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Christine Nöstlinger

Mr. Bats Meisterstück
oder
Die total verjüngte Oma

Ein Science-Fiction-Märchen
für größere Kinder

Zeichnungen von Erhard Dietl

Verlag Friedrich Oetinger · Hamburg

Das erste Kapitel

handelt von den Schwierigkeiten, einen neuen Tag zu beginnen, von Geschwisterliebe, von einem guten Tausch und einem ruhigen Vormittag.

Robi wachte auf. Punkt sechs Uhr. Wie jeden Tag. Im Zimmer über ihm wohnte nämlich der Mann mit dem lautesten Wecker der Welt. Der Mann mit dem lautesten Wecker der Welt stand jeden Morgen um sechs Uhr auf, und wenn sein Wecker ratschte, wurde Robi munter. Robi hätte noch eine Stunde schlafen können. Im Winter, wenn es dunkel war, schlief er meistens wieder ein. Aber jetzt – es war Anfang Juni und die Sonne schien – gelang ihm das nicht.

Dabei war das eine völlig unnütze Stunde. Er durfte nicht aufstehen, denn seine Eltern und seine Schwester wollten noch schlafen. Robi dachte: Sonderbar, sehr sonderbar! Von dem Teufelswecker werden sie nicht munter. Aber wenn ich mir in aller Stille ein ordentliches Frühstück machen will, können sie nicht schlafen! Robi hätte sich gern einmal selbst ein gutes Frühstück zubereitet. So eines, wie es die Privatdetektive in den amerikanischen Kriminalromanen immer essen. Mit gebratenem Speck und Spiegeleiern und Orangensaft und Bohnenkaffee. Mit so einem Frühstück im Bauch kann man nämlich viel besser denken. Robis Mutter hätte das eigentlich wissen müssen, denn sie las an jedem Wochenende fünf Kriminalromane. Sie hätte erkennen müssen, dass nur ihr Honigbrot-Kakao-Frühstück an Robis mittelmäßigen Schulleistungen schuld war. Aber sie erkannte es natürlich nicht, und sooft es ihr Robi zu erklären versuchte, sagte sie:

»Ach was! Die Detektive duschen auch jeden Morgen eiskalt. Tust du das vielleicht? Dusch erst einmal kalt, dann kriegst du vielleicht ein Spiegelei von mir!«

Von Bohnenkaffee und Speck wollte sie überhaupt nichts wissen, weil sie fand, dass Bohnenkaffee schädlich sei, und von Gebratenem-Speck-Geruch am Morgen wurde ihr übel. Sie hatte einen zarten Magen.

Robi seufzte tief, drehte sich auf den Rücken und begann sich wieder einmal über die Holzlatten zu ärgern. Das war nämlich so: Wenn Robi am Morgen aufwachte und die Augen öffnete, sah er nur Holzlatten und dahinter ein bisschen Matratzengradl. Denn er musste im Unterteil eines Stockbettes schlafen. Im Oberteil des Stockbettes schlief seine Schwester Ena. Ena war fünf Jahre älter als Robi. Robi hielt sie für die selbstsüchtigste, habgierigste Person der Welt. Es war ein Jammer, dass er in eine Familie mit so einer Tochter geboren worden war. Ena gönnte ihm überhaupt nichts. Sie hatte den hübscheren Schreibtisch, den bequemeren Sessel, den breiteren Kasten und vor allem, sie hatte das Stockbettoberteil.

»Diese ewigen, blöden Holzlatten werden mich noch ganz verrückt machen!«, jammerte Robi jeden Abend beim Zubettgehen.

Ena sagte dann meistens grinsend: »Liebster Bruder, das ist nicht mehr möglich!«

Darauf rief Robi: »Du blödes Pferd, du!«

Und Ena dann: »Du unerzogener Bengel!«

Und Robi: »Du solltest Maxiröcke tragen. Deine Beine sind für Miniröcke viel zu hässlich!«

(Es war Robi zwar völlig gleichgültig, was und wie viel davon unter den Röcken seiner Schwester hervorschaute, aber er wusste, dass er sie damit am meisten ärgern konnte.)

Ena schrie dann: »Ohrwaschelkönig!«

Damit ärgerte sie Robi am meisten. Robis Ohren waren ziemlich groß und standen vom Kopf ab. Ena hatte genau solche Ohren, aber sie konnte die ihren hinter langen blonden Haaren verstecken.

Jedes Mal, wenn Ena über Robis Ohren zu spotten begann, kam es zwischen den Geschwistern zu den ersten Tätlichkeiten, und wenn die Mutter ins Zimmer stürzte und drohte, das Taschengeld nicht auszuzahlen, war schon der schönste Boxkampf im Gange. Die Mutter versuchte dann, die Kämpfenden zu trennen. Oft musste sie den Vater zu Hilfe rufen; der mischte sich aber nicht mehr gern in den Streit seiner Kinder ein, seit ihm einmal ein von Ena nach Robi geschleuderter Zirkel an den Kopf gesaust war. Außerdem hätte er gern gewusst, ob seine große, kräftige Ena oder sein kleiner, geschickter Robi als Sieger aus den Geschwisterkämpfen hervorgehen würde. Doch die Mutter ließ das nicht zu. Sie hatte etwas gegen Geschwisterkämpfe.

Der Vater seufzte oft: »Die zwei Kinder vom Herrn Meierbauer, die streiten überhaupt nicht.«

Und die Mutter sagte darauf: »Ach, hätten wir doch nur zwei liebe, süße, kleine Meierbauerkinder!«

Übrigens wusste jeder in der Familie Seifertiz, dass der Herr Meierbauer kinderlos war und nur zwei ewig bellende Dackel besaß.

Robi lag also wach und ärgerte sich über die Holzlatten und wartete, bis es sieben Uhr wurde. Punkt sieben lief er ins Badezimmer. Er drehte den Wasserhahn auf, schnitt dem Spiegel Gesichter, bekam versehentlich ein paar Wassertropfen ins Gesicht, erschrak darüber und drehte das Wasser sofort wieder ab. Da kam Robis Vater ins Badezimmer. Am Morgen war Robis Vater arm dran. Er war kein Morgenmensch. Er hätte seine komplette Briefmarkensammlung gegen zwei weitere Stunden Schlaf getauscht. Man konnte ihm ansehen, wie er litt, dass ihm jede Bewegung schwer fiel, dass er Mühe hatte, die Augen offen zu halten, und wie er das Gähnen unterdrückte. Robi dachte: Ausschauen tut der Herr Papa am Morgen wie das Gespenst von einem Gartenzwerg! Der Vater setzte sich auf den Rand der Badewanne und murmelte: »Guten Morgen, Herr Seifertiz!«

Dann rieb er sich die Augen und holte kleine graue Körner und gelbe, klebrige Wuzerln aus den Augenwinkeln. Während er gähnte und ein gelbes Wuzerl zwischen Daumen und Zeigefinger zerrieb, murmelte er: »Herr Seifertiz, du hast dich heute wieder einmal nicht gewaschen. Gewaschene Kinder glänzen rosig im Gesicht. Du aber hast ein fahlgelbes Gesicht.«

Robi seufzte und holte die Wascherei nach. Rosig glänzend wurde er davon keineswegs. Beim Abtrocknen erklärte er dem Vater: »Die Ohren kann ich mir unmöglich waschen. Wenn ich mir die Ohren wasche, kriege ich todsicher bis zur großen Pause Ohrenstechen und kann in der Schule nichts hören!«

Dem Vater schien das seltsame Ohrenleiden unbedenklich. Er konnte sich erinnern, als Kind ähnliche Leiden gehabt zu haben.

Die Mutter rief zum Frühstück. Ena turnte im Vorzimmer und aß ihre Morgengesundheitskarotte. Sie hatte ihr winziges Kofferradio an einer Schnur um den Hals hängen. Aus dem Radio frohlockte eine unerhört heitere Damenstimme: »Und jetzt das rechte Bein und dann das linke Bein und wieder das rechte Bein und wieder das linke …«

Ena befolgte die Anweisungen der Radiodame genau. Doch als Robi an ihr vorbei in die Küche lief, schwang ihr linkes Bein wesentlich weiter aus, als es die Radiodame wünschte, und traf Robis Hinterteil.

Beim Kaffeetrinken sagte der Vater zur Mutter: »Diese Gymnastiksendungen nehmen die Radiomenschen sicher am Abend auf Band auf. So heiter wie das Radiofräulein kann in der Früh gar niemand sein.«

Dann fragte er: »Warum turnt unsere Tochter eigentlich?«

»Sie turnt sich die Oberschenkel dicker und die Unterschenkel dünner!«, erklärte die Mutter.

»Kann man denn das?«, wollte Robi wissen.

Die Mutter schüttelte den Kopf. Robi war beruhigt.

Jetzt war es halb acht. »Um halb«, pflegte Robi zu seinen Freunden zu sagen, »um halb acht werden bei mir zu Hause alle verrückt.« Das war zwar respektlos, stimmte aber. Ena suchte um diese Zeit meistens ihr Vokabelheft oder ihr Geo-Dreieck. Die Mutter war hinter einem ganz bestimmten Lippenstift her oder suchte den Lidschatten.

Meistens fanden sich der Lippenstift und der Lidschatten in Enas Handtasche.

Robi versuchte, statt eines Jausenbrotes fünf Schilling mitzubekommen. Aber das gelang ihm nicht. Die Mutter sagte:

»Nein. Wenn ich dir Geld gebe, dann kaufst du dir Kaugummi, und der ist kein ordentliches Gabelfrühstück, weil du dauernd schluckst und er dir den Magen verklebt.«

»Kaugummi kauft er gar nicht«, bemerkte Ena höhnisch. »Er kauft sich Comics. Er ist ein Opfer der Schundliteratur.«

Robi betrachtete grimmig seine Schwester. Wenn sie wenigstens hübscher wäre, dachte er, dann würde sie vielleicht bald jemand wegheiraten.

Der Vater stand um diese Zeit an der Wohnungstür, ließ die Autoschlüssel ungeduldig um den Zeigefinger kreisen und rief immer wieder:

»Jetzt fahre ich aber wirklich. Wer mitfahren will, muss sofort kommen!«

Wenn sie dann alle im Auto saßen, waren sie immer wieder erstaunt, dass sie es geschafft hatten, rechtzeitig aus dem Haus zu kommen.

Beim Gymnasium stieg Robi aus. Der Mutter musste er noch versprechen, sofort nach der Schule zur Oma zu gehen, und zwar auf dem kürzesten Weg, und bei jeder Kreuzung zuerst nach links und dann nach rechts zu schauen und sein Käsebrot zu essen und brav zu sein. Robi sagte fünfmal »Ja, Mutti« und »Tschüs, Herr Seifertiz« und zeigte seiner Schwester die Zunge. Dann lief er zum Schultor. Dort wartete Tomi auf ihn. Tomi strahlte. In der Hand hielt er einen Stoß Kaugummi-Indianerbilder.

»Der Tausch meines Lebens«, sagte er.

»Von wem?«, fragte Robi.

»Von der Hauber Erika.«

»Was hast du dafür gegeben?«

»Ein Paar alte Ohrclips von meiner Schwester!«

»Alle Achtung!«, rief Robi. »Die Kaugummi-Indianer gehören todsicher dem Hauber Fritz, und die Ohrclips gehören deiner Schwester. Da hat ja eigentlich der Fritz mit deiner Schwester getauscht!«

»Nur wissen tun sie es nicht.« Tomi grinste zufrieden.

»Dein Glück!«

»Sowieso!«

»Sowieso« war in der Klasse gerade hochmodern. Jeder sagte seit einer Woche mindestens zwanzigmal am Tag »sowieso«. Bis vor einer Woche war »irre« hochmodern. Und die Woche vorher »eine Wucht«. Aber das sagte jetzt nur noch der Safranek. Der war immer zwei Wochen hintennach.

In der Schule war heute ein ruhiger Tag. Keine Klassenarbeit. Keine Prüfung. Die Deutschprofessorin vergaß sogar, dass sie die Dichterdenkmäler hatte abfragen wollen. In der großen Pause vertauschte Robi sein Käsebrot gegen einen Kaugummi von Basti und ein Briochekipferl von Michl. Ein so genannter Dreiertausch. Basti bekam das bebutterte Brot. Michl den Käse.

Als sie mittags aus dem Schulhaus gingen, verabredete sich Robi mit seinen Freunden Tomi, Basti, Michl und Martl für halb sechs beim Parkeingang. Martl wusste nicht, ob er kommen würde. Er hatte den ganzen Vormittag über Halsschmerzen gehabt.

»Ich glaube«, erklärte er, »in spätestens einer Stunde werde ich krank sein.«

Robi ging zur Oma. Auf dem kürzesten Weg. Bei jeder Kreuzung schaute er zuerst nach links und dann nach rechts. In solchen Sachen konnte man sich auf ihn verlassen.

Martl ging in das Halbinternat. Halb krank.

Tomi beschloss, ins Schwimmbad zu gehen. Auf ihn wartete zu Hause niemand. Seine Mutter und seine große Schwester kamen erst am Abend von der Arbeit.

Michl lief nach Hause zu seiner Mutter.

Basti begab sich in die Stadtbücherei. Er brauchte dringend ein Buch über die Mengenlehre.

Im zweiten Kapitel

gibt es Buchteln mit Vanillesoße und Rechenaufgabe, und Frau Bat kann mehr als ein gewöhnlicher Mensch. Ganz nebenbei wird eine folgenschwere Entscheidung getroffen.