Sissi Flegel
Lichterglanz und
Weihnachtsflirt
Eine Liebesgeschichte in 24 Kapiteln
Mit Illustrationen von Dagmar Henze
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage 2014
© 2014 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag- und Innenillustrationen: Dagmar Henze
Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München
kg · Herstellung: AJ
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-14205-6
www.cbj-verlag.de
1. Dezember
Es war der 1. Advent und die Stimmung war echt mies. Wie jedes Jahr feierten meine Familie und die meiner Tante Silvie diesen Tag gemeinsam. Und da kamen einige Leute zusammen: meine Eltern, mein zwei Jahr jüngerer Bruder Oliver, Tante Silvie, Onkel Heiner und ihre drei Kinder, die vierjährige Leni, Markus, der genauso alt war wie Olli, und Lukas, mit fünfzehn der Älteste unter uns Kindern. Ich selbst war dreizehn und Lenis Babysitterin. Olli und Markus gingen in die gleiche Klasse, saßen nebeneinander und waren, was Unfug betraf, ein berüchtigtes Team. Lukas nervte. Er war echt ätzend, weil er sich wahnsinnig wichtig nahm und so tat, als wäre er der Größte, aber sein Freund, der Oskar, war ganz normal und völlig in Ordnung.
Und so saßen wir also an diesem 1. Advent um den Tisch herum, tranken Tee oder Kaffee und aßen die ersten selbst gebackenen Plätzchen sowie den Marzipanstollen meiner Tante. Was die miese Stimmung betraft, so lag das zum einen daran, dass am Abend wie in jedem Jahr Opa (der Vater meiner Mutter) kommen und bis Silvester bei uns bleiben würde, was meine Ma immer nervte. Doch auch Markus und Olli ließen die Köpfe hängen. Ich selbst fand die ganze Aufregung ja ätzend. Du lieber Himmel! Es war doch nichts passiert!
Als hätte mein Vater meine Gedanken gehört, sagte er: »Es geht ja nicht darum, dass nichts passiert ist!«
Onkel Heiner, Tante Silvies Mann also, stieß den linken Zeigefinger in die Luft. »Wie konntet ihr nur auf eine so abartige Idee verfallen!«
»Genau!«, sagte Lukas mit vollem Mund. »War doch klar, dass man euch als Erste verdächtigt.«
Markus schüttelte den Kopf. »Stimmt nicht. Eigentlich konnte man uns nicht verdächtigen. Wir haben nämlich Einmalhandschuhe getragen.«
»Und woher hattet ihr die?«, wollte Tante Silvie sofort wissen. »Waren die geklaut? Ich hab nämlich keine Einmalhandschuhe; aus Gründen des Umweltschutzes trage ich nur haltbare. Also? Woher hattet ihr sie?«
Mein Bruder Olli kratzte sich hinterm Ohr. »Von Mama.«
»Du benutzt Einmalhandschuhe?« Tante Silvie war empört. »Beate, das hätte ich nicht von dir gedacht!«
»Tu nicht so, Silvie! Die nehme ich nur fürs ganz Grobe«, wehrte sich ihre Schwester, meine Ma also, und fuhr meinen Bruder an: »Einmalhandschuhe machen euch nicht unsichtbar, ihr Dussel! Man hat euch gesehen! Warum hat nicht einer Schmiere gestanden? Ich meine, das ist doch das kleine Einmaleins des Streichespielens, so was vergisst man doch nicht!«
Mein Vater haute die Hand auf den Tisch. »Ich bitte dich, Beate! Es geht um die Tatsache als solche!«
Typisch mein Vater. Er war Lehrer (leider, leider, leider!), allerdings nicht an der Schule, die wir vier besuchten. Im Gegensatz zu Tante Silvies Mann, der immer und überall Schwierigkeiten sah, brachte ihn so leicht nichts aus der Ruhe, aber das, was sich Olli und Markus geleistet hatten, ging ihm dann doch zu weit. »Sachbeschädigung, Polizei, Feuerwehr mit Blaulicht und Sirene – Kinder, das kommt uns teuer zu stehen. Weihnachtsgeschenke werden in diesem Jahr keine für euch unterm Baum liegen, dass das mal klar ist.«
Leni rutschte von meinem Schoß und lief zu ihrem Bruder. »Ich schreib dem Nikolaus, er soll dir wenigstens was Kleines schenken. Das macht der, wirst’s schon sehen.«
Die Erwachsenen waren gerührt. »Du kannst doch noch nicht schreiben«, sagte ihr Vater.
»Aber malen«, entgegnete Leni selbstsicher. »Im Kindergarten haben wir Wunschzettel gemalt. Die haben wir in einen großen Sack getan, und den«, sie warf ihr dünnes Zöpfchen nach hinten, »holt der Nikolaus morgen. Weil – es fehlen noch ein paar Wunschzettel. Der Benni war krank, und der Philipp und die Anni auch.«
»Aha«, sagte ihr Vater. »Und du meinst, der Nikolaus erfüllt dir alle Wünsche, die du auf zwei Zettel malst? Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?« Ich erwähnte es bereits: Lenis Vater sieht immer nur die Stolpersteine. Er ist so, niemand kann ihn ändern.
»Wieso? Auf dem einen Zettel stehen meine Wünsche, auf dem anderen die von Markus. Olli, soll ich auch einen Wunschzettel für dich malen? Was wünschst du dir?«
»Was ich mir wünsche, kannst du gar nicht malen«, murrte er. »Ich wünsch mir Eltern, die ein bisschen Spaß verstehen.«
»Spaß?«, donnerte mein Vater. »Einen Feuerlöscher aus der Wandhalterung reißen und die Toiletten der Schule einsprühen! Das nennst du Spaß?! Dass ihr damit einen Feueralarm ausgelöst habt, ist wohl auch ein Späßchen, was?«
»Wir konnten doch nicht ahnen, dass …«
Jetzt war wirklich der Teufel los. Von besinnlicher Adventsstimmung keine Spur, selbst die eine Kerze auf dem Kranz flackerte wie verrückt.
Leni zog mich vom Stuhl. »Kommst du mit, Mathilde?«
Keine Ahnung, weshalb mich meine Eltern auf den Namen Mathilde taufen ließen. Mathilde! Der Name war blöd, und jede Abkürzung war noch blöder als blöd: Hilde! Matti! Oder Tilde! Das ging gar nicht. Deshalb bestand ich auf dem ganzen Namen: Mathilde. Auch wenn der ellenlang war. Auf meiner persönlichen Werteskala von 1-10 rangierte der Name auf der 3.
Ich folgte Leni ins Kinderzimmer, wo wir uns auf das rosa Bänkchen setzten, das zu ihrem rosa Tisch gehörte. Für Leni war rosa die schönste Farbe, deshalb waren auch ihr Bett, der Schrank und die Kommode rosa, und sogar auf der Tapete tummelten sich rosa Häschen. Man gewöhnte sich daran.
Allerdings hatte ich neulich gelesen, dass die Farbe Rosa angeblich einen schlechten Einfluss auf kleine Mädchen ausübe – angeblich führe sie zur Unselbstständigkeit und totaler Anpassung.
Leni war weit davon entfernt, unselbstständig oder angepasst zu sein. Sie hatte zwei ältere Brüder und war seit ihrer Geburt darauf trainiert, sich gegen die Übermacht zu behaupten. Das gelang ihr spielend, obwohl sie Rosa über alles liebte. Für sie war die Farbe wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, sich gegen ihre Brüder abzugrenzen.
Jedenfalls legte sie rosa Briefpapier (mit rosa Engelchen in der linken oberen Ecke) aufs Tischchen und stellte die Schachtel mit ihren Buntstiften daneben. »Jetzt male ich den Wunschzettel für Olli.« Sie malte meine Eltern. Lachend. »Schreib: ›Das wünscht sich der Olli‹. Und dann malst du deinen Wunschzettel, Mathilde.«
»Nö«, sagte ich.
Leni sah mich ganz ernst an. »Dann bekommst du nichts. Willst du das?«
Ich schüttelte den Kopf. Natürlich hatte ich viele Wünsche; meine Eltern kannten sie. Ein paar davon würden sie mir vielleicht erfüllen: den angesagten Pulli aus der tollen Modeboutique in der Stadt. Die UGG-Boots. Das Kleid für die Schulparty im neuen Jahr. Aber was ich mir am meisten wünschte, konnten mir weder meine Eltern noch der Nikolaus schenken. Mein allergrößter Wunsch war nämlich … Also dazu gab es eine Vorgeschichte, und die ging so:
Im Frühjahr verliebte ich mich in Fritz Schloz aus meiner Parallelklasse. Fritz hatte Haare und Frisur wie Marco Reus, spielte wie sein großes Vorbild Fußball (nur nicht so gut) und war schulleistungsmäßig gesehen nicht gerade der Überflieger. Er war das einzige Kind ziemlich vermögender Eltern, die im Gegensatz zu meinen die Taschengeldfrage locker nahmen und ihm reichlich Knete zusteckten, was echt toll war: Noch nie hatte ich so viel Eis gegessen wie im letzten Sommer.
Wir waren unzertrennlich, bis ich merkte, dass ich einen humorlosen Spießer an Land gezogen hatte. Nur ein paar Beispiele: Wenn seine Mutter sagte: »Um 17 Uhr bist du zu Hause«, dann stand er fünf vor fünf auf der heimatlichen Matte. Wenn der Himmel bewölkt war, verbot ihm seine Mutter den Schwimmbadbesuch, selbst wenn schwüle 30 Grad herrschten. Als die Sommergrippe grassierte, musste er ständig Vitamintabletten schlucken – immer zur vollen Stunde. Du lieber Himmel …
An einem sonnigen windstillen Septembernachmittag tauchte er mit einem giftgrünen Wollschal um den Hals auf und behauptete, die kalte Jahreszeit sei im Anmarsch. Da hatte ich die Nase endgültig voll und machte Schluss.
Wer von uns sagte schon »im Anmarsch« und wer war schon so blöd und wickelte sich bei Freibadwetter einen Wollschal um den Hals?
Seitdem war ich ohne Freund. Das war natürlich echt doof, weshalb ich mir sehnlichst einen neuen wünschte. Aber Wünsche haben und sie erfüllt bekommen waren natürlich zwei Paar Stiefel. Obwohl ich mich seit September nach einem Freund umsah, war ich erfolglos geblieben. Die Jungs aus meiner oder der Parallelklasse fand ich kindisch und die aus den Klassen über mir nahmen mich nicht wahr. Und das, obwohl ich echt nicht übel aussah! Außerdem spielte ich Volleyball und ging in die WollAG (davon später mehr), war stellvertretende Klassensprecherin und wurde auch schon von ein paar der kindischen Jungs um ein Date gebeten. Die waren ja alle nett, das Dumme war nur, dass ich sie zu gut kannte. Wenn man jemanden sehr gut kannte, blieben einem natürlich auch die schlechten Seiten nicht verborgen. Und das wirkte nicht gerade als Liebeszauber.
»Schreib deinen Wunschzettel, Mathilde«, verlangte Leni. Sie war sehr energisch.
»Nein. Geht nicht.«
»Hier sind doch die Malstifte!«
»Der Nikolaus würde meinen Wunsch nicht verstehen, Leni.«
Sie runzelte die Stirn. »Die Kindergartentante hat gesagt, der Nikolaus versteht jeden Wunsch. Auch den, wenn man sich ein Baby wünscht. So wie die Edwina. Die wünscht sich einen Babybruder. Willst du einen Babybruder, Mathilde?«
Das hätte mir gerade noch gefehlt. »Nie im Himmel! Mir reicht mein Olli!«
»Dann schreib deinen Wunsch auf!«
»Du nervst, Leni.«
Das bekam sie so oft gesagt, dass sie es gar nicht mehr wahrnahm. »Schreib!«
Wir hörten Stimmen auf dem Flur, dann ging die Tür auf und meine Mutter streckte den Kopf ins Zimmer. »Wir holen jetzt den Opa vom Bahnhof ab, Mathilde. Kommst du bitte?«
»Sie muss noch ihren Wunschzettel für den Nikolaus schreiben«, sagte Leni zu ihr, und zu mir: »Du nervst, Mathilde. Nun mach schon!«
Ich griff nach dem erstbesten Buntstift, es war ein leuchtendes Grün, und schrieb:
Zu Weihnachten wünsche ich mir einen Freund, der cool und witzig ist und mir nicht auf den Geist geht.
»Bist du jetzt zufrieden?«, fragte ich, stand auf, knüllte das Blatt zusammen und versenkte die Kugel im Papierkorb. Der, natürlich, rosa war.
Im Flur nahm ich meine Steppjacke vom Haken, sagte Tschüss zu Tante Silvie und Onkel Heiner, sprang die Treppe runter und rannte Lukas um, der auf dem Weg zu seinem Freund Oskar war.
Der Nachmittag war ziemlich okay gewesen; auf meiner persönlichen Skala von 1-10 platzierte ich ihn auf der 5.
2. Dezember
Meine Eltern verdonnerten meinen kleinen Bruder zu zwei Wochen Hausarrest. Das ärgerte ihn natürlich, aber er regte sich noch viel mehr darüber auf, dass mein Vater von Ollis Klassenlehrer verlangte, die Jungs auseinanderzusetzen. Was die Spaßbremse natürlich sofort versprach.
Ich hatte das meiner besten Freundin Jenny genauestens berichtet. Die fand die Strafe völlig überzogen. »Kapier ich nicht. Als die Polizei anrückte und dann auch noch die Feuerwehr, war endlich mal was los. Wir alle waren doch froh, dass Olli und Markus den lahmen Betrieb hier aufgemischt haben, oder? Soll ich deinen Eltern eine Mail schicken? Du weißt schon, Mathilde: ›Ihr Sohn ist ein Held! Lassen Sie ihn frei oder wir wenden uns an Amnesty International …‹ So was in der Art eben.«
Ich redete ihr das aus, aber bei Jenny war man sich nie sicher. Deshalb warf ich gleich nach dem Mittagessen den Familiencomputer an. Der stand bei uns im Wohnzimmer auf einem Tisch neben dem Bücherschrank. (Ma, Olli und ich teilten uns diesen Familiencomputer, mein Vater hatte berufsbedingt einen eigenen). Jenny hatte Wort gehalten und keine Mail an Ma geschickt. Das konnte ich sehen, weil Mama ihr Mailprogramm offen gelassen hatte. Keine neue Mail. Aber ich hatte eine erhalten.
Vom Nikolaus.
Vom Nikolaus?
Wie bitte?
Was für ein blöder Joke.
Zuerst verdächtigte ich Markus. Der hatte auch zwei Wochen Hausarrest bekommen, starb garantiert vor Langeweile und vertrieb sich die Zeit mit Blödsinn. Dagegen sprach, dass ein Elfjähriger niemals solche Sätze hätte erfinden können, und einer wie Markus schon gar nicht.
Die Mail begann ziemlich altertümlich mit:
Liebe Mathilde!
Ruprecht, mein Knecht, hat heute Morgen die Wunschzettel aus dem Kasten geholt. Er nummeriert sie und legt sie nach Wünschen geordnet auf meinen großen Tisch. Auf dem Stapel »Freund gewünscht« lag Deiner zuoberst, und nachdem ich alle Briefe gelesen hatte, muss ich Dir leider sagen, dass Dein Wunsch ziemlich unbescheiden und kaum zu erfüllen ist. Nicht mal von mir, der ich doch im Bereich Wunscherfüllung an der Spitze der Weltbesten stehe.
Im Einzelnen:
In genau 22 Tagen ist Heiligabend. Das ist eine verdammt kurze Zeit, um einen Freund für Dich aufzutreiben, da dieser doch sicherlich das passende Alter haben soll – vermutlich +/- 15 Jahre?
Gut, in Feuerland, das sich am südlichen Ende der Weltkugel befindet, wüsste ich einen. Du willst aber nicht wirklich eine Fernbeziehung führen, oder?
Der Junge muss cool sein, schreibst Du. Cool … Da wo ich wohne, ist alles dauercool. Meine Hütte, mein Bett, meine Rentiere, mein Schlitten, mein Ruprecht – alles ist immer saukalt. Nur mein Ofen ist uncool.
Das haben wir also geklärt. Bleibt noch die Frage, ob Du Dir einen tiefgekühlten Freund wünschst. Ich vermute, das ist eher nicht der Fall. Und jemand, der immer kalte Hände hat, ist auch nicht zu empfehlen. Schreib mir bitte: Wie cool soll der Junge sein? Genauer: Was verstehst Du darunter?
Nun zum nächsten Kriterium:
Okay, ein Freund sollte witzig sein, schließlich laufen genug Leute herum, die einem das Leben verderben. Leider kann ich Dir diesen Wunsch nicht so ohne Weiteres erfüllen, denn humorvolle Menschen sind dünn gesät. Gut, der eine erzählt Witze, der andere lacht darüber. Aber ist das witzig? Oder humorvoll?
Trotzdem: Ich geb mein Bestes, liebe Mathilde!
Ja, und zuletzt wünschst Du Dir, das Prachtstück solle Dir nicht auf den Geist gehen. Das verstehe ich, denn mein Knecht, der Ruprecht, nervt mich manchmal bis zum Gehtnichtmehr. Und erst meine Rentiere! Wenn die ihren Dickkopf aufsetzen, lassen sie sich um nichts auf der Welt vor den Schlitten spannen. In solchen Fällen röhren sie mir in die Ohren: Nikolaus, wir lieben dich. Aber heute gehst du uns gehörig auf den Geist.
Was ich damit sagen will? Immer mal wieder geht uns jemand auf den Geist. Das ist unvermeidlich, denn Menschen sind nun mal keine Engel. Aber auch mit denen ist’s nicht einfach, glaub mir das, Mathilde. Ich spreche aus Erfahrung, schließlich bringt es mein Beruf mit sich, dass ich ziemlich oft mit Engeln zusammenarbeite. Die sind ja so was von empfindsam, Du glaubst es nicht!
Obwohl also Dein Wunsch so gut wie nicht zu erfüllen ist, geb ich mein Bestes.
Ich wünsche Dir fröhliche Adventstage und grüße Dich herzlich,
Dein Nikolaus
PS: Falls Du Dich für etwas Bscheideneres entscheidest, erreichst Du mich direkt und ohne Umwege über Engelsboten unter folgender Mailadresse:
One@t-online.de.
PPS: One steht für Rentierhausen, Nikolausweg 1
Bestimmt zehn Mal hatte ich die Mail gelesen, hatte mich gefragt, ob es sich um einen Irrläufer handelte – aber da war die Anrede »Liebe Mathilde« und im Text tauchte mein Name auch ein paarmal auf. Den Irrläufer konnte ich also ausschließen. Nach und nach stellten sich unter allen Fragen, die in meinem Kopf herumwuselten, die folgenden als die wichtigsten heraus:
Frage 1: Wer wusste von dem Wunschzettel, den ich in Lenis rosa Papierkorb geworfen hatte?
Frage 2: Wer hatte ihn herausgeholt?
Frage 3: Warum hatte er oder sie ihn herausgeholt?
Frage 4: Wer machte sich die Mühe, eine Antwortmail zu schreiben?
Frage 5: Warum kam es überhaupt zu einer Antwortmail? Was sollte damit bezweckt werden?
Den letzten Punkt hielt ich für den entscheidenden. Ich meine, man schreibt doch keine lange Mail, wenn einem nichts an dem liegt, der sie lesen soll, oder?
Auf keine Frage hatte ich eine Antwort, nur zwei Sachen waren sicher: 1. Es musste jemand sein, der meine E-Mail-Adresse hatte, doch das waren natürlich viele. Und 2. Der Nikolaus war ein Blödmann! Fand sich wohl oberwitzig, dabei war er nur öde. Beispiel: »Nikolaus, wir lieben dich!«
Wütend wie ich war, kam mir eine Idee: Ich wollte unbedingt mehr wissen, und so druckte ich den Nikolausbrief aus und radelte zu Lenis Kindergarten.
Die Kids malten gerade Briefumschläge, als ich ankam. »Wir werden die Wunschzettel dem Nikolaus schicken«, erklärte Melanie. Sie war eine der »Tanten« und voll in Ordnung. »Womit natürlich die Eltern gemeint sind«, flüsterte sie mir zu. »Allerdings haben wir ein Problem: Es gibt drei Wunschzettel von Kindern, die in keiner unserer Gruppen sind.« Sie hielt mir drei rosa Blätter vor die Nase. Eines davon war so zerknittert, dass ich meinen Wunschzettel sofort erkannte.
»Die nehme ich mit, die hat Leni für ihren Bruder und Cousin gemalt«, sagte ich hastig und erklärte weiter: »Leni glaubt nämlich noch an den Nikolaus.«
»Das soll sie ja auch«, meinte Melanie und verdrehte die Augen.
Wir lachten.
Okay, ich lachte auch, obwohl mir nicht danach war. Meinen idiotischen Wunschzettel hatte ich wieder, aber das nützte mir nichts; genauso gut hätte ich ihn verbrennen können. Das Schlimme – und Offensichtliche – war, dass ihn jemand gelesen hatte. Welcher Depp das gewesen war und mit mir das dusslige Nikolausspielchen spielen wollte, sollte doch herauszufinden sein, dachte ich und setzte mich neben Leni auf ein himmelblaues Stühlchen. »Hast du die Wunschzettel in den großen Sack gelegt, Leni?«
Sie nickte. »Den für Markus, den für Olli und deinen auch. Den hab ich in meinem Papierkorb gefunden. Du hast ihn aber ganz knittrig gemacht«, sagte sie anklagend.
»Sorry. Du, sag mal, hat jemand die Wunschzettel gelesen?«
Sie malte gelbe Sterne. »Der Nikolaus.«
»Niemand sonst?«
Sie schüttelte den Kopf. »Die sind doch geheim. Weißt du das nicht, Mathilde?«
»Doch. Klar. Aber überleg mal: Jemand könnte ja in deinem Zimmer gewesen sein und sie heimlich gelesen haben.«
Jetzt malte sie rote Blümchen zwischen die gelben Sterne. »Echt? Jemand hat sie heimlich gelesen? Woher weißt du das, Mathilde?«
Weil mir ein Trottel geantwortet hat – was ich natürlich unmöglich sagen konnte. Leni hatte offensichtlich keine Ahnung, dass jemand meinen Wunschzettel in die Finger bekommen hatte.
Bevor ich wieder aufs Rad stieg, schaute ich mir zum hundertsten Mal die Mailadesse an und fragte mich, ob es ein Verzeichnis gibt, in dem Mailadressen aufgelistet werden – etwa so, wie Namen und Telefonnummern. Ich hatte keinen blassen Schimmer, radelte deshalb zu Jenny und hielt ihr wortlos den Nikolausbrief vor die Nase.
»He, was soll das?«
»Lies!«
Sie riss die Augen auf, las, quietschte: »Was für’n Freak! Wer ist der Nikolaus?«
»Das frage ich dich, du Esel!«
Wir überlegten und überlegten und fanden nur eine Erklärung: Markus hatte den Wunschzettel gefunden und die Antwort geschrieben. »Für Lukas ist das Kinderkram, der würde sich niemals solche Mühe machen«, meinte Jenny. Ich gab ihr recht. »Und deine Tante oder dein Onkel schon gar nicht«, setzte sie hinzu.
»Aber die Mailadesse«, wandte ich ein.
»Och, die …« Jenny wedelte mit der Hand. »Die hat der Typ einfach erfunden. Wirst du ihm antworten?«
Ich tippte mir an die Stirn. »Bin ich blöd oder was?«
»Natürlich nicht«, bestätigte meine beste Freundin. »Du bist nur neugierig. Das wäre ich auch, wenn ich eine Mail vom Nikolaus bekommen hätte.« Sie runzelte die Stirn. »Die Frage ist schließlich, wer dieser Nikolaus ist. Was er von dir möchte. Ob er dich gut findet oder in die Pfanne hauen will.«
In die Pfanne hauen? An diese Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht – mir wurde erst knallheiß, dann eiskalt. »Könnte das sein?«
»Ach«, sagte sie, »heutzutage muss man mit allem rechnen. Es gibt ja so viele Freaks, du glaubst es nicht.«
Langsam faltete ich das Blatt zusammen und schob es in die Tasche meiner Jeans. Jenny hatte recht: Es gab Freaks. Andererseits wunderte es mich schon, dass sie plötzlich so negativ war: ob er dich in die Pfanne hauen will. Das passte nicht zu ihr.
Weil mir die geheimnisvolle Mail einfach keine Ruhe ließ, radelte ich weiter zu meiner Tante Silvie. »Ne, du, wir haben dir keine Mail geschrieben. Warum auch?«, sagte sie. »Aber frag doch mal Markus.«
In seinem Zimmer stank es nach ungewaschenen Socken und vergammelten Turnschuhen. Er selbst lag auf dem Bett, las einen uralten Asterix und Obelix-Comic und schaute erst auf, als ich ihm das Heft aus den Händen riss. »Ich dir ’ne Mail schreiben? Mich als Nikolaus ausgeben? Du hast sie ja nicht alle, Mathilde. Nicht in hundert Jahren würde ich für dich ’ne Taste drücken.«
»Dann sag mir wenigstens, wer gestern in Lenis Zimmer war«, flehte ich.
»Na, du natürlich«, feixte er.
Ich war keinen Schritt weiter gekommen. Später nervte mich der Opa mit: »Wo bist du gewesen, Mathildchen?«
Auf meiner Werteskala rangierte der Tag auf der 9.
3. Dezember
Als ich gestern Abend im Bett lag, ging mir der Nikolausbrief einfach nicht aus dem Kopf.
Dass ihn weder Leni noch mein Onkel, meine Tante oder Markus geschrieben hatten, war klar. Tatsache war aber auch, dass jemand meinen idiotischen Wunschzettel bei Leni gelesen und beschlossen hatte, mir zu schreiben. Da mailschreibende Engel aus Gründen der Wahrscheinlichkeit ausschieden, blieb aus der Familie meiner Tante nur Lukas übrig. Dass der sich hinsetzte und an mich schrieb, war so unwahrscheinlich wie, eben!, die Mail eines Engels. So weit, so schlecht. Nur – ich wollte nichts unversucht lassen.
Was bedeutete, dass ich mich unglaublich blamieren würde. Denn für Lukas, der immerhin schon fünfzehn war, stand ich in etwa auf der Stufe seiner kleinen Schwester Leni. Oder, wenn ich sehr viel Glück hatte, einen Hauch darüber.
Trotzdem … Ich musste herausfinden, welcher Idiot behauptete, mein Wunsch sei unbescheiden und kaum zu erfüllen. Das wollte ich auf gar keinen Fall glauben! Und ich kannte viele, die auf diese Beschreibung passten, aber vor allem Mädchen natürlich. Klar, Jungs hinkten uns Mädchen zehn Jahr hinterher. Rund gerechnet und entwicklungsmäßig betrachtet natürlich. So gesehen war es für den Nikolaus extrem schwer, einen Jungen aufzutreiben, der mit +/- 15 Jahren so cool und witzig war wie ein Mann.
Okay.
Aber dafür war er ja auch der Nikolaus und stand an der Spitze der weltbesten Wunscherfüller. Hatte der Angeber ja selbst gesagt, oder?!
Am Morgen zog ich mir die Mütze auf den Kopf, wickelte den Schal dreimal um den Hals und radelte wild entschlossen zur Schule. Dort angekommen lehnte ich mich, die Fäuste in der Steppjacke vergraben, an den Fahrradschuppen.
Knappe fünf Minuten vorm Läuten kam Lukas angeradelt.
Ich hatte mir vorgenommen, ihn höflich und gewinnend zu behandeln, weshalb ich mich freundlich erkundigte, wie er denn geschlafen habe und ob es ihm an diesem herrlichen Morgen gut gehe.
Er beachtet mich nicht.
»Hallo!«, sagte ich lauter. »Ich hab dich was gefragt!«
Er knurrte Unverständliches.
Die Zeit wurde knapp. Ich ging aufs Ganze. »He, Lukas, ich hab da ’ne Mail bekommen. Ist die von dir?«
Er schloss sein Rad ab. »Sonst noch was?«
Jetzt war ich aber sauer. »Ich hab dich was gefragt!«
»Und ich hab dir geantwortet.«
Ich hielt Lukas am Ärmel fest. »Das ist keine Antwort. Ist die Mail von dir?«, fauchte ich ihn an.
Als wäre meine Hand eine eklige grün schillernde Schmeißfliege, schnipste er sie von seinem Ärmel. Dann grinste er mir voll ins Gesicht. »Du hast ’ne Mail bekommen? Von wem denn?« Er deutete mit dem Daumen auf die riesige Tanne, die mitten in unserem Schulhof stand. »Etwa vom Christkind?«
Da war bei mir endgültig Schluss mit höflich und gewinnend. »Wenn du’s wissen willst: vom Nikolaus«, brüllte ich ihn an.
»Ja, da schau her! Das ist ja ganz was Besonderes. Ein Wunder ist das, wenn du mich fragst. Du, Oskar«, sein Freund stellte gerade sein Rad neben dem seinen ab, »der Nikolaus hat Mathilde ’ne Mail geschickt. Was sagst du dazu?«