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© 2013 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:
978-3-7017-4394-0

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-2121-4

Ina Rometsch • Martin Verg

Geheimsache
Labskaus

Mit Vignetten von Andi Meier

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Für Andrew und Luna,
Eva, Henriette und Luise,
die norddeutsche Küche,
die eigentlich gar nicht so schlimm ist,
und alle Pudel.

Vorspann

Wenn dieses Buch ein Film wäre, würden jetzt die ersten Bilder über die Leinwand flackern. Ungefähr so: Ein langer Korridor, fensterlos und düster. Die Kamera fährt langsam den Gang entlang durch eine offene Tür in ein Zimmer. Umrisse einer Person, die uns den Rücken zuwendet. Zoom. Eine knochige Hand, die sich langsam in einen Vinylhandschuh zwängt.

Dazu gibt es natürlich Filmmusik. Der Rhythmus klingt wie Herzklopfen, und ein kratziges Cello jagt uns eine Gänsehaut über den Rücken.

Die Hand greift nach einem Kugelschreiber:

Absolute Geheimhaltung,

schreibt sie in sorgfältigen Buchstaben,

es besteht Lebensgefahr für Mensch und Tier!

Das Cello quietscht noch markerschütternder, der Stift setzt seinen Weg ungerührt fort:

Mischanteile: 100 g Leberwurst, 1 Eigelb, 3 Beutel Fencheltee, 1 Essiggurke, 1 Rollmops.

Schnitt.

In der nächsten Szene könnte man sehen, zu wem die Hand mit dem Kuli gehört. Die Zuschauer wüssten dann, wer lebensgefährliche Dinge geheim hält und solch sonderbare Notizen macht.

Aber dieses Buch ist nun mal kein Film. Es beginnt ganz anders. Und zwar mit dem völlig verunglückten zwölften Geburtstag eines Jungen in Hamburg-Winterhude.

INHALT

Mittwoch, 22. Juli, 8.26 Uhr

Mittwoch, 22. Juli, 13.27 Uhr

Mittwoch, 22. Juli, 14.12 Uhr

Mittwoch, 22. Juli, 16.20 Uhr

Mittwoch, 22. Juli, 17.38 Uhr

Mittwoch, 22. Juli, 20.44 Uhr

Donnerstag, 23. Juli, 6.00 Uhr

Donnerstag, 23. Juli, 8.33 Uhr

Donnerstag, 23. Juli, 10.02 Uhr

Donnerstag, 23. Juli, 13.35 Uhr

Donnerstag, 23. Juli, 14.10 Uhr

Donnerstag, 23. Juli, 14.28 Uhr

Freitag, 24. Juli, 2.56 Uhr

Freitag, 24. Juli, 3.15 Uhr

Freitag, 24. Juli, 6.30 Uhr

Freitag, 24. Juli, 11.49 Uhr

Freitag, 24. Juli, 12.06 Uhr

Freitag, 24. Juli, 14.39 Uhr

Freitag, 24. Juli, 16.53 Uhr

Freitag, 24. Juli, 17.12 Uhr

Freitag, 24. Juli, 17.34 Uhr

Freitag, 24. Juli, 17.39 Uhr

Freitag, 24. Juli, 18.47 Uhr

Freitag, 24. Juli, 18.48 Uhr

Freitag, 24. Juli, 19.53 Uhr

Freitag, 24. Juli, 20.02 Uhr

Freitag, 24. Juli, 20.21 Uhr

24. Juli, 20.24 Uhr

Freitag, 24. Juli, 21.08 Uhr

Freitag, 24. Juli, 21.55 Uhr

Freitag, 24. Juli, 21.58 Uhr

Freitag, 24. Juli, 22.23 Uhr

Freitag, 24. Juli, 22.28 Uhr

Samstag, 25. Juli, 00.10 Uhr

Nachspann

Mittwoch, 22. Juli, 8.26 Uhr

Oskar von Köhler hätte sich an seinem Geburtstag sehr über einen Schokoladenkuchen gefreut. Einen mit dick Kakaoglasur oben drauf. Er hätte auch eine Zehn-Kugel-Karte für den Eissalon gut gefunden. Oder ein Teleskop. Es gab etliche Dinge, die Oskar gern zum Geburtstag gehabt hätte. Was er auf seinem Gabentisch fand, gehörte nicht dazu.

„Oh, ein Golfschläger!“, sagte er etwas lahm, als er das erste Päckchen ausgewickelt hatte. Er konnte diesen Sport nicht ausstehen. Schon beim Gedanken an den ordentlich zurechtgestutzten Rasen des Golfplatzes überfiel ihn quälende Langeweile. Trotzdem schleppte sein Vater ihn ständig mit zum Training.

„Das ist ein 5er-Eisen! Freust du dich?“, fragte Oskar senior und knuffte seinen Sohn in die Schulter. „Jetzt wirst du bald ein richtiger Profispieler, Junge!“

Das zweite Päckchen hatte die Form einer CD. Und es enthielt – eine CD. „Die Toten Hosen?“, fragte Oskar ungläubig. „Leben die noch?“

„Natürlich. Ein Klassiker des deutschsprachigen Punkrock“, sagte seine Mutter aufmunternd. „Das wirst du mögen. Das ist richtig ... äh, fetzig!“

Das dritte Päckchen war kleiner und rechteckig. Oskar riss das Geschenkpapier auf. „Ein Handy! Danke.“ Er blickte ratlos auf das Gerät, das schwarz in seiner Hand glänzte. Er hatte doch erst Ostern von seinen Eltern ein Handy bekommen! Ein kleines silbernes zum Aufklappen. Hatten sie das etwa vergessen? Sein Geburtstag lief wirklich nicht besonders gut. „Gefällt es dir?“, fragte seine Mutter erwartungsvoll.

„Äh, ja. Danke. Aber eigentlich habe ich schon eins.“

„Dein anderes ist aber technisch völlig veraltet: ohne Touchscreen! Und die Kamera – kein Blitz, kein Zoom und eine ganz schlechte Auflösung. Ich habe auch schon dein Adressverzeichnis rüberkopiert.“

„Oh, okay.“ Sie hatte ihm wirklich eine Freude machen wollen. Doch Oskar war dieser technische Firlefanz ziemlich egal. Es kam noch schlimmer. „Oskar, ich dachte mir, weil das so ungesund ist, gibt es dieses Jahr mal keine Torte!“, sagte seine Mutter und wuchtete einen Teller auf den Tisch, auf dem dampfend ein rötlich-braunes, kastenförmiges Etwas thronte. Oskar sah seine Mutter fragend an: „Ein Ziegelstein?“

„Vollkorn-Karottenkuchen. Mein eigenes Rezept.“

„Tolle Idee, Juliane!“, strahlte Oskars Vater.

„Sieht lecker aus“, log Oskar. Es war zum Verzweifeln. Seine Eltern hatten offenbar überhaupt keine Ahnung von Geburtstagen. Wenigstens musste er heute nicht zur Schule, es waren Sommerferien.

Für seine Eltern aber war es ein ganz normaler Arbeitstag. Um halb zehn verließen sie gemeinsam die Wohnung, und Oskar war allein. Er rührte sich in der Küche eine Tasse Kakao an, als sein Handy piepte. Sein altes. „Neue Kurznachricht“, stand im Display. „HAPPY BIRTHDAY! MUSS ZUM BEISSER. KOMMST DU MIT? 13.30 UHR VOR DER VILLA! ZACK

BIN DABEI“, tippte Oskar und drückte auf „Senden“. Die Nachricht war von seinem besten Freund Zacharias Pollack, genannt Zack. Vielleicht war der Tag ja doch noch zu retten.

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Mittwoch, 22. Juli, 13.27 Uhr

Die Villa stand in der Straße Schöne Aussicht. Als Zack um die Ecke bog, sah er Oskar schon vor dem Grundstück warten. „Hey, alles Gute!“, rief er von weitem und winkte. „Zur Feier des Tages lad ich dich nachher auf ein Eis ein.“

„Super, dann lass uns schnell den Beißer holen“, sagte Oskar. Der Beißer war ein Pudel mit wuscheligem weißem Fell und hieß eigentlich Raissa. Genau genommen sogar Raissa von Hoheluft-Schillingsbek. Den Namen verdankte sie ihrem reinrassigen Stammbaum. Der Beißer war keineswegs bissig, er war ein freundlicher Hund. Aber Zack hatte bemerkt, dass der Pudel sich nicht nur angesprochen fühlte, wenn man nach „Raissa“ rief, sondern bei allen Wörtern, die so ähnlich klangen. Zum Beispiel „Kleister“ oder „Meister“. Sogar wenn Zack „Scheißer“ grölte, kam das Tier artig angerannt. „Beißer“ gefiel Zack und Oskar aber am besten.

Der Beißer, also Raissa, wohnte in einer feinen Gegend, nur ein paar Schritte vom Alsterufer entfernt. Efeu überwucherte die sandfarben verputzte Fassade des Hauses, und vor den Fenstern hingen schwere Gardinen. Der Garten, in dem in akkurat gezogenen Beeten Rosen blühten, war von einem hohen Zaun umgeben. Auf dem Klingelschild an der Pforte stand kein Name. Zack drückte auf den Knopf. Kurz darauf knisterte es aus der Sprechanlage. „Ja?“

„Wir kommen zum Hundausführen!“, rief Zack ins Mikrofon. Das Tor sprang auf.

Oskar und Zack gingen zu der Haustür aus Eichenholz. Sie blieb verschlossen. Wie immer ließ die Haushälterin, Frau Feudel, sie draußen warten. Die Jungen hatten die Villa noch nie betreten. Auch die Besitzer hatten sie noch nie zu Gesicht bekommen. Zack kannte nicht einmal ihren Namen. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, und ein sehnsuchtsvolles Winseln ertönte. „Sitz!“, rief die Haushälterin streng.

Die Tür öffnete sich weiter. Sie gab den Blick frei auf frisch gewachste Holzdielen – und auf Raissa von Hoheluft-Schillingsbek. „Oh, nein!“, entfuhr es Zack. Der Hund, letzte Woche noch ein lustiges Wollknäuel, war kaum wiederzuerkennen: Das dichte weiße Fell war verschwunden. Nur an den Beinen, knapp über den Pfoten, stand es noch in dichten Puscheln ab. Auch den Schwanz hatte es erwischt: Er war so kahl rasiert, dass er aussah wie ein dürrer Ast. Bloß an der Spitze prangte ein Büschel der dichten Locken, kugelrund wie ein Tennisball. Die schlimmste Veränderung aber war mit Raissas Hintern passiert. Dort war auch ein bisschen Pelz verblieben – als hätte man dem Tier eine wollene Unterhose angezogen. „Sie war beim Hundefrisör“, sagte die Haushälterin. Raissa ließ die rosa Zunge aus dem Maul hängen und sabberte auf die Holzdielen. Ihre neue Haartracht schien sie nicht weiter zu stören.

„Beim Hundefrisör?“, wiederholte Zack. „Was soll denn das bitte sein?“

„Siehst du doch“, unterbrach Oskar. Er kannte seinen Freund. Der würde der Haushälterin jetzt glatt erklären, was er von diesem Hundefrisör hielt, wenn Oskar nicht dazwischenging. „Komm, das Eis wartet!“

Zack grunzte irgendetwas Unverständliches, nahm den Pudel kopfschüttelnd an die Leine und wollte schon losmarschieren. „Moment! Ihr habt den Koffer vergessen!“

„Welchen Koffer?“

„Den mit dem Zubehör: Bürste, Wärmedecke, Regenmantel. Jetzt, wo Raissa beim Coiffeur war, braucht sie besondere Pflege.“ Der Koffer war so groß wie ein Schuhkarton und aus knallrosa Plastik.

„Das wird ja immer besser“, murmelte Zack.

„Ist okay, Frau Feudel! Alles kein Problem.“ Oskar griff sich das Ding. Nichts wie weg hier, sonst ging sein Freund der Dame noch an die Gurgel! Und Zack wäre seinen schönen Ferienjob als Hundeausführer gleich wieder los.

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Mittwoch, 22. Juli, 14.12 Uhr

„Alter, ich fass es nicht!“, rief Zack, als die Jungen das Alsterufer erreicht hatten. Er kannte sowohl den Pudel als auch die Haushälterin erst seit vierzehn Tagen. Damals hatte er die Kleinanzeige „Schüler zum Gassigehen gesucht“ im Supermarkt gesehen und sofort angerufen. Zweimal die Woche führte er den Hund seither an der Alster auf und ab. Das machte riesigen Spaß, wurde aber leider mies bezahlt: dreifünfzig für jede Tour. Zack brauchte das Geld. Seine Mutter verdiente nicht viel, sein Taschengeld fiel darum äußerst mickrig aus. Trotzdem hatte er sich in den Kopf gesetzt, E-Gitarre spielen zu lernen. Alles, was er beim Hundausführen verdiente, wanderte daher auf das Konto eines Musikstudenten namens Gunnar. Das war sein Gitarrenlehrer. Zacks große Schwester Charlotte hatte ihn in irgendeinem Café im Schanzenviertel kennen gelernt.

Raissa zog an der Leine und wedelte heftig mit dem frisch rasierten Schwanz.

„Der Beißer sieht ohne Fell total albern aus!“, ereiferte sich Zack. „Ich lauf doch nicht mit so einem haarlosen Fiffi durch die Stadt! Und du mit rosa Köfferchen in der Hand. Wenn uns jetzt jemand sieht!“

„Denk an das schöne Geld“, sagte Oskar. „Das Fell wächst wieder nach.“

„Hoffentlich beeilt es sich“, erwiderte Zack düster.

Es war ein ganz normaler Tag in Hamburg. An den Bootsstegen klang es, als schlügen Dutzende Hämmerchen auf hauchdünne Silberteller: die Schnüre und Seile der dort festgemachten Boote, die im Wind gegen die Masten flatterten. Weiter draußen auf dem Wasser waren ein paar Ruderer unterwegs. Ein weißer Alsterdampfer, spärlich besetzt mit einer Handvoll Touristen, tuckerte auf die Krugkoppelbrücke zu.

„Was hast du eigentlich zum Geburtstag bekommen?“, fragte Zack, als sie ein verbogenes grünes Blechschild mit der Aufschrift „Hunde anleinen“ passierten.

„Einen Golfschläger, eine CD von den Toten Hosen und ein Handy mit Prepaid-Karte.“

„Ein Handy? Hast du nicht schon eins?“

„Ja. Aber meine Mutter findet mein altes technisch nicht ausgefeilt genug.“ Oskar versuchte, nicht allzu enttäuscht zu klingen. Er wollte nicht undankbar sein. Aber der Gedanke daran, dass seine Eltern so überhaupt nicht wussten, wie sie ihm eine Freude machen konnten, drückte ihm auf die Stimmung. „Wieso, ist doch total praktisch!“ Zack grinste. „Jetzt kannst du mit dir selbst telefonieren, wenn dir mal langweilig ist!“

Jetzt musste Oskar doch ein bisschen lächeln. „Genau. Und deshalb habe ich ab jetzt auch immer beide Geräte dabei. Ist deine Mutter eigentlich noch weg?“, wechselte er das Thema.

„Ja, klar. Sie ist doch erst letzte Woche losgefahren“, antwortete Zack. Seine Mutter war Krankenschwester, ihre beiden Kinder Zacharias und Charlotte zog sie in einer kleinen Mietwohnung in Barmbek alleine groß. „Sie soll vier Wochen fortbleiben, damit sie sich mal erholen kann. Darauf besteht Charlie.“ Charlie – so nannten alle Leute Charlotte.

Oskar war ein bisschen neidisch: vier Wochen allein zu Haus – traumhaft! Seine Eltern fuhren nie so lange weg. Und schon gar nicht ohne ihn. Diesen Sommer blieben sie sogar ganz zu Hause. Seine Mutter hatte mit ihrem neuen Yoga-Studio zu viel zu tun, sagte sie. In zwei Wochen sollte die große Eröffnung sein, sie musste darum ständig organisieren, reparieren oder delegieren. Und sein Vater, Hüftchirurg am Universitäts-Krankenhaus, wollte nicht ohne sie in den Urlaub. Oskar hegte den Verdacht, es mache seinem Vater schlicht mehr Spaß, künstliche Gelenke in Patienten hineinzuoperieren, als mit seinem Sohn in die Ferien zu fahren. Jedenfalls fiel der Sommerurlaub dieses Jahr für die ganze Familie flach. Oskar hatte beschlossen, möglichst viel Zeit bei Zack zu Hause zu verbringen. Charlie als Aufpasserin war ihm viel lieber als seine Eltern. Sie war lustiger. Und geheimnisvoller. Beinahe jede Woche schien sie ihre Haarfarbe zu wechseln. Zurzeit trug sie Schwarz, mit dunkelroten Strähnen. Das sah ziemlich gut aus. Zack riss ihn aus seiner Träumerei. „Ich hab strikte Anweisung von Charlie. Wenn meine Mutter anruft, muss ich ihr sagen, dass wir sie überhaupt nicht vermissen. Sonst macht sie sich womöglich Sorgen und kommt früher zurück!“

„Wo ist sie überhaupt hin?“

„Sie wollte mit ’ner Freundin im VW-Bus nach Spanien.“

„Klingt gut. Hat sie sich aber auch verdient.“

„Mann, das kannste laut sagen. Meine Mutter hat seit Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Dafür ohne Ende Überstunden. Die braucht mal ’ne Pause!“

Als sie ein großes Rasenstück direkt am Wasser erreichten, machte Zack die Leine los. Er kraulte dem Hund die Stoppelhaare, ging weiter und rief: „Beißer, bei Fuß!“ Raissa sah mit ihrem rasierten Haar und dem Fellhöschen am Po zwar dämlich aus, aber sie war ein ziemlich kluger Hund. Sie wusste, was „Sitz“ hieß und was „Platz“ bedeutete. Auch das Kommando „Bei Fuß“ kannte sie genau. Darum trottete sie nun brav neben Zack her.

Dann sah sie den Hut. Er lag auf einer Parkbank. Ein gelber Strohhut, den seine Besitzerin kurz abgesetzt hatte, während sie die Mittagssonne genoss. Raissa blieb stehen und bellte. „Was geht ab, Beißer?“, fragte Zack. Raissa stellte sich auf die Hinterbeine. „Bitte nicht!“ In Zacks Stimme schwang leichte Panik. Er wusste, was jetzt kommen würde. „Raissa, Sitz!“ Aber da war der Pudel schon losgaloppiert. Raissa schnappte sich die Beute mit den Zähnen und rannte zu den Jungen zurück. Schwanzwedelnd ließ sie den Hut ins Gras fallen. Dessen Besitzerin sprang auf und fuchtelte empört mit den Armen. Zack hob den Hut auf, gab das Diebesgut zurück und hob entschuldigend die Hände.

In diesem Augenblick ertönte, etwas blechern, ein Schlagzeugsolo aus Oskars Hose. Überrascht griff er in die Tasche. Es war sein Handy – allerdings das neue. Wer rief ihn denn darauf an? „Hallo, hier ist Oskar“, meldete er sich zaghaft.

„Hier spricht Mama! Ich wollte nur sehen, ob dein neues Handy auch funktioniert.“

Natürlich: seine Mutter. Wer sonst? „Ja, sieht ganz so aus.“

„Wo steckst du denn?“

„An der Alster. Also, bis später dann.“ Seit seine Eltern ihm das erste Handy geschenkt hatten, rief seine Mutter ständig bei ihm an – als würde sie ihn auf Schritt und Tritt überwachen wollen.

„Oskar, warte doch. Ich hab gerade Zeit zum Plaudern! Der Handwerker, der den Boden im Meditationsraum verlegen soll, kommt erst in zehn Minuten. Mit wem bist du denn unterwegs?“

„Mit Raissa.“ Oskar ging die Fragerei langsam auf die Nerven.

„Raissa? Wer ist das denn? Ein Mädchen? Hast du eine Freundin?“

„Wie man’s nimmt. Also, tschüs dann!“ Oskar beendete die Verbindung. Sollte seine Mutter den Rest des Nachmittags damit verbringen, sich über sein Liebesleben den Kopf zu zerbrechen. Er musste herausfinden, wie man die Klingeltöne ändern konnte. Schlagzeugsolo, wie angeberisch!

„Der Beißer mag Hüte wirklich gern“, sagte Oskar, als die Jungen kurz darauf über den Poelchaukamp gingen, auf dem Weg zum Eissalon am Mühlenkamp-Kanal. Dort gab es das beste Zimteis der Stadt.

„Und wie!“ Zack hatte sich vom Mützen-Fiasko erholt und war wieder selbstbewusst wie eh und je. Raissa trottete brav an der Leine nebenher. „Bestimmt muss sie in der Villa ihrem Herrchen immer den Hut bringen“, fuhr er fort. „Vorgestern kam sie mit ’ner Baseballmütze an, und letzte Woche hat sie sich so ein Rentnerkäppi gemopst! Die Besitzer sollten mich besser fürs Ausführen bezahlen. Als Schmerzensgeld für jede peinliche Situation!“

Oskar kicherte. „Stellt sie sich denn jedes Mal vorher auf die Hinterbeine?“

„Ja. So weiß ich immer schon zwei Sekunden im Voraus, dass ich gleich dastehen werde wie der größte Depp!“ Die beiden Freunde lachten.

An der Glastür des Eissalons stand „Vierbeiner müssen draußen bleiben“. Zack knotete die Leine an das Geländer der Kanalbrücke, direkt neben dem Eingang. „Beißer, Platz!“, sagte er streng, und der Pudel legte sich gehorsam auf den warmen Asphalt. Oskar stellte das rosa Köfferchen neben ihm ab. Das Ding war wirklich lästig.

Im Laden duftete es wunderbar nach Vanille und Karamell. Oskar bestellte eine Waffel mit zwei Kugeln: Zimt und Schokolade. Zack nahm gleich vier Kugeln – Himbeere, Waldmeister, Zitrone und Orange – und zahlte für beide. „Hau rein, Alter! Und herzlichen Glückwunsch noch mal!“, sagte er.

Mit vollem Mund nuschelte Oskar ein „Danke“. Er trat aus dem Geschäft in die Sonne und schloss genussvoll die Augen, Zimt und Schokolade schmolzen auf seiner Zunge.

„Hey!“ Das war Zacks Stimme. Oskar ließ die Augen zu und konzentrierte sich auf den Schokogeschmack.

„Oskar!“ Zack klang nicht, als schmecke ihm sein Eis. Oskar öffnete die Augen. Sein Blick fiel direkt auf das Brückengeländer mit der Hundeleine. Der Knoten saß noch fest am schmiedeeisernen Pfosten. Aber etwas ganz Entscheidendes stimmte nicht. Der rosa Koffer fehlte. Und auch Raissa von Hoheluft-Schillingsbek war verschwunden.

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Mittwoch, 22. Juli, 16.20 Uhr

„Ich glaube euch kein Wort!“, sagte der Polizist und begann, mit dem Kugelschreiber ein Galgenmännchen auf Zacks Aussageprotokoll zu kritzeln.

„Aber so war’s! Wir waren im Eissalon, und als wir wieder rauskamen, war der Hund nicht mehr da!“, sagte Zack. Sein Mund war trocken, und er hatte riesigen Durst.

Oskar hatte mit seinem neuen Handy sofort „110“ gewählt: „Unser Hund ist weg!“

„Oje! Ich fürchte, da musst du auf der Wache vorbeikommen“, hatte eine freundliche Frauenstimme erwidert.

Also waren sie zur Polizeiwache am Wiesendamm gerannt. Außer Atem und verschwitzt waren die Jungen schließlich durch die gläserne Eingangstür in den strahlend weißen Neubau des Polizeireviers gestolpert. Dort saßen sie nun seit einer Ewigkeit in einem Verhörzimmer auf unbequem harten Plastikstühlen. Schon viermal hatten sie erklärt, was vorgefallen war. Aber Polizeimeister Harro Ungern stellte sich unglaublich blöd an. „Wer soll denn auf offener Straße einen so auffälligen Hund stehlen?“, fragte er jetzt. „Und wer würde einen albernen rosa Koffer mitgehen lassen? Ich erzähle euch jetzt mal, wie es wirklich war: An der Alster hat euch jemand angesprochen, hat euch ein paar Scheine zugesteckt und das Tier mitgenommen. Das verkauft er teuer an ein Tierversuchslabor. Ihr müsst hier gar nicht einen auf Unschuldsmiene machen. Ich sehe euch doch an der Nasenspitze an, dass ihr was zu verbergen habt! Wahrscheinlich seid ihr schon auf der Suche nach eurem nächsten Opfer.“

„Was für ein Schwachsinn“, dachte Zack. Er holte tief Luft. Doch bevor er dieser Knalltüte in Uniform die Meinung sagen konnte, rief Oskar: „Aber Herr Wachtmeister, wenn es so wäre, wie Sie sagen, wären wir doch bestimmt nicht hierhergekommen!“

Der Polizist kratzte sich mit seinem Kugelschreiber am Kopf. Vielleicht war er wirklich nicht der Hellste? Ungern ließ sich unendlich viel Zeit mit der Antwort. „Im Gegenteil, gerade deswegen seid ihr hergekommen. Damit ich denke, ihr könnt selbst nicht die Täter sein“, sagte er schließlich. „Alter Trick, uralter Trick! Aber darauf falle ich nicht rein.“

„So ein Quatsch!“, entfuhr es Zack.