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Stanislas Dehaene

Denken

Wie das Gehirn

Bewusstsein schafft

Aus dem Englischen
von Helmut Reuter

Knaus

Das Original erschien 2014 unter dem Titel

»Consciousness and the Brain« bei Viking, einem Verlag der
Penguin Group, New York.

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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © Viking Penguin

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Thomas Bertram

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-14774-7

www.knaus-verlag.de

Inhalt

Einführung: Der Stoff, aus dem Gedanken sind

1 – Bewusstsein erreicht das Labor

2 – Die Tiefen des Unbewussten

3 – Wozu dient Bewusstsein?

4 – Die Signaturen eines bewussten Gedankens

5 – Auf dem Weg zu einer Theorie des Bewusstseins

6 – Der entscheidende Test

7 – Die Zukunft der Bewusstseinsforschung

Danksagungen

Bibliographie

Abbildungsnachweise

Register

Namensregister

Einführung: Der Stoff, aus dem Gedanken sind

Tief im Inneren der Höhle von Lascaux, hinter der weltberühmten Halle der Stiere, wo Künstler des Paläolithikums eine bunte Menagerie von Pferden, Rotwild und Stieren gemalt haben, beginnt ein weniger bekannter Korridor, der als Apsis bezeichnet wird. Dort, am Ende einer Höhle von etwa fünf Metern, findet sich neben schönen Zeichnungen eines verwundeten Bisons und eines Nashorns eine der in der prähistorischen Kunst seltenen Abbildungen eines Menschen (Abb. 1). Der Mann liegt mit ausgebreiteten Armen und nach oben gewendeten Handflächen auf dem Rücken. Neben ihm sitzt ein Vogel auf einem Stab. In seiner Nähe liegt ein zerbrochener Speer, der wahrscheinlich dazu verwendet worden ist, den Bison aufzuschlitzen, dessen Eingeweide heraushängen.

Es handelt sich eindeutig um einen Mann, denn sein Penis ist erigiert. Und das, meint der Schlafforscher Michel Jouvet, erhelle die Bedeutung des Bildes: Es zeige einen Träumenden und seinen Traum.[1] Wie Jouvet und sein Team herausgefunden haben, treten Träume vor allem während einer speziellen Schlafphase auf, die sie als »paradox« bezeichnen, weil sie anders aussieht als der normale Schlaf: Während dieser Periode ist das Gehirn fast genauso aktiv wie im Wachzustand, und die Augen bewegen sich unablässig in alle möglichen Richtungen. Bei Männern ist diese Phase ausnahmslos mit einer starken Erektion verbunden (auch wenn der Traum keine sexuellen Aspekte enthält). Obwohl die Wissenschaft diese merkwürdige physiologische Tatsache erst im 20. Jahrhundert zur Kenntnis genommen hat, dürften unsere Vorfahren sie, wie Jouvet scherzhaft anmerkt, problemlos bemerkt haben. Und der Vogel erscheint als die selbstverständlichste Metapher für die Seele des Träumenden – im Traum fliegt der Geist, frei wie ein Vogel, zu fernen Orten und in vergangene Zeiten.

Gäbe es in der Kunst und in der Symbolik aller möglichen Kulturen nicht bemerkenswert häufig Darstellungen von Schlaf, Vögeln, Seelen und Erektionen, könnte man diese Vorstellung für weit hergeholt halten. Im Alten Ägypten symbolisierte ein oft mit einem erigierten Phallus abgebildeter Vogel mit menschlichem Kopf den Ba, die immaterielle Seele. In jedem Menschen, so hieß es, hause ein unsterblicher Ba, der nach dem Tod des Menschen ausfliege, um das Jenseits zu suchen. Eine herkömmliche Darstellung des großen Gottes Osiris, die der Malerei in der Apsis von Lascaux auf unheimliche Weise ähnelt, zeigt ihn auf dem Rücken liegend, mit erigiertem Penis, während die Eule Isis über seinem Körper schwebt und sein Sperma aufnimmt, um Horus zu zeugen. Ähnlich wird die Seele in den Upanishaden, den heiligen Texten der Hindus, als Taube dargestellt, die beim Tod davonfliegt und als Geist zurückkehren kann. Jahrhunderte später hat man Tauben und andere Vögel mit weißen Schwingen als Symbol für die christliche Seele, den Heiligen Geist und die auf die Erde kommenden Engel gewählt. Vom ägyptischen Phönix, dem Symbol der Auferstehung, bis hin zum finnischen Sielulintu, dem Seelenvogel, der den Neugeborenen eine Seele bringt und sie den Sterbenden nimmt, treten fliegende Geister als universelle Metapher für den autonomen Geist auf.

Abb. 1. Der Geist kann fliegen, während der Körper reglos ist. In dieser vor etwa 18 000 Jahren entstandenen prähistorischen Zeichnung liegt ein Mann auf dem Rücken. Wahrscheinlich schläft er und träumt, worauf seine ausgeprägte Erektion hinweist, die charakteristisch ist für den REM-Schlaf, in dem besonders lebhafte Träume auftreten. Neben ihn hat der Künstler einen ausgeweideten Bison und einen Vogel gemalt. Der Schlafforscher Michel Jouvet meint, dies könne eine der ersten Darstellungen eines Träumenden und seines Traumes sein. In vielen Kulturen symbolisiert der Vogel die Fähigkeit des Menschen, in seinen Träumen zu fliegen – eine Vorahnung des Dualismus, der irrigen Anschauung, dass Gedanken einem anderen Reich als dem des Körpers angehören.

Hinter der Allegorie des Vogels steht eine Anschauung: Der Stoff, aus dem unsere Gedanken sind, unterscheidet sich grundsätzlich von der niederen Materie, die unseren Körper bildet. Im Traum, wenn der Körper regungslos daliegt, wandern die Gedanken in die fernen Reiche der Fantasie und der Erinnerung. Könnte es einen besseren Beweis dafür geben, dass mentale Aktivität nicht auf die materielle Welt zu reduzieren ist? Dass der Geist aus einem eigenen Stoff besteht? Wie könnte der frei fliegende Geist je aus einem erdgebundenen Gehirn hervorgegangen sein?

Descartes’ Herausforderung

Die Vorstellung, der Geist gehöre einem separaten Reich an, wurde in wichtigen philosophischen Texten schon früh theoretisch abgehandelt, etwa in Platons Timaios (4. Jahrhundert v. Chr.) und in Thomas von Aquins Summa Theologica (1265 – 1274), einem für das christliche Verständnis der Seele grundlegenden Text. Doch es war der französische Philosoph René Descartes (1596 – 1650), der explizit festhielt, was heute als Dualismus bekannt ist: die These, wonach der bewusste Geist aus einer immateriellen Substanz besteht, die sich den normalen Gesetzen der Physik entzieht.

In den Neurowissenschaften ist es zur Mode geworden, sich über Descartes lustig zu machen. Nach Antonio Damasios Bestseller Descartes’ Irrtum aus dem Jahr 1994[2] haben viele zeitgenössische Lehrbücher damit angefangen, auf Descartes einzuprügeln, weil er die Forschung der Neurowissenschaften angeblich um Jahre zurückgeworfen habe. In Wahrheit war Descartes jedoch ein bahnbrechender Wissenschaftler und letztlich ein Reduktionist, dessen mechanistische Analyse des menschlichen Geistes, ihrer Zeit weit voraus, die erste Übung in synthetischer Biologie und theoretischer Modellbildung darstellte. Descartes’ Dualismus war keine Laune des Augenblicks – sie beruhte auf einem logischen Argument, das behauptete, eine Maschine könne niemals imstande sein, die Freiheit des bewussten Geistes nachzuahmen.

Der Begründer der modernen Psychologie, William James, erkennt an, was wir ihm verdanken: »Descartes kommt das Verdienst zu, als Erster kühn genug gewesen zu sein, sich einen vollkommen selbstgenügsamen Nervenmechanismus vorzustellen, der in der Lage sein sollte, komplizierte und erkennbar intelligente Handlungen zu vollziehen.«[3] Tatsächlich hat Descartes in visionären Abhandlungen mit den Titeln Description du corps humain, Die Leidenschaften der Seele und Abhandlung über den Menschen eine entschieden mechanistische Sicht auf die inneren Vorgänge des Körpers vorgestellt. Wir seien ausgeklügelte Automaten, schrieb dieser kühne Philosoph. Unser Körper und unser Gehirn verhalten sich demnach wie eine Anordnung von »Organen«: wie Musikinstrumente, ähnlich denen, die in den Kirchen seiner Zeit zu finden waren; mit großen Blasebälgen, die eine besondere Flüssigkeit, die »Lebensgeister«, zunächst in Vorratsbehälter zwingen und dann den unterschiedlichsten Pfeifen zuführen, deren Kombinationen all die Rhythmen und Melodien unserer Handlungen erzeugen.

»Ich wünsche, dass man schließlich aufmerksam beachte, dass alle Funktionen, die ich dieser Maschine zugeschrieben habe, z. B. die Verdauung der Nahrung, das Schlagen des Herzens und der Arterien, die Ernährung und das Wachstum der Glieder, die Atmung, das Wachen, Schlafen, die Aufnahme des Lichtes, der Töne, der Gerüche, des Geschmacks, der Wärme und anderer solcher Qualitäten über die äußeren Sinnesorgane, den Eindruck ihrer Wahrnehmungen auf das Organ des Sensus communis und der Einbildungskraft, die Zurückhaltung oder Verankerung dieser Ideen im Gedächtnis, die inneren Bewegungen des Appetits und der Gemütsbewegungen und schließlich die äußeren Bewegungen aller Glieder, die sowohl den Bewegungen der Objekte, die sich den Sinnen darbieten, in passender Weise so folgen … man bedenke, dass die Funktionen in dieser Maschine alle von Natur aus allein aus der Disposition ihrer Organe hervorgehen, nicht mehr und nicht weniger, als die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten von der Anordnung ihrer Gewichte und ihrer Räder abhängen.«[4]

Descartes’ hydraulisches Gehirn hatte kein Problem damit, die Hand zu einem Objekt zu bewegen. Die visuellen Merkmale des Objekts, die auf die innere Oberfläche des Auges einwirkten, aktivierten eine spezielle Anordnung von Röhren. Ein in der Zirbeldrüse lokalisiertes inneres System der Entscheidungsfindung neigte sich daraufhin in eine bestimmte Richtung, womit die Lebensgeister zu fließen begannen und genau die passende Bewegung der Glieder auslösten (Abb. 2). Erinnerung entsprach der selektiven Verstärkung einiger dieser Leitungen – eine kluge Vorwegnahme der zeitgenössischen Vorstellung, dass Lernen auf Veränderungen der Verschaltungen des Gehirns beruht (»Neuronen, die gemeinsam feuern, bilden gemeinsame Leitungsbahnen«). Descartes präsentierte sogar ein explizit mechanistisches Modell des Schlafes, den er sich als reduzierten Druck der Lebensgeister vorstellte. Wenn die Quelle der Lebensgeister üppig sprudelte, zirkulierten sie durch alle Nerven, und diese unter Druck stehende Maschine, bereit, auf jeglichen Reiz zu reagieren, lieferte ein akkurates Modell des Wachzustandes. Wenn der Druck schwächer wurde, was den Lebensgeistern nur noch erlaubte, wenige Fasern zu bewegen, schlief die Person ein.

Abb. 2. René Descartes’ Theorie des Nervensystems lieferte keine vollkommen materialistische Konzeption des Denkens. In der Abhandlung über den Menschen, die 1664 posthum veröffentlicht wurde, sah Descartes voraus, dass Sehen und Handeln aus einer entsprechenden Anordnung der Verbindung zwischen dem Auge, der Zirbeldrüse im Gehirn und den Armmuskeln hervorgehen könnten. Er stellte sich das Gedächtnis als selektive Verstärkung dieser Verbindungswege vor – ähnlich Löchern, die in ein Gewebe gestanzt werden. Sogar Fluktuationen des Bewusstseins konnten durch Variationen im Druck der Lebensgeister erklärt werden, welche die Zirbeldrüse bewegen: Hoher Druck führte zum Wachzustand, niedriger Druck zum Schlaf. Trotz seiner mechanistischen Einstellung glaubte Descartes, Seele und Körper bestünden aus unterschiedlichen Arten von Materie, die durch die Zirbeldrüse miteinander in Wechselwirkung träten.

Descartes schloss seine Abhandlung mit einem lyrischen Appell an den Materialismus – was ziemlich überraschend war, weil er aus der Feder des Begründers des Substanzdualismus stammte:

»Daher ist es in keiner Weise erforderlich, hier für diese (die Maschine) eine vegetative oder sensitive Seele oder ein anderes Bewegungs- und Lebensprinzip anzunehmen als ihr Blut und ihre Spiritus, die durch die Hitze des Feuers bewegt werden, das dauernd in ihrem Herzen brennt und das keine andere Natur besitzt als alle Feuer, die sich in unbeseelten Körpern befinden.«

Doch warum bekräftigte Descartes dann die Existenz einer immateriellen Seele? Weil ihm klar wurde, dass sein mechanistisches Modell keine materialistische Erklärung für die höheren Fähigkeiten des menschlichen Geistes liefern konnte.[5] Zwei wichtige mentale Funktionen schienen für immer außerhalb der Möglichkeiten seiner Körpermaschine zu liegen. Das war einmal die Fähigkeit, ihre Gedanken mittels der Sprache mitzuteilen. Descartes konnte nicht erkennen, wie eine Maschine je imstande sein sollte, »Wörter oder Zeichen zum Gebrauch zusammenzusetzen, so wie wir es tun, um unsere Gedanken anderen zu erläutern«. Reflexhafte Schreie stellten kein Problem dar, da eine Maschine stets so konstruiert werden konnte, dass sie als Reaktion auf eine spezielle Eingabe spezielle Töne von sich gab; doch wie sollte eine Maschine in der Lage sein, auf eine Frage zu antworten, »wie das selbst der stumpfsinnigste Mensch vermag«?

Die zweite mentale Funktion, die ein Problem darstellte, war flexibles Nachdenken. Eine Maschine ist eine festgelegte Vorrichtung, die nur starr – »entsprechend der Anordnung ihrer Organe« – handeln kann. Wie sollte sie je eine unendliche Vielfalt von Gedanken hervorbringen können? »Es ist moralisch unmöglich, dass es deren so viele in einer Maschine gibt, um in allen Vorkommnissen des Lebens so zu handeln, wie wir es durch die Vernunft können.«

Descartes’ Herausforderungen an den Materialismus gelten bis heute. Wie könnte eine Maschine wie das Gehirn sich je verbal äußern – mit all den Feinheiten der menschlichen Sprache – und über seine eigenen mentalen Zustände nachdenken? Und wie könnte es in flexibler Weise vernünftige Entscheidungen treffen? Mit diesen entscheidenden Fragen muss sich jede Wissenschaft vom Bewusstsein beschäftigen.

Das letzte Problem

Wir Menschen können viele Lichtjahre entfernte Galaxien ausfindig machen und Teilchen untersuchen, die kleiner sind als ein Atom, doch die Geheimnisse der drei Pfund Materie, die zwischen unseren Ohren liegt, haben wir immer noch nicht entschlüsselt.

Barack Obama anlässlich der Ankündigung der BRAIN-Initiative (2. April 2013)

Dank Euklid, Karl Friedrich Gauß und Albert Einstein verfügen wir über ein vernünftiges Verständnis der mathematischen Prinzipien, welche die physikalische Welt beherrschen. Auf den Schultern solcher Giganten wie Isaac Newton und Edwin Hubble stehend, verstehen wir, dass unsere Erde lediglich ein Staubkorn innerhalb von Milliarden Galaxien ist, die aus einer ersten Explosion, dem Big Bang, hervorgegangen sind. Und Charles Darwin, Louis Pasteur, James Watson und Francis Crick haben uns gezeigt, dass das Leben aus Milliarden in der Evolution entstandenen chemischen Reaktionen besteht – alles nichts als reine Physik.

Allein die Geschichte der Entstehung des Bewusstseins scheint in mittelalterlicher Dunkelheit zu verbleiben. Wie denke ich? Was ist dieses »Ich«, das anscheinend das Denken vollbringt? Wäre ich anders, wenn ich zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort oder in einem anderen Körper zur Welt gekommen wäre? Wohin gehe ich, wenn ich einschlafe, träume und sterbe? Geht all das aus meinem Gehirn hervor? Oder bin ich zum Teil ein Geist, der aus einem eigenen Stoff des Denkens besteht?

Diese irritierenden Fragen haben so manchen hellen Kopf in Schwierigkeiten gebracht. Der französische Humanist Michel de Montaigne beklagte sich im Jahr 1580 in einem seiner berühmten Essays, dass er in dem, was frühere Denker über die Natur der Seele geschrieben hätten, keinen Zusammenhang erkennen könne – sie alle seien sowohl hinsichtlich ihrer Natur als auch ihres Sitzes im Körper unterschiedlicher Ansicht: »Hippokrates und Herophilos siedeln sie in der Gehirnkammer an; Demokrit und Aristoteles verteilen sie über den ganzen Körper, Epikur weist ihr den Bauch zu, die Stoiker bringen sie am und im Herzen unter, (…) Empedokles in den Adern; (…) Galen meinte, jeder Körperteil habe seine eigene Seele, und Straton sah ihren Sitz zwischen den beiden Augenbrauen.«[6]

Das ganze 19. und 20. Jahrhundert hindurch lag die Frage nach dem Bewusstsein außerhalb der Grenzen normaler Wissenschaft. Es war ein verschwommenes, unzureichend definiertes Gebiet, dessen Subjektivität es für immer außerhalb der Reichweite objektiver experimenteller Untersuchung platzierte. Viele Jahre lang wollte kein seriöser Forscher das Problem in Angriff nehmen: Spekulationen über das Bewusstsein waren ein toleriertes Hobby für den alternden Wissenschaftler. In seinem Lehrbuch Psychology, the Science of Mental Life (1962) schlug George Miller, der Begründer der kognitiven Psychologie, einen offiziellen Bann vor: »Bewusstsein ist ein Wort, das von einer Million Zungen abgenutzt worden ist. (…) Vielleicht sollten wir das Wort für ein oder zwei Jahrzehnte verbannen, bis wir präzisere Begriffe für die verschiedenen Verwendungen entwickeln können, die von ›Bewusstsein‹ im Augenblick verdunkelt werden.«

Und es wurde verbannt. Als Student entdeckte ich Ende der 1980er-Jahre zu meiner Überraschung, dass wir das B-Wort bei Laborkonferenzen nicht verwenden durften. Selbstverständlich untersuchten wir alle auf die eine oder andere Weise das Bewusstsein, wenn wir Probanden baten, das eben Gesehene in Kategorien einzuordnen oder im Dunkeln mentale Vorstellungen zu entwickeln. Das Wort selbst allerdings blieb tabu: Es wurde in keiner seriösen wissenschaftlichen Publikation verwendet. Sogar als Forscher kurze Bilder an der Schwelle bewusster Wahrnehmung der Probanden aufleuchten ließen, hielten sie nur ungern fest, ob die Teilnehmer die Stimuli sahen oder nicht. Abgesehen von wenigen wichtigen Ausnahmen[7] herrschte allgemein das Gefühl vor, die psychologische Wissenschaft werde nicht bereichert, wenn man den Ausdruck Bewusstsein verwende. In der sich herausbildenden positiven Kognitionswissenschaft sollten mentale Vorgänge allein in Begriffen der Informationsverarbeitung und deren molekularer und neuronaler Umsetzung beschrieben werden. Bewusstsein war unzureichend definiert, nicht notwendig und überholt.

In den späten 1980er-Jahren änderte sich dann alles. Heute findet sich das Problem des Bewusstseins an der vordersten Front der neurowissenschaftlichen Forschung. Es ist ein aufregendes Feld mit eigenen wissenschaftlichen Gesellschaften und Fachzeitschriften. Und man fängt an, Descartes’ zentrale Herausforderungen anzugehen – etwa, wie unser Gehirn eine subjektive Perspektive generiert, die wir flexibel nutzen und anderen mitteilen können. Dieses Buch erzählt, wie es zu dieser Wende kam.

Das Bewusstsein wird geknackt

In den vergangenen 20 Jahren haben die Fachgebiete Kognitionswissenschaft, Neurophysiologie und funktionelle Gehirndarstellung einen fundierten empirischen Angriff auf das Bewusstsein organisiert. Dadurch hat das Problem seinen spekulativen Status verloren und ist zu einem Gegenstand experimentellen Einfallsreichtums geworden.

In diesem Buch möchte ich sehr detailliert die Strategie nachzeichnen, die ein philosophisches Mysterium in ein Laborphänomen verwandelt hat. Dieser Wandel wurde durch drei fundamentale Zutaten ermöglicht: die Formulierung einer besseren Definition von Bewusstsein; die Entdeckung, dass das Bewusstsein experimentell manipuliert werden kann; und eine neue Achtung vor subjektiven Phänomenen.

Das Wort Bewusstsein ist im allgemeinen Sprachgebrauch mit unscharfen Bedeutungen befrachtet, die ein breites Spektrum komplexer Erscheinungen abdecken. Unsere erste Aufgabe wird also darin bestehen, Ordnung in diesen verworrenen Stand der Dinge zu bringen. Wir müssen unseren Gegenstand auf einen genau umrissenen Bereich verengen, der präzisen Experimenten unterzogen werden kann. Wie wir sehen werden, unterscheidet die aktuelle Wissenschaft vom Bewusstsein mindestens drei Vorstellungen: Vigilanz – der Wachzustand, der sich verändert, wenn wir einschlafen oder aufwachen; Aufmerksamkeit – sie fokussiert unsere mentalen Ressourcen auf eine spezifische Information; und bewusster Zugang – die Tatsache, dass einiges von der beachteten Information schließlich unsere bewusste Wahrnehmung erreicht und anderen mitgeteilt werden kann.

Als eigentliches Bewusstsein zählt, wie ich darlegen werde, der bewusste Zugang – die einfache Tatsache, dass gewöhnlich alles, worauf wir im wachen Zustand unsere Aufmerksamkeit richten, bewusst werden kann. Weder Vigilanz noch Aufmerksamkeit allein reicht dazu aus. Wenn wir vollkommen wach und aufmerksam sind, können wir manchmal ein Objekt sehen und anderen mitteilen, was wir wahrgenommen haben. Doch manchmal können wir das nicht – vielleicht war das Objekt zu undeutlich, oder es blitzte zu kurz auf, um sichtbar zu sein. Im ersten Fall heißt es, uns gelinge der bewusste Zugang, im zweiten gelingt er uns angeblich nicht (obwohl unser Gehirn, wie wir noch sehen werden, die Information vielleicht unbewusst verarbeitet).

In der neuen Wissenschaft vom Bewusstsein ist der bewusste Zugang ein gut definiertes und von Vigilanz und Aufmerksamkeit getrenntes Phänomen. Zudem kann es problemlos im Labor untersucht werden. Wir kennen inzwischen Dutzende Möglichkeiten, wie ein Stimulus die Grenze zwischen nicht wahrgenommen und wahrgenommen oder zwischen unsichtbar und sichtbar überschreiten kann. Dadurch können wir sondieren, was diese Überschreitung im Gehirn verändert.

Bewusster Zugang ist auch das Tor zu komplexeren Formen bewusster Erfahrung. In der Alltagssprache vereinen wir unser Bewusstsein oft mit unserem Selbstgefühl – wodurch das Gehirn einen Standpunkt schafft, ein »Ich«, das von einem bestimmten Aussichtspunkt aus auf seine Umgebung blickt. Bewusstsein kann auch rekursiv sein: Unser »Ich« kann auf sich selbst blicken, seine eigene Leistung beurteilen und sogar wissen, wann es etwas nicht weiß. Die gute Nachricht lautet, dass selbst diese höheren Bedeutungen von Bewusstsein für Experimente nicht mehr unzugänglich sind. Im Labor haben wir zu quantifizieren gelernt, was das »Ich« im Hinblick sowohl auf die äußere Umgebung als auch auf sich selbst empfindet und mitteilt. Wir können das Selbstgefühl sogar so weit manipulieren, dass Probanden ein außerkörperliches Erlebnis haben, während sie in einem Magnetresonanztomographen liegen.

Manche Philosophen glauben dennoch, dass keine der oben genannten Vorstellungen ausreichen wird, das Problem zu lösen. Ihrer Ansicht nach liegt der Kern des Problems in einem anderen Sinn von Bewusstsein, den sie als »phänomenales Gewahrsein« bezeichnen: das in uns allen vorhandene intuitive Gefühl, unsere inneren Erfahrungen besäßen exklusive Eigenschaften – einzigartige Qualia wie die einmalige Schärfe von Zahnschmerzen oder das unnachahmliche Grün eines frischen Blattes. Diese inneren Qualitäten, behaupten sie, könnten nie auf eine wissenschaftliche neuronale Beschreibung reduziert werden; sie seien ihrer Natur nach persönlich und subjektiv, weshalb sie sich jeder erschöpfenden verbalen Mitteilung an andere widersetzten. Ich bin jedoch anderer Ansicht und meine, dass die Vorstellung von einem phänomenalen Bewusstsein, das sich von bewusstem Zugang unterscheidet, äußerst irreführend ist und Gefahr läuft, in den Dualismus abzugleiten. Wir sollten mit dem Einfachen anfangen und zunächst den bewussten Zugang untersuchen. Sobald wir geklärt haben, wie eine beliebige sensorische Information Zugang zu unserem Geist finden und mitteilbar werden kann, wird das unüberwindliche Problem unserer unauslöschlichen Erfahrungen verschwinden.

Sehen oder nicht sehen

Bewusster Zugang ist auf trügerische Weise trivial: Wir richten unsere Augen auf ein Objekt, und scheinbar augenblicklich werden uns Form, Farbe und Art des Gegenstandes bewusst. Doch hinter unserer sinnlichen Wahrnehmung verbirgt sich eine komplizierte Lawine von Gehirnaktivitäten, an denen Milliarden visuelle Neuronen beteiligt sind; es kann fast eine halbe Sekunde dauern, bis diese Aktivitäten abgeschlossen sind und sich Bewusstsein einstellt. Wie können wir diese lange Verarbeitungskette analysieren? Wie können wir erkennen, welcher Teil rein unbewussten und automatischen Funktionen entspricht, und welcher Teil zu unserem bewussten Gefühl des Sehens führt?

An dieser Stelle kommt die zweite Komponente der modernen Wissenschaft vom Bewusstsein ins Spiel: Mittlerweile verfügen wir über einen starken experimentellen Zugang zu den Mechanismen der bewussten Wahrnehmung. In den vergangenen 20 Jahren haben Kognitionswissenschaftler eine erstaunliche Vielfalt von Möglichkeiten entdeckt, das Bewusstsein zu manipulieren. Selbst eine winzige Veränderung der Versuchsanordnung kann uns dazu bringen, zu sehen oder nicht zu sehen. Wir können ein Wort so kurz aufleuchten lassen, dass Beobachter es nicht sehen. Wir können eine sorgfältig überfrachtete visuelle Szene erschaffen, in der eine Komponente für den Probanden völlig unsichtbar bleibt, weil die anderen Komponenten im inneren Wettstreit um die bewusste Wahrnehmung stets gewinnen. Wir können auch die Aufmerksamkeit ablenken: Wie jeder Zauberkünstler weiß, kann eine offensichtliche Bewegung vollkommen unsichtbar werden, wenn die Gedanken des Zuschauers in eine andere Richtung gelenkt werden. Und wir können Gehirne sogar veranlassen, die Zauberei selbst auszuführen: Wenn jedem Auge ein anderes Bild präsentiert wird, oszilliert das Gehirn spontan und lässt einen mal das eine, mal das andere Bild wahrnehmen, aber nie beide zugleich.

Das wahrgenommene Bild, das es ins Bewusstsein schafft, und das unterlegene Bild, das im unbewussten Vergessen verschwindet, können sich auf der Eingabeseite minimal unterscheiden. Doch im Gehirn muss dieser Unterschied verstärkt werden, weil man am Ende nur von dem einen, nicht aber von dem anderen sprechen kann. Herauszufinden, wo und wann diese Verstärkung genau vonstatten geht, ist Gegenstand der neuen Wissenschaft vom Bewusstsein.

Die experimentelle Strategie, einen minimalen Kontrast zwischen bewusster und unbewusster Wahrnehmung zu erzeugen, war die entscheidende Idee – mit ihr sind die Türen zu dem vermeintlich unzugänglichen Heiligtum des Bewusstseins weit aufgestoßen worden.[8] Im Lauf der Jahre haben wir viele passende experimentelle Gegenüberstellungen entdeckt, bei denen eine Variante zu bewusster Wahrnehmung führte, die andere nicht. Das entmutigende Problem des Bewusstseins war auf das experimentelle Ziel reduziert worden, jene Gehirnmechanismen zu entschlüsseln, die sich aus zwei unterschiedlichen Versuchsanordnungen ergeben – ein sehr viel leichter zu bearbeitendes Problem.

Verwandlung von Subjektivität in Wissenschaft

Diese Forschungsstrategie war recht einfach, hing jedoch von einem umstrittenen Schritt ab, den ich persönlich für den dritten zentralen Bestandteil der neuen Wissenschaft vom Bewusstsein halte – subjektive Schilderungen ernst zu nehmen. Es reichte nicht aus, Probanden mit zwei Typen visueller Stimuli zu konfrontieren; als Versuchsleiter mussten wir sorgfältig aufzeichnen, was sie davon hielten. Die Selbstbeobachtung des Probanden war entscheidend – erst sie definierte das Phänomen, das wir untersuchen wollten. Wenn der Versuchsleiter ein Bild sehen konnte, der Teilnehmer aber verneinte, es zu sehen, dann zählte die Antwort des Letzteren – das Bild musste als unsichtbar gewertet werden. Damit waren Psychologen gezwungen, möglichst genaue neue Möglichkeiten zur Aufzeichnung subjektiver Introspektion zu finden.

Für die Psychologie war diese Betonung des Subjektiven eine Revolution. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten Behavioristen wie John B. Watson (1878 – 1958) die Introspektion nachdrücklich aus der Psychologie verbannt:

»Aus Sicht des Behavioristen ist die Psychologie ein rein objektiver experimenteller Zweig der Naturwissenschaft. Ihr theoretisches Ziel ist die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten. Introspektion stellt keinen wesentlichen Bestandteil ihrer Methoden dar, und der wissenschaftliche Wert ihrer Daten hängt nicht von der Bereitschaft ab, mit der sie sich für eine Interpretation in Begriffen des Bewusstseins heranziehen lassen.«[9]

Obwohl der Behaviorismus selbst schließlich ebenfalls verworfen wurde, hat er ein dauerhaftes Zeichen hinterlassen: Das ganze 20. Jahrhundert hindurch blieb jeglicher Rückgriff auf Selbstbeobachtung in der Psychologie höchst verdächtig. Ich meine jedoch, dass diese dogmatische Position absolut falsch ist. Sie fasst zwei unterschiedliche Fragen zusammen: Selbstbeobachtung oder Introspektion als Forschungsmethode und Selbstbeobachtung als Lieferant von Rohdaten. Der Introspektion als Forschungsmethode kann man nicht vertrauen.[10] Offenkundig können wir nicht darauf zählen, dass naive Probanden uns mitteilen, wie ihr Denken funktioniert, denn sonst wäre unsere Wissenschaft zu einfach. Und wir sollten ihre subjektiven Erfahrungen nicht zu wörtlich nehmen – etwa, wenn sie behaupten, eine außerkörperliche Erfahrung gemacht und zur Zimmerdecke geflogen oder im Traum ihrer Großmutter begegnet zu sein. Doch in gewissem Sinne muss man auch so bizarren Introspektionen vertrauen: Sofern das Subjekt nicht lügt, entsprechen sie echten mentalen Ereignissen, die nach einer Erklärung verlangen.

Subjektive Schilderungen sind vielmehr als Rohdaten anzusehen.[11] Wenn jemand behauptet, eine außerkörperliche Erfahrung gemacht zu haben, so fühlt er sich ja wirklich zur Decke gehoben, und wir werden über keine Wissenschaft vom Bewusstsein verfügen, wenn wir uns nicht ernsthaft der Frage widmen, warum solche Gefühle auftreten. Tatsächlich nutzt die neue Wissenschaft vom Bewusstsein in großem Umfang rein subjektive Phänomene, wie zum Beispiel visuelle Illusionen, falsch wahrgenommene Bilder, psychiatrische Wahnvorstellungen und andere Ausgeburten der Fantasie. Nur diese Ereignisse erlauben uns, objektive physische Reize von subjektiver Wahrnehmung zu unterscheiden und deshalb nicht nach Korrelaten der Ersteren, sondern nach Korrelaten der Letzteren im Gehirn zu suchen. Nichts erfreut uns Wissenschaftler des Bewusstseins mehr als eine neue visuelle Vorführung, die subjektiv entweder gesehen oder nicht gesehen wird, oder ein Ton, der manchmal als hörbar und manchmal als unhörbar geschildert wird. Solange wir bei jedem Durchgang sorgfältig aufzeichnen, was unsere Probanden fühlen, sind wir im Geschäft, weil wir dann die Durchläufe nach bewussten und unbewussten sortieren und nach Aktivitätsmustern im Gehirn suchen können, in denen sie sich unterscheiden.

Signaturen bewusster Gedanken

Diese drei Komponenten – Konzentration auf den bewussten Zugang, Manipulation bewusster Wahrnehmung und sorgfältige Aufzeichnung der Selbstbeobachtung – haben das Studium des Bewusstseins in eine normale experimentelle Wissenschaft verwandelt. Wir können sondieren, in welchem Ausmaß ein Bild, von dem Menschen behaupten, es nicht bemerkt zu haben, in Wahrheit vom Gehirn verarbeitet wird. Wie wir noch sehen werden, läuft unter der Oberfläche unseres bewussten Denkens eine eindrucksvolle Menge unbewusster Verarbeitung ab. Forschung mithilfe unterschwelliger Bilder hat eine solide Plattform geschaffen, auf der die Gehirnmechanismen bewusster Erfahrung untersucht werden können. Mit modernen bildgebenden Verfahren für das Gehirn lässt sich herausfinden, wie weit ein unbewusster Stimulus im Gehirn vorankommen kann und wo genau sein Weg endet. Damit wird definiert, welche Muster neuronaler Aktivität ausschließlich mit bewusster Verarbeitung verbunden sind.

Seit mittlerweile 15 Jahren benutzt mein Forschungsteam jedes verfügbare Werkzeug, von der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) bis zur Elektro- und Magnetoenzephalographie, und sogar tief ins menschliche Gehirn eingeführte Elektroden. Damit versuchen wir, die zerebralen Grundlagen des Bewusstseins ausfindig zu machen. Wie viele andere Labore in aller Welt betreiben wir eine systematische experimentelle Suche nach Aktivitätsmustern des Gehirns, die dann und nur dann auftreten, wenn die Versuchsperson eine bewusste Erfahrung macht – ich bezeichne diese Muster als »Signaturen des Bewusstseins«. Und unsere Suche hatte Erfolg. Experiment um Experiment zeigen sich dieselben Signaturen: Sobald ein Proband ein Bild, ein Wort, eine Ziffer oder einen Ton bewusst wahrnimmt, verändern sich mehrere Marker der Gehirnaktivität sehr stark. Diese Signaturen sind bemerkenswert stabil und lassen sich bei einer großen Vielfalt visueller, auditiver, taktiler und kognitiver Stimulationen beobachten.

Die empirische Entdeckung reproduzierbarer Signaturen des Bewusstseins, die in allen bewussten Menschen vorhanden sind, ist nur ein erster Schritt. Wir müssen auch vom theoretischen Ende her arbeiten: Wie entstehen diese Signaturen? Warum zeigen sie ein bewusstes Gehirn an? Warum verursacht nur eine bestimmte Art von Gehirnzustand eine innere bewusste Erfahrung? Zurzeit kann kein Wissenschaftler behaupten, diese Probleme gelöst zu haben, aber wir verfügen über einige starke und überprüfbare Hypothesen. Meine Mitarbeiter und ich haben eine Theorie ausgearbeitet, die wir als »globalen neuronalen Arbeitsbereich« bezeichnen. Unsere Hypothese lautet, dass Bewusstsein globale Informationsverbreitung innerhalb des Kortex, also der Großhirnrinde, ist; es geht aus einem neuronalen Netzwerk hervor, dessen Daseinszweck die massive Verteilung relevanter Informationen über das ganze Gehirn ist.

Der Philosoph Daniel Dennett bezeichnet diese Vorstellung zutreffend als »Aufsehen im Gehirn«. Dank des globalen neuronalen Arbeitsbereiches können wir jede Idee, die bei uns einen starken Eindruck hinterlässt, beliebig lange im Kopf behalten und sicherstellen, dass sie in unsere Zukunftspläne einbezogen wird, welche das auch immer sein mögen. Demnach kommt dem Bewusstsein in der Berechnungsökonomie des Gehirns eine präzise Rolle zu – es wählt aus, verstärkt und leitet relevante Gedanken weiter.

Welcher Schaltkreis ist für diese Verbreitungsfunktion des Bewusstseins zuständig? Wir glauben, dass eine spezielle Gruppe von Neuronen bewusste Botschaften im ganzen Gehirn verbreitet: Riesenzellen, deren lange Axone kreuz und quer durch den Kortex verlaufen und ihn zu einem integrierten Ganzen verschalten. Computersimulationen dieser Architektur haben unsere wichtigsten experimentellen Befunde bestätigt. Wenn genügend Gehirnregionen hinsichtlich der Wichtigkeit einer eingehenden sensorischen Information übereinstimmen, synchronisieren sie sich in großem Maßstab zu einem Zustand globaler Kommunikation. Ein breites Netzwerk wird erregt und löst einen hohen Aktivierungsschub aus – und die Art dieser Anregung erklärt unsere empirischen Signaturen des Bewusstseins.

Obwohl auch unbewusste Verarbeitung tief reichen kann, wird beim bewussten Zugang eine weitere Funktionsschicht einbezogen. Die Verbreitungsfunktion des Bewusstseins ermöglicht uns einzigartig wirkungsvolle Operationen. Der globale neuronale Arbeitsbereich eröffnet einen inneren Raum für Gedankenexperimente – rein gedankliche Abläufe, die von der Außenwelt abgelöst werden können. Er erlaubt uns, wichtige Daten beliebig lange im Gedächtnis zu behalten. Wir können sie an jeden beliebigen anderen mentalen Vorgang weiterleiten, was unserem Gehirn jene Art von Flexibilität verleiht, nach der Descartes gesucht hat. Sobald eine Information bewusst ist, kann sie in eine lange Reihe beliebiger Operationen eintreten – sie wird nicht mehr über Reflexe verarbeitet, sondern kann willentlich durchdacht und neu ausgerichtet werden. Und dank einer Verknüpfung zu Spracharealen können wir sie anderen mitteilen.

Ebenso grundlegend für den globalen neuronalen Arbeitsbereich ist seine Autonomie. Wie neuere Studien gezeigt haben, ist das Gehirn ein Ort intensiver spontaner Aktivität. Es wird ständig von globalen inneren Aktivitätsmustern durchlaufen, die nicht in der äußeren Welt entstanden sind, sondern von innen kommen; sie entstammen der eigentümlichen Fähigkeit der Neuronen, sich auf teils willkürliche Weise selbst zu aktivieren. Demnach – und ganz im Gegensatz zu Descartes’ Metapher von den Organen – arbeitet unser globaler neuronaler Arbeitsbereich nicht nach dem Input-Output-Modell und wartet auf Reize, ehe er seinen Output erzeugt. Im Gegenteil – selbst in völliger Dunkelheit verbreitet er unablässig globale neuronale Aktivitätsmuster und verursacht so das, was William James als »Strom des Bewusstseins« bezeichnet hat – einen ununterbrochenen Fluss lose verknüpfter Gedanken, die vor allem von unseren aktuellen Zielen gestaltet werden und nur gelegentlich Informationen der Sinnesorgane hinzuziehen. René Descartes hätte sich keine solche Maschine vorstellen können, in der ständig Absichten, Gedanken und Pläne auftauchen, um unser Verhalten zu prägen. Was dabei herauskommt, ist meiner Meinung nach eine Maschine »mit freiem Willen«, die Descartes’ Herausforderung löst und allmählich aussieht wie ein gutes Modell für das Bewusstsein.

Die Zukunft der Bewusstseinsforschung

Unser Verständnis des Bewusstseins bleibt rudimentär. Was hält die Zukunft bereit? Am Ende dieses Buches werden wir zu den tiefgründigen philosophischen Fragen zurückkehren, allerdings mit besseren wissenschaftlichen Antworten. Dort werde ich ausführen, dass unser wachsendes Verständnis des Bewusstseins nicht nur dazu beitragen wird, einige unserer grundlegenden Fragen über uns selbst zu beantworten, sondern auch helfen kann, schwierige gesellschaftliche Entscheidungen anzugehen und sogar neue Technologien zu entwickeln, welche die Rechenleistung des menschlichen Geistes nachvollziehen.

Eines ist sicher: Viele Einzelheiten müssen erst noch endgültig bewiesen werden, aber die Wissenschaft vom Bewusstsein ist schon mehr als eine bloße Hypothese. Mittlerweile sind medizinische Anwendungen zum Greifen nahe. In unzähligen Kliniken weltweit liegen Tausende Patienten, deren Koma oder vegetativer Zustand sie in schrecklicher Isolation leben lässt – bewegungslos, sprachlos, das Gehirn durch einen Schlaganfall, Autounfall oder durch vorübergehenden Sauerstoffmangel zerstört. Werden sie je wieder zu Bewusstsein kommen? Könnte es sein, dass einige von ihnen schon bei Bewusstsein, aber vollständig »locked-in« und nicht imstande sind, uns das mitzuteilen? Können wir ihnen helfen, indem wir unsere Studien zur Gehirndarstellung in ein Echtzeit-Überwachungsprogramm bewusster Erfahrung umwandeln?

In meinem Labor werden zurzeit leistungsfähige neue Tests entwickelt, die erste verlässliche Aussagen darüber zulassen, ob eine Person bei Bewusstsein ist oder nicht. Die schon verfügbaren objektiven Signaturen des Bewusstseins helfen Koma-Kliniken in aller Welt und werden bald auch Informationen für die damit verwandte Frage liefern, ob und wann Säuglinge bei Bewusstsein sind. Auch wenn keine Wissenschaft jemals ein Ist in ein Sollte verwandeln wird, bin ich davon überzeugt, dass wir bessere ethische Entscheidungen treffen werden, sobald es uns gelingt, objektiv zu bestimmen, ob in Patienten oder in Säuglingen subjektive Empfindungen vorhanden sind.

Eine weitere faszinierende Anwendung der Wissenschaft vom Bewusstsein betrifft die Computertechnologie. Werden wir je in der Lage sein, Gehirn-Schaltkreise in Silizium nachzubilden? Reicht unser derzeitiges Wissen aus, einen Computer zu konstruieren, der über Bewusstsein verfügt? Falls nicht, was wäre dazu erforderlich? Mit der weiter verbesserten Theorie des Bewusstseins sollte es möglich werden, künstliche Architekturen für elektronische Chips zu erschaffen, welche die Funktionen des Bewusstseins in realen Neuronen und Schaltkreisen nachahmen. Wird der nächste Schritt zu einer Maschine führen, die sich ihres eigenen Wissens bewusst ist? Können wir ihr ein Selbstgefühl und sogar die Erfahrung eines freien Willens zugestehen?

Ich lade Sie nun ein zu einer Reise in die innovative Wissenschaft vom Bewusstsein, zu einer Suche, die dem griechischen Motto »Erkenne dich selbst« eine tiefere Bedeutung sichern wird.

[1]Jouvet 1999, S. 169 – 71.

[2]Damasio 1994.

[3]James 1890, Kap. 5.

[4]Descartes’ Zitate stammen aus der Abhandlung über den Menschen, deren Originalversion ca. 1632 – 33 verfasst und 1664 erstmals veröffentlicht wurde. Deutsche Übersetzung: Descartes, Über den Menschen (Heidelberg: Verlag Lambert Schneider, 1969), S. 135 – 136.

[5]Ein weiterer Grund war sicherlich Descartes’ Furcht vor einem Konflikt mit der Kirche. Als Giordano Bruno im Jahr 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannte, war Descartes erst vier Jahre alt, und als Galilei 1633 dem gleichen Schicksal nur knapp entging, war er 37. Descartes stellte sicher, dass sein Meisterwerk Die Welt oder Abhandlung über das Licht, das sein höchst reduktionistisches Kapitel über den Menschen enthält, sein Leben lang unveröffentlicht blieb; es erschien erst 1664, lange nach seinem Tod im Jahr 1650. In Von der Methode (1637) und Leidenschaften der Seele (1649) tauchten nur bruchstückhafte Hinweise dazu auf. Und Descartes fürchtete sich zu Recht: 1663 wurde sein Werk vom Vatikan offiziell auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Demnach könnte Descartes’ Beharren auf einer immateriellen Seele zumindest teilweise eine Fassade gewesen sein, eine Schutzmaßnahme, um sein Leben zu retten.

[6]Michel de Montaigne, Essais, Frankfurt am Main: Eichborn, 1998, S. 271.

[7]Etwa Posner und Snyder 1975/2004; Shallice 1979; Shallice 1972; Marcel 1983; Libet, Alberts, Wright und Feinstein 1967; Bisiach, Luzzatti und Perani 1979; Weiskrantz 1986; Frith 1979; Weiskrantz 1997.

[8]Baars 1989.

[9]Watson 1913.

[10]Nisbett und Wilson 1977; Johansson, Hall, Sikstrom und Olsson 2005.

[11]Der Philosoph Daniel Dennett bezeichnet diesen Ansatz als »Heterophänomenologie« (Dennett 1991).

1 – Bewusstsein erreicht das Labor

Wie wurde das Studium des Bewusstseins zu einer Wissenschaft? Zunächst mussten wir die einfachste mögliche Definition des Problems finden. Wir stellten die irritierenden Themen »freier Wille« und »Bewusstsein seiner selbst« zurück und konzentrierten uns auf die enger gefasste Frage des bewussten Zugangs – warum manche unserer Empfindungen zu bewussten Wahrnehmungen werden, während andere unbewusst bleiben. Viele einfache Experimente erlaubten uns daraufhin, minimale Kontraste zwischen bewusster und unbewusster Wahrnehmung zu schaffen. Heute können wir ein Bild nach Belieben buchstäblich sichtbar oder unsichtbar machen und alle Aspekte des Experiments vollständig kontrollieren. Durch die Bestimmung von Schwellenbedingungen, unter denen ein und dasselbe Bild nur in der Hälfte der Zeit wahrgenommen wird, können wir den Stimulus sogar konstant halten und die Umschaltung dem Gehirn überlassen. In diesem Moment wird es entscheidend, die Selbstbeobachtung des Betrachters einzufangen, weil sie die Inhalte des Bewusstseins definiert. Am Ende kommen wir zu einem simplen Forschungsprogramm – der Suche nach objektiven Mechanismen subjektiver Zustände, systematischen »Signaturen« in der Gehirnaktivität, die den Übergang vom Unbewussten zum Bewusstsein anzeigen.