Teufelsdiener

 

 

 

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Band 45

 

Teufelsdiener

 

von Ralf Schuder

 

 

© Zaubermond Verlag 2014

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor.

Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit Asmodi, dem Oberhaupt der Schwarzen Familie, der ihm die Unsterblichkeit sicherte.

Um seine Sünden zu büßen, verfasste de Conde den »Hexenhammer« – jenes Buch, das im 16. Jahrhundert zur Grundlage für die Hexenverfolgung wurde. Doch der Inquisition fielen meist Unschuldige zum Opfer; die Dämonen, auf die de Conde es abgesehen hatte, blieben ungeschoren. Vielmehr wurde bald er selbst als Ketzer angeklagt und hingerichtet. Der Pakt galt, und de Condes Seele wanderte in den nächsten Körper. In vielen Inkarnationen verfolgte er seitdem rachsüchtig die Mitglieder der Schwarzen Familie, bis es ihm in der Gegenwart als Dorian Hunter endlich gelang, Asmodi zu vernichten und auch dessen Nachfolgern wenig Glück beschieden war.

Hunter, der sich selbst als Dämonenkiller bezeichnet, besitzt als Hauptstützpunkt seiner Aktivitäten die Jugendstilvilla in der Londoner Baring Road. Dort lebt er zusammen mit der Hexe Coco Zamis, die aus Liebe zu ihm die Seiten wechselte, und den anderen Mitstreitern des Dämonenkiller-Teams: dem Zyklopenjungen Tirso, dem Hermaphroditen Phillip sowie Trevor Sullivan, dem alten Leiter der Mystery Press, der jedoch nach einer schlimmen Auseinandersetzung mit den Dämonen seit Monaten in einem Londoner Krankenhaus im Koma liegt.

Bis vor Kurzem gehörte auch Martin Zamis, Dorians und Cocos Sohn, zu den Bewohnern der Jugendstilvilla. Aber Martin hat die Seiten gewechselt – auf eine Art, die den Dämonenkiller in die schlimmste Krise seines Lebens gestürzt hat: Von einem Dämon namens Isbrant entführt stürzte Martin durch einen Zeitschacht in die Vergangenheit, wo er ohne seine Eltern aufwuchs und später die Identität seines Entführers annahm. Isbrant ist Martin, und Martin ist Isbrant. Der neue Fürst der Finsternis – ist das Kind des Dämonenkillers!

Dorian ertränkt seinen Kummer im Bourbon. Er weiß, dass es keine Möglichkeit gibt, Martin zurückzuholen, ohne bereits geschehene Ereignisse rückgängig zu machen. Die schreckliche Konsequenz dieses Gedankens lässt Hunter zum Einsiedler werden. Er zieht sich vor Coco und den anderen zurück und denkt daran, seinen Kampf endgültig aufzugeben.

Da erreicht ihn ein Anruf seines alten Freundes Tim Morton – und ein Lebenszeichen seines neuen, alten Sohnes Isbrant ...

 

 

 

Erstes Buch: Dämonische Intrigen

 

 

Dämonische Intrigen

 

 

Trotz der ungewöhnlichen Kälte trug er nur leichte Kleidung, und während er vornübergebeugt gegen den eisigen Wind ankämpfte, versanken seine Schuhe bei jedem Schritt im tiefen, weichen Schnee. Ihm bedeuteten die Anstrengung und der eisige Sturm nichts. Die fremdartige Kraft hatte den Mann völlig durchdrungen und von den Schwächen des menschlichen Körpers befreit.

Als der Wind etwas nachließ und der Schneefall gleichzeitig schwächer wurde, blieb er stehen und sah nach vorn. Er folgte einer einsamen Landstraße, deren Umrisse längst nicht mehr auszumachen waren. Seit den Mittagsstunden des Vortages hatte es ohne Unterbrechung geschneit und der Asphalt war unter Verwehungen verborgen, die einen halben Meter und höher waren. Doch die Strecke war von Bäumen gesäumt, sodass der Mann keine Schwierigkeiten hatte, sich zu orientieren. Von einer düsteren Vorfreude erfüllt stapfte er weiter auf sein Ziel zu. Mehr als zehn Kilometer lagen bereits hinter ihm, kein Mensch war ihm begegnet. Es zwang ihn niemand dazu, diesen Weg auf sich zu nehmen, er hätte sich ein Opfer aus der Umgebung Coldinghams holen können, wie so oft in den letzten Wochen. Aber heute war ein besonderer Tag, heute würde er eine persönliche Rechnung begleichen. Der wolkenverhangene Winterhimmel verdunkelte sich; keine Stunde mehr und es würde finster sein. Der Mann lächelte zufrieden.

 

 

1. Kapitel

 

»Bedrohlich, nicht wahr?«

»Was denn?«

»Sieh doch hinaus!«

»Ich sehe nur Schnee.«

Carol wandte ihren Blick von dem Küchenfenster ab und schnäuzte sich. Max fand, dass sie trotz der Erkältung erstaunlich hübsch aussah. Sie bekam regelmäßig zum Herbstanfang einen fürchterlichen Schnupfen, der dann bis zum Winterende anhielt. Seit sie vor fünf Jahren Jenny zur Welt gebracht hatte, nahm sie allerlei vorbeugende Mittel und verpasste keine der jährlichen Grippe-Impfungen, doch geholfen hatte ihr bisher nichts. Dr. Jenkins fand keine Erklärung dafür, meinte aber, es gäbe keinen Grund, sich Sorgen zu machen.

»Was ist, wenn das ewig so weitergeht, Max? Wenn es wochenlang schneit und der Strom ausfällt?« Sie nahm das Papiertuch von der geröteten Nase und ließ es im Abfalleimer verschwinden.

»Dann werden wir erfrieren und für immer unsere Ruhe haben.« Er trank vorsichtig einen Schluck seines heißen Tees. Der Earl Grey schmeckte ausgezeichnet.

»Weißt du, was ich am liebsten tun möchte, wenn du so zynisch bist?«

»Keine Ahnung – mich ein zweites Mal heiraten?« Er stellte die Tasse auf den Tisch. Sie lächelte nur schwach und es tat ihm sofort wieder leid, dass er ihre Sorgen so einfach abgetan hatte. Er lebte seit seiner Kindheit auf dem Lande, vielleicht war das der Grund dafür, dass ihn das raue Wetter nicht beunruhigte. Dennoch, wirklich sorglos war auch er nicht: Das da draußen war kein weihnachtliches Geriesel, es war ein Schneesturm, der seinen Höhepunkt noch längst nicht erreicht hatte.

Jetzt runzelte Carol die Stirn. »Was hat mich nur dazu bewogen, mich mit einem Farmer einzulassen, der nichts anderes als seine dummen Schafe im Kopf hat, der nichts weiter besitzt als ein einsames Haus an der Küste?«

Manchmal konnte er nicht sagen, wann es seiner Frau ernst war und wann sie ihn auf den Arm nahm, und dies war einer dieser Momente.

Ein Grund dafür war der, dass sie recht hatte. Im Umkreis von mehreren Kilometern gab es nur das Meer, begrünte Hügel sowie die schwach frequentierte Landstraße nach Invercavour. Und außer seiner Farm und den Tieren besaß Max tatsächlich nichts.

»Liebe war es auf keinen Fall, die dich in meine Arme getrieben hat«, antwortete er. Und es gelang ihm dabei, so ernst zu bleiben wie sie.

Sie grinste und gab ihm einen Knuff.

»Machst du dir nicht doch Sorgen?«, fragte sie dann.

»Weil die Straße zugeschneit ist? Wir könnten es selbst bei diesem Wetter zu Fuß bis nach Invercavour schaffen.«

»Ja, die Kinder wären begeistert – fünf Kilometer durch kniehohen Schnee, während der Wind versucht, uns die Kleider vom Leib zu reißen. Daniel fände es vermutlich aufregend, für einen Zwölfjährigen ist alles ein Abenteuer, aber Jenny würde sich den Tod holen.«

»Glaube mir, Carol, dieses Haus trotzt jedem Sturm, seitdem mein Großvater es gebaut hat!«, sagte er und legte den Arm um sie. »Wäre irgendetwas zu befürchten, hätte ich dich und die Kinder längst fortgebracht.«

Sie wurde sehr ernst und schmiegte sich an ihn. »Im Geiste sehe ich ständig schlimme Dinge. Meterhohen Schnee, der die Fenster und die Türen blockiert und das Dach zum Einstürzen bringt. Kein Strom, keine Heizung, niemand, der uns zur Hilfe kommt. Ich fürchte, ich rede wie ein kleines Kind, das überall Gespenster sieht. Jake meinte oft, dass ich hysterisch bin.« Sie presste die Lippen zusammen. »Krank. Das war ein anderes Wort, das er gern benutzte.«

Max antwortete nicht sofort. Wie immer, wenn sie von ihrem früheren Mann sprach, fühlte er sich hilflos.

»Vielleicht empfindest du das Aufbrausen der Natur deshalb als überwältigend und bedrohlich, weil du in einer Großstadt aufgewachsen bist«, sagte er schließlich.

Carol schwieg und Max beobachtete das grau-weiße Treiben hinter der Fensterscheibe. Unablässig stürmten Flocken auf das Glas zu, begannen in der Sekunde des Aufschlags zu schmelzen, um dann wie klebrige Insekten lautlos nach unten zu rutschen. Eine schneebedeckte Wiese führte nach zweihundert Metern zu Steinen und bizarren Felsformationen, die das Meer vom Land trennten. Die tosende Nordsee bot einen überwältigenden Anblick. Die dunklen Wellen brausten auf, bildeten Schaumkronen und brandeten gegen die Klippen, während am Himmel dunkle Wolken entlang zogen. Pfeifend und brausend strich der Wind um das Haus und für einen Moment drückte eine Bö so heftig gegen das Fenster, dass Max befürchtete, die Scheibe würde bersten.

Er gab Carol einen Kuss auf die Wange und ging dann ins Wohnzimmer hinüber, um nach den Kindern zu sehen. Jenny saß dicht beim Fenster und spielte mit ihren Barbies. In ihrem gepunkteten Kleid und mit ihrem hellblonden, gelockten Haar sah die Fünfjährige beinahe selbst aus wie eine Puppe. Ihre Augen waren streng auf Ken gerichtet, der mit verrenkten Plastikbeinen auf dem Fensterbrett lag.

Daniel saß am Tisch und drehte gelangweilt an den Knöpfen eines defekten Kofferradios. Der Junge wirkte seit Chubys Tod bedrückt. Der alte Hirtenhund war sein ein und alles gewesen. Das Tier hatte zum Schluss allerlei Gebrechen gehabt und seit dem Frühjahr die Schafherde nicht mehr zusammenhalten können. Dennoch war es für die Willards ein Schock gewesen, als sie den armen Kerl vor acht Tagen tot an seinem Platz fanden. Er war im Schlaf gestorben, ganz friedlich, und sie hatten ihn hinter dem Haus begraben.

»Ich habe gestern mit Fred McDowell gesprochen«, sagte Max. »Er meinte, seine Welpen sind Anfang Februar so weit, dass er sie abgeben kann. Vielleicht sogar schon im Januar.«

Daniel blickte auf und lächelte. »Das wäre schon toll, einen kleinen Hund zu haben.«

»Er wird ins Wohnzimmer pinkeln. Das tun alle Welpen«, mischte sich Jenny ein, ohne den Blick von ihren Puppen zu nehmen.

Daniel warf seiner Schwester einen bösen Blick zu. »Ich werde mich um ihn kümmern und einen guten Schäferhund aus ihm machen.«

»Da bin ich mir sicher.« Max streichelte dem Jungen über die Schulter.

Vor sechs Jahren, als Max Carol heiratete, war es nicht unbedingt so gewesen, dass er auf eine Frau mit Kind aus war. Es gab nicht wenige Freunde und Bekannte, die ihm Schwierigkeiten bei der Erziehung eines Stiefsohns vorausgesagt hatten. Doch das hatte sich nie bewahrheitet – er hatte immer eine sehr gute Beziehung zu dem Jungen gehabt.

Max hatte Carol auf dem jährlichen Ball der Schafzüchter kennengelernt. Sie war damals Mitte dreißig gewesen, so wie er, und hatte eigentlich nichts mit den einfachen Farmersleuten zu tun. Sie war eingeladen worden, weil sie sich als Sekretärin für den Verband beworben hatte, das war jedenfalls die offizielle Begründung. In Wahrheit war sie anwesend, weil sie verflucht gut aussah und dem alten McGovern gefallen hatte, der seit Ewigkeiten Vorstandsmitglied war. McGovern besaß eine erstaunlich rote Säufernase, einen Bauch, der weit über den Gürtel hing und die hässlichsten Schweinsäuglein, die Max je gesehen hatte. Trotzdem gelang es dem feisten Kerl dann und wann, eine junge Frau in sein Bett zu locken (was sicher in engem Zusammenhang mit seinem stets prall gefüllten Portemonnaie stand). Um Carol hatte sich McGovern vergeblich bemüht. Auf dem Ball sah sie wirklich umwerfend aus, mit ihren blauen Augen und ihrem schüchternen Lächeln. Es war ihr nicht anzusehen, dass sie noch einen Monat zuvor mit einem Mann verheiratet gewesen war, der ihr die Hölle auf Erden bereitet hatte. Nicht nur Max war sofort von ihr verzaubert, sondern auch sein Freund Harry Foster, und es mutete wie ein Wunder an, dass die Kameradschaft der Männer damals nicht zerbrach.

Der Sturm nahm zu und das Geräusch des Windes, der um das Haus strich, riss Max aus seinen Gedanken.

Carol erschien im Zimmer. »Es funktioniert nicht mehr!«

Ihre Stimme hatte einen Unterton, der Max nicht gefiel.

»Was?«

»Das Telefon! Ich habe versucht, Kerstin anzurufen.«

»Der Sturm, Carol. Vermutlich sind irgendwo die Leitungen gerissen.«

»Ich mache mir trotzdem Sorgen.«

Er befürchtete, dass sie Angstzustände bekommen würde, so wie im ersten Jahr nach der Trennung von Jake, in dem es ihr verdammt schlecht gegangen war und das sie nur mithilfe der Medikamente hinter sich gebracht hatte, die ihr Dr. Jenkins damals verschrieb.

»Ich werde in den Keller hinuntergehen und den Anschluss überprüfen. Vielleicht liegt das Problem bei uns. Zur Not haben wir immer noch das Funkgerät im Jeep.«

»Okay.« Sie nickte. Es schien sie ein wenig zu beruhigen, dass Max gelassen blieb. »Und ich mache uns einen Kaffee.«

Bevor er sagen konnte, dass das eine gute Idee sei, hörte er einen Aufschrei.

»Ein Einbrecher! Er hat den Stall aufgebrochen!« Jenny war eigentlich ein stilles Mädchen, aber nun überschlug sich ihre Stimme. Sie sah aus dem Fenster und ihr Gesicht berührte dabei die Scheibe.

Mit wenigen Schritten war Max bei seiner Tochter. Er folgte ihrem Blick und für einen Moment blieb ihm die Luft weg. Trotz der beginnenden Dämmerung konnte er deutlich erkennen, dass das Tor des nahen Stalls vom Wind hin- und hergerissen wurde. Max hielt es für undenkbar, dass es sich von allein geöffnet haben könnte – er selbst hatte es fest verriegelt.

»Hast du jemanden gesehen, Jenny?«

»Nur das offene Tor«, antwortete das Mädchen.

Daniel war längst ans Fenster gekommen, Carol ebenfalls.

Max spürte die Fingernägel seiner Frau in der Schulter.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht«, sagte er, obwohl er genau wusste, was los war. Jemand hatte sich Zutritt zum Stall verschafft.

»Was willst du jetzt tun?«

Max antwortete nicht, sondern hastete zur Diele und öffnete die Tür zum Abstellschrank. Ganz oben, außerhalb der Reichweite von Kinderhänden, bewahrte er die doppelläufige Flinte auf. Daneben lag ein kleiner Karton mit der dazugehörigen Munition. Er selbst hasste die Jagd, die Waffe hatte seinem Vater gehört, aber er konnte mit der Flinte umgehen. Er lud sie und ging zurück ins Wohnzimmer. Carol sah mit weit aufgerissenen Augen erst die Waffe an und blickte dann in das entschlossene Gesicht ihres Mannes. Jenny stand neben ihr – es war der Kleinen anzusehen, dass sie gleich weinen würde.

»Ich werde mir die Sache ansehen. Vielleicht stellt sich alles als harmlos heraus, aber ich möchte nicht, dass ihr ohne Schutz im Haus zurückbleibt.« Max hielt Carol die Waffe hin. »Die Patronen sind im Lauf, du brauchst nur zielen und abzudrücken.«

Sie schüttelte hysterisch den Kopf. »Das kann ich nicht, ich habe das Ding doch noch nie benutzt!«

Das stimmte nicht. Carol hatte die Flinte schon in der Hand gehabt, wenn auch nur ein einziges Mal. Es war Daniels zehnter Geburtstag gewesen, als sie vergeblich versuchte, eine Konservendose zu treffen, die wenige Schritte entfernt auf einem Baumstumpf stand.

»Nimm Sie, bitte!«

»Wenn ein Einbrecher im Stall ist, brauchst du das Gewehr.«

Mit zwei Schritten war er beim Kamin, nahm den gusseisernen Schürhaken aus dem Köcher und drückte ihn seiner Frau in die Hand. »Dann nimm wenigstens das!«

Daniel hatte Jenny an die Hand genommen. »Dad, sollten wir nicht lieber die Polizei rufen?«

»Sie können bei diesem Wetter nicht zu uns kommen, Junge. Jedenfalls nicht rechtzeitig. Vielleicht ist es nur ein Landstreicher, der sich vor dem Schneesturm in Sicherheit bringen will, aber wenn er die Tür aufgebrochen hat, werde ich ihn vom Hof jagen.«

Während er sich umdrehte und mit dem Gewehr in der Hand zur Diele lief, hörte Max, dass Jenny jetzt weinte. Carol rief ihm noch irgendetwas hinterher, aber er hörte nicht zu, sondern streifte sich in aller Eile einen Mantel über und schlüpfte anschließend in seine Stiefel. Als er die Klinke herunterdrückte, wurde ihm die Haustür vom Wind aus der Hand gerissen. Max war von der Intensität des Sturms überrascht – ein unglaubliches Pfeifen und Surren erfüllte die Luft, der Wind zerrte an seinen Haaren und an dem offenen Mantel.

»Carol, schließ ab!«, brüllte er, bevor er die Tür von außen ins Schloss drückte.

Er blickte zum Stall hinüber, der nur noch schemenhaft zu erkennen war. Das Tor schwang hin und her, wie von einer riesigen, unsichtbaren Hand bewegt, und schlug dabei immer wieder lautstark gegen die Wand. Er lief mit vorgestreckter Waffe los, wie ein Soldat, der in einem heftig umkämpften Gebiet um sein Leben rennt.

Eine Bö trieb ihm eine Schneewolke ins Gesicht, und für einige Sekunden konnte er nichts mehr erkennen.

Prustend wischte er sich die Eiskristalle aus den Augen und hastete weiter. Er hatte schon davon gehört, dass Familien in einsamen Gegenden überfallen und massakriert worden waren. Und aus Coldingham wurden neuerdings merkwürdige Dinge berichtet: Sieben Menschen galten als spurlos verschwunden. Die Stadt war keine zwanzig Kilometer entfernt und Max fluchte innerlich darüber, dass er diesen mysteriösen Vorfällen bisher nicht mehr Bedeutung beigemessen hatte.

Er erreichte den Stall, hielt das Tor im Schwung fest und blickte auf den Boden. Dort lag, halb vom Schnee bedeckt, das große Vorhängeschloss – der Metallbügel war verbogen, offensichtlich hatte sich jemand mit einem Brecheisen daran zu schaffen gemacht. Max spürte, wie ihm trotz der Kälte heiß wurde. Er hob das Gewehr und zielte ins Innere des Stalls.

»Komm raus, Bursche! Ich weiß doch, dass du da drinnen steckst!« Er brüllte gegen den Sturm an. Er war überzeugt davon, dass der Einbrecher ihn in diesem Moment hörte.

Doch wie er erwartet hatte, regte sich nichts. Mit einem großen Satz sprang er in den Gang. Links und rechts befanden sich die Boxen, in denen die Tiere untergebracht waren. Max hörte die Schafe unwillig blöken. In der Mitte des Gangs ragte ein gewaltiger Holzbalken bis zum Dach, um die Konstruktion zu verstärken. Daran lehnten ein Rechen und eine Forke. Aber etwas fehlte: die Schippe!

Niemand war zu sehen. Max ging langsam auf die erste Box zu und blickte über das Gatter.

»Was zur Hölle ...?«

Zwei Schafe lagen kreuzförmig übereinander, das obere Tier hatte das Maul zu einem grotesken Lächeln geöffnet. Unablässig quoll Blut zwischen den Zähnen hervor, fiel in dicken Tropfen herab und sickerte ins Stroh. Das zweite Schaf bot einen noch grausigeren Anblick – der Wanst war mit einem langen Schnitt geöffnet worden. Die Eingeweide lagen dampfend auf dem Boden und verbreiteten einen abscheulichen Gestank. Max unterdrückte einen Würgereiz. Hatte er nicht geahnt, dass er es mit etwas Schlimmeren als einem Einbrecher zu tun hatte? Seine Hände zitterten und er war bereit auf alles zu schießen, was ihm irgendwie verdächtig vorkam. Er hatte keinen Zweifel daran, dass derjenige, der das angerichtet hatte, auch Menschen umbringen würde. Solche Typen taten das immer. Vielleicht war die kranke Kreatur noch hier. Versteckmöglichkeiten gab es genug: in den hinteren Boxen, auf dem Heuboden. Er ging vorsichtig weiter in den Gang hinein. Die Tiere, die er sehen konnte, waren am Leben. Sie hatten sich ängstlich an die Holzrahmen gedrückt.

Der Jeep! Ich muss über das Autotelefon die Polizei verständigen! Max stolperte ins Freie zurück, richtete den Kopf nach unten und rannte los. Mitten im Lauf hielt er inne. Durch das Brausen und Pfeifen des Sturms hörte er einen Schrei – einen von Panik erfüllten Schrei. Carol und die Kinder! Er raste auf das Haus zu und erreichte die Eingangstür. Ungestüm durchwühlte er seine Jacken- und Hosentaschen und fand endlich den Schlüssel, doch es gelang ihm nicht, ihn ins Schloss zu stecken. Carol hatte von innen verriegelt, so wie er es ihr gesagt hatte. Er warf sich einige Male gegen die Tür und trat mit den Füßen dagegen, doch das massive Eichenholz gab nicht nach. Nun hörte er wieder einen Schrei. Das Blut strömte ihm in den Kopf.

»Max, hilf uns, wir –« Carols Stimme war schrill und hoch, von Todesangst erfüllt.

Es polterte im Inneren des Hauses. Noch einmal hörte er die entsetzten Schreie seiner Frau.

»Nein! Bitte, tu meinen Kindern nichts!« Carol war kaum zu verstehen, ihre Stimme überschlug sich.

Max rannte zum Wohnzimmerfenster – die Vorhänge waren geschlossen. Er schlug mit dem Lauf des Gewehrs die Scheibe ein, schob die Hand in die Öffnung und entriegelte das Fenster. Dass sich dabei ein großer Glassplitter in sein Fleisch bohrte, nahm er kaum wahr. Als er ins Innere kletterte und den Vorhang beiseiteschob, sah er etwas Metallenes, Rechteckiges auf sich zurasen. Ein harter Gegenstand schlug gegen seine Stirn und augenblicklich breitete sich Schwärze vor seinen Augen aus. Max bemerkte nicht mehr, dass er hart auf dem Wohnzimmerboden aufschlug. Später vermutete er, dass er über eine Stunde lang bewusstlos auf dem Teppich gelegen hatte. Er öffnete die Augen und setzte sich stöhnend auf. Die Hoffnung, dass das Erlebte nur ein böser Traum gewesen war, währte nur wenige Sekunden. Das zerschlagene Fenster, die Schmerzen und die Kälte bewiesen ihm die furchtbare Realität. Er sah sich um. Der große braune Sessel lag umgekippt auf dem Boden, ebenso der Tisch. Von Carol und den Kindern war nichts zu sehen. Während Max seine geschwollene Stirn abtastete, auf der sich eine Menge verkrustetes Blut befand, rief er den Namen seiner Frau. Vergeblich.

Und dann bemerkte er die große Scherbe, die in seinem linken Arm, knapp unter dem Ellenbogen steckte. Erst jetzt, als er die Verletzung sah, spürte er ein Brennen, jedoch keinen Schmerz. Das Glas hatte keine Arterie getroffen und die Blutung war zum Stillstand gekommen, als er bewusstlos gewesen war.

Mit einem Ruck zog er die Scherbe heraus und blickte in eine rosafarbene Mulde aus klaffendem Fleisch, aus der jetzt Blut lief. Es sah schlimm aus, aber nicht schlimm genug – darum würde er sich später kümmern. Er suchte nach dem Gewehr, konnte es aber nirgends entdecken.

Max ignorierte die hämmernden Schmerzen in seinem Kopf und stand auf. Das Bild vor seinen Augen flimmerte und er stützte sich mit den Händen auf der Fensterbank ab, die kleinen Schnittwunden, die er sich an den herumliegenden Scherben zufügte, spürte er kaum. Er beugte seinen Kopf aus dem Fenster, und als der Wind wieder an seinen Haaren zerrte, bemerkte er, wie furchtbar kalt ihm war und wie elend er sich fühlte.

Von der Flinte war nichts zu sehen. Er machte einige Schritte zurück ins Zimmer. Nach einigen Atemzügen spürte er, wie sich sein Zustand besserte. Mit vorsichtigen Bewegungen erreichte er den Korridor. Der Hörer des Wandtelefons hing an der Strippe.

Er hielt sich die Telefonmuschel ans Ohr – die Leitung war noch immer tot.

Als er die Tür zur Küche aufstieß, drohte ihn erneut eine Ohnmacht zu übermannen. Ein unverständlicher Laut kam über seine Lippen, der in einen Schrei des Entsetzens überging. In diesem Moment des Schocks ahnte er, dass sein ganzes Leben zerstört war. Er kippte gegen die Wand, riss dabei die Küchenuhr herunter, und während sie scheppernd auf den Boden fiel, starrte er die Tote an. Carol lag auf den Rücken, der Pullover war über die Brüste geschoben, der Unterleib entkleidet, die Beine gespreizt. Ihr Kopf wurde von dem schwarzen Schürhaken dreißig Zentimeter über den Boden gehalten – die Stange steckte in der Stirn, ragte am hinteren Schädel wieder heraus, und hatte sich in den Küchenboden gebohrt. Carol war regelrecht aufgespießt worden. Blut, jetzt halb geronnen, bedeckte Gesicht und Haare, und war unter dem Kopf zu einer großen Pfütze zusammengelaufen. Max hatte das Gefühl, seine Lebensenergie würde in einem einzigen Augenblick aus ihm herausgesaugt. Er hatte den Mund weit geöffnet und atmete schnell und flach. Der grauenhafte Anblick nahm ihm in diesem Augenblick alle Kraft.

»Die Kinder«, flüsterte er. Er stieß sich von der Wand ab, riss eine Schublade des Küchenschranks auf und schnappte sich das größte Tranchiermesser, das er finden konnte. »Jenny! Daniel!«

Er stürzte aus der Küche, um seine Kinder zu suchen. Er hoffte so sehr, dass den beiden nichts geschehen war, betete, dass man sie in Ruhe gelassen hatte. Mit wenigen Schritten hastete er ins Obergeschoss und stieß eine Tür nach der anderen auf. Das elterliche Schlafzimmer und die Kinderzimmer waren leer, doch als er ins Bad kam, überwältigte ihn erneut das Entsetzen. Die Wanne war bis zum Rand mit rötlichem Wasser gefüllt, in dem sich die Konturen eines kleinen Körpers abzeichneten. Max ließ das Messer fallen, sprang an das Becken und zog den schlaffen Leichnam der kleinen Jenny hervor. Sie trug noch immer das gepunktete Kleid, von dem nun blutiges Wasser tropfte. Wie in Trance nahm er das tote Mädchen in beide Arme. Ihr Kopf rollte nach hinten und er sah, dass die Kehle der Kleinen mit einem großen Schnitt durchtrennt worden war. Jennys Augen waren geschlossen, ihre nasse Haut weiß wie Papier. Er blickte in ihr bleiches Gesicht und begann am ganzen Körper zu zittern. Vorsichtig trug er sie in ihr Zimmer hinüber, um sie dort auf das Bett zu legen.

Er konnte später nicht mehr sagen, wie lange er an der Bettkante gesessen hatte. Er wusste auch nicht, ob er geweint oder geschrien hatte.

Irgendwann hatte er seine Tochter, die nie einem Menschen oder Tier etwas zuleide getan hatte, zugedeckt – bis zum Hals, bis über die schreckliche, tödliche Wunde. Kein Ausdruck der Angst oder des Schmerzes lag in Jennys Gesicht. Wenigstens das nicht. Doch darin lag nur wenig Trost für Max. Und noch waren nicht alle Gedanken und Gefühle über ihn hereingebrochen, die mit all diesem Entsetzen einhergehen würden. Nie würde er Jennys Einschulung miterleben, niemals würde er sie in ihrem ersten Auto fahren sehen.

Wie ein Schlag traf ihn die Erkenntnis, dass er Daniel vergessen hatte. Obwohl Max nicht wirklich Hoffnung hatte, den Jungen lebend zu finden, bewaffnete er sich wieder mit dem Tranchiermesser und durchsuchte die anderen Zimmer. Er nahm sich Keller und Dachboden vor und durchkämmte die Scheune. In der Garage fand er den Jeep mit zerstochenen Reifen und zerstörtem Funkgerät vor – jedoch nirgendwo eine Spur seines Stiefsohns. Er nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach, um die nähere Umgebung des Hauses abzusuchen.

Schließlich kam er völlig durchgefroren und erschöpft ins Haus zurück. Er wusste, dass er am Tatort nichts verändern durfte, doch er wollte dem toten Körper seiner Frau die Würde geben, die ihm zustand. Das war er Carol schuldig. Noch niemals in seinem Leben war ihm etwas dermaßen schwergefallen.

Er kniete neben der Toten nieder, drückte mit der Linken ihren Kopf, der entsetzlich kalt und klebrig war, nach unten und zog mit der anderen Hand an dem oberen Ende des Schürhakens; doch das Metall bewegte sich keinen Millimeter, so sehr er sich auch bemühte. Er ließ los und atmete schwer. Von draußen war ein Heulen zu hören, das Heulen eines einsamen Hundes, wie Max vermutete. Für einen Moment glaubte er, dass Chuby zurückgekehrt sei, und ein Schauer lief über seinen Rücken.

Dann tat er etwas, was für immer in seinem Gedächtnis blieb, für das er sich zeit seines Lebens schämte, obwohl er es immer wieder tun würde. Er erhob sich, drückte mit dem Schuh gegen Carols Stirn, während er mit beiden Händen an dem Schürhaken zog. Es knirschte und schmatzte, und diesmal gelang es. Ihr Kopf fiel polternd zu Boden und aus dem großen Loch in ihrer Stirn quoll Blut und etwas anderes, etwas Graues. Max drehte sich vom Leichnam weg, kniete sich auf den Boden, legte den Kopf auf die Hände, und während er am ganzen Körper bebte, versuchte er, nicht völlig hysterisch zu werden. Nach einer Weile gelang es ihm, sich wieder zu beherrschen. Er stand auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann holte er eine Wolldecke aus dem Schlafzimmer und deckte seine tote Frau zu.

Was er für Jenny und Carol hatte tun können, war getan. Aber wie konnte er Daniel helfen? Wäre es wirklich vernünftig, die Polizei zu benachrichtigen? Es gab im Moment nur einen Verdächtigen für die Bluttaten: ihn selbst! Vielleicht würde sich seine Unschuld irgendwann einmal herausstellen, doch zunächst würde man ihn einsperren. Dann gäbe es keine Möglichkeit, auf eigene Faust nach Daniel zu suchen oder die Bestie zu stellen, die das hier angerichtet hatte. Max fasste einen Plan. Und bevor er das Haus verließ, trank er eine halbe Flasche Scotch – um seine Nerven zu beruhigen und um die Kälte der Nacht zu überstehen.

 

Constable Myers hatte alles gesehen, auch das tote Mädchen, und er war stolz darauf, dass ihm nicht schlecht geworden war. Für einen jungen Polizisten aus Coldingham gab es nicht viele Dinge, die wirklich spannend waren, und das hier war eine Sache, die man nicht nur in Edinburgh und Glasgow zur Kenntnis nahm, sondern die in ganz Großbritannien für Aufsehen sorgte: Eine Frau und ein Kind bestialisch getötet, und so, wie man die Toten vorgefunden hatte, war ein ritueller Hintergrund nicht auszuschließen. Constable Myers zweifelte nicht daran, dass Max Willard der Täter war. Bedauerlicherweise wurden die Ermittlungen nicht von ihm, sondern von Chefinspektor Howard geleitet, der im Augenblick irgendwo herumstreunte, um nach weiteren Spuren zu suchen.

Hätte Myers das Sagen gehabt, dann wäre längst jeder freie Mann abgestellt worden, um nach Willard zu fahnden. Aber er hatte nichts zu sagen. Die Leute von der Pathologie und der Spurensicherung waren längst abgezogen und er wartete allein im Wohnzimmer der Willards – auf eine Scotland-Yard-Mitarbeiterin, die vor einigen Tagen angereist war, um sich mit den Vermisstenfällen in Coldingham zu beschäftigen.

Die Plastikfolie, die vor dem eingeschlagenen Fenster flatterte, hielt die Kälte kaum zurück und Myers fror. Er trat vor eine Vitrine und überprüfte in der Spiegelung der Scheibe den Sitz von Dienstmütze und Uniform. Selbstzufrieden strich er mit dem Zeigefinger über seinen roten Schnurrbart.

»Constable?«

»Ja?« Er zuckte zusammen und drehte sich um.

Eine Frau, mittelgroß, mit kurzen blonden Haaren, war in den Raum gekommen. Sie trug Bluejeans und eine kurze, weiße Winterjacke. Ihr schmales, hübsches Gesicht strahlte Willensstärke aber auch eine gewisse Kälte aus.

»Haben Sie etwas von Bedeutung entdeckt?«, fragte sie. Ihre blaugrauen Augen blickten ironisch.

»Nur ein Familienfoto«, antwortete Myers verlegen.

»Elaine Lowell.« Sie reichte ihm die Hand und lächelte dabei unverbindlich.

»Ich weiß, ich habe auf sie gewartet.« Myers wunderte sich darüber, dass sie ihren Dienstgrad nicht genannt hatte.

Die junge Frau wandte sich der Vitrine zu. Zwischen zwei Pokalen, den Gravuren nach Auszeichnungen des Schafzüchterverbandes, stand ein großes Familienporträt. Der Mann auf dem Bild hatte ein freundliches, offenes Gesicht. Die gut aussehende Frau, die er umarmte, lächelte melancholisch. Elaine schätzte die beiden auf Anfang vierzig. Vor den Erwachsenen standen zwei Kinder: ein Mädchen, ein süßes Ding mit blondem Haar, und ein größerer Junge.

»Ist das ein aktuelles Bild?«

Myers überlegte einige Sekunden. »Ich habe die Willards vor einigen Monaten auf dem jährlichen Ball des Schafzüchterverbandes gesehen. Das Foto müsste neueren Datums sein.«

»Erzählen Sie mir, was die bisherigen Ermittlungen ergeben haben!«

Myers stupste mit dem Zeigefinger den Schirm seiner Dienstmütze ein wenig höher. »Max Willard ist Amok gelaufen, hat seine kleine Tochter und seine Frau ermordet. Die Frau war schrecklich zugerichtet. Er hat sie vergewaltigt, bevor er sie umbrachte. Jetzt ist er mit seinem Stiefsohn auf der Flucht.«

Elaine sah den Constable überrascht an. »Woher wollen Sie das wissen? Das sind doch Vermutungen, oder?«

Myers blickte verunsichert. »Schlussfolgerungen, die sich aus den Indizien ergeben, Ma'am.«

»Davon kann keine Rede sein. Ich habe Sie nach Tatsachen gefragt, Constable, und nicht nach Theorien.«

»Der Kerl hat seiner Frau einen Schürhaken durch den Kopf gerammt!«, sagte Myers beinahe empört. »Ich bin sicher, dass wir seine Fingerabdrücke auf dem Tatwerkzeug finden werden.«

»Na und? Es ist sein Haus – vermutlich gibt es kaum einen Gegenstand, den er nicht berührt hat. Sie sollten etwas sachlicher an die Dinge herangehen, Constable!«

Der junge Polizist schwieg betreten. Elaine Lowell war seiner Schätzung nach Mitte zwanzig wie er selbst, und es passte ihm nicht, dass sie ihn von oben herab behandelte.

»Versuchen wir es noch einmal!«, sagte sie. »Welche Fakten sind Ihnen bekannt?«

Nun berichtete Myers davon, wie heute früh in der kleinen Polizeistation in Invercavour ein anonymer Hinweis einging, und wie der alte Inspektor McGonagall zur Farm rausfuhr und die Toten entdeckte. Elaine Lowell hörte aufmerksam zu und stellte zwischendurch einige Fragen. Dann besah sie das Wohnzimmerfenster.

»Die Scheibe wurde von außen eingeschlagen«, stellte sie fest. »Das spricht dagegen, dass Willard der Täter ist. Warum hätte er in sein eigenes Haus einbrechen sollen?«

»Vielleicht ist es seiner Frau irgendwie gelungen, ihn auszusperren«, meinte Myers. »Oder er hat es nach der Tat eingeschlagen, um einen Einbruch vortäuschen. Ich vermute jedenfalls, dass die zerstochenen Autoreifen und das zerstörte Funkgerät auf sein Konto gehen.«

»Das wäre alles denkbar«, gab die junge Frau zu. »Doch warum sollte er seiner Tochter die Kehle aufschneiden, sie erst in eine gefüllte Badewanne und dann ins Bett legen? Weshalb sollte er seine Frau auf bestialische Weise töten und sie anschließend mit einem Tuch bedecken?«

»Ich weiß es nicht.« Myers hob ratlos die Schultern. »Was glauben Sie?«

Sie bückte sich, um den Blutfleck unter dem Fenster zu betrachten. »Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich halte es für wahrscheinlich, dass die Familie überfallen wurde.«

Myers schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn Willard unschuldig ist, warum ist er dann geflohen?«

»Vielleicht will er selbst nach dem Täter suchen.«

»Daran könnte etwas Wahres sein, Miss Lowell.« Ein kleiner, rundlicher Mann war lautlos ins Zimmer gekommen. Er trug einen Bowler und hatte eine Zigarre im Mund.

Elaine hatte Chefinspektor Howard von der Mordkommission bereits vor einigen Tagen kennengelernt. Er kam auf sie zu und reichte ihr die Hand, woraufhin sie unmerklich das Gesicht verzog, denn der Inspektor hatte einen überaus festen Händedruck.

»Entschuldigen Sie, dass ich nicht auf Sie gewartet habe!«, fuhr er fort. »Aber ich habe eine interessante Entdeckung gemacht. Nicht weit von hier befindet sich die Verteilerstation für die örtlichen Telefonleitungen – die Relais wurden herausgerissen.«

»Das passt zu dem zerstörten Funkgerät im Rover«, sagte Elaine.

»Richtig. Jemand wollte verhindern, dass die Willards Hilfe herbeirufen«, stimmte der Inspektor zu. »Sonst sieht es mit Spuren sehr dünn aus – der Schneesturm hat ganze Arbeit geleistet. Ich bin mir aber sicher, dass der Täter zu Fuß kam, schließlich wurde die Straße erst heute früh geräumt.«

»Unser Mann kennt sich vermutlich in der Umgebung aus.«

»Das denke ich auch. Wir werden uns gründlich in den umliegenden Orten umhören. Glauben Sie, dass es einen Zusammenhang zwischen dem, was hier geschehen ist, und den Vermisstenfällen in Coldingham gibt, Miss Lowell?«

»Ich möchte in Invercavour bleiben, um das festzustellen«, antwortete sie knapp. »Gibt es dort ein Hotel?«

»Ja, das Invercavour Country House. Es liegt direkt am Marktplatz, Sie können es nicht verfehlen.«

»Gut. Ich werde mein Gepäck aus Coldingham holen.« Sie dankte Myers und Howard für die Auskünfte und verabschiedete sich.

Der Inspektor schob die Plastikfolie vor dem Fenster ein wenig beiseite und beobachtete, wie die Engländerin in ihren Wagen stieg und davonfuhr. »Die Wichtigtuer in London scheinen zu meinen, dass die schottische Polizei ihre Fälle nicht selbst lösen kann.« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich bin seit fünfunddreißig Jahren im Dienst, aber dieses junge Ding ist mit mehr Vollmachten ausgestattet als ich.«

»Vermutlich hat sie den Kerlen beim Yard den Kopf verdreht«, meinte Myers. »Schönheit geht vor Können, das wissen Sie doch, Sir.«

»Die arbeitet nicht für Scotland Yard«, murmelte Howard. »Da steckt etwas ganz anderes dahinter.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ach, nichts ...«

 

 

2. Kapitel

 

Einige Wochen zuvor, im Herbst desselben Jahres

William McKennan hatte den schmalen Uferweg am Loch Sinclair passiert, jetzt lag die steile, aus Feldsteinen bestehende Treppe vor ihm, die zum angrenzenden Wald hinaufführte. Seitdem er vor zwei Jahren nach Sinclair gezogen war, spazierte er fast jeden Tag dieselbe Strecke entlang. Er kannte diesen Weg in- und auswendig. McKennans Route führte über Wiesen und Felder zu dem großen See, in dem ein Wasserschloss lag, und schließlich durch einen Mischwald zurück nach Sinclair. Dort besaß er ein kleines Haus, in dem er seinen Lebensabend verbrachte. Er liebte ausgedehnte Spaziergänge und bedauerte es sehr, dass er nur von seiner Hündin Gretel begleitet wurde.

Der mittelgroße, untersetzte Mann sah ein wenig absonderlich aus in seinen weiten Hosen und der Winterjacke, die mit Wimpeln verschiedener Wandervereine bestickt war; als Kopfbedeckung trug er ein kariertes Barett. Der Fünfundsechzigjährige hatte bis zu seiner Pensionierung als Mathematiklehrer gearbeitet und war zeitlebens ein überaus korrekter, ordnungsliebender Mann gewesen, der ob seines Diensteifers von den Kollegen bewundert und von den Schülern gehasst wurde.

Seine Leidenschaft für Pünktlichkeit und Sauberkeit war die Ursache dafür, dass er keine Freunde hatte. Auch beim anderen Geschlecht war er stets glücklos geblieben. Keine Frau hielt es länger als einige Wochen bei ihm aus, und vor zwanzig Jahren hatte er es aufgegeben, sich um eine Lebensgefährtin zu bemühen.

Er stützte sich auf seinen Spazierstock und begann damit, die Treppe hinaufzusteigen. Gretel, die dreijährige Dackeldame, stand an der Uferböschung und wühlte mit den Vorderpfoten im Schnee. Als sie sah, dass ihr Herrchen weiterging, sprang sie ihm fröhlich hinterher.

McKennan war ein geübter Wanderer und nahm die sechsundzwanzig Stufen recht zügig. Oben angekommen drehte er sich um und betrachtete das Panorama, das sich ihm darbot.

Loch Sinclair war ein strahlendblauer See, umgeben von bewaldeten Bergen, die sich im Wasser spiegelten.

Das Schloss lag auf einer kleinen Insel, die wie der Panzer einer Schildkröte aussah. Eine gewölbte Brücke verband das Eiland mit dem steilen Ufer. Sie war gut und gern fünfundzwanzig Meter lang und fußte auf einer aus Feldsteinen aufgeschütteten Rampe, die in den See hineinragte.

Das Schloss machte einen kalten, abweisenden Eindruck. Im Mauerwerk waren nur wenige, dunkle Fenster zu erkennen, die früher einmal als Schießscharten gedient haben mochten. Das gewaltige Tor zum Vorhof bestand aus schwarz gestrichenem Holz und wirkte auf William McKennan immer wie ein großes, höhnisch grinsendes Maul.

Schon oft war dem Pensionär aufgefallen, dass die Möwen, die tagsüber ihre Kreise am Himmel zogen, die Nähe des Wasserschlosses mieden. Auch die Schwäne und Enten im See hielten sich von dem düsteren Gebäude fern, um das sich gruselige Erzählungen rankten.

McKennan tat die Gerüchte als typisch schottische Spukgeschichten ab. Die Bewohner Sinclairs lockten mit den Schauermärchen viele Touristen in die Umgebung. Das fand McKennan nur zu verständlich, da der kleine Ort finanziell auf den Fremdenverkehr angewiesen war.

Die Bewohner des Schlosses bekam man selten zu Gesicht. McKennan wusste dennoch, wer in dem unansehnlichen Bauwerk lebte. Der Schlossherr war ein dürrer Kerl, mit schwarzen Haaren und bleicher Haut – sein Name war Radmin Cardor, angeblich ein Adliger aus Osteuropa. Er beherbergte drei junge Burschen, die wohl seine Zöglinge waren. McKennan war diesen Halbstarken bisher nur einmal begegnet, aber die Erinnerung daran verursachte ihm noch immer eine Gänsehaut.

Die Drei randalierten vor einem Jahr in den Straßen Sinclairs, riefen unflätige Ausdrücke und entleerten sogar einen Mülleimer vor dem Portal der Kirche. Das war an einem Sonntagmorgen gewesen und William McKennan hatte sich am Marktplatz gerade die aktuelle Ausgabe des konservativen Wochenjournals gekauft, das er seit Jahrzehnten regelmäßig las, und natürlich entging ihm der Auftritt der Rowdys nicht. Als ehemaliger Lehrer war er den Umgang mit flegelhaften Schülern gewohnt, und so trat er den jungen Männern schneidig entgegen.

»Heben Sie den Unrat sofort wieder auf! Und anschließend sehen Sie zu, dass Sie von hier verschwinden!«, hatte er ihnen mit befehlsgewohnter Stimme zugerufen.

Doch damit konnte er die drei nicht beeindrucken. Der Größte und Kräftigste von ihnen, ein rothaariger Grobian, kam auf McKennan zu und packte ihn am Kragen. Der Bursche mochte achtzehn Jahre alt sein, hatte eine breite Nase und einen lippenlosen Mund, und in seinen schräg gestellten Augen loderte für einige Sekunden das Spiegelbild einer Flammensäule auf, das hätte McKennan beschwören können. Wer weiß, was der unheimliche Rotfuchs getan hätte, wenn nicht Pfarrer Ernest Redcliff dazugekommen wäre. Redcliff trug eine Kette um den Hals, an der ein handgroßes Messingkreuz befestigt war; der Geistliche zeichnete mit dem Zeigefinger der Rechten ein Kruzifix in die Luft und sprach gleichzeitig die ersten Worte des Vaterunsers, worauf der Rotfuchs von William McKennan abließ. Die dreisten Kerle rannten wie von der Tarantel gestochen davon; sie verschwanden aus der Ortschaft und wurden dort monatelang nicht mehr gesehen. Bevor Redcliff ins Pfarrhaus zurückging, gab er McKennan den Rat, sich nie wieder mit den Bewohnern des Schlosses abzugeben.

Seit diesem Vorfall waren ihm die Burschen nicht mehr über den Weg gelaufen. In der Ferne ballten sich jetzt dunkle Wolkenformationen zusammen, und McKennan erinnerte sich daran, dass die Wettervorhersage ein Gewitter angekündigt hatte. Er beschloss, zügig nach Sinclair zurückzukehren. Gretel hockte mit gekrümmtem Rücken auf der obersten Stufe der Treppe und urinierte. Es plätscherte leise, während die Flüssigkeit über die Steine nach unten rann. Der Pensionär wartete, bis der Dackel fertig war, und ging dann in den Wald hinein.

 

Einige Hundert Meter entfernt bestand der Forst aus Birken, Buchen und verschiedenen Nadelbäumen. Aber an einer Stelle, die von den Menschen gemieden wurde, ragten drei gewaltige Eichen in die Höhe. Sie waren nicht auf natürliche Weise gewachsen, sondern mittels schwarzer Magie von Radmin Cardor geschaffen worden, der ein mächtiger Hexer war. Er beherrschte die Pflanzen, konnte sie mit wenigen Handbewegungen verdorren lassen, aber auch zum Erblühen bringen. Die jungen Dämonen, die sich in seiner Obhut befanden, hießen Devron Zarges, Juan Alban und Maurice Leboucher – Schwächlinge, wie sie im Buche standen, Abkömmlinge degenerierter Sippen.

Zähneknirschend hatte Radmin Cardor vor Jahren die Aufgabe übernommen, die Halbwüchsigen in den schwarzmagischen Künsten zu unterweisen. Er beschloss damals, für jeden von ihnen eine Eiche zu pflanzen. Die Baumsamen entstanden in seinem Labor auf Schloss Sinclair.

Der Hexer vergrub sie in einer Vollmondnacht im Boden des nahen Waldes, und augenblicklich entstanden Sprösslinge, die er in den nachfolgenden Tagen regelmäßig mit Tier- und Menschenblut nährte, bis sie innerhalb weniger Monate zur vollen Größe von dreißig Metern heranwuchsen. Die Eichen waren ungemein kräftig und widerstandsfähig, und sie dienten nur einem Zweck: Radmins Zöglinge sollten zum Abschluss ihrer Ausbildung jeweils den ihnen zugedachten Baum mit magischen Kräften vernichten. Das war keine besonders schwere Aufgabe, aber die jungen, schwachen Dämonen sollten beweisen, dass sie wenigstens eine solch einfache Tat vollbringen konnten. Ihr weiteres Schicksal würde davon abhängen.

Der Tag der Prüfung rückte näher, und Devron, Juan und Maurice hielten sich immer öfters im Wald auf. Auch jetzt saßen sie auf einem umgestürzten Baum und blickten mit gemischten Gefühlen zu den geheimnisvollen Eichen hinüber, die im Halblicht des Waldes wie riesige Monstren wirkten. Von den knorrigen Bäumen ging eine furchterregende Aura aus, die selbst den jungen Dämonen zu schaffen machte.

Sie wussten nicht, wie es Radmin Cardor gelungen war, diese hölzernen Riesen zu erschaffen, aber sie hatten das Gefühl, dass die Bäume von irgendeiner grotesken Form von Bewusstsein erfüllt waren. Mitunter bewegten sich die Äste und Zweige der Giganten selbst dann, wenn es absolut windstill war, und manchmal klang es so, als wisperten unheimliche Stimmen in den Baumkronen.

Der rothaarige Maurice Leboucher war während seines Aufenthalts auf dem Schloss zu einem zwei Meter großen Muskelpaket herangewachsen. Obgleich sein Körper sich rasch entwickelt hatte, schien die Intelligenz des Feuerteufels auf dem Niveau eines Zehnjährigen stehen geblieben zu sein. An Boshaftigkeit mangelte es ihm jedoch nicht. Da es ihm noch verboten war, seine finsteren Triebe an den Menschen auszulassen, nahm er sich immer wieder den schwächlichen Juan Alban vor. Er quälte den sensiblen Dämon bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot.

Juan war keine hundertfünfzig Zentimeter groß, hatte einen unförmigen, haarlosen Kopf und kurze, stämmige Extremitäten. Obwohl er sechzehn Jahre alt war, wirkte sein Gesicht so jung wie das eines Schulanfängers. Er besaß keinerlei übernatürliche Fähigkeiten und war auch nicht in der Lage, die einfachsten schwarzmagischen Beschwörungen fehlerfrei auszuführen. Der unfähige Dämon saß jetzt dicht bei Devron Zarges, von dem er sich Beistand erhoffte.

Maurice Leboucher gab einen hässlichen nasalen Laut von sich und spuckte einen Batzen dampfenden Speichels in Richtung der Eichen.

»Juan, du Versager«, sagte er dann, »hast du schon eine Idee, wie du deinen Baum niedermachen willst?«

Juan senkte den Blick zum Waldboden und studierte die abgefallenen rotbraunen Blätter. Natürlich wusste er, dass er die Aufgabe kaum würde bewältigen können.

»Mach dir nichts daraus«, stichelte Maurice weiter. »Vielleicht hat man ja Mitleid mit dir und macht dich nicht zum Freak. Warum auch? Eine Missgeburt bist du ohnehin schon.«

Die jungen Dämonen lebten abgeschnitten vom Rest der Welt. Von Neuigkeiten innerhalb der Schwarzen Familie erfuhren sie nur, wenn sie die Gespräche belauschten, die ihr Herr und Meister Radmin Cardor mit den Schwarzblütigen führte, die Schloss Sinclair ab und zu besuchten. Maurice hatte gehört, dass Luguri tot war und Zakum nun die Geschäfte der Familie leitete.

Jetzt mischte sich Devron Zarges ein.

»Und was ist mit dir, Großmaul?« Er sah Maurice Leboucher direkt in die Augen. »Meinst du, dass du deinem Baum mit einem kläglichen Feuerzauber beikommen kannst?«