aufzusammeln. Noch nie hatte sie diese ekligen Dinger angefasst, und sie hatte auch nicht vor, jetzt damit anzufangen.
Glücklicherweise wurde sie durch eine Amsel abgelenkt, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein völlig unterschätzter meisterhafter Sänger in seinem geschmeidigen, schwarz glänzenden Federkleid. Wieder fröhlicher, überquerte sie die verlassen daliegende Straße und gelangte ans Ufer des Vale of Health Pond, wo sie durch ihr Fernglas hindurch deutlich die bunten Gefieder eines Königsfischerpaares erkennen konnte, das im Gebüsch am Ufer im leichten Frühlingswind mit den Flügeln schlug. Ihr Federkleid erinnerte sie irgendwie an Weihnachtsbaumschmuck.
Dann tauchte Audrey in den belaubtesten Teil von Hampstead Heath ein. Sie bahnte sich geradewegs zwischen den Bäumen von East Heath hindurch einen Weg und entdeckte mit ihrem Adlerblick eines der unverwechselbaren Rotkehlchennester zwischen ein paar Baumwurzeln. Sie ging in gebührendem Abstand in die Hocke und verharrte dort vollkommen reglos. Die Brutsaison der Rotkehlchen hatte gerade begonnen, und mit etwas Glück würde sie eine Anzahl von Eiern im Nest vorfinden, das wie eine akkurat geformte Schale aus Moos, Laub und Gras dalag. Und ganz richtig, als sie langsam das Fernglas anhob, erblickte sie vier wohlgeformte gelbbraune Eier mit rotbraunen Flecken, die auf der Grasschicht in der kleinen Schale lagen. Das Rotkehlchenweibchen kam von einem Zweig heruntergehüpft und legte sich wieder in dem Nest zurecht, wobei seine wunderschöne ziegelrote Kopf- und Brustzeichnung geradewegs in die Linsen von Audreys Fernglas leuchtete. Sie ließ das Fernglas sinken, schob die Finger in die Jackentasche, griff nach ihrem Handy, machte ein Foto von dem Rotkehlchenweibchen auf seinen Eiern und schickte es an Cuthbert.
Sie blieb noch eine Weile hocken und beobachtete den kleinen Boten. Die bekannte wohlige Ruhe überkam sie. Dankbar nahm sie die Botschaft ihrer Anverwandten aus einem vorherigen Leben entgegen.
Dann setzte sie ihre Wanderung fort. Sie erreichte den kleinen Bach, der durch East Heath floss, überquerte ihn, wich dem Sportplatz am Rand der Parliament Hill Fields aus und begann den Grabhügel zu erklimmen. Die Bäume wurden von Grasflächen abgelöst, das Blickfeld weitete sich. Aber noch immer war keine Menschenseele in Sicht. Als sie sich auf den Grabhügel setzte, der der Legende nach die Überreste von Königin Boudicca enthielt, die einst den Aufstand gegen Cäsar angeführt haben soll, war sie vollkommen allein in dem großen Park.
Damals war es nicht so gewesen. Vor zwanzig Jahren gingen genau hier, auf diesem Grabhügel, ihre so lange zurückgehaltenen Gefühle mit ihr durch, und sie warf sich regelrecht auf diesen beleibten gutmütigen Mann, der in einem früheren Leben ganz sicher ein Adler gewesen war. Sie verspürte ein so starkes Verlangen nach ihm.
Doch er schob sie ruhig, aber bestimmt von sich und sagte: »Oftmals komme ich nicht als Ornithologe hierher, Audrey. Ich komme her, um mich in West Heath mit Männern zu treffen, verstehst du?«
Sie verstand nicht, sie begriff nur, dass sie abgewiesen worden war und er ihr einen Korb gegeben hatte. Erst mehrere Jahre später stellte sie fest, dass die ekligen Auswüchse, die unten in West Heath jede Nacht auftauchten, Kondome waren. Benutzte Kondome.
Sie befand sich am obersten Punkt von Hampstead Heath und blickte hinunter über die lang gezogene Silhouette der Stadt. Dann richtete sie ihr Fernglas auf den Bird Sanctuary Bathing Pond. Sie hoffte, dass die Schellenten bereits zu dem Teich zurückgekehrt waren, diese kompakten kleinen schwarz-weißen Seevögel mit den goldgelben Augen. Sie wusste, dass sie selbst in ihrem früheren Leben so einer gewesen war. Ein Goldeneye. Durch die Nebelschwaden hindurch erkannte sie hin und wieder die Konturen träge dahingleitender Seevögel, aber es gelang ihr nicht, die Arten zu bestimmen.
Sie justierte ihr Spezialfernglas, das eine hohe Lichtstärke hatte, und fing den goldenen Blick des Entenpärchens ein, der sich plötzlich durch den Nebel hindurchschob. Genau in dem Moment, als ihr vor lauter Glück ein zaghaftes Pfeifen entschlüpfte – das dem Lockruf der Schellente ziemlich ähnelte –, zog sich der Nebel zurück und ließ sie noch etwas anderes hinter dem schwimmenden Vogelpaar erkennen. Ein weißes Stück Stoff, das hinter einem Baum in dem Waldstück auf der anderen Seite des Teichs hervorlugte.
Genau in dem Augenblick kräuselte sich die Wasseroberfläche aufgrund einer Windbö, die nicht nur dafür sorgte, dass sich der Nebel weiter lichtete, sondern auch das Stoffstück leicht angehoben wurde. Hinter dem flatternden Weiß erblickte Audrey noch etwas anderes. Sie konnte nicht genau ausmachen, was es war, aber es veranlasste sie dazu, aufzustehen und dort hinüberzugehen.
Ohne auch nur einem einzigen Menschen zu begegnen, gelangte sie hinunter auf die Straße, die zwischen dem Model Boating Pond und dem Bird Sanctuary Pond verlief. Vorsichtig, um das Schellentenpaar im Teich nicht zu stören, trat sie zwischen die Bäume. Und stand plötzlich vor dem schrecklichsten Anblick ihres Lebens.
Es war eine Art Kunstwerk. Aber ein sinnlos zerstörtes Kunstwerk. Die Frau lag in einer auffällig entspannten Position, bequem zurückgelehnt gegen einen Baum, während ein anderer, etwas dünnerer Baumstamm sich von rechts über sie neigte und so ihren Körper quasi einrahmte. Sie war nackt, aber das weiße Stoffstück, das an ein Laken erinnerte, bedeckte ihre Scham und ihre angewinkelten Knie, zudem war ein Zipfel hinter ihrem rechten Arm befestigt, der an dem Baum über ihrem Kopf lehnte. Der angewinkelte linke Arm, in dessen Hand ihr Kopf ruhte, war mit dem Ellenbogen auf einen Stein am Boden gestützt. Es war der Kopf, der den beschaulichen, nahezu pietätvollen Eindruck der Szene störte. Vom Gesicht war nämlich nicht mehr viel übrig. Der ganze Körper war weiß, so auch das Gesicht, aber es waren keine Gesichtszüge mehr zu erkennen, alles war derart geschwollen, dass Augen, Nase und Mund nur noch als Andeutungen auszumachen waren.
Audrey betrachtete die Szenerie. Es schien ihr, als wäre die Zeit stehen geblieben. Sie wusste, dass sie in Panik aufschreien würde, aber nicht sofort. Anstelle des Menschen reagierte die Ornithologin in ihr, die jederzeit die Kamera bereithielt. Sie nahm das Handy aus ihrer Jackentasche, richtete die Szene mit dem Teich im Hintergrund aus und betätigte den Auslöser. Vollkommen ruhig schickte sie das Foto an Cuthbert, wie sie es immer machte, und steckte das Handy wieder zurück in die Tasche.
Dann nahm die Zeit wieder Fahrt auf. Als ihr Schrei ertönte, hatte er nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Lockruf der Schellente. Bevor sie umfiel, sah sie noch, wie das Schellentenpaar von der Oberfläche des Teiches abhob. Die goldenen Augen der Vögel blickten sie an wie eine Fremde.
Das Erste, was Chief Inspector Ralph Dryden vom Metropolitan Police Service, besser bekannt als Scotland Yard, an dem Handyfoto auffiel, während er durch den endlos langen Korridor ging, waren die Vögel. Zwei eigentümliche Piepmätze, die im Bildhintergrund von der Wasseroberfläche abhoben. Er wusste nicht, ob er schon jemals solche Vögel gesehen hatte. Gab es die in London überhaupt?
Es existierten natürlich bessere Bilder, professionelle Polizeifotografien, aber dieses Handyfoto zeigte die außergewöhnliche Unberührtheit des ersten Anblicks. Während er den Tragen auswich, die den engen Korridor säumten, betrachtete er die merkwürdig drapierte Leiche. Das gesamte Arrangement verkörperte eine gewisse Bewusstheit. Etwas nahezu Ästhetisches.
Als er mit dem Oberschenkel gegen eine Trage stieß, ließ er das Handy in die Hosentasche gleiten und nahm stattdessen die Polizeifotos aus dem Kuvert. Die Nahaufnahmen von dem demolierten Gesicht überblätterte er rasch – davon würde er bald noch mehr als genug zu sehen bekommen – und zog stattdessen ein Bild hervor, das aus einer seitlichen Perspektive während der Bergung der Leiche aufgenommen worden war. Der Anblick der am Baumstamm klebenden Haare, die abgerissen worden waren, als das Personal der Rechtsmedizin die Leiche bewegt hatte, ergriff ihn dermaßen, dass er mit dem anderen Oberschenkel gegen eine weitere Trage stieß. Stolz darauf, keinen Fluch ausgestoßen zu haben, erreichte Dryden die richtige Tür.
Entweder hat Fitzherbert Dienst oder Mallory, dachte er, öffnete die Tür und hoffte auf Ersteren. Er hatte gewisse Schwierigkeiten, mit Mallory zu kommunizieren.
»Ralphie.« Doktor Hazel Mallory stand hinter der kreideweißen Leiche und nickte ihm zu, während sie sich ein Paar Latexhandschuhe abstreifte.
Vermutlich hatten seine Probleme mit ihr damit zu tun, dass sie ihn immer Ralphie nannte. Doch im Moment war er nicht einmal in der Lage, sich darüber aufzuregen.
Die Leiche lag auf dem Rücken, den Kopf sichtlich entspannt gegen die linke Hand gelehnt.
»Was ist das denn?«, entfuhr es Dryden, während er mit dem Finger darauf zeigte. »Rigor mortis?«
»Gewiss«, antwortete Mallory und berührte die Hand der Leiche. »Aber vor allem Klebstoff.«
Als sie an der Hand zog, sah er, wie fest die unteren Fingergelenke an der aufgequollenen Wange klebten.
»Wie die Haare auch.« Dryden nickte.
»Wie die Haare, die Oberschenkel und die andere Hand auch. Das Laken war an den Oberschenkeln und am rechten Unterarm festgeklebt, und der Hinterkopf klebte, wie du weißt, am Baum. Ein extrem starker Klebstoff. Spezialkleber. Er ist bereits zur Analyse geschickt worden, ebenso das Laken und die Haarsträhnen.«
Chief Inspector Ralph Dryden seufzte, klickte das Handyfoto des eigenartigen Fräulein Audrey Watts erneut an, das die Metropolitan Police von einem absonderlichen Kauz namens Cuthbert Lanning erhalten hatte, und schüttelte den Kopf.
»Es ist also keine Einbildung«, sagte er finster, »sie werden wirklich immer verrückter.«
»Wir haben es natürlich selbst in der Hand, ob wir als Zyniker enden wollen oder nicht«, entgegnete Hazel Mallory mit einem schwachen Lächeln.
Dryden betrachtete sie. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, den Menschen hinter der Maske wahrzunehmen. Und diese Frau schien in der Tat kein dummer Mensch zu sein. Tatsache war, dass es sich bei Hazel Mallory um eine recht stilvolle, intelligente Frau in den Vierzigern handelte. Und in einem kurzzeitigen Anflug von Einsicht wurde ihm klar, dass er offenbar deswegen gewisse Schwierigkeiten hatte, mir ihr zu kommunizieren.
»Sie sollte offensichtlich um jeden Preis in dieser Position verharren«, meinte er schließlich. »Erinnert dich das an etwas?«
Mallory, die ihre Aufmerksamkeit wieder der Leiche zugewandt hatte, schaute erneut auf und begegnete seinem Blick. »Ich bin schließlich nur Obduzentin ...«
»Aber ...?«
»Aber natürlich schreit es förmlich nach irgendeinem klassischen Kunstwerk.«
Dryden nickte und hielt ihr das Handy hin. Sie betrachtete das Foto eine Weile und sagte dann: »Goldeneyes.«
»Wie bitte?«
»Die Vögel«, antwortete Hazel Mallory.
Dryden spürte, dass ihm heiß wurde. Er wartete ab, bis das Gefühl verflog, und fragte dann in einem etwas formelleren Ton: »Also, was kannst du über sie berichten?«
»Wie es scheint, war sie eine kerngesunde, durchtrainierte Frau um die fünfunddreißig, hellhäutig, mittelblond, einen Meter zweiundsiebzig groß, achtundfünfzig Kilo schwer, keine besonderen körperlichen Merkmale.«
»Und die Todesursache?«
»Ich war fast fertig mit der äußerlichen Untersuchung, als du kamst, und wie du siehst, habe ich sie bisher noch nicht obduziert. Es liegt also noch keine endgültige Todesursache vor. Viel deutet jedoch darauf hin, dass sie schlicht und einfach erschlagen wurde. Die Verletzungen im Gesicht sind offensichtlich umfassend. Jemand hat mit einem Gegenstand ohne scharfe Kanten auf sie eingeprügelt, denn es sind keine äußeren Blutungen zu erkennen.«
»Lediglich aufs Gesicht?«, fragte Dryden und musterte das entsetzlich aufgequollene Gesicht, während ihn für einen Moment der Gedanke tröstete, dass er wohl nie als Zyniker enden würde. Ihn erfüllte eine tiefe Trauer um die Toten, die verstümmelten Leichen. Er spürte, wie Hazel Mallory ihn fixierte.
Sie antwortete: »Nein, es sind keinerlei sonstige äußere Verletzungen am Körper zu erkennen. Bis auf eine Sache. Aber die ist ihr nach Eintritt des Todes zugefügt worden.«
»Ich sehe es.« Dryden nickte. »Jetzt, wo du es sagst.«
Mallory hielt die freie Hand der Leiche hoch und sagte: »Ja, abgefeilte Fingerabdrücke.«
»Hm.« Dryden runzelte die Stirn. »Und ein Gesicht, das nicht zu erkennen ist. Wahrscheinlich muss man davon ausgehen, dass wir sie auch mittels DNA nicht identifizieren können. Wir kennen sie nicht, aber irgendjemand anders tut es. Sie ist eine Botschaft an jemanden. Eine Botschaft über die Köpfe der Polizei hinweg in Form eines anonymen und sehr punktuell demolierten Kunstwerks.«
Mallory machte eine flüchtige, schwer zu deutende Geste.
Dryden fuhr fort: »Wie lange ist sie schon tot? War sie bereits tot, als man sie in Hampstead Heath platzierte?«
»Ich werde hinten anfangen«, sagte Mallory und streifte ein Paar neue Latexhandschuhe über. »Sie war allem Anschein nach bereits tot, als man sie in den Park brachte. Seit ungefähr zehn Stunden. Weitere Details folgen, wenn ich meine Arbeit erledigt habe, ohne gestört zu werden.«
Dryden konnte ein leises Lächeln nicht zurückhalten. Er vollführte eine großzügige Geste mit der Hand in Richtung der Leiche, und als er Hazel Mallorys Handschuh sich zwischen die Beine der Leiche schieben sah, machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.
Genau in dem Moment, als die Tür hinter ihm zuglitt, hörte er Mallorys Stimme von drinnen: »Ralph!«
Nicht Ralphie?, dachte er flüchtig, bevor er die Tür erneut aufschob und eine gebückte Mallory mit nahezu der ganzen Hand im Enddarm der Leiche steckend sah. Es war ein beklemmender Anblick.
»Verdammt«, entfuhr es ihm.
»Hier ist irgendetwas«, sagte Mallory und zog sachte ihre Hand wieder heraus. Dryden wurde klar, dass das ploppende Geräusch, das ertönte, als die Hand wieder zum Vorschein kam, ihn noch lange verfolgen würde.
Mallory wischte einen Gegenstand ab und hielt ihn gegen das Licht. Es war ein winziges durchsichtiges Röhrchen aus Glas oder Plastik, in dessen beiden Enden zwei sehr kleine, ebenfalls durchsichtige Korken steckten. Im Inneren des Röhrchens war ein Stück Papier zu erkennen.
»Im Hintern?«, fragte Dryden und kam näher.
»Außerdem ziemlich weit hineingeschoben«, erklärte Mallory und deutete auf den Karton mit den Latexhandschuhen.
Dryden biss die Zähne zusammen und streifte ein Paar über. Dann nahm er das kleine Röhrchen in die Hand und drehte und wendete es.
»Irgendeine Kunststoffhülse«, sagte er und begann vorsichtig, einen der kleinen Korken zu bewegen. Nach einer halben Minute gab er nach. Mallory reichte ihm eine Pinzette aus ihrer umfangreichen Sammlung von Obduktionsinstrumenten auf einem Beistelltisch. Dryden nahm sie entgegen und zog einen zusammengerollten kleinen Zettel heraus. Er betrachtete das relativ grobfaserige, schwach blaugrüne Papier, rollte den Zettel vorsichtig auf dem Tisch auseinander und richtete die Lampe darauf.
Dann las er laut: »An die operative Einheit, Europol.«
Commander Andrew Crowley musterte die beiden Gestalten auf der anderen Seite des Schreibtischs und war selbst überrascht von dem Gedanken, dass sie ein schönes Paar abgeben würden. Dann überlegte er, warum ihm ausgerechnet dieser Gedanke gekommen war.
Chief Inspector Ralph Dryden gehörte nicht gerade zu seinen Topkräften, war aber ansonsten ein gewandter, relativ junger Polizeibediensteter mit akzeptablen Karrierechancen. Im Großen und Ganzen gab es nichts gegen ihn einzuwenden, allerdings war er eher unscheinbar.
Doktor Hazel Mallory hingegen war alles andere als blass. Ohne Latexhandschuhe und den obligatorischen weißen Kittel war sie eine blendende Schönheit. Commander Crowley ließ für einen kurzen Augenblick seinen sexuellen Phantasien freien Lauf.
Doch Mallory zerstörte rasch seine Träume: »Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht ganz, warum ich hier bin«, sagte sie.
Crowley blinzelte, als fühlte er sich ertappt. Dann riss er sich zusammen und sagte streng: »Ich muss mich deines Schweigens versichern, Hazel.«
»Als würde ich etwas ausplaudern!«, rief sie gekränkt. »Ich habe noch nie das Geringste ausgeplaudert. Um meine Schweigepflicht ist es weiß Gott besser bestellt als um eure. Bei euch sickern die Fakten doch geradewegs durch wie durch ein Sieb.«
»Solange die Boulevardpresse unseren unterbezahlten Polizisten ein halbes Jahresgehalt für etwas Klatsch und Tratsch zahlt, ist es schwer, etwas dagegen zu unternehmen. Aber ich spreche nicht von deiner Schweigepflicht, Hazel.«
»Ich stelle fest, dass es dir offenbar gefällt, meinen Namen auszusprechen, Andrew«, sagte Mallory scharfzüngig. »Um was geht es dann?«
»Um dein absolutes Schweigen, Hazel. Du darfst diesen Zettel nicht einmal erwähnen, weder Kollegen noch anderen Polizisten gegenüber. Du darfst ihn überhaupt nicht erwähnen.«
Mallory zog die Stirn in Falten und musterte ihn.
»Wenn das klar ist, kannst du jetzt gehen«, sagte Crowley.
Kopfschüttelnd verließ Hazel Mallory mit einem raschen, schwer zu deutenden Blick auf Dryden den Raum.
Nun las Andrew Crowley laut vor, was auf dem kleinen Zettel stand, der auf seinem Schreibtisch lag: »›An die operative Einheit, Europol.‹«
»Es gibt keine operative Einheit innerhalb von Europol«, sagte Ralph Dryden und wand sich etwas in dem unbequemen Besucherstuhl.
»Und auf der Rückseite«, fuhr Commander Crowley ungerührt fort, »›e98weriN‹ respektive ›79sYsd76‹, jeweils in einer Zeile.«
»Eine Art Code«, meinte Dryden nachdenklich und zuckte mit den Schultern.
»Ein Benutzername, ein Passwort?«, schlug Crowley vor.
»Nicht ganz unwahrscheinlich«, meinte Dryden. »Aber wofür?«
Commander Crowley beugte sich über den Schreibtisch vor und blickte Dryden an. »Es wird deine Aufgabe sein, das herauszufinden, Ralph. Und zwar ohne Kontakt zu irgendwelchen anderen Polizisten aufzunehmen und ganz ohne dein herkömmliches Team.«
»Ich verstehe nicht ganz, was diese Geheimhaltungsneurose soll«, warf Dryden ein. »Was ist denn daran so speziell?«
Andrew Crowley holte tief Luft und befingerte den handgeschriebenen kleinen Zettel.
»Europol schickt ein paar Leute aus Den Haag her. Du wirst mit ihnen zusammenarbeiten, aber mit niemand anderem.«
»Von wo?«, rief Dryden aus. »Von der ›operativen Einheit, Europol‹?«
»Das hast du gesagt«, meinte Crowley und fixierte Dryden. »Es gibt keine operative Einheit bei Europol.«