Die niedrigen Platanen mit ihrer glatten Borke, die sich über kurz oder lang in unregelmäßigen Fetzen ablösen wird, waren erst vor Kurzem in der kleinen Stadt bei der Anlage einer Fußgängerzone gepflanzt worden; bald würden sie in die Form von Sonnenschirmen zurechtgestutzt werden, so wie in Südfrankreich, wo man ihren Schatten zu schätzen weiß.
Diese ehemalige ‚Hauptstraße‘ ist zu einem beliebten Treffpunkt geworden. Die Trottoirs sind verschwunden und haben einem durchgängigen Pflaster Platz machen müssen, ein Pflaster, das kunstvolle geometrische Muster erkennen lässt, die dem Auge des Betrachters ebenso viel Vergnügen bereiten wie die Skulpturen aus Stein und Bronze, die man dort aufgestellt hat. Die bunten Holzfiguren und die Springbrunnen bereiten besonders den Kindern großes Vergnügen.
Keine Autos mehr, keine Straßenbahn, die die Fassaden zittern machten und die Böhmischen Kristallgläser in der Vitrine, auf der das Familienfoto thronte, klirren ließen. Kriegsanfang. Die beiden Söhne waren auf Urlaub. Die Wehrmacht war im Vormarsch an allen Fronten. Man hatte noch genug zu essen. Noch war die Familie vollständig.
Der größere der beiden Söhne, der nicht der älteste war, zwang sich als Leutnant in der Öffentlichkeit, eine martialische Miene aufzusetzen, die so gar nicht in seiner Natur lag. Die ideologische Gehirnwäsche war auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Der ältere der beiden, eine Frohnatur, hatte sich schon als Junge immer schnell an neue Situationen anpassen können. Er bekam nie die Prügel ab, wenn sie zu spät zum Abendessen kamen ... Er verstand es, ungesehen auf seinem Zimmer und unter der Bettdecke zu verschwinden, während sein Bruder die ganze Tracht einstecken musste.
Keine Straßenbahn mehr, keine Autos, der Fußgänger ist König. Die Kinder spielen mit ihren Murmeln mitten auf der Straße, verstecken sich hinter den Platanen, spielen Fangen unter den Augen ihrer entspannten Eltern. Es lässt sich in dieser kleinen Stadt jetzt gut leben, die Stadtverordneten haben gute Arbeit geleistet. Die Bewohner sind stolz auf ihre Stadt und fühlen sich wohl. Mit Vergnügen setzt man sich auf eine der zahlreichen Bänke, wenn ein Sonnenstrahl durch das dichte Laub dringt. Alte Herren treffen sich dort zum Kartenspiel; ihre Stöcke haben sie unter der Bank abgelegt.
Natürlich können viele sich den Luxus des Müßiggangs nicht leisten. Ihre Zeit ist knapp bemessen, sie hasten zur Arbeit. Sie können nur einen flüchtigen Blick auf die Auslagen und die Preise werfen.
Unter all den Fußgängern, den eiligen wie auch denen, die Zeit zu haben scheinen, gibt es kaum einen, der zu den rosa, grünen und auch hellblauen Fassaden den Blick hebt, vielleicht mal ein Tourist, der durch seinen Reiseführer darauf aufmerksam gemacht worden ist.
Lange waren die wenigen Fassaden, die die Bomben verschont hatten und die man beim Wiederaufbau abwertend als „barock“ bezeichnet hatte, nicht mehr zeitgemäß. Man schämte sich ihrer und überpinselte sie mit einer neutralen Farbe, so zwischen Beige und Grau.
Mal ehrlich! Wozu all diese Schnörkel, die Karyatiden, die Friese? Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit waren jetzt gefragt. Man schätzte nicht mehr die unnötigen Schnörkel, die das Baujahr hervorhuben, das sich jetzt unter Fenstervorsprüngen und Erkern versteckte ... 1869 ... 1870 ...
In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts jedoch entdeckte man den Reiz dessen, was man einmal als schlechten Geschmack verworfen hatte, neu. Man strich die Fassaden bunt an, rosa neben resedagrün neben gelb, je kontrastreicher desto besser. Die architektonischen Schnörkel wurden wieder farblich hervorgehoben. Aus der alten Hauptstraße war ein heller und heiterer Salon des Rokoko geworden. Aber warum vergisst man zu oft, seine Augen zu diesen hübschen Fassaden zu erheben? Warum hat man nur einen Blick für die schreienden, aneinander gereihten Auslagen?
Die alte Dame liegt im Fenster im I. Stock. Sie stützt sich mit den Ellbogen auf ein Velourkissen mit Fransen. Seit Monaten ist sie nun wie gefangen in ihrem herrschaftlichen, neu in Rosa gestrichenen Haus, das von einem Türmchen gekrönt wird. Früher führte sie so gerne ihre Hüte ‚spazieren‘! Sie war nicht umsonst Modistin und es gehörte sich für sie, dass sie ihre Kreationen, die oft bei den regionalen Wettbeweben einen ersten Preis gewonnen hatten, spazieren führte.
Wie gerne würde sie noch aktiv an dem Getriebe, das sie unter ihrem Fenster beobachtete, teilnehmen! Sie kennt eine Menge Leute in der Stadt und der Umgebung! Sie erkennt viele der Passanten! Sie glaubt viele der Gesichter wiederzuerkennen!
Nanu! Aber nein, das ist nicht möglich! Es ist schon zu lange her, ... diese junge Frau da mit dem kleinen Mädchen ... sie hat die Mutter gekannt oder sogar die Großmutter, beide treue Kundinnen!
Und eine Flut von Namen kommen ihr ins Gedächtnis ... Aufs Geratewohl, sie bekommt Herzklopfen, sie ruft ihnen zu ...
Die junge Frau blickt auf. Sie meint, ihren Mädchenamen gehört zu haben. „Mutter ist vor einem Jahr gestorben ... ich bin die Tochter. Haben Sie meine Mutter gekannt!“
Man unterhält sich, so gut es geht, was für die schwerhörige alte Dame schwierig ist bei dem Stimmengewirr, das aus der Menge zu ihr aufsteigt. Die Kleine wird ungeduldig und will ihre Mutter zum Karussell fortziehen. Der jungen Frau tut allmählich vom nach oben Gucken der Nacken weh. Ihr Mann wird gleich nach Hause kommen; sie muss noch das Abendbrot vorbereiten. Fast fluchtartig geht sie weiter, während sie noch einen Blick auf die alte Dame wirft. „Ja, ja, ich besuche Sie einmal in den nächsten Tagen, dann können wir in Ruhe miteinander plaudern. Aber jetzt ...“
Es wird Abend. Es wird frisch. Man erkennt die Gesichter kaum noch. Ihre Tochter kommt gleich von der Arbeit und bereitet ihr eine Kleinigkeit zum Essen vor, das sie mit Mühe herunterschluckt, im Sessel hingestreckt, die Füße in eine gehäkelte Wolldecke gewickelt, die ihr eine Schwiegertochter gestrickt hat. Ihre Familie vergisst sie nicht, man beschenkt sie, man vergisst keinen ihrer Geburtstage, man besucht sie, wenn man auf der Durchreise ist. Nein, sie kann sich nicht beklagen. So viele Alte sind allein gelassen! Und sie hat ja auch Fernsehen, das sie regelmäßig von sieben bis elf abends schaut, immer dieselben Sender. Die senden sowieso alle immer das Gleiche, meistens sind es Sendungen für die Jüngeren!
Sie hat noch eine Nachbarin, die sich um sie kümmert und sie zu Bett bringt. Schließlich kann sie froh sein, dass sie noch lebt. Viele ihres Alters sind ja schon tot.
Manchmal aber möchte sie an deren Stelle sein. Manchmal beneidet sie die, deren Namen sie auf der letzten Seite der Zeitung sieht. Die Todesanzeigen geht sie täglich genau durch und stellt mit Genugtuung fest, dass weder Jugend noch Reichtum vor dem Tod bewahren. Übrigens fürchtet sie den Tod nicht. Sie versteht die Welt einfach nicht mehr. Die Leute haben es alle so eilig. Und dann all diese Ausländer. Und niemand trägt mehr einen Hut. Wo bleibt da die Eleganz?
Sie schließt das Fenster. Macht das Licht an. Zieht ihren Bademantel über, der sie schön warm hält. Schaltet den Fernseher ein.
Es ist bald sieben.
Wir wissen inzwischen, dass alles Leben aus dem Wasser kommt. Das ist aber schon so lange her, dass es mein Interesse an allem ‚Fischigen’ nicht erklären kann. Es müssen da also noch andere Faktoren im Spiel sein, die erklärungsbedürftig sind.
Da fällt mir ein, dass irgendwann in meinen jungen Jahren das Buch von einem gewissen Izaac Walton mit dem Titel ‚The complete Angler or The contemplative Man`s Recreation’ (1653) meine Aufmerksamkeit erregte. Als ich mich dann eines Tages aufmachte, um mich in fischreichen nordischen Gewässern körperlich und seelisch zu entspannen, erinnerte ich mich an das Buch und tat es zusammen mit einem Reiseführer in mein Gepäck. Als Laie erhoffte ich mir von seiner Lektüre hilfreiche Tipps für meine Fischfangversuche, und als kontemplativer Mensch erwartete ich für meinen Geist anregende Denkanstöße. Beide Erwartungen sollten dann auch von Walton erfüllt werden: Das Buch ist flott geschrieben, die darin vorkommenden Personen reden eine verständliche Sprache, nennen auch delikate Dinge bei ihrem Namen, ohne vulgär oder platt zu werden, essen und trinken lustig drauflos und üben sich auf amüsante Weise in praktischer Lebensphilosophie. Selbst Ruth, die eine Abneigung gegen Fischgerichte hat, verschlang das kurzweilige Buch geradezu mit Heißhunger, weshalb ihr die Zeit beim Zuschauen nie lang geworden ist.
Denn der Anblick eines Anglers, der da stundenlang hockt und nichts fängt, könnte bei seinen Begleitern gähnende Langeweile aufkommen lassen, es sei denn, er lässt sich von der ungeheuren Spannung, die jeden passionierten Angler befällt, der die Angel ausgeworfen hat und dann erwartungsvoll auf den Korken und seine Hände starrt, anstecken.
Der Jäger im finsteren Walde ist dauernd in Bewegung, wenn er dem Wild hinterherschleicht. Er hat ständig ein neues Landschaftserlebnis und unerwartete Begegnungen mit Ameisen, Spinnen, Zecken und anderem, nicht jagdbarem Getier. Der Angler jedoch blickt stundenlang auf eine gleichbleibend eintönige Wasserfläche. Er weiß wohl, dass sich darunter tausendfältiges Leben regt, dass da ein grausamer Kampf ums Überleben tobt, den er aber nicht sieht, es sei denn, ab und zu schnellt ein gehetztes Lebewesen aus dem Wasser, um seinen Verfolger zu täuschen, um ihm zu entkommen.
Es war in Norwegen, wo ich dieses Mal mein Zelt an einem angeblich fischreichen Zufluss zu einem Fjord aufgeschlagen hatte. Nach einem frugalen Abendbrot, bestehend aus einem Stück Brot und Ölsardinen, überkam mich ein unbändiger Appetit auf Frischfisch.
Im Gegensatz zur Jagd, bei der die Chancen ungleich verteilt sind, haben beim Angeln der Angler und der Fisch die gleichen Chancen. Es geht dabei nur um Geduld und die Frage ist, wer diese zuerst verliert. Nichts im Leben ist aufregender, als auf einen leicht auf und ab tanzenden Korken, mit dem man die Angelschnur samt Haken auf eine je nach Beschaffenheit der Jagdgründe bestimmte Tiefe eingestellt hat, zu starren. Wird das System tiefer ins Wasser gezogen, heißt das, dass Fische den Köder, einen Wurm etwa, entdeckt haben und vorsichtig daran saugen. Man täuscht sich, wenn man denn da meint, dass Fische so dumm sind, dass sie ahnungslos zubeißen. Sie wittern die Gefahr, die ihnen droht, und konzentrieren sich ganz auf den Wurm, wohl wissend, dass der Haken, an dem dieser hängt, ihr Ende bedeuten würde. Der Angler, durch Walton belehrt, muss im richtigen Augenblick die Leine ruckartig anziehen in der Hoffnung, dass sich der Haken in die Oberlippe eines Fisches bohrt. Fische mit wenig Lebenserfahrung fallen oft auf diesen Trick herein, solchen mit längerem Überlebenstraining gelingt es dagegen oft, durch einen kühnen Satz aus dem Wasser, sich vom Haken zu lösen und für dieses Mal zu entkommen.
Dieses Hin und Her kann Stunden dauern. Der vollkommene Angler spinnt derweil Waltons Meditationen weiter, damit er wach bleibt und sich nicht von der hereinbrechenden Nacht in den Schlaf wiegen lässt. Derweil wechseln Gras und Büsche ihre Farbe von Hellgrün über Dunkelgrün, bis sie endgültig ins Schwarze versinken. Noch glitzert die Wasseroberfläche wie von tausend Diamanten übersäht. In der Ferne verdunkelt sich der Himmel nur zögernd und die Sonne versinkt als glühend-roter Ball im All. Die Vögel, im Gebüsch versteckt, haben ihr Zwitschern eingestellt und sind vor den Gefahren, die ihnen aus dem Dunkel drohen, zur Ruhe gegangen. Weit draußen sind Lichter zu sehen. Sie markieren den Standort der Hochseefischer, die ihre Schleppnetze rücksichtslos über den Meeresboden ziehen.
Der vollkommene Angler ist derjenige, der zwischen nervöser Spannung und meditativer Gelassenheit die Waage zu halten versteht. Ich konnte bis spät in die Nacht aushalten und dabei Waltons Meditationen weiterspinnen. Die magere Ausbeute war es nicht Wert, kulinarisch verwertet zu werden; ich gab sie deshalb ihrem Element zurück und kroch befriedigt in mein Zelt, um mich einem gesunden Schlaf zu überlassen.
Es gibt im Leben immer wieder Augenblicke, in welchen man sich seinen Gefühlen anvertrauen sollte, Momente, in welchen das Herz besonders hoch gestimmt ist. Man sollte sich dem überlassen, hingeben, auch wenn die Zeit dazu ungünstig zu sein scheint und man meint, eine günstigere Gelegenheit abwarten zu sollen, dann würde man nicht Gefahr laufen, zu verärgern oder zu schockieren.
Er war gerade von einer anstrengenden Tätigkeit, die einen ganzen Vormittag in Anspruch genommen hatte, nach Hause gekommen. Er hatte das Gras in einem unserer Grundstücke, die lange nicht mehr gepflegt worden waren, mit der Sense schneiden müssen, weil der Mäher gegen den Wildwuchs nicht mehr ankam und der Motor dauernd abgewürgt wurde und mit einem ärgerlichen Glucksen seinen Dienst verweigerte.
Ich war währenddessen nicht untätig gewesen und hatte den ganzen Vormittag Marmelade eingekocht.
Er hatte sich auf die unterste Stufe der Treppe, die zur ersten Etage führte, gesetzt, um seine von Lehm verdreckten und schwer gewordenen Schuhe auszuziehen.
Er pflegte, einen Doppelknoten in die Schnürsenkel zu machen, um sicher zu gehen, dass sie sich während der Arbeit im hohen Gras nicht lösten. Er hätte dann seine Arbeit immer wieder unterbrechen müssen, um die Schnürsenkel wieder festzubinden, was in unserem Alter, wo einem das Bücken schwerfällt, immer beschwerlicher wird, zumal man dazu auch immer noch die klobigen Arbeitshandschuhe ständig hätte aus- und wieder anziehen müssen.
Der widerspenstige Schnürsenkel war zudem durch den an den hohen Gräsern haftenden Tau durchnässt worden. Es hatte sich ein gordischer Knoten gebildet und unser Schnitter hatte keine Lust, ihn, wie weiland Alexander der Große, mit einem Schwertstreich zu durchschlagen, sprich, mit einem Messer oder einer Schere durchzuschneiden! Er war geduldig von Natur und wollte sich mit seinen Fingern behelfen.
Ich hatte ihn, während ich mit meinem Eingemachten beschäftigt war, verstohlen beobachtet. Nach der Tätigkeit an der frischen Luft strotzte er vor Gesundheit. Er sah richtig gut aus!
Ich musste über die Hartnäckigkeit, mit der er den widerspenstigen Schnürsenkel zu lösen versuchte, lächeln, und nahm mir vor, ihm zu helfen, sobald ich das letzte Glas Marmelade gefüllt hätte. Da stieß er einen lauten Fluch aus, weshalb er mein Hilfsangebot überhört haben musste und weiter an seinen Schnürsenkeln herumfummelte.
Endlich konnte ich nicht nur mit beruhigenden Worten, sondern von Hand zur Sache kommen und kniete vor ihm nieder, als ergebene Dienerin ihres Gemahls.
Da wurde ich von einem gewaltigen Gefühl wie von einem Sturm überrascht, von einem Gefühl, das so stark war, dass ich mich nicht mehr zurückhalten konnte. Worte allein genügten mir da nicht mehr, um ihm meine große Liebe zu sagen. Ich ergriff sein Gesicht mit beiden Händen und schaute ihm tief in die Augen ... wortlos ... meine Liebe sollte in ihn eindringen ... er sollte von der gleichen Wärme, die mich durchströmte, ergriffen werden ... der Schnürsenkel sollte warten!
Aber offensichtlich waren wir nicht auf derselben Wellenlänge. Er dachte nur an diesen verteufelten Knoten, vielleicht wollte er noch schnell vor dem Essen eine Dusche nehmen. Wie um dieses peinliche Getue zu beenden, ohne mich zu brüskieren, richtete er sich auf und wollte mich küssen.
Schnell beugte ich mich. Schnell hatte ich seine Schuhe aufgeschnürt, denn meine Hände waren noch warm und flink vom Einkochen und nicht so klamm wie seine!
Er war noch mal zurückgekommen. Ihr Herz hatte heftig geklopft. Kam er zurück, um sie in die Arme zu nehmen, um das Missverständnis auszuräumen? Denn nur das war es natürlich ... ein Missverständnis. Das wusste sie wohl, ganz tief in ihrem Inneren. Trotzdem konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
Nein! Er hatte sein Portemonnaie vergessen und den Einkaufzettel.
Seine Stimme schien normal, sie zitterte nicht im Geringsten, was gezeigt hätte, dass er betroffen gewesen wäre. Dennoch glaubte sie zu spüren, dass er etwas auf dem Herzen hatte, dass er ihr etwas sagen, sich mit ihr versöhnen wollte. Sie glaubte auch, sein Zögern gespürt zu haben, um schließlich doch aufzugeben.
Sie war ihm nicht entgegengekommen. Warum denn hatte sie nicht den ersten Schritt getan?
Und jetzt war er fort, für eine Stunde, vielleicht auch für länger, und bei seiner Rückkehr würde sie nicht mehr weinen, man würde dann so tun können, als wäre überhaupt nichts passiert.
Was war denn eigentlich passiert? Er hatte sie etwas wegen einer Besorgung, die er machen sollte, gefragt. Vielleicht war sie in Gedanken vollauf damit beschäftigt, ein Essen für acht Personen vorzubereiten – wohl mit großem Vergnügen: es machte ihr immer Spaß, etwas ungewöhnliche Gerichte zusammenzustellen und diesen auf der Tischkarte, die er auf dem PC kunstvoll drucken würde, phantasievolle Namen zu geben. Ja, es machte ihr Spaß, so eine kleine Soiree mit Freunden zu organisieren, das passende Geschirr herauszusuchen, die entsprechenden Getränke zusammenzustellen. Sie konnte dennoch nicht leugnen, dass sie bei all den Überlegungen etwas gereizt war, da sie ständig unterbrochen worden war. Und jetzt war es schon fünf Uhr!
Hätte sie nicht auf der Hut sein sollen und diese Anspannung, die sie in sich hochkommen spürte, beachten und ihn einfach bitten sollen, das Radio, das sie gerade, als sie allein in der Küche war, um die Nachrichten zu hören, eingeschaltet hatte, wieder auszuschalten, für einen Augenblick nur? (China ließ vor Taiwan seine Muskeln spielen ... der zweite amerikanische Flugzeugträger war ausgelaufen ... die Konferenz für den Frieden auf Sinai ...). Sie hätte dann in Ruhe überlegen können, bevor sie antwortete.
Das hatte sie aber scheint’s nicht getan, und so kann man seine brüske Reaktion leicht erklären. „Nein, nicht immer. Manchmal, oft vielleicht! Du schaltest es ja auch nicht immer aus, das Radio, wenn ich Dir etwas sagen will!“
Vielleicht war es ihr ungeschickter Satz, der ihn verletzt hatte, dass er sein Gesicht so verzog, dass er laut wurde.
Sie hatte ihm wortlos das Buch, das er der Stadtbibliothek zurückgeben sollte, gereicht. Er hatte das Buch genommen, es, nachdem er einen kurzen Blick auf den Titel geworfen hatte, eingesteckt, seine Parka angezogen und war gegangen.
Sie rührte wie mechanisch weiter in dem Frikassee, das auf der Flamme allmählich sämiger wurde.
Gestern Abend, es wird so um sechs gewesen sein, wurde sie wieder einmal, wie soll ich sagen, lästig, ja, lästig; das aber auf eine wunderbare Weise. Auf den ersten Blick ein Widerspruch, das. Zugegeben, aber er hat sich auf eine geradezu wunderbare Weise aufgelöst, dieser Widerspruch.
Ich sitze auf der vorletzten, unteren Stufe der Holztreppe, die zu den oberen Zimmern unseres alten Bauerhauses führt. Das Haus übrigens, ein Erbstück, hatten wir trotz der großen Ansprüche, die es mit seinen dazugehörigen Ländereien an unsere abnehmenden Kräfte stellte, behalten, weil ... Aber das ist eine andere Geschichte, die mehr mit, wenn Sie so wollen, der ‚Stimme des Blutes’ zu tun hat.
Ich sitze also da, um meine nassen und mit Erde beschmutzten Arbeitsschuhe auszuziehen, eine Tätigkeit, die, wenn man müde ist, einem einige Aufmerksamkeit abverlangt, besonders, wenn man wie ich, seine Schnürsenkel aus Sicherheitsgründen mit einem doppelten Knoten zu binden pflegt. Wer von uns hat nicht schon so seine Erfahrungen mit dem Lösen von Knoten gemacht!? Ungeduld ist da ganz fehl am Platze, und das Beispiel eines Alexander des Großen ist auch nicht die ideale Lösung.
In einem derart kritischen Augenblick kniet sie vor mir nieder. Nichts irritiert mich mehr, als wenn mir jemand zu Hilfe kommen will, wenn ich kurz vor dem Ziel meiner Anstrengungen zu sein glaube.
Gegen alle Erwartungen aber nahm sie, meine Konzentration missachtend, meinen Kopf in ihre beiden Hände, hob mein Gesicht energisch hoch und zog es zu sich heran.
In solchen Augenblicken rechnet man üblicherweise mit einem Kuss, stülpt seine Lippen leicht vor, schließt die Augen und ... Aber nein, sie drückte mein Gesicht etwas von sich ab und blickte mich fragend an. Sie suchte, so schien es mir wenigstens, in meinen Augen den Ort, wo ich mit meinen Gedanken war. Sie schien die Entfernungen messen zu wollen, die ich noch zurücklegen müsste, um ganz da zu sein, wohin sie mich rufen wollte, ganz nahe, endlich da, bei ihr.
Ihre leicht wie zu einer Bitte geöffneten Lippen lösten sich zu einem Lächeln, als wäre sie von einer Last befreit, einer Last, die man auf dem Herzen trägt und endlich absetzen darf. Ihr Blick entspannte sich, ihre Augen verloren ihre Eindringlichkeit. Fast unhörbar kam es wie von weit her, nicht wie ein Hilfe-, nein eher wie ein Lockruf: „Du“, sagte sie, „schau mich nur an. Ich liebe dich so sehr.“
Weiter geschah dann auch nichts mehr, kein Wort, keine Bewegung. Wie eine warme Welle kam es über mich. Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden, was mir eher unangenehm war. Ich schämte mich wie ein kleiner Junge, der nur ungern eine Schwäche eingesteht, und schloss die Augen.
Da ging ein Ruck durch ihre beiden Hände, die meinen Kopf immer noch wie in einem Schraubstock festhielten. Sie schüttelte mich, als müsste sie mich wachrütteln.
Als ich die Augen öffnete, sah ich ihren Blick voll auf mich gerichtet. Wieder sagte sie: „Ich liebe dich so sehr!“
War es mir vorher, wie sagte ich doch, lästig, ja unangenehm gewesen, mit meinem Körper, mit meinem Blick jemandem zu Willen sein zu müssen, war jetzt jedes Gefühl von Zwang, war jetzt jede Ungeduld von mir gewichen. Eine Art forschender Neugierde erfasste mich. Als wäre es das erste Mal, entdeckte ich ein Gesicht, mit dem ich Jahrzehnte gelebt hatte, ein Gesicht, das mir, wie man so leichtfertig sagt, ganz und gar vertraut war.
Jetzt war ich es, der sie halten musste, denn sie schickte sich an aufzustehen. „Ich hab dich ja so lieb!“, sagte sie noch einmal, als sei es nun genug. Aber jetzt war ich es, der sie nicht mehr lassen wollte. Jetzt wollte ich Falte um Falte, Zug um Zug, wie in einem Buch, das man immer wieder liest, weil es einem kostbar ist, nachlesen, was unser Leben ausmachte. Leid und Freude und was sonst noch alles dazu gehört.
Wie in einem Buch, unserem Buch, blätterte ich Seite um Seite um, gründlich und lange, wie mir schien, und doch waren es nur wenige Minuten, gestern Abend.
Sie hatte sich endlich dazu aufgerafft, in dem kleinen, auf dem Speicher abgestellten Schrank Ordnung zu machen! Es handelte sich um das Esszimmerbüfett ihrer Großmutter, das später im Esszimmer ihrer Eltern seinen Platz gefunden hatte.
Seit deren Tod hatte sie es nicht mehr angerührt. Die Anrichte schien da oben unter dem Dach darauf gewartet zu haben, dass sie sich eines Tages die Zeit nehmen würde, ihre Jugenderinnerungen aufzufrischen.
Als kleines Mädchen mochte sie dieses Möbelstück besonders gern; es beeindruckte sie durch seine Größe und auch dadurch, dass ihre Mutter ihr strikt verboten hatte, dem Möbel zu nahe zu kommen, wenn sie mit ihrem Dreirad ungestüm um den Esszimmertisch fuhr.
Wenn Maman es aufmachte, konnte man eine Unmenge an hübschen, mit Blumen bemalten Tassen und Tellern erblicken. Gläser, ‚Kristallgläser‘ wie Maman sie nannte, die fein säuberlich aufgereiht waren. Sie wurden nur sonntags von Papa und Maman gebraucht. Das Kind wartete immer gespannt darauf, dass seine Eltern sie klingen ließen, wobei sie sich verliebt in die Augen schauten.
Zweifellos hatte dieses Möbel für sie einen unvergleichlichen Charme ausgestrahlt, sodass sie sich nie dazu hatte aufraffen können, es einem Versteigerer zu überlassen, so wie sie es mit den anderen Erbstücken gemacht hatte. Sie ließ es zugedeckt und hatte sich nicht weiter darum gekümmert.
Jetzt aber, als sie es einmal abdeckte, wurde sie von ihren Erinnerungen geradezu überwältigt und war so gerührt, dass sie sich einen Augenblick auf eine daneben stehende Kiste setzen musste. Dann öffnete sie mit äußerster Vorsicht Türen und Schubladen. In der linken Schublade waren Servietten aus weißem Damast, die sie gut als Deckchen für den kleinen Tisch im Wintergarten würde gebrauchen können; sie erinnerte sich noch lebhaft an die riesigen Dimensionen der Servietten von damals! Sie nahm eine heraus – mal sehen, was man später mit den anderen machen könnte; überhaupt nahm sie sich vor, bald wieder auf den Speicher zu gehen, um eine Bestandsaufnahme all dieser Schätze aus vergangenen Zeiten zu machen, um sie so oder so wieder zum Leben zu erwecken.
Als sie am Abend eine der gestärkten Servietten auseinanderfaltete und sich näher anschaute, um zu kontrollieren, ob es nötig sein würde, sie vor Gebrauch noch zu waschen, entdeckte sie eine, offensichtlich von Hand gemachte, Ausbesserung. Es war eine laienhafte Arbeit, keine professionelle. Es war nämlich früher nicht selten, dass, handelte es sich um ein neu gekauftes, sehr teures Kleidungs- oder Wäschestück, eine Tischdecke beispielsweise, man es einer Kunststopferei überließ; die aber hatte ihre Preise! Wenn das Stück nicht wertvoll oder aus der Mode gekommen war und man es nur noch zu Hause trug, oder wenn die Tischwäsche nicht mehr bei besonderen Anlässen gebraucht wurde, dann besserte man es mehr schlecht als recht selbst aus.
Sie musste lächeln, als sie sich jetzt an die verwünschten Handarbeitsstunden in der fünften oder vierten Oberschulklasse erinnerte! Eine Wochenstunde unter der Anleitung einer unscheinbar gekleideten Frau, die ihr Leben zur Hölle machte. Neben sich hatte sie ein Kästchen mit einem Sortiment Nähnadeln, Garnröllchen verschiedener Größe und Farbe stehen, die ihre Mutter während des Krieges, als alles rationiert war, nur mit Mühe hatte auftreiben können: einfachen Zwirn, Stickgarn, Garn zum Ausbessern und so weiter. Und nicht zuletzt war darin eine Kladde mit Stoffstückchen, die die Fortschritte der Schülerin, die sie in den verschiedenen Sticharten gemacht hatte, dokumentierten: linke Masche, rechte Masche, Kreuzstich, versteckte, offene, flache und hohe Nähte, Wabenmuster, Venezianische Spitze. Am schwersten auszuführen waren die winzigen, kaum sichtbaren Stiche, die sich vom Stoff fast nicht unterscheiden durften. Auf jeder Heftseite stand unten die Zensur, die man bekommen hatte: auf ihrer stand immer wieder ‚mangelhaft’.
Die Lehrerin nutzte dazu noch jede Gelegenheit, um ihr eins auszuwischen. Sie wiederholte dauernd, dass sie untalentiert sei, wenig Interesse an Handarbeiten habe, ohne deren Beherrschung ein Mädchen nun mal lebensuntüchtig sei. Ein Mädchen sei zur Hausfrau, Mutter und Gattin bestimmt. Wenn sie so weiter mache, würde sie sich eines Tages nicht einmal eine einfache Schürze anfertigen können!
Eine Schürze! Wozu denn? Gab es denn in einem modernen Haushalt noch schmutzige Arbeiten zu verrichten?
Wie eine Reliquie hatte sie eine von ihrer Mutter genähte Schürze aufbewahrt. Ihre Mutter, eine gute Hausfrau, hatte eine Menge Schürzen in dem Küchenbüffet gestapelt, links die Schürzen für schmutzige Arbeiten, rechts die schickeren, die sie nur nachmittags trug.
Sie hatte ihre Mutter öfters gefragt: „Wozu soll diese Minischürze gut sein, die du immer nach dem Mittagessen umbindest? Die würde deine Kleider sowieso nicht schützen, dafür ist sie viel zu klein! Und die hat ja gar nichts zu schützen; du machst nachmittags keine schmutzigen Arbeiten mehr!“ Ihre Mutter wusste nichts Besseres zu antworten als: „Ich mag’s nun mal so!“
Erst später hatte sie begriffen, dass es sich da wohl um einen alten, ländlichen Brauch gehandelt haben musste, als jede Landschaft ihre eigene Tracht hatte und als zur Tracht der Frauen immer auch eine Schürze gehörte, eine kostbare Schürze für den Feierabend und all die vielen festlichen Anlässe. An jenem Abend schwelgte sie geradezu in diesen Kindheitserinnerungen!
Wie hatten sich die Zeiten doch geändert! Man hing nicht mehr so an einem Kleidungsstück. Die vollen Schränke, die relativ niedrigen Preise, die Riesenauswahl, die dauernden ‚sales‘ hatten den Wert des einzelnen, lieb gewonnenen Stückes geschmälert. Und wer geht denn schließlich noch zur Schneiderin, um sich ein Kleid oder einen Mantel anfertigen zu lassen?
Eigentlich hätte sie sich nach ihren ersten, schlechten Erfahrungen mit der Schneiderei endgültig davon abwenden müssen!
Und dennoch: Nach dreijähriger Ausbildung in einer Schule für Design hatte sie eine Ausbildung in der Modebranche, im Management, in der Kalkulation, im Trendsetting gemacht, sodass sie ihre eigenen Kreationen mit den dazugehörigen Schnittmustern großen Couturiers von Mailand bis New York hatte verkaufen können und schließlich ihre Kreationen im eigenen ‚Haus‘ in der Hauptstadt vorführte.
Sie hatte ihren Mädchennamen beibehalten. Wenn ihre ehemalige Handarbeitslehrerin beim Durchblättern eines der unzähligen Modejournale, wovon die Kioske überquollen, auf ihren Namen stieße ... was für eine Überraschung!
Zwei geschlagene Stunden hatten wir in einem höchst interessanten Museum in Stockholm verbracht; es war bald Abend und Zeit, einen geeigneten Zeltplatz zu finden, wo wir die Nacht verbringen würden. Auf also zum Parkplatz, wo wir unseren Wagen abgestellt hatten.
Wir stiegen ein, ich startete den Motor und wollte losfahren. „Augenblick mal“, sagte meine Frau, „da steckt ein Zettel hinter einem Scheibenwischer.“ Sie stieg aus, um ihn zu holen und zu lesen: „Hoffentlich sehen wir uns bald wieder. Tschüss!“ Na ja, Landsleute, die sich gefreut haben, uns zu begegnen und uns grüßen ließen. Sie hätten wenigsten ihren Namen auf den Zettel schreiben sollen, vielleicht auch noch, woher sie waren. Womöglich waren es sogar Freunde, die nicht auf uns warten, aber uns wenigstens einen Gruß hinterlassen wollten.
Und was für einen Gruß! Jetzt erst sahen wir, dass die rechte hintere Scheibe eingeschlagen worden war! Ausgeraubt! Eine Aktentasche fehlte! Was war darin? Einige Bücher, meistens Reiseführer, unser Fotoapparat und Filme, unbelichtete und etwa zwei oder drei belichtete. Das ließe sich noch verkraften, aber meine Frau vermisste ihre Schlüssel, die vom Auto und vom Haus. Oh Gott! Die waren ja in der Aktentasche!
Schnell hatten wir die Schwere der Situation erfasst: Die Räuber konnten also, da sie unseren Wagen, der leicht an seinem Schlauchboot auf dem Dach auszumachen war, stehlen, wenn wir ihn irgendwo abstellten, um irgendwas zu besichtigen. Sie könnten uns unbemerkt verfolgen und bei einem Halt überfallen, in der Dunkelheit, auf irgendeinem Parkplatz, auf irgendeinem unbewachten Campingplatz – kurz: Wir waren in Gefahr, und diese Gefahr war unvorhersehbar, sie lauerte überall und jeden Augenblick auf uns.
Es waren bestimmt Landsleute, die auch wie wir in diesem Land als Touristen unterwegs waren, oder wohnten womöglich in Stockholm. An Vermutungen hatten wir keinen Mangel, sie drehten sich in unserem Kopf herum, ohne Richtung, zum Verrücktwerden das alles!
Wir suchten das Gelände nach etwas Verdächtigem ab. Es könnte ja sein, dass die jungen Vandalen, denn nur um solche konnte es sich ja handeln, sich hinter einem Auto versteckt hielten, um uns zu beobachten und sich an unserer Panik zu weiden. Jetzt hieß es, so schnell wie möglich der Polizei den Raub zu melden.
Die Polizisten nahmen unsere Personalien und die Einzelheiten des Vorgangs auf; wir würden sofort benachrichtigt, falls ... Aber „ ... in dieser Ferienzeit kommen ähnliche Diebstähle dauernd vor!!!“
Unsre Kinder saßen schweigend auf dem Rücksitz und teilten sichtlich unsere Ängste. Ich hatte fürchterliche Kopfschmerzen und Ekel. Ich setzte mich wieder ans Steuer und zwang mich, ruhig zu bleiben ... wir mussten jetzt raus aus dieser Stadt! Auf dem Stadtplan versuchten wir herauszufinden, wo wir genau waren und hielten auf einem einigermaßen ruhigen Parkplatz, um unsere Gedanken zu ordnen. Es war gerade Hauptverkehrszeit und wir standen, ob wir wollten oder nicht, unter Schockwirkung.
Es war fast Nacht, als wir endlich einen passenden Platz fanden, wo wir das Zelt für die Nacht aufbauen konnten.
Niemand schien uns gefolgt zu sein. Wir achteten besonders auf die deutschen Autos, die an uns vorbeifuhren und die manchmal, wie zum Gruß, hupten. (Anfang der 60er-Jahre zeigte man so seine Freude, wenn man im Ausland Landsleuten begegnete.) Sollten die Diebe unsere Spur aufgenommen haben?
Die Kinder aßen etwas. Wir bekamen keinen Bissen herunter. Was sollten wir nun tun?
Meine Frau war für eine sofortige Heimkehr. Sie zieht in solchen Situationen alle Möglichkeiten in Erwägung. Und der Gedanke an das Risiko, das wir eingehen würden, wenn wir unsere Reise fortsetzten, ließ sie nicht zur Ruhe kommen.
Ich, Optimist wie immer, war für die Fortsetzung der Reise. Wir wollten auf der Hut bleiben, voilà tout! Meine Frau aber ließ sich nicht so schnell beruhigen. Nun, für unser ‚Haus’, eine Wohnung in einem dreistöckigen Mehrfamilienhaus mit sechs Mietparteien, war die Gefahr gering, besonders weil eine Nachbarin unsere Wohnungsschlüssel hatte, um zweimal am Tag die Rollläden öffnen und schließen zu können.
Meine Frau ließ sich schließlich überzeugen.
Als wir nach sechs Wochen wieder nach Hause kamen, waren wir erleichtert, denn trotz meines zur Schau gestellten Optimismus war ich doch während der ganzen Reise meine Besorgnis nicht losgeworden. Um ganz sicher zu gehen, haben wir unser Türschloss auswechseln lassen.
Die Monate vergingen und wenige Tage vor unseren nächsten Ferien erhielten wir ein Päckchen von der deutschen Botschaft in Stockholm mit zwei entwickelten Filmen, ein paar Fotos, die wir während der Reise des Vorjahres gemacht hatten, und unserem angefangenen ‚Bordbuch’. Es war ein Brief dabei: Ein gewisser Herr X. hatte das Heft und die drei Filme nach der Schneeschmelze in der Nähe des Museums gefunden. Er hatte einen der Filme entwickeln lassen und auf einem Foto ein Auto mit deutscher Nummer entdeckt. Er hatte alles zur Deutschen Botschaft gebracht, die die Fundsachen an uns mit der Adresse des Finders weitergeleitet hat.
Seit dieser Zeit haben wir auf dem ersten Foto eines neu eingelegten Films unserem Auto mit dem gut sichtbaren Nummernschild den Vortritt vor allen folgenden Bildern gelassen ...
Für ihre dreieinhalb Jahre war sie schon recht gut dabei.
Wir sahen sie nicht oft, unsere Familie war in alle Himmelsrichtungen zerstreut, aber jedes Mal, wenn ihre Eltern uns auf der Durchreise in unserer Stadt besuchten, fand ich, dass sie in ihrer Entwicklung große Fortschritte machte: sie wuchs zusehends, hatte jedes Mal ein größeres Vokabular sowohl in ihrer Mutter- als auch Vatersprache.
Sie gebrauchte sogar, wenn auch manchmal falsch (aber man durfte nicht lachen, denn dann schaute sie einen groß und verwundert an: das Fräulein war schon recht empfindlich!), ein Vokabular, das man bei ihrem Alter nicht vermutet hätte!
„Sie ist sprachbegabt“, stellte mein Mann fest, der übrigens bei jeder unserer Enkelinnen eine frühe und besondere Begabung festgestellt hatte.
Wenn ich sage, dass ich sie nicht oft sah, stimmt das so nicht! In der Tat, ich ‚sah’ sie, ja ‚hörte’ sie jeden Sonntag, Dank dieser wunderbaren Technik, die uns ein Freund auf unserem Computer installiert hatte: eine Webcam, eine Kamera, kombiniert mit einem Mikrofon. Beide zusammen tragen den hübschen Namen „Skype“...
Ganz zu Anfang wusste ich nicht, worum es sich handelte, als ich diesen Neologismus zum ersten Mal hörte, und ich versuchte, den Sinn des Wortes, das mir bis dahin noch unbekannt war, aus seinem Ursprung zu erschließen. Aber mein etymologisches Wissen half mir dabei überhaupt nicht weiter. Ich gab auf und akzeptierte den Begriff einfach, kaufte die notwendigen Geräte und stürzte mich blindlings in ein Abenteuer, das mir erlaubte, Entfernungen auszulöschen und meinen Kindern und Enkelkindern nahe zu sein. Ich kam voll auf meine Kosten; so blieben wir in Kontakt; ein Kontakt auf den Ätherwellen allerdings, ein Kontakt, den man als virtuell bezeichnen könnte, den es aber zu pflegen gilt in einer Zeit, in der die Familienbande sich mehr und mehr zu lockern drohen.
Und schließlich wollten wir weiterhin ‚im Bilde’ sein und nicht ‚hinterm Mond’!
Ich erfuhr auch bald, dass Mado zu Weihnachten gerade ein kleines bonbonfarbenes, tragbares Telefon mit einem großen Display und nur ganz wenigen Knöpfen bekommen hatte, einen Apparat, den sie ständig mit sich herumtrug und zu bedienen versuchte.
Ihre ‚große’ Schwester, die gerade eingeschult worden war, hatte sie, wie es schien, sehr gut in diese Kunst eingeführt.
Vorige Tage, als sie mit ihren Eltern zu Besuch kam, hatte ich einen Augenblick gemeint, dass das, was sie in der Hand hatte, und was sie um keinen Preis loslassen wollte, ein Spielzeug war; aber sie erklärte mir sehr schnell, ohne darum ihren Apparat aus den Augen zu lassen, dass sie damit ihre Eltern aus dem Kindergarten, wohin man sie jeden Morgen brachte, jetzt würde anrufen können ... „Man weiß ja nie, du verstehst doch, Omi!“ Ja, ich ‚verstand’.
„Und dann, Omi, weißt du, es sind da auch noch Spiele drauf, aber nur zwei; warte, ich zeig dir die. Damit kann ich mir die Zeit vertreiben, wenn ich mich langweile! Willst du auch einmal?“, und sie rückte auf dem Sofa näher an mich heran. „Aber, weißt du, wenn ich vier bin, werde ich ein anderes, viel besseres bekommen, auf dem noch andere Sachen drauf sind, ein ganzer Haufen!“
Ich war hin- und hergerissen: Ich hätte laut lachen mögen, wenn ich nicht beunruhigt gewesen wäre. Hatte ich doch letztlich einige Artikel gelesen über die Gefahren, denen Kinder durch die Mobiltelefone ausgesetzt wären. Die Frage, wie gefährlich elektromagnetische Wellen sein können, war noch nicht endgültig beantwortet. Angeblich absorbiert das Gehirn eines Kindes 60 % mehr an schädlichen Strahlen als das eines Erwachsenen!
Sie schien meine Gedanken zu lesen, was mir zeigte, dass sie die Diskussionen, die ihre Eltern über dieses Thema geführt hatten, verfolgt hatte, denn sie platzte heraus: „Da ist auch ein Lautsprecher drin. Ich halte deshalb den Apparat weit vom Kopf weg und höre trotzdem, weißt du. Aber so bin ich wenigstens voll ausgerüstet, verstehst du, Omi?“ Wieder hatte ich ‚verstanden’!
Ich war so gerührt, dass ich Mühe hatte, an mich zu halten. Ich nahm Mado in die Arme, drückte sie fest an mich und küsste sie wieder und wieder. Aber sie machte sich schnell wieder los: „Warte, ich zeige dir noch etwas!“
„Schoß!“,
Das war vor kaum zwei Jahren.
Sie stieß mich an und riss mich aus meinen Gedanken.
Ich wollte schließlich unserem Gespräch – die Elektronik ist nun nicht meine Stärke! – eine andere Wendung geben. Ich stellte ihr Fragen über ihre Freundinnen, ihre große Schwester, ihre Lehrerin ...
„Omi, tu dich direkt vor den Skype, damit ich dich besser sehen kann!“