Hanna Dietz

Das Geheimnis von

WICKWOOD

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Hanna Dietz,
geboren 1969 in Bonn, arbeitet als freie Journalistin
für Fernsehen, Hörfunk und verschiedene Zeitschriften.
Darüber hinaus veröffentlicht sie belletristische Romane und
Sachbücher, die regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste
zu finden sind. Mit der Thriller-Trilogie »Zu schön zum Sterben«
wurde sie auch beim jüngeren Publikum bekannt.
Hanna Dietz lebt mit ihrer Familie in Bonn.

Außerdem von Hanna Dietz im Arena Verlag erschienen:
Gefährliche Gedanken
Gefährliche Gefühle
Gefährliche Lügen

 

 

 

 

 

 

 

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1. Auflage 2015
© 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80471-2

www.arena-verlag.de
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PROLOG

Wahrheit ist nichts wert, wenn sie niemand glaubt. Keinen Pfifferling ist sie wert, nicht den Dreck unter den Schuhen, nicht das Schwarze unter den Fingernägeln.

Ich hatte mal gedacht, die Wahrheit stünde über allem, wäre ein heiliges Gut, etwas, das sich zu bewahren lohnt und das sich am Ende durchsetzen wird.

Jetzt, nach all dem, was geschehen ist, weiß ich es besser.

Nicht die Wahrheit setzt sich durch, sondern das, woran die Menschen glauben wollen. Menschen wollen keine Wahrheit. Sie wollen ihre Überzeugungen bewahren. Denn die sind es, die ihre kleine Welt zusammenhalten. Die ihnen das Gefühl der Sicherheit geben und die sie nachts ruhig schlafen lassen.

Die Wahrheit ist für sie ein Angriff auf ihre Welt. Und um ihre Welt zu schützen, gehen einige Menschen sehr weit. Dafür sind sie bereit, andere als Lügner zu beschimpfen. Oder zu ermorden.

Dabei ist es nicht so, dass die Wahrheit für mich sehr angenehm ist. Im Gegenteil: Mir ist vielleicht das Schlimmste passiert, was einem Menschen passieren kann. Ich habe die Wahrheit über mich selbst herausgefunden. Ich weiß jetzt, wozu ich fähig bin.

Jacob sagt, es sei nicht meine Schuld. Es sei diese Tasche gewesen, diese verdammte Tasche, die mich verführt hat. Aber ich weiß es besser. Es war nicht die Schuld der Tasche, dass das Mädchen verunglückt ist. Es war meine Schuld. Ganz allein meine Schuld.

Nur ist das etwas, das ich niemandem erzählen kann. Denn sonst würde man mich für verrückt halten. In die Klapsmühle stecken. Oder ins Gefängnis. Die Wahrheit ist auch für mich gefährlich.

Ich habe etwas erlebt, das weit jenseits jeder Vorstellungskraft liegt.

Ich habe ein furchtbares Geheimnis entdeckt, aber niemand glaubt mir.

Ich habe etwas getan, aber ich darf es keinem verraten.

Wahrheit ist nichts wert, wenn sie niemand glaubt. Keinen Pfifferling ist sie wert, nicht den Dreck unter den Schuhen, nicht das Schwarze unter den Fingernägeln. Und dennoch wiegt sie schwerer als jede Lüge. Sie lastet auf mir wie ein gigantischer Felsbrocken.

Jacob sagt, ich solle alles aufschreiben. Dann würde es mir besser gehen. Doch ich weiß nicht, ob es mir jemals wieder besser gehen wird. Versuchen muss ich es. Sonst verliere ich den Verstand. Denn selbst ich, die ich all das erlebt habe, habe Schwierigkeiten, es zu glauben.

Nur das Papier, auf das ich meine Geschichte schreibe, wird geduldig sein und keine Zweifel äußern. Und das ist der erste tröstliche Gedanke seit langer Zeit.

KAPITEL 1
MITTWOCH, 1. OKTOBER 1997

Die Schule lief bereits seit über zwei Wochen und die Sommerferien waren nur noch eine Erinnerung, die wie das Grün der Bäume langsam verblasste. Ich versuchte immer noch, mir einzureden, dass ich mich daran gewöhnen würde. Dass bald alles besser würde. Es fiel mir allerdings von Tag zu Tag schwerer. Mein Leben hatte einen Zustand der Ödnis erreicht, der kaum noch zu übertreffen war. Meine beste Freundin war nach Texas gezogen, Tausende Meilen von hier entfernt. Mein Vater, mit dem es jedenfalls hin und wieder was zu lachen gab, arbeitete, seit die Filiale von Stocklen Industries in Crowsville geschlossen worden war, in der Zentrale in Chicago und fuhr nur am Wochenende die 382 Meilen runter zu uns nach Wickwood.

Ich war also unter der Woche allein mit meiner Mutter, und ich musste feststellen, dass das Zusammenleben mit einer Person, die einem fremd war, noch viel einsamer machte als das Alleinsein. Vor allem, wenn sie einem ständig auf die Pelle rückte, mit ihrem Putzlappen wedelte und Belehrungen und Zurechtweisungen wie Staubflocken aufwirbelte, die sich in meinem Kopf zu dem einen Gedanken zusammenfügten: Du kannst es ihr sowieso nicht recht machen.

Alles an meiner Mutter war pragmatisch: die kurzen braunen Haare, die floral gemusterten Blusen mit den umgekrempelten Ärmeln, die kurzen Fingernägel, das automatische Lächeln. In der Küche trug sie natürlich eine Schürze, als ob Flecken auf ihren aschgrauen Tweedröcken auffallen würden. Wobei es überhaupt fraglich war, ob sie jemals Flecken produzierte. Denn in unserer ganzen Wohnung blitzte und blinkte es und vermutlich hätte man sogar Operationen auf dem Küchentisch durchführen können ohne nennenswertes Risiko einer Bakterieninfektion.

Ich fragte mich öfter, für wen sie eigentlich diese Hausfrauennummer abzog. Schließlich war nur ich hier und ich gab mir redlich Mühe, keinerlei Begeisterung für ihren Putzfimmel zu zeigen, um sie nicht auch noch darin zu bestärken. Natürlich war meine Rebellion gegen die Diktatur der Hygiene rein theoretischer Natur. Wie so viele Eltern verfügte meine Mutter nur über eine äußerst niedrige Toleranzgrenze gegenüber Widersprüchen aller Art. Immerhin hatte ich durchgesetzt, dass sie nur einmal in der Woche den Sauberkeitsstandard meines Zimmers kontrollierte. Dazu hatte ich eine ausgeklügelte Taktik, jeden Freitag mein Zimmer in einen vorzeigbaren Zustand zu versetzen: eine saubere Tarnfassade und dahinter das Chaos.

An diesem Mittwochmorgen setzte ich mich im Bett auf, ließ die Beine herunterbaumeln und versuchte, mir Gründe einfallen zu lassen, warum das heute auch ohne meine beste Freundin Melanie ein guter Tag werden würde.

Auch heute fiel mir nur einer ein. Und das war natürlich Tom. Tom Porter. Tom war Senior auf der Harold-Brockman-Highschool. Auf anderen Highschools mochten die Quarterbacks der Footballmannschaften die begehrtesten Jungs sein, bei uns war es Tom. Er war Gitarrist und Sänger der Schulband mit dem unbescheidenen Namen Hall of Fame und jedem war klar, dass er irgendwann genau dort landen würde. Genau wie sein großes Idol Eric Clapton, den Tom sehr verehrte und den er bei jedem Auftritt erwähnte. Toms Schönheit war zwar nicht perfekt, die blauen Augen vielleicht etwas zu nah beieinander, die Nase nicht ganz gerade, aber das störte kein bisschen. Denn er hatte dieses Leuchten. Wie ein Fernseher, der ständig lief und den man anstarren musste, auch wenn man gar nicht hingucken wollte. Obwohl er mit seinen blonden kurzen Haaren eher der nordische Typ war, hatte seine Haut auch im Winter den bronzenen Ton des Sommers und seine Lippen waren immer so rot, als hätte er gerade Himbeersirup getrunken oder ein Mädchen geküsst. So wie er durch die Gänge schlenderte, mit lässigem Schritt und siegessicherem Blick, der einen mitten ins Herz traf, war sofort klar, dass dieser Typ auf die Bühne gehörte.

Ja, Tom Porter war definitiv ein guter Grund, aufzustehen und in die Schule zu gehen.

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Aus der Küche strömte der Duft nach Vanille. Es war Mittwoch: Waffeltag. Meine Mutter huschte emsig zum Herd und legte eine frische Waffel auf meinen Teller. Dann reichte sie ihn mir mit einem wie aus dem Klischee-Lehrbuch für Begrüßungen geträllerten »Guten Morgen, Stella«.

»Danke, Mom«, sagte ich und mir schnürte sich die Kehle zu. Frühstücken war absolut nicht mein Ding. Um sieben Uhr in der Früh war mein Magen generell nicht auf Nahrungsaufnahme eingestellt. Aber meine Mutter hatte eine genaue Vorstellung von einer geregelten Nahrungsaufnahme, und das Frühstück auszulassen, war in ihrem Konzept nicht vorgesehen.

Ich setzte mich an den Tisch und nahm einen Schluck Orangensaft.

»Iss«, sagte sie und kippte, noch ehe ich protestieren konnte, Ahornsirup auf meine Waffel. Ihr Biorhythmus und meiner waren definitiv nicht synchron. Dazu besaß meine Mutter ein Talent, das sie zur Vollkommenheit getrieben hatte. Das Tadeln. Darin war sie ungekrönte Meisterin, und zwar in allen drei von ihr selbst erschaffenen Kategorien: dem gegenwärtigen Tadeln (»Wie sehen denn deine Haare aus! Hast du das Kämmen verlernt?«), dem vorausschauenden Tadeln (»Du wirst doch sicher nicht schon wieder vergessen, nachher mit Grandpa seinen Rundgang zu machen?«) und, als besondere Spezialität, dem Nachkarten. Sie tadelte nämlich bevorzugt für Dinge, die so weit in der Vergangenheit lagen, dass sie nach den Internationalen Statuten für harmonisches Zusammenleben überhaupt nicht mehr erwähnt werden durften. Leider hatte meine Mutter von den Internationalen Statuten für harmonisches Zusammenleben noch nie was gehört.

»Jetzt, wo Melanie endlich weg ist, solltest du wirklich wieder mehr Wert auf dein Erscheinungsbild legen«, sagte meine Mutter, wobei sie pikiert den Mund verzog.

»Was soll das denn bitte schön heißen?«, fragte ich verblüfft. Meinen dunkelblau-weiß gestreiften Pullover und die dunkelblaue Jeans, aus der ich gerade die Bügelfalte rausgeknetet hatte, die meine Mutter trotz meiner Proteste immer wieder reinbügelte, meinte sie doch wohl nicht.

»Also, bitte. In Bell’s Bar & Grill seid ihr beide rumgelaufen wie zwei von dieser Prostituiertenband.«

Ich starrte sie an. »Meinst du etwa … die Spice Girls?«

»Ja, so nennen die sich wohl.« Sie rümpfte die Nase.

»Erstens sind die Spice Girls keine Prostituiertenband. Und zweitens … wer hat dir das eigentlich erzählt?«

»Kristin hat’s Susan erzählt und Susan hat es mir erzählt. Leider zu spät. Sonst hättest du was erleben können, Fräulein.« Sie fing an, mit einem Microfasertuch das Waffeleisen zu reinigen.

»Aber ich hatte ganz normale Klamotten an«, gab ich, jedes Wort einzeln betonend, zurück.

Melanie hatte mir eine von ihren coolen Löcher-Jeans geliehen. Dazu hatte ich meine Bluse vorne auf Bauchnabelhöhe zugeknotet, anstatt sie langweilig in den Hosenbund zu stecken. Es war unser letzter gemeinsamer Abend gewesen und den hatten wir gebührend feiern wollen. Was aber nicht wirklich geklappt hatte, schließlich war der Anlass ein zu trauriger gewesen. Melanie würde nach Texas ziehen, ihre Eltern hatten irgendwo in der Wüste eine kleine Farm gekauft, wo sich keiner über den Lärm aus ihrer Steinhauerei beschweren und sie ihren künstlerischen Drang ungestört ausleben konnten. Melanie erzählte, dass sie noch nicht mal Telefon dort hätten. Sie versprach zu schreiben, wenn sie denn mal zu einem Postamt kommen würde, dabei grinste sie so fröhlich, als ob sie sich auf das große Abenteuer freute. Mir war die ganze Zeit eigentlich zum Heulen gewesen, denn ich befürchtete, dass wir nie wieder was voneinander hören würden. Von »gebührend feiern« also keine Spur.

»Normal? Nennst du das etwa normal, wenn eine Jeans zerlöchert ist?«, keifte meine Mutter jetzt richtig los.

»Das nennt man Mode! Das ist total angesagt«, rief ich.

»Um Gottes willen! Und was kommt als Nächstes? Schneidet ihr euch Löcher in die Pullis? Oder in die Unterwäsche?« Ihre Stimme hatte diesen Schrillton erreicht, der mir bedeutete: Ich musste hier raus. So schnell wie möglich.

»So läufst du mir nicht mehr rum, ist das klar, Fräulein?«, zeterte meine Mutter weiter. Ich stürzte das Glas Saft hinunter, packte mir ein paar Waffeln in die Lunchbox und lief schon hinaus. Im Gehen schnappte ich mir meine Jacke und den Schulrucksack. Jetzt fehlte nur noch eines, dachte ich gerade, und da kam es auch schon: »Sonst endest du noch irgendwann wie Gloria Barnett!«

Natürlich. Mit diesem Satz pflegte meine Mutter ihre Moralpredigten zu garnieren, um mir die schrecklichen Folgen von Lasterhaftigkeiten jeder Art vor Augen zu führen. Gloria Barnett war irgendeine gelangweilte Hausfrau gewesen, die sich in den Sechzigerjahren hier in Wickwood zu Tode gesoffen hatte. Sie war das einzige Schreckgespenst in dieser kleinen ruhigen Stadt. »Wickwood – Hier wohnt der Frieden« – so hieß es vollmundig unter dem Stadtwappen mit dem Raben am Ortseingang. Der Tod dieser Gloria Barnett war schon so eine Ewigkeit her, dass er heute nun wirklich niemanden mehr interessierte. Jedenfalls mich nicht.

»Und vergiss ja nicht, heute Nachmittag die Medizin für Grandpa abzuholen!«, schaffte meine Mutter mir noch zu befehlen, bevor die Tür hinter mir ins Schloss fiel.

Ich wünschte mir nur eins: dass endlich irgendetwas passieren würde, damit sich mein Leben änderte.

Ich war ja so dumm gewesen. Unfassbar dumm.

Draußen atmete ich erst einmal auf. Wobei das mit dem Aufatmen in Wickwood relativ ist. Wie fast jeden Morgen herrschte dichter Nebel. Schon in der Grundschule hatten wir gelernt, dass dies ein meteorologisches Phänomen war, das sich aus der geografischen Lage von Wickwood erklärte: Die Stadt lag in einem Talkessel auf einem Höhenzug und das verführte die Wolken dazu, genau über Wickwood eine Rast einzulegen, zu Boden zu sinken und es sich bequem zu machen, bis Sonnenstrahlen sie erst um die Mittagszeit aufgelöst hätten. Im Herbst und Winter dauerte das auch gerne schon mal länger und man musste schon ein besonders sonniges Gemüt sein, um bei dem trüben Licht nicht depressiv zu werden.

Im Anbau neben unserer Garage brannte Licht. Dort wohnte Großvater, seit Granny gestorben war. Die Garage war vollgestopft mit verstaubten Kisten, in denen Unterlagen aus seiner ehemaligen Arztpraxis und anderer Kram lagerten, für den in seinem kleinen Appartement kein Platz war. Meine Mutter drängte ihn immer wieder, das Zeug wegzuwerfen. »Ich verliere Stück für Stück meine Erinnerungen, da werde ich doch nicht meine Sachen wegschmeißen!«, hatte er an einem seiner besseren Tage gesagt und damit war das Thema vom Tisch gewesen.

Ich glaube, Mutter wartete nur auf den Tag, an dem ihm mit seiner Erinnerung an die Kisten auch die Argumente für das Aufheben abhandengekommen sein würden.

Ich schob mein Rad aus der Garage und runter bis zur Straße. Wir wohnten in einem weiß getünchten Holzhaus ganz am Ende der Walnut Street. Am Gartenzaun blühten Stockrosen in Gelb und Rosa, daneben eine Reihe violetter Astern. Hinter unserem Haus fing direkt der dichte Wald an, der ganz Wickwood umschloss und sich rings um die Stadt die Hänge hinaufzog. Die Kronen der Bäume waren wie so oft in Nebel getaucht, aber die dicken Zweige der Bitternuss schienen nach dem Dach unseres Hauses zu greifen. Die Blätter waren schon nicht mehr so saftig grün wie noch vor ein paar Wochen und die Schalen der ungenießbaren Nüsse würden bald aufplatzen und in die Dachrinne fallen.

Eine seltsame Stille umgab das Haus am Morgen. Die nächsten Nachbarn waren weit entfernt und aus dem Wald drang kein Laut, als ob der Nebel den Vögeln jede Lust am Gesang verdorben oder sie gleich ganz verjagt hätte. Nur das Rauschen der Blätter war zu hören, wenn doch ein Windstoß aus dem Westen herüberwehte. Früher dachte ich, Hexen klapperten hinter der Wand aus Nebel mit den Besen und Geister rasselten zwischen den Baumstämmen mit ihren toten Gebeinen. Im Garten hatte ich nie gerne gespielt. Als Dad eine Schaukel an einen Ast der Ulme gehängt hatte, hatte ich sie immer nur dann benutzt, wenn er auch im Garten war. Heute hatte ich natürlich nicht mehr solche Angst, aber ein mulmiges Gefühl beim Blick in die Schatten zwischen den Bäumen war geblieben.

Ich stieg auf das Rad, als plötzlich neben mir ein klagender Schrei ertönte. »Diese verdammten Viecher!«, keuchte ich erschrocken. Der Vogel, der Wickwoods Stadtwappen zierte, hatte sich in letzter Zeit rasant vermehrt. Überall hockten Raben und Krähen, diese hässlichen Vögel mit ihrem widerlichen Gekrächze. Ich warf einen Blick auf die Aaskrähe, die auf einer Birke hockte und ihre schauerlichen Laute von sich gab. Es klang, als wollte sie ihre gefiederten Kollegen zum Angriff herbeirufen.

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Die zwei Meilen zur Harold Brockmann Highschool führten mich an der Kirche vorbei, rechts runter die Kobler Street entlang, der Hauptstraße von Wickwood, die von Geschäften und Restaurants gesäumt war. Viele der Häuser im kleinen Stadtzentrum waren aus rotem Backstein, manche mit Holzerkern im ersten Stock, viele mit Markisen in Grün und Gelb. Den Bürgersteig hatten die Geschäftsleute mit großen Pflanzenkübeln geschmückt und vor vielen Schaufenstern standen gusseiserne Bänke. Der Rathausplatz mit dem Brunnen und den hübschen Fassaden der alten Häuser bot eine idyllische Kulisse und war auf den meisten Postkarten von Wickwood abgebildet. Eigentlich hatte es mir hier immer gefallen. Erst seit Melanie weg war, wirkte die Stadt plötzlich so langweilig und spießig und vor allem so kolossal ereignisarm. Zumindest, wenn man sich nicht gerade für das bevorstehende Stadtfest mit Tombola, Tanz und Handwerkermarkt begeisterte.

Ich rollte die Kobler Street hinunter, an Bell’s Bar & Grill, der Apotheke und der Arztpraxis vorbei, wo jetzt Dr. Weiss tätig war. Ein Stückchen weiter runter blinkte die silberne Fassade der neuesten Touristenattraktion von Wickwood: das See Sea. Ich weiß nicht, wer auf die Idee gekommen war, Tausende Meilen vom nächsten Meer entfernt ein Aquarium zu eröffnen, aber irgendwie schienen alle Bürger, aber vor allem die Bürgermeisterin von der Idee überzeugt. Das See Sea sollte die ausbleibenden Touristen anlocken.

»Nebel lässt sich nun mal nicht gut vermarkten«, hatte Brenda Stark gesagt, als es um den Beschluss des Neubaus ging. »Aber mit dem Aquarium haben wir endlich etwas, das Wickwood unter den Städten in der Gegend besonders macht.« Beworben wurde das See Sea mit dem Slogan »Deep Ocean Love«. Es war seit Anfang August geöffnet und heute würde ich es tatsächlich das erste Mal von innen sehen.

Vom Aquarium war es nur noch eine halbe Meile bis zum Schulzentrum von Wickwood. Ich stellte mein Fahrrad ab und ließ mir beim Abschließen so viel Zeit wie möglich. Hinter mir zogen schwatzend und lärmend Schülergrüppchen vorbei. Ich richtete mich auf, atmete tief ein und machte mich auf den Weg zum Eingang.

Eigentlich sollte das »in die Schule gehen« für Schüler etwas ganz Natürliches sein, etwas, das ihnen so leicht fiel wie atmen und lachen. Aber ohne Melanie musste ich mich jeden Morgen überwinden, meinen Fuß in das Schulgebäude zu setzen. Meine anderen Freundschaften, die mit Shari und Monica beispielsweise, die ich noch aus der Middle School kannte, waren eher Zweckgemeinschaften, um sich gegenseitig mal bei den Hausaufgaben oder anderen organisatorischen Dingen auszuhelfen. Aber es waren keine Freundschaften, die ich einer Belastungsprobe hätte aussetzen wollen. Melanie dagegen hatte mich mit ihrer Schlagfertigkeit vor Feindseligkeiten aller Art geschützt und nun, da ich mehr oder weniger auf mich gestellt war, kam mir jeder Gang in die Schule vor wie die Reise in ein Krisengebiet, in dem man nie wusste, ob heute nicht ein Krieg ausbrechen würde.

Mein Blick fiel auf die Buchstaben über dem Haupteingang, die die Schule als »Home of the Black Ravens« auswies, als Heimat der schwarzen Raben. Wie oft hatten Melanie und ich darüber gelacht, dass unsere Baseballmannschaft die »Black Ravens« hieß, als ob die Natur für Raben auch noch andere Farben als Schwarz vorgesehen hätte. Wir hatten ständig Wörter mit offensichtlichen Adjektiven geschmückt und uns über streberhafte Streber, weiße Schneemänner, dämliche Cheerleader und dergleichen amüsiert.

Kaum war ich durch die Tür in die Eingangshalle getreten, wurde das Gedränge im Schulflur undurchdringlich wie eine Reise durch den Dschungel. Ich kämpfte mich durch bis zum Gang mit den Schließfächern, der in der Mitte mal wieder blockiert wurde durch die Clique von Rosanna Stevens, einer blasshäutigen Schönheit mit vogelspinnenbrauner Mähne und stark geschminkten Katzenaugen, die ständig mit abschätzigem Blick nach etwas suchten, das sich entweder zu besitzen, zu unterwerfen oder zu bestrafen lohnte. Sie befehligte eine Herde Schnepfen, deren Erleichterung darüber, auf der Seite der Macht zu stehen, sie zu allerlei Schandtaten verleitete. Rosanna und ihre Hofdamen namens Tess, Emily und Jasmin pickten sich dabei mit raubtierhafter Treffsicherheit die schwächsten Mitglieder der schulischen Gesellschaft heraus. Tess und Rosanna waren sogar Cousinen und gehörten der mächtigsten Familie der Stadt an: Sie waren beide Nichten der Bürgermeisterin. Kein Wunder also, dass sie sich für was Besseres hielten. Ich setzte daher normalerweise auf die Taktik des Nichtauffallens, um nur ja nicht in ihren Fokus zu geraten. Ich wartete also geduldig, bis Rosanna ihre Rollerskates im Fach verstaut hatte, die sie ständig mit sich herumschleppte, um nur jeden daran zu erinnern, dass sie im Rollkunstlauf so was wie eine lokale Berühmtheit war.

Dann endlich zogen sie von dannen, die Menge teilte sich vor ihnen, denn Rosanna war keine, die anderen aus dem Weg ging. Auch ich presste mich an die Seite, dann konnte ich endlich an mein Schließfach, in das ich schnell die Bücher legte, die ich erst später brauchen würde. Ich knallte die Metalltür zu, musste das aber noch zweimal wiederholen, bis dieses verdammte Ding richtig schloss, und dann beeilte ich mich, um nicht zu spät zu Amerikanische Literatur zu kommen. Am Schwarzen Brett sah ich aus den Augenwinkeln das neue Plakat von Hall of Fame, das ein Konzert in Crowsville ankündigte.

Bis zur Lunchpause musste ich dann auch noch Algebra, Physik und Geschichte überstehen und mir von Mr Mittelstaedt anhören, dass ich mich doch unbedingt mehr beteiligen müsste, um Punkte zu sammeln für eine Collegeempfehlung. Er erinnerte mich daran, wie wichtig der Collegeaufnahmetest war, der in ein paar Wochen für alle Schüler im vorletzten Jahr der Highschool anstand. Ich versprach ihm, für den Test zu lernen und mich zukünftig auch mehr im Unterricht zu melden. Ich unterließ jeden Hinweis darauf, dass sein Geschichtsunterricht so einschläfernd war, dass er mein Wachbleiben allein schon als Zeichen von Teilnahme werten sollte.

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Der Unterricht wurde in Unerträglichkeit noch übertroffen von der halbstündigen Lunchpause. Ohne Melanie gab es keinen Grund, in die Cafeteria zu gehen. Erstens war das Essen mies und zweitens wusste ich einfach nicht, wohin ich mich hätte setzen sollen. Shari und Monica pflegten sich in der Pause nur über den Unterricht zu unterhalten oder über Lehrer zu lästern, und das war mir auf Dauer echt zu langweilig. Um zu vermeiden, jedem mein neues Einzelgängertum auf die Nase zu binden, beschloss ich, mich mit meinem Notizbuch und meiner Lunchbox auf die Mauer am Parkplatz zu setzen und die Zeit zu nutzen, an meinem Theaterstück zu schreiben. Wenn ich Glück hatte, drangen zu der Uhrzeit die ersten Sonnenstrahlen durch den Nebel.

Und wenn ich noch mehr Glück hatte, sah ich ihn. Tom Porter schien auch eine Abneigung gegen die Cafeteria zu haben und hing in der Pause lieber mit seiner Band auf dem Parkplatz rum und hörte Musik. Er hatte von seinen Großeltern im letzten Jahr zum siebzehnten Geburtstag einen nachtblauen BMW geschenkt bekommen und offensichtlich einiges Geld in eine Stereoanlage gesteckt.

Ich stopfte mir gerade eine kalte Waffel in den Mund und fröstelte ein wenig auf den kühlen Steinen, da schlenderte er aus der Tür und mir wurde ganz plötzlich warm. Er trug wie so oft ein schwarzes Jackett, darunter blitzte ein orangefarbenes T-Shirt hervor, dazu verwaschene Jeans und eine Wollmütze. Seit den Sommerferien trug Tom eine schwarze Hornbrille im James-Dean-Style, die ihm etwas Verletzliches verlieh, aber zugleich seine Coolness unterstrich und mich erst recht in seinen Bann zog.

Ich bemühte mich, mein Starren mit dem Notizbuch zu tarnen, das ich vor mich hielt. Aber er beachtete mich auch heute nicht. Hatte er noch nie getan. Leider. Das war aber auch nicht wirklich verwunderlich. Ich gehörte eher zu der Spezies Mauerblümchen. Langweiliges braunes Haar, Augenfarbe unentschlossen zwischen Braun und Grün, nicht dünn, nicht dick. Die besten Eigenschaften meiner Kleidung waren Strapazierfähigkeit und Kirchentauglichkeit, die einzigen, die meine Mutter bereit war, finanziell zu unterstützen. Aber selbst die paar Mal, an denen ich von Melanie coole und kurze Kleider geliehen hatte, hatte mich Tom nicht beachtet. Richtig wohlgefühlt hatte ich mich allerdings auch nicht darin.

Melanie hatte immer behauptet, ob man auffallen würde oder nicht, läge nur an den Klamotten und an der Körperhaltung. Aber ich war davon überzeugt, dass mehr dahintersteckte. Und ich glaube, Furchtlosigkeit war der entscheidende Knackpunkt dafür, ob man im Mittelpunkt stand oder nicht. Man durfte einfach keine Angst haben, aufzufallen, anzuecken, jemandem auf die Füße zu treten. Dann erst hatte man die Freiheit, sich so zu geben, wie man wirklich wollte, wie man wirklich war.

Aber so blieb mir nichts anderes übrig als ein Logenplatz im Publikum, während das Leben auf der Bühne tobte. Abenteuer erlebte ich nur in meiner Fantasie. Und in meiner Fantasie kam Tom auf mich zu und legte mir seine Hand an die Wange und flüsterte mit seiner atemberaubend rauen Stimme: »Hey, lass uns in meinen Wagen steigen und fahren, bis die Sonne über dem Meer aufgeht.«

Gerade brachen die Sonnenstrahlen durch den Nebel und ließen seine blonden Haare leuchten. Und in dem Augenblick passierte es: Er schaute zu mir herüber. Und er lächelte mich an. Tom Porter lächelte mich an!

Ohne dass ich es verhindern konnte, hob sich meine Hand und ich winkte ihm zu. Er nickte zurück, aber dann sprach ihn sein Kumpel Brent an und der Moment war vorbei. Aber für mich dauerte er an. Ich glühte förmlich!

Und gleich in Biologie würde sich vielleicht sogar eine Gelegenheit geben, mit ihm zu sprechen. Biologie II und die Drama-AG waren die einzigen Kurse, die wir zusammen hatten, meine Highlights des Tages. Im Biologieraum saß ich schräg hinter ihm, sodass ich ihn unauffällig beobachten konnte. Was das Träumen noch besser machte, war die erstaunliche Tatsache, dass Tom keine Freundin hatte.

Heute machten wir in Bio einen Ausflug ins Aquarium. Und da würde sich sicher eine Gelegenheit ergeben, unauffällig neben ihm zu gehen und ein Gespräch anzufangen. Total euphorisch machte ich mich auf den Weg ins Schulgebäude.

Im Foyer der Schule wartete unser Biologielehrer schon auf uns. Jeff Maxwell war keiner, dem Darwin in der freien Wildbahn eine Chance eingeräumt hätte. Da nützten ihm auch seine Country-Outfits nichts, karierte Sakkos aus grober Schurwolle, Steppwesten und Wachsjacken mit Schulterklappen. Er war klein, schnell erregbar und fahrig. Sein Gesicht erinnerte mit der gebogenen Nase und den stechenden Augen unter den mit Gel zurückgekämmten Haaren an einen Habicht. Es war allgemein bekannt, dass Mr Maxwell ziemlich eingeschnappt reagierte, wenn man keine Begeisterung für sein Fach zeigte. Und da meine Aufmerksamkeit in Biologie durch Toms Anwesenheit zum großen Teil absorbiert wurde, bemühte ich mich trotz des Aufruhrs in meinem Herzen um eine interessierte Miene, als er uns heute von den spektakulären Einblicken in das Leben der Tiefsee vorschwärmte, die uns erwarteten. Ich versuchte, Tom nicht zu unverhohlen zu beobachten, der auf der anderen Seite des Halbkreises stand. Später würde ich ihn hoffentlich endlich mal alleine erwischen. Schließlich waren seine Bandkumpels, die sonst immer um ihn rum waren, nicht im Kurs.

Mr Maxwell ermahnte uns, besonders die Nesseltiere genau zu studieren, die im Unterricht auch molekularbiologisch relevant würden. »Nesseltiere kenn ich«, rief Emily dazwischen, »die werden doch von Nestlé hergestellt.«

Emily Garrison war eine von Rosannas Freundinnen. Melanie und ich hatten schon öfter darüber spekuliert, ob das Wasserstoffperoxid, mit dem sie ihre Haare blondierte, wohl auch schon die eine oder andere Hirnzelle erwischt hätte. Aber vermutlich war sie einfach naturblöd. Jedenfalls posaunte sie alles raus, was ihr Spatzenhirn so ausbrütete. Wäre sie nicht so niedlich gewesen mit ihrem arglosen Lächeln, dem putzigen Augenaufschlag und dem geblümten Kleidchen, die Nachsichtigkeit des Lehrkörpers ihr gegenüber wäre sicher nicht so generös ausgefallen. Gar nicht blöd allerdings war sie, wenn es darum ging, bei Mitschülern Schwachstellen zu identifizieren. Sie war nicht so fies wie Tess Fisher, aber auch Emily Garrison war mit Vorsicht zu genießen.

Jeff Maxwell lächelte süffisant. »Na klar, Emily, Nestlé hat eine weltweite Produktion von Nesseltieren. Und Banana Republic verkauft nur Obst.«

Dann gingen wir los. Rosanna und Emily blieben neben Mr Maxwell und plauderten auf ihn ein, um so was wie mündliche Unterrichtsbeteiligung vorzutäuschen. Nach wenigen Gehminuten waren wir am Eingang des Aquariums angekommen.

»Eigentlich hat das Aquarium um diese Uhrzeit noch geschlossen, aber Mr und Mrs Abernathy haben freundlicherweise die Erlaubnis erteilt, für uns zu öffnen«, rief Mr Maxwell. Natürlich waren es nicht die reichen Besitzer persönlich, die die Tür für uns aufmachten, sondern ihr Angestellter, William Stringer.

Ich hatte schon davon gehört, dass er dort als Wärter arbeitete. William Stringer war so was wie eine gescheiterte Existenz, und immer wenn meine Mutter von ihm sprach, seufzte sie, dass sie und ihr christlicher Frauenkreis ja schon öfter versucht hatten, ihm zu helfen, aber das nicht so einfach sei, teuflischer Alkohol. Er war nur ein paar Jahre älter als meine Mutter, wirkte aber wie ein Fossil. Aufgrund einer Beinprothese hinkte er, weswegen er von einigen Kindern der Stadt an guten Tagen »Hinkebein« gerufen wurde. An schlechten Tagen nannten sie ihn »Hinkebein, Stinkebein«. Denn ihn umgab ständig ein süßlich fauliger Geruch, wenn er über die Kobler Street schlurfte. Die Ausdünstungen seiner schummerigen Stammkneipe Fog Lights war längst in seine Kleider gesickert. Immer mal wieder wurde er von seiner Schwester Kristin Bell, der Besitzerin von Bell’s Bar & Grill, in eine Entzugsklinik geschickt, danach sah man ihn eine Zeit lang nur Kaffee trinken, aber das hielt nie lange an. Vor einigen Monaten hatte ich ihn das letzte Mal gesehen, aufgeschwemmt, staksig, bleich, mit wirren Haaren, doch als er uns jetzt öffnete, war ich regelrecht überrascht, wie gut William Stringer aussah. Sein Haar akkurat geschnitten, der Blick klar und in der schmal geschnittenen marineblauen Uniform sah er aus wie ein Kapitän. Zwar nicht unbedingt wie einer, dem man ein Kreuzfahrtschiff anvertrauen wollte, aber er war in deutlich besserer Form als sonst.

William Stringer führte uns in die Eingangshalle, erläuterte kurz das Konzept der verschiedenen Themenräume und übergab dann das Wort unserem Biologielehrer, der es sich natürlich nicht nehmen ließ, selbst die Führung zu übernehmen.

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Der Rundgang begann an einem Gezeitentümpelbecken, um das sich alle drängten, um im flachen Wasser Krebse, Gespensterkrabben, Meeresschnecken, Seesterne und Seeigel zu sehen. Mein Hauptaugenmerk lag jedoch nicht auf dem glitschigen Getier, sondern auf Tom. Aber irgendwie schaffte ich es nicht, neben ihn gespült zu werden. Dauernd drängte sich jemand dazwischen oder er ging weg, gerade wenn ich in seine Nähe kam. Bei den Aquarien mit den Seeanemonen gelang es mir endlich. Eine Weile stand ich neben ihm vor dem Becken mit diesen seltsamen Tieren, die wie harmlose Unterwasserblumen aussahen, aber Fische und Krebse fraßen.

»Unglaublich, dass das Tiere sind«, sagte ich zu Tom, leider wenig originell.

»Aber echt«, antwortete er und allein, dass er überhaupt mit mir sprach, ließ mein Herz hüpfen. Ich überlegte gerade, wie ich das Gespräch in Gang halten könnte, da rief Mr Maxwell, dass wir weitergehen sollten. Mir gelang es, noch drei Schritte neben Tom zu bleiben, dann wurde ich abgedrängt. Als Nächstes gingen wir in einen Tunnel aus dickem Plexiglas, der uns unter Wasser führte, während über uns Haie und Rochen durch das Wasser glitten. Tom alberte mit Ray Bowman und Rosanna herum und ich hätte mich schon ziemlich aufdrängen müssen, um erneut an ihn heranzukommen.

Dann bogen wir ab in den letzten Raum, den Tiefseeraum. Um die Lebensbedingungen möglichst echt darzustellen, war es hier drin stockdunkel. Das einzige Licht kam von den Leuchtstreifen am Boden und den fluoreszierenden Tieren, die majestätisch durch das schwarze Wasser schwebten: Quallen. Manche hatten die Form von Ufos, andere die von Pilzen, einige waren komplett durchsichtig, andere schimmerten orange oder grün, violett oder blau. Sie zogen ihre Tentakel hinter sich her, lange, feine Haare, mit tödlichem Gift bestückt. Die Dunkelheit wirkte auf uns Schüler wie ein Katalysator für Schabernack aller Art. Es wurde gekichert und getuschelt und rumgealbert. Mr Maxwell referierte im Duo mit unserem Bio-Ass Roya Huffman über die Nesseln, die bei Berührung Gift abfeuerten, und über das Nervensystem der Quallen, das ohne Gehirn auskam.

»Wie du, Ray«, rief Tom und alle lachten.

»Trotzdem sind sie überaus leistungsfähig«, sagte Mr Maxwell, den Einwurf ignorierend. »Mit ihren Sinnesorganen können sie auch im Dunkeln Beute jagen, Feinde und Geschlechtspartner erkennen.«

»Wie du, Tom«, rief Ray und wieder lachten alle.

Nur nicht Mr Maxwell. »Da ihr den Quallen ja so ähnlich seid«, sagte er mit schneidender Stimme, »erstellt ihr beide ein Referat zu diesem Thema, zehn Seiten, Vortrag nächste Woche.«

»Aber …«, nölte Ray. »Das ist voll unfair.«

»Willst du wirklich mit mir darüber diskutieren, Ray?« Doch der war schlau genug, darauf keine Antwort zu geben. »Ich werde mich jedenfalls bemühen, einige Quallen für das Sezieren im Unterricht aufzutreiben«, rief Mr Maxwell jetzt wieder so begeistert, als erwartete er Applaus. »So, und nun weiter …« Er drehte sich ab und ging los, die anderen Schüler folgten ihm.

Ich blieb scheinbar fasziniert hinter einem Becken stehen, in dem rosa leuchtende Quallen mit einem kleeblattförmigen Innenleben bedächtig auf und ab stiegen, und beobachtete an ihnen vorbei Tom, der sich ebenfalls noch die Tiere anschaute. Die anderen verließen einer nach dem anderen den Raum. Dann waren Tom und ich alleine im Dunkeln. Das war meine Chance! Mein Herz klopfte, als ich meinen Posten verließ, er hatte mich noch nicht bemerkt. Ich hatte auch schon einen Eröffnungssatz parat, der sich natürlich auf das Referat bezog, und ich war mir sicher, dass es klappen würde und … da kam plötzlich jemand aus der Gruppe zurück, schnellen Schrittes. Es war Rosanna, ich erkannte sie auch im Dunkeln an ihrem stolzierenden Gang und den Umrissen ihre Haare.

Wortlos ging sie auf Tom zu und sie stoppte gar nicht, wo man normalerweise hätte stoppen müssen, um einen normalen Abstand einzuhalten, nein, sie ging ganz nah an ihn heran. Mir stockte der Atem.

»Hey«, sagte auch Tom verblüfft. »Was …« Aber weiter kam er nicht, denn schon nahm sie seinen Hinterkopf in beide Hände, zog ihn zu sich heran und küsste ihn.

Schnell huschte ich wieder hinter das Becken. Mein Herz bummerte und in meinem Kopf herrschte eine eigentümliche Stille. Ich nahm nur die schmatzenden Geräusche wahr, unterdrücktes Stöhnen und das dumpfe Blubbern des Wassers in den Becken.

»Ich habe beschlossen, dass heute der Tag ist, an dem Tom Porter geküsst wird«, verkündete Rosanna, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten.

»Na, dann bin ich aber froh, dass ich von dir geküsst worden bin. Und nicht von Ray Bowman«, sagte Tom grinsend, ich konnte seine weißen Zähne aufblitzen sehen. »Oder gar von Mr Maxwell.«

Rosanna kicherte. »Ich bin auch froh«, erwiderte sie kokett. »Sollen wir das vielleicht von jetzt an öfter machen?«

»Klar«, sagte er und seine Stimme klang ganz rau. Dann zog er sie noch mal zu sich heran und die beiden knutschten – eine gefühlte Ewigkeit. Dann ließ sich Tom von Rosanna Richtung Ausgang ziehen.

Zurück blieb ich. Irgendwie eingefroren. Verdammt, verdammt, verdammt. Wie hatte das passieren können? Ich hätte mich ja damit zufriedengegeben, Tom weiterhin nur aus der Entfernung anzuhimmeln. Aber dass Rosanna ihn mir nicht nur vor meiner Nase weggeschnappt, sondern damit auch all meine Fantasien zerstört hatte, das konnte ich auf gar keinen Fall akzeptieren. Ich lehnte mich gegen das kühle Aquarienglas, hörte, wie die schwere Metalltür zuschlug, und wollte noch ein bisschen Abstand lassen, damit ich nicht direkt hinter ihnen herauskam und sie merken würden, dass ich sie gesehen hatte. Doch gerade, als ich mich aus meiner Erstarrung lösen und losgehen wollte, erlosch plötzlich der Leuchtstreifen am Boden, die Tür wurde von außen abgeschlossen und dann stand ich alleine in der Dunkelheit.

Das einzige Licht kam von den unheimlichen fluoreszierenden Meeresbewohnern, die gleichmütig durch das Wasser zogen. Still leuchteten sie vor sich hin auf dem Weg durch das ewig schwarze Wasser. Die Finsternis machte ihnen nichts aus, die Einsamkeit machte ihnen nichts aus. Wenn ich es mir recht überlegte, war die Sache mit der Gehirnlosigkeit durchaus verlockend. Quallen fühlten sich bestimmt nie schlecht. Ich kam mir vor, als wäre ich von meiner Raumkapsel weggesprengt worden und jetzt alleine und verloren im Weltraum. Ich keuchte auf und musste all meine Konzentration aufbringen, um nicht durchzudrehen. Ich wartete darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Aber nichts. Ich konnte meine Hand nicht sehen, selbst wenn ich sie direkt vor meine Nase hielt.

Die Dunkelheit und ich waren nicht die besten Freunde. Zu viele Schrecken lauerten in den Schatten. Monster, Zombies, Mörder jagte meine Fantasie hinter mir her und ich konnte schon als Kind bei jedem Gang in den Keller ihre Klauen spüren, die nach meinen Beinen griffen. So tröstlich eine überaktive Vorstellungskraft sein konnte, wenn man sie mit attraktiven Jungs bevölkerte, so grauenerregend konnte sie sein, wenn sie einen auf einen Horrortrip schickte. Beruhig dich, redete ich mir ein, gleich werden sie merken, dass ich fehle, und mich suchen.

Ich rief zaghaft: »Hallo!« Meine Stimme klang laut und dröhnend in meinen Ohren.

Ich meinte, ein Wispern hinter mir zu hören, und blieb erstarrt stehen, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte. Ich streckte eine Hand nach rechts zur Scheibe des Aquariums und streckte die andere vor mich, damit ich nicht irgendwo gegenlief. So tastete ich mich durch den finsteren Raum, bis ich nach einer gefühlten Stunde die kalte Eisentür erreichte. Ein dumpfes metallisches Geräusch erklang, als ich dagegenklopfte. Ich wartete einen Moment. Mir lief kalter Schweiß über den Rücken bei der Vorstellung, dass die Gruppe schon längst weitergegangen war, dass niemand mein Klopfen hören würde. Ich lauschte. Nichts. Oh Gott. Was, wenn mich niemand vermissen würde und ich bis morgen hierbleiben müsste? Ich ließ mich vor der Tür auf den Boden nieder und legte den Kopf auf die Knie. Ich hatte einen fetten Kloß im Hals, noch nie hatte ich mich so verlassen und einsam gefühlt wie in diesem Moment. So hilflos und ohnmächtig. Das verdammte Leben fand einfach ohne mich statt. Weil ich es nicht auf die Reihe kriegte, mir auch ein Stück davon zu nehmen. Und ich wusste nicht, wie ich das ändern konnte. Warum war ich nicht wie die anderen? Warum war ich nicht wie Rosanna? Ein bisschen jedenfalls. Dann wäre ich jetzt diejenige, die Tom Porter geküsst hatte.

Ich wusste nicht, wie lange ich dort gesessen hatte in meinem Elend, als plötzlich die Leuchtstreifen wieder aufflackerten und ich das Klirren eines Schlüssels auf der anderen Seite hörte. Erleichtert sprang ich auf, schluckte den Kloß hinunter, dann wurde die Tür geöffnet und ich blinzelte in das grelle Licht des Foyers.

»Da bist du«, schimpfte Mr Maxwell, der hinter William Stringer stand. »Stella, also wirklich. Das wird Folgen haben, dass du dich unerlaubt von der Gruppe entfernt hast.« Damit drehte er sich um und stapfte auf den Ausgang zu.

Mit hochrotem Kopf lief ich Mr Maxwell hinterher. »Entschuldigung«, stammelte ich. »Die Quallen waren so interessant, da habe ich … na ja, nicht aufgepasst.«

William Stringer warf mir einen aufmunternden Blick zu, aber das konnte mich auch nicht trösten.

»Stella, wo kommst du denn her?«, fragte Mr Weller erstaunt, als ich viel zu spät in den Drama-Raum platzte. Alle starrten mich an.

»Stella war abgetaucht«, kicherte Tess. Jasmin, Emily und Rosanna, die einträchtig neben Tom saß, grinsten. Ich musste für meinen zukünftigen Stundenplan unbedingt daran denken, nicht so viele Kurse mit dieser ätzenden Clique zu belegen.

»Bei ihren Freundinnen, den Quallen«, ergänzte Jasmin. Jasmin war eine dieser Blondinen mit so ebenmäßigen Gesichtszügen und perfekter Figur, dass es nicht ausgeschlossen schien, wenn sie in einer Barbiefabrik das Licht der Welt erblickt hätte. Ihre Schönheit war allerdings rein äußerlich.

»Würdest du mich mal aufklären, Stella?«, bat Mr Weller und ich musste vor dem ganzen Kurs zugeben, dass ich eingeschlossen worden war.

»Na ja«, sagte Mr Weller. »Gut, dann setz dich, wir sprechen gerade eines der möglichen Stücke durch, die wir in diesem Jahr auf die Bühne bringen könnten.«

Mein Kopf fühlte sich an wie eine Leuchtbombe. Die anderen grinsten mich an. Ich wagte nicht, in die Richtung von Rosanna und Tom zu schauen, und hockte mich auf den nächstfreien Platz. Es war der neben Emily.

»Mach dir nichts draus«, murmelte sie mir tröstend zu. Ich sah verwundert auf, da schob sie hinterher: »Hier hat dich sowieso keiner vermisst.«

Ich wollte etwas sagen, aber mir fiel absolut nichts ein.

»Ich meine, warum bist du überhaupt in diesem Kurs?«, zischte sie weiter. »Schauspielern kannst du doch sowieso nicht.«

Ich musste schlucken. Natürlich hatte sie damit recht. Im letzten Semester hatte ich für eine Rolle vorgesprochen, aber meine Stimme hatte die ganze Zeit gezittert, weil ich so aufgeregt gewesen war.

»Du musst mehr aus dir rausgehen, Stella«, hatte Mr Weller gesagt. Aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut. Doch auch wenn es nicht mein Ding war, auf der Bühne zu stehen, hatte ich in dem Kurs viel Spaß gehabt. Ich wurde Wellers Regieassistentin, arbeitete mit ihm am Stück und so hatte ich auch die Idee bekommen, ein eigenes Theaterstück zu schreiben. Ich hatte Mr Weller am Ende des Schuljahres davon erzählt und er war ganz begeistert gewesen. Er hatte versprochen, es sich genau anzuschauen und, wenn es gut genug wäre, für eine Aufführung vorzuschlagen. Das würde mir eine besondere Collegeempfehlung einbringen, hatte er gesagt. Und die konnte ich gut gebrauchen, wenn ich kreatives Schreiben studieren wollte.

Nach der Stunde kam Mr Weller zu mir. »Na, wie geht es mit deinem Stück voran?«

»Ganz gut«, gab ich zurück, dabei hatte ich in den letzten zwei Wochen Schwierigkeiten gehabt. Irgendwie steckte meine Hauptfigur fest, die ganze Story war ziemlich verfahren.

»Denk dran«, sagte Mr Weller, »die Figuren müssen über sich hinauswachsen.«

»Ich weiß.« Dann schob ich dämlicherweise hinterher: »Und ich bin auch bald fertig.«

»Das solltest du auch, wenn das Stück noch für dieses Jahr infrage kommen soll«, sagte er lächelnd. »Spätestens Ende nächster Woche muss es vorliegen, sonst kann ich es leider nicht mehr berücksichtigen.«

Ich nickte und nahm mir vor, heute daran weiterzuschreiben. Beim Rausgehen sah ich Tom mit Rosanna flirten. Wie er sie ansah, während sie vollkommen affektiert eine Haarsträne um ihren Finger wickelte … das gab mir einen Stich. Ich hatte in dem Stück extra eine Rolle für Tom geschrieben, die er einfach spielen musste. Er würde genial sein, ich wusste es einfach.

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Auf dem Rückweg von der Schule hielt ich bei der Apotheke an, um die Medikamente für Grandpa abzuholen. Ich mochte die Apotheke mit den dunklen Eichenschränken, in denen bauchige braune Flaschen standen. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein – was auch an Mr Anderson lag, der für jeden Kunden ein paar nette Worte auf Lager hatte und nie in Eile zu sein schien. Viele kamen eben nicht nur, um Arzneien zu kaufen, sondern auch, um ein Schwätzchen mit ihm zu halten, währenddessen er sich geduldig alles von gesundheitlichen Beschwerden bis zu familiären Problemen anhörte. Peter Anderson war mit seinem stets verschmitzten Lächeln, dem weißen Schnauzbart und den tadellosen Anzügen mit Weste und Fliege der Inbegriff des grundanständigen Mannes.

»War ob’n bei mein’m Stand am Eagle Rock Canyon, hab auf den Kojoten gewartet. Hat bei Witwe Summers schon wieder ’n Schaf gerissen«, erzählte Joe Streibig gerade. Er hatte die Schiebermütze in den Nacken geschoben, was die weißen Stoppeln auf seinem Kopf freilegte. Sein Gesicht war faltig und mein Vater sagte immer, Joe sei wie ein zäher alter Lederlappen: unkaputtbar und ausdauernd. Joes Augenlider sackten zwar Jahr für Jahr weiter nach unten, aber seine Augen waren immer noch wachsam, wie es sich für einen Jäger gehört, der bereits seit Jahrzehnten durch die Wälder um Wickwood streifte.

»Den Kojoten hab ich nich’ erwischt, aber ’n Blutgesichtspecht hab ich gesehn. Zum erst’n Mal in mein’m Leb’n. Gib’s sons’ hier nich’, die Viecher«, brabbelte Joe Streibig weiter.

»Da hat er sich wohl verirrt«, sagte Mr Anderson freundlich und wandte sich an mich. »Ah, da ist ja unsere Schriftstellerin!« So begrüßte er mich immer, seit ich den zweiten Platz im Kurzgeschichtenwettbewerb der Crowsville Daily gewonnen hatte, mit einer mysteriösen Geschichte über einen Mann und seine Tochter, die auf einem Spaziergang einen verwunschenen Waldsee entdecken. Reporterin Carol Anderson, die Tochter des Apothekers, hatte mich danach für den Lokalteil von Wickwood interviewt und die Bürgermeisterin Brenda Stark hatte mir persönlich gratuliert. Nicht, dass ich besonders viel für so viel Lärm um mich übrig gehabt hätte – es war trotzdem schön zu hören, dass ich beim Schreiben nicht ganz danebenlag.

»Guten Tag, Mr Anderson«, sagte ich.

»Du willst bestimmt die Medikamente für Arthur holen, nicht wahr?«

Ich nickte. Mr Anderson und mein Grandpa waren schon Freunde gewesen, seit mein Großvater nebenan die Arztpraxis eröffnet hatte. Er war der Einzige, der meinen Grandpa regelmäßig besuchte, seit der sich selbst nicht mehr oft vor die Tür traute. Mr Anderson wollte schon nach hinten gehen, um die Medikamente zu holen, da redete Joe mit seiner knarrenden Stimme weiter. »Jetz’ fängt ja auch die Pilzzeit an. Hab ja ’n schönen Platz, wo die Steinpilze nur so wuchern.«

»Ach ja?«, mischte sich nun Andy Martin ein, der gerade zur Tür hereingekommen und der Förster von Wickwood war. »Wo ist der denn?«

Joe grinste und entblößte seine bereits deutlich gelichteten Zahnreihen. »Verrat ich dir doch nich’, machst mir sonst alle kaputt mit dein’ Klumpfüßen, so tramp’lig, wie du bist!«

Andy Martin lachte und schlug Joe kameradschaftlich auf die Schulter. »Soll dein Geheimnis bleiben, mein Freund. Solange du es nicht machst wie der verrückte Ed«, fügte Andy hinzu.

»Nee!« Joe kratzte sich am unrasierten Kinn. »Brauch keine Pilzvergiftung. Bin doch nich’ lebnsmüde!«

Andy seufzte. »Tja, hoffentlich hält Ed sich dieses Jahr dran und geht nicht wieder im Tollwutsperrbezirk auf Pilzsuche.«

»Dass man da nich’ sucht, weiß doch jedes Kind in Wickwood«, sagte Joe, tippte sich an die Mütze und verabschiedete sich.

Inzwischen war Mr Anderson mit Grandpas Medikamenten wieder da, gab sie mir und rief seiner Frau, die an der Kasse saß, den Preis zu. »Ich weiß doch wohl noch, wie viel die Medikamente für Dr. Brandt kosten, so senil bin ich ja nun nicht!«, rief Ingrid Anderson fröhlich, dabei klimperten die Glasperlen, die sie stets in mehreren bunten Ketten um den Hals trug.

»Das sagt sie jetzt«, sagte Mr Anderson laut zu Andy Martin und mir, »aber wenn ich sie bitte, mir Köttbullar nach dem Rezept meiner Oma zu kochen, dann vergisst sie das immer.«

»Köttbullar! Ich kann das Zeug nicht mehr sehen«, stöhnte Mrs Anderson und zwinkerte mir zu. »Aber der Walnusskuchen von deiner Mutter war köstlich, Stella! Deine Mutter und ihre Rezepte, die bringen mich noch mal ins Grab.« Ihre Leidenschaft für süßes Gebäck sah man ihrer Figur an, aber Mrs Anderson war trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – eine hübsche ältere Dame mit schlohweißem langem Haar, das sie in der Mitte scheitelte. Sie trug gerne türkisfarbene Kleider und schon allein deshalb war sie ein echter Lichtblick in Wickwood mit seiner kollektiven Vorliebe für gedeckte Kleidung. Auf der Straße, wenn sie ihre beiden Pudel ausführte, begegnete man ihr selten ohne Hut, der auch gerne mit Blumen geschmückt war. Sie war eine sehr gute Freundin von Großmutter gewesen und ich mochte ihre ansteckende Fröhlichkeit richtig gern.

»Hier, Kind, nimm«, sagte sie und griff in das Glas mit den Lollis, das neben der Kasse stand, seit ich denken konnte.

»Ingrid, das Kind ist sechzehn«, mahnte ihr Mann.

»Na und? Du bist sechsundsechzig und ich habe dir immer noch nicht das Naschen abgewöhnt!«, neckte sie ihn über die Ladentheke hinweg.

»Hast du auch wieder recht«, seufzte er. »Tja, wie immer.«

Mrs Anderson gab mir einen Lutscher und musterte mich über den Rand ihrer Lesebrille. »Wie geht es dir denn, jetzt, wo Melanie weg ist?«, fragte sie. »Ihr wart doch so gut befreundet.«

»Na ja«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. »Geht so.«