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1. Auflage

Copyright © 2014 beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-13019-0

www.knaus-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Immer ist was mit dem
näheren Umfeld
und den Nachbarn

Müller
oder Der Paketzustelldienst

Der Zahnarzt

Der Butterkuchen

Die spirituelle
Kulturtankstelle

Der Wind

Immer ist was
mit der Familie

Der runde Geburtstag
Ein Dramolett in Altdeutsch

Familie in der Wohnung

Gulaschsuppe nur mit
Fahrradschutzhelm
oder Telefonat mit Tante Frieda

Kuchenrunde

Immer ist was

Immer ist was mit der
ständigen Begleiterin

Nachsaison

Nikolaus

Die Radtour

Der Schnitt

Der erste Mensch

Gesunde Diskussion

Immer ist was mit der
Unterhaltung nicht in Ordnung

Vergleichsweise
früher und heute

Eine Art Callcenter

Wenn Sie mal Tennis spielen
möchten, rufen Sie an …

Käsebrötchen

Hotelgeschichte
Oder: Wenn man fremd zu schlafen hat
und einfach nur geweckt werden,
gefrühstückt haben und seine Ruhe will

Umständehalber Kaffee

Das Versehen

Von wo her

Onkel Otto
und der Entschleuniger

Und weil sonst nix wär:
Immer ist was mit dem Schiefgang
der Dinge im Alltag

Café Kaiser
oder Eine Frage der Haltung

Die Papageiennummer

Das Sitzmöbel

Doktor Plönner

Der Anzug glänzt!

Die Anfahrt

Die Mozzarellageschichte

Der Nudelsalat

Mein Dank geht an

Vorwort

Es ist doch, wie es ist: Immer ist was.

Und es ist auch immer was. Und das meistens ständig. Das fängt morgens schon an und geht dann den ganzen Tag weiter. Auch abends ist oft was. Manchmal sogar nachts. Immer ist eben was. Gestern wieder. Morgen höchstwahrscheinlich auch. Und meistens ständig, oft aber auch öfter. Manchmal anhaltend.

Und selbst wenn mal nichts ist, ist ja was, nämlich: nichts.

Anstatt dass mal gar nichts ist.

Könnt ja auch mal sein: Überhaupt nichts.

Aber so absolut gar nichts.

Und wenn mal nichts ist, dann ist ja noch lang nicht nichts. Ist ja nie nichts. Bei niemandem ist nichts nie. Also ist immer was. Sonst wär ja auch nichts.

Letztens noch: Dachte ich, das ist aber schön, dass mal nichts ist. Und dann dachte ich: Kann doch gar nicht sein, dass nichts ist, und schon war wieder was.

Ist doch so: Selbst wenn einer sagt, dass nichts ist, ist was. Und das sagt er meistens so, als wenn nichts wär. Und man selber weiß auch, dass was ist. Weil ja immer was ist.

Aber warum ist das »was« immer mit mir? Es kommt mir manchmal so vor, als wenn nur bei mir immer was wär. Warum ist bei den anderen nicht auch mal was?

Immer ist was: Drinnen wie draußen, oben wie unten, den ganzen Tag über, manchmal ist Mittwoch, gefühlt ist aber oft Montag, teilweise ist auch wieder Freude, manchmal auch Zerstreuung, dann ist aber auch wieder Ärgernis. Und was auch noch ist: Strapaze, Zerstreuung, Kampf und selten Ruhe.

Und es ist immer Alltag.

Unter uns: Alltag wird zwar oft überbewertet, ist aber am meisten verkannt. Und man fragt sich: Alltag – was soll das? Muss das sein? Aber er ist nun mal immer und überall, man kann ihm nicht entkommen.

Und der Alltag breitet sich im Leben aus, der fühlt sich da richtig wohl. Man kann fast sagen: der Alltag im Leben – ein einziger, unlösbarer Problembereich, nur globaler.

Ich hab ja jeden Tag Alltag. Und das sieben Mal die Woche, jeden Tag. Manchmal hab ich an einem Tag so viel Alltag, dass ich mir sage: Mensch, wär gar nicht schlecht, wenn ich zu den sieben noch drei weitere Tage hätte. Dass sich das mal so ein bisschen verteilen könnte mit dem Alltag.

So zwischen Dienstag und Mittwoch zum Beispiel. Oder kurz vorm Wochenende. Dass man mal den ganzen Alltag weghat, bevor’s am Samstag so richtig schön gemütlich werden kann.

Klappt aber nicht.

Und dann ist wieder was am Samstag.

Und schon ist was dazwischengekommen. Denn wenn man mal wirklich meint, jetzt ist gar nichts, geht das, was nicht ist, auch noch schief. Es geht ja immer was schief. Im Großen wie im Kleinen. Im Sonsttag wie im Alltag.

Alltägliche Katastrophen eben. Und diese Katastrophen brechen meistens unvorbereitet über einen herein.

Für dieses Buch habe ich die nun folgenden 33 alltäglichen Katastrophen in Kapitel eingeteilt, damit man sie nachschlagen kann; sozusagen der Versuch einer Ordnung in der Katastrophe. Hier wird die Katastrophe sozusagen lokalisiert.

Aber wo steckt sie, die Katastrophe? Meistens im Detail, sehr oft in den Dingen, aber immer im Alltag.

In diesem Buch geht’s um meinen Umgang mit der Katastrophe; man erlebt die großen und kleinen Katastrophen des Alltags, die einem alle hinlänglich bekannt sein dürften, und trotzdem überraschen sie einen immer wieder. Nie geht alles glatt. Und das ist auch gut so.

Wie man das alles meistert, das weiß ich natürlich auch nicht.

Deswegen versteht sich dieses Buch nicht als Ratgeber; vielmehr: ganz im Gegenteil. Es geht darum, wie man erhobenen Hauptes durch die täglichen Havarien schlendert.

Denn dass die Katastrophen des Alltags nie aufhören, hat doch auch etwas Beruhigendes.

Eben der normale Schiefgang der Dinge.

Und vom Chaos im Leben, von der alltäglichen Katastrophe und vom Schiefgang der Dinge handeln die Geschichten. Und von allem anderen auch.

Wie immer eben. Alles und nichts.

Denn irgendwas ist immer, weil immer was ist, weil wenn nichts wär, wär ja nichts, und das gibt’s ja nicht, weil nie nichts ist, sondern immer was ist, denn immer ist was, weil sonst wär ja nichts, deshalb ist ja immer was, und jetzt ist auch noch Schluss.

Viel Vergnügen!

Immer ist was mit dem
näheren Umfeld
und den Nachbarn

Das nähere Umfeld ist immer da, weil es einen umgibt, und es
birgt oft mehr Merkwürdigkeiten, als man meinen möchte.
Und erst recht mehr als das weitere Umfeld. Weil: Das nähere
Umfeld ist ja näher an einem dran. Also sind beim näheren
Umfeld die Merkwürdigkeiten schneller da. Und sie fallen
einem eher auf.

Wenn man die Seltsamkeiten im näheren Umfeld erstmal abgearbeitet hat,
kann man sich mit dem weiteren Umfeld
befassen; was nicht weniger Kuriositäten in sich birgt. Oft rücken
die Katastrophen aus dem weiteren Umfeld ins nähere
Umfeld vor, wenn im näheren Umfeld das meiste abgearbeitet
worden ist. Weil da sonst nichts wär. Und das geht ja nicht.

Manchmal wäre es gar nicht schlecht, wenn es Tage geben würde,
wo man weder näheres noch weiteres Umfeld, geschweige
denn Nachbarn um sich hätte. Im Alltag sind diese Tage allerdings
äußerst selten. Eigentlich gibt’s die nie.

Was wiederum am näheren Umfeld liegt. Und am weiteren.
Und da ist ja immer was.

Müller
oder Der Paketzustelldienst

Gerne lassen wir uns Pakete bringen.

Man bestellt irgendwo irgendwas, das lässt man sich dann nach Hause schicken. Man weiß nie, wann das Paket kommt und, wenn es kommt, was drin ist, weil man sich immer so viel bestellt, dass man die Übersicht verliert. So hat man mit jedem Paket jedes Mal ein kleines bisschen Weihnachten.

Das Problem ist nur: Andere Menschen scheinen auch gerne öfter im Jahr ein kleines bisschen Weihnachten haben zu wollen. Und deswegen lassen sie sich ebenfalls zuhauf Pakete und Päckchen schicken. Was an und für sich kein Problem wäre. Aber wenn die Pakete und Päckchen der anderen immer mehr werden …

Immer öfter wird man durch die Pakete und Päckchen der anderen gestört, weil die, für die die Pakete und Päckchen eigentlich bestimmt sind, nicht zu Hause sind, aber die ganzen Pakete und Päckchen ja abgegeben werden möchten. Und immer wieder wird deswegen bei einem geklingelt, obwohl die Pakete und Päckchen gar nicht für einen selber sind. Und man selber hat ja schon lange keine eigenen Pakete und Päckchen mehr bekommen.

Also dann fängt’s langsam an zu nerven.

Das Tollste an den bestellten Paketen und Päckchen ist: Man muss das Zeug nicht schleppen; das macht der Paketzustelldienstmensch.

Wir haben einen Paketzustelldienstmenschen, der ist wahnsinnig schnell. Der klingelt unten an der Haustüre, ich öffne, und schon steht der bei uns oben vor der Wohnungstür. Und wir wohnen in der dritten Etage. Wie der das macht, weiß ich nicht.

Und der ist wahnsinnig nett. Also richtig nett.

Nur manchmal hab ich das Gefühl, er steht zwar körperlich bei mir schon vor der Tür, aber geistig noch nicht. Denn ich vermute: Weil er selber so schnell ist, ist sein Hirn vermutlich noch irgendwo auf der Straße oder im Treppenhaus geblieben und kommt nicht nach.

Letztens auch wieder. Da schienen sich die Ereignisse zu überschlagen.

Es klingelt an der Tür, ich gehe an die Hausgegensprechanlage, höre: »Paketpost hier!«, drücke auf, öffne die Wohnungstüre, und schon steht der Paketzustelldienstmensch auf der Schwelle.

»Guten Tag«, sagt er, »ich hab hier ein Paket für Müller.«

»Ich bin nicht Müller.«

»Ich hab aber ein Paket für Müller.«

»Ich bin aber nicht Müller.«

Er schaut mich müde an: »Müllers machen nicht auf.«

»Und warum klingeln Sie dann bei mir?«

»Weil Müllers nicht aufmachen.«

»Geben Sie’s doch da ab.«

»Es macht aber keiner auf.«

»Wo?«

»Bei Müller.«

»Aber Sie haben doch ein Paket für die.«

»Eben. Aber die sind nie da. Nehmen Sie’s an?«

»Ich bin doch nicht Müller.«

»Aber Sie könnten aufmachen, weil Sie da sind.«

»Ich hab doch schon aufgemacht, weil ich da bin, wie Sie sehen.«

»Hm … Hm … Ich sehe Sie. Da sind Sie.«

»Ja, ich bin da.«

»Aber Sie nehmen das Paket nicht an.«

»Richtig. Weil ich nicht Müller bin. Und wenn’s nur darum geht, dass ich hier Pakete annehme, nur weil ich da bin, könnten Sie ja gleich alle Ihre Pakete hierlassen.«

»Das macht aber keinen Sinn«, sieht er ein.

»Vielleicht sind Müllers ja auch da, machen nur nicht auf«, sage ich.

»Warum sollten denn Müllers nicht aufmachen, obwohl sie da sind?«

»Das müssen Sie Müllers fragen«, sage ich.

»Würde ich gerne. Kann ich aber nicht. Müllers machen ja nicht auf.«

»Dann können Sie die auch nicht fragen.«

»Ich hab aber ein Paket für sie.«

»Für mich?«

»Nein, für Müllers.«

Ich sage: »Ich höre immer nur Müller, Müller, Müller, Müller, Müller! Müller ist doch kein Name, das ist ein Sammelbegriff! Und die sehen auch alle gleich aus: Seitenscheitel, Kassengestell auf der Nase, beiger Anorak über dem Holzfällerhemd, beige Hose, braune Socken in beigen Gesundheitsschuhen. Und die Männer sehen genauso aus! Nur: Die tragen zu diesem Ensemble gerne mal einen Bart. Wenn ich so was sehe, werde ich wahnsinnig! Und wenn dieser Müller mich so richtig fertigmachen will, dann hat er noch einen Taschenknirps unterm Arm. Also dann ist es ja ganz aus! Weil: Auf den Taschenknirps ist er ja nicht von alleine gekommen. Seine Frau hat zu ihm gesagt, wär besser, wenn er den Taschenknirps mitnehmen würde, könnt ja immer mal ein Schäuerchen runterkommen. Deswegen hat sie ihm den Taschenknirps mitgegeben. Also ist ein Zeichen der Unselbständigkeit des Mannes der Taschenknirps am Müller.«

Der Paketzustelldienstmensch schaut mich mit großen Augen stumpf an: »Ent… entschuldigung, ich hab jetzt nicht mehr richtig zugehört … Bei ›Sammelbegriff‹ bin ich ausgestiegen. Sind Sie denn jetzt Müller oder sind Sie’s nicht?«

»Ich bin nicht Müller!«, rufe ich.

»Echt nicht?«

»Nein.«

»Auch nicht so ein bisschen?«

»Ich bin kein bisschen Müller«, sage ich.

Der Paktzustelldienstmensch verschränkt die Arme vor der Brust, lehnt sich zurück und schaut mich an: »Hm … Machen wir einen Kompromiss: Könnten Sie denn vielleicht ein paar Minuten lang Müller sein?«

»Wieso das denn?«

»Damit ich das Paket hier loswerde.«

»Wie?«

»Wenn Sie jetzt Müller wären, dann wären Sie die Müllers, für die ich dieses Paket habe. Dann könnte ich Ihnen das Paket geben, weil Sie ja jetzt Müller wären, und wir wären alle glücklich. Sie wären Müller und ich hätte hier dieses Paket für Sie.«

Wenn auch idiotisch, finde ich es zumindest pfiffig. Aber seine Rechnung geht nicht auf. Und ich sage: »Gut. Gegenfrage: Könnten Sie nicht eben Bäcker sein?«

»Wer ist Herr Bäcker? Für Bäcker hatte ich noch nie Pakete.«

»Ich kenne auch keine Bäckers. Und ich hätte auch keine Pakete für die. Was ich meine, ist der Beruf. Ich hab noch nicht gefrühstückt, ich bräuchte Roggenbrötchen.«

»Und die Brötchen kriegen Sie von Familie Bäcker, wenn Sie denen ihre Pakete annehmen?«

»Was?!«

»Aber was hat das denn jetzt mit Müllers zu tun?!«

»Nichts! Und deswegen nehme ich auch keine Pakete für die an.«

»Aber für Bäckers würden Sie das machen?«

Ich sag: »Wenn die Brötchen für mich hätten …«

»Aber Sie kennen doch keine Bäckers.«

»Richtig. Ich würde aber theoretisch Brötchen von Bäckers nehmen, wenn Sie Bäcker wären und ich im Gegentausch für Brötchen Ihre Pakete für Bäcker hypothetisch annehmen müsste.«

»Und wenn Müllers Brötchen für Sie hätten, würden Sie denen ihre Pakete auch annehmen?«

»Nein. Weil die Brötchen hätte ich ja dann schon von Bäckers.«

»Und wenn Müllers frischen Aufschnitt für Sie hätten? Für auf die Brötchen drauf?«

»Aber ich kenn doch keine Müllers!«

»Na und? Sie kennen auch keine Bäckers und essen trotzdem denen ihre Brötchen.«

Er visiert mich streng an, er führt was im Schilde. Und dann lässt er es raus: »Nehmen Sie jetzt das Paket für Müller?«

»Nein!!!«

Ich knalle die Türe zu. Ist er dann gegangen.

Am nächsten Tag klingelte er wieder.

»Heute hab ich zwei Pakete für Müller«, sagte er.

»Ich nehm aber nichts an. Ich bin nicht Müller und ich kenn Müller nicht.«

»Ich hab aber zwei Pakete für die.«

»Ich nehm die aber nicht. Beide nicht. Bin ja auch nur einer. Und Sie haben zwei Pakete. Für jeden Müller eins.«

»Und Sie sind immer noch kein Müller?«

»Vollkommen richtig.«

»Vielleicht gibt’s die ja gar nicht.«

»Wieso das denn nicht?«

»Weil die nie da sind.«

»Und wer bestellt sich dann die Pakete für Müller?«

»Vielleicht Sie, nur um mich zu ärgern.«

»Das ist doch Unsinn«, sagte ich.

»Nehmen Sie jetzt die Pakete an?«

»Nein. Ich bin doch kein Müller.«

»Und wo soll ich jetzt die Pakete loswerden?«

»Na, bei Müller.«

Er sagte: »Die sind nie da! Wissen Sie eigentlich, wo ich die Pakete immer abgebe, wenn Sie die nicht annehmen? Bei Günthers.«

»Was haben denn Günthers mit Müllers zu tun?«

»Weiß ich nicht. Kennen Sie Günthers?«

»Nein, Günthers kenn ich auch nicht.«

»Nette Leute. Günthers nehmen alle Pakete ihrer Nachbarn an. Egal von wem, egal was, egal wann, egal wie viel, egal für wen: Günthers nehmen die Pakete an und kümmern sich um alles.«

»Na, das ist doch prima«, sagte ich.

»Günthers machen auch Babysitting. Oder Dogsitting, je nachdem. Auch kleinere Einkäufe, Botengänge, Korrespondenzen mit Ämtern, Blumengießen für Verreiste … Alles kein Problem, Günthers kümmern sich um alles.«

»Also diese Günthers habe ich noch nie gesehen.«

»Kein Wunder, die sieht eigentlich kaum einer.«

»Aha. Und warum nicht?«

»Weil die ständig unterwegs sind.«

»Wahrscheinlich rennen die Müllers hinterher, um denen die Pakete nachzutragen.«

»Waren denn Günthers schon mal bei Ihnen?«

»Nein. Ich bin ja kein Müller.«

»Immer noch nicht?«

»Nein, immer noch nicht.«

»Na, dann gehe ich mal zu Günthers.«

»Machen Sie das mal. Schließlich kümmern die sich ja um alles.«

»Eben.«

Und weg war er.

Einen Tag später klingelte es wieder bei mir an der Tür.

Ein mir vollkommen unbekannter Mann stand vor mir und sagte: »Guten Tag, es ist ein Paket bei uns abgegeben worden für Sting. Sind Sie das?«

»Das bin ich«, sagte ich.

»Dann habe ich ein Paket für Sie.«

»Das ist nett. Aber warum hat der denn nicht mir mein Paket gegeben?«

»Weiß nicht. Ich hab’s ja jetzt.«

»Aber ich war ja da.«

»Wann?«

»Als der Paketzustelldienstmensch da gewesen sein muss. Der kommt immer gegen 12, da war ich da.«

»Anscheinend wohl nicht, denn Sie haben Ihr Paket ja nicht bekommen. Ich hab’s ja.«

»Ja, aber wo soll ich denn gewesen sein?«

»Das weiß ich nicht.«

Ich fragte: »Aber Sie waren da?«

»Ich war da.«

»Aber nicht hier bei mir.«

»Was soll ich denn bei Ihnen? Ich kenne Sie doch gar nicht. Ich war bei mir. Aber auch nicht zu dem Zeitpunkt, als der Paketzustelldienstmensch da war, sondern später.«

»Trotzdem haben Sie mein Paket … Aber woher denn?«

»Von Günthers.«

»Was macht denn mein Paket bei Günthers, obwohl ich zu Hause bin?«

»Rumliegen.«

»Ach so. Aber ich kenne diese Günthers doch überhaupt nicht!«

»Die kennt niemand. Also, die sieht nie jemand.«

»Weil die sich immer um alles kümmern?!«

»Jawohl. Und die haben mir Ihr Paket vor die Türe gestellt.«

»Und warum stellen Günthers Ihnen mein Paket vor die Türe?«

»Vermutlich, weil ich nicht aufgemacht habe.« Er machte eine kleine Pause, schaute mich an: »Hätten Sie denn eventuell noch ein Paket für mich?«

»Wer sind Sie denn?«

»Ich bin Müller.«

Ich dachte, ich höre nicht richtig. Da stand er: der leibhaftige Müller.

Und ich sagte: »Sind Sie’s wirklich? Sie sind Müller?«

Müller brummte: »Ich bin Müller.«

»Das gibt’s ja gar nicht. Sie machen ja nie die Türe auf.«

»Wie soll ich das auch? Es klingelt ja nie einer bei uns. Jedenfalls hören wir’s nicht. Die Klingel ist seit Wochen kaputt. Und wir erwarten so viele Pakete … Keine Ahnung, wo die alle sind.«

»Wir dachten schon, Sie gibt’s gar nicht.«

»Und wer hätte dann all die Pakete bestellen sollen?«

»Na, die Müllers.«

»Ja, und das sind wir.«

Ich konnte es immer noch nicht fassen: Der Mensch, der vor mir stand, behauptete, dieser Müller zu sein.

Ich schaute ihn mir genau an: Seitenscheitel, Kassengestell auf der Nase, beiger Anorak über dem Holzfällerhemd, beige Hose, braune Socken in beigen Gesundheitsschuhen, Schnurrbart im Gesicht.

Einwandfrei: Bei dem Menschen vor mir musste es sich um einen Müller handeln.

Ich fragte: »Laufen Sie immer so rum, Herr Müller?«

»Ja. Nur etwas fehlt: mein Taschenknirps. Den hab ich bei meiner Cousine liegen lassen. Die sieht genauso aus wie ich.« Hier freute sich Herr Müller. »In unserer Familie sehen alle gleich aus. Wir haben mal ein großes Familienfoto gemacht, da wusste hinterher keiner mehr, wer wer war.« Nun kicherte Herr Müller. »Ich sag sowieso immer: Müller, das ist kein Name, das ist ein Sammelbegriff.« Müller lachte.

Ich konnte nicht mehr lachen.

Ich sagte: »Herr Müller?!«

»Ja bitte?«

»Ich glaube, Herr Müller, ich muss genau jetzt wahnsinnig werden. Und das mach ich lieber alleine.«

Ich knallte die Türe zu.

Danach hatte ich ein paar Tage Ruhe. Ruhe vor Paketen, Päckchen, Paketzustelldienstmenschen und Müllern.

Letzte Tage lag ein Zettel bei mir vor der Tür vom Paketzustelldienst.

Da stand drauf: »Paket für Sting. Nicht angetroffen. Paket abgegeben bei …«

Ja, und hier hörte es auf.

Da stand noch etwas auf dem Zettel.

Und ich wusste: Der Paketzustelldienstmensch war da gewesen.

Ich wusste weiter: Ich war wohl zu dem Zeitpunkt nicht da gewesen. Sonst wäre ich ja da gewesen, als der Paketzustelldienstmensch da war und geklingelt hat, um mein Paket für mich abzugeben.

Überdies wusste ich: Der Paketzustelldienstmensch hatte das Paket woanders für mich abgegeben; das stand ja auf dem Zettel.

Und was ich auch noch wusste: Ich konnte ums Verrecken nicht lesen, bei wem. Also, ich konnte es nicht entziffern. Bei der Sauklaue …

Was stand da?!

Andersen …

Andresen …

Andenberg …

Andenburg …

Herrenberg …

Ich überlegte.

Hab solche Nachbarn gar nicht. Die heißen anders. Zum Beispiel … Na ja, fällt mir jetzt nicht ein. Aber anders eben. Und nicht Andersen.

Hab Nächte über diesen Namenhieroglyphen gesessen.

War dann mal bei Müllers. Ob die es entziffern könnten.

Denen ging’s ähnlich: Sie konnten die Schrift nicht enträtseln.

Müller und ich saßen über dem Zettel.

Das Einzige, was Müller mit Sicherheit sagen konnte: »Also Günther heißt das hier nicht!«

Das hätte ich ihm auch sagen können.

Aber welchen Namen hatte der Paketzustelldienstmensch jetzt auf diesen Zettel geschrieben?

Hannenberg …

Hahnenfried …

Jannenried …

Jangenland …

Annenrand …

Andengeer …

Keine Ahnung.

Und dann kam Müller drauf.

Zwei Tage später. Und zwar als er einkaufen war.

Am Ende unserer Straße ist nämlich ein Änderungsatelier.

Und Andersen / Andresen / Andenberg / Andenburg / Herrenberg / Hannenberg / Hahnenfried / Jannenried / Jangenland / Annenrand / Andengeer heißt nichts anderes als – Änderungsatelier.

Da muss man auch erstmal draufkommen.

Sind Müller und ich also in dieses Änderungsatelier.

Überall lagen / standen / verstaubten Pakete und Päckchen.

Wir sahen also nur Pakete und Päckchen.

Sonst eigentlich nichts. Eine verblühte Topfblume, ein Abendkleid in Pailletten an Dekopuppe im Schaufenster, aber sonst nur Pakete und Päckchen.

Und plötzlich hörten wir ein dürres Stimmchen hinter all den Päckchenbergen: »Ist da wer reingekommen? Ich seh nämlich nichts! Geben Sie doch mal bitte Laut!«

»Ja, wir«, rief ich in den Päckchenberg.

»Wer ist denn wir?«

»Wer sind denn Sie? Und wo sind Sie überhaupt?!«

»Ich betreibe hier das Änderungsatelier mit angeschlossener Backstube. Also wenn Sie mal frische Brötchen brauchen … Mein Name ist Bäcker … Und Sie können mich nicht sehen, ich stecke hinter den Paketbergen … Die häufen sich hier, weil deren Besitzer sie nicht abholen, diese Pfeifen …«

»Aha«, machten wir.

»Und wer sind jetzt Sie?«, wollte Herr Bäcker wissen.

»Herr Müller und Herr Sting«, rief ich.

Pause.

Und dann: »Ach, Sie sind das. Na, dann sehen Sie mal zu, wie Sie das hier rausbekommen! Das ist nämlich alles für Sie!«

Müller und ich guckten uns nur an.

»Wer soll das denn alles rausschleppen?!«, fragte Müller rhetorisch. »Da wären wir ja Tage mit beschäftigt … Nee, ich hab eine bessere Idee mit den ganzen Paketen hier: Lassen Sie die doch von Günthers abholen.«

»Wie?!«, meinte Herr Bäcker.

Ich sagte: »Richtig. Die kümmern sich doch eh um alles.«

Stille. Drei Männer inmitten von Päckchenbergen überlegten.

Plötzlich wollte Herr Bäcker von irgendwoher wissen: »Und wie schaff ich’s, dass Günthers die ganzen Pakete hier annehmen?!«

Und ich sagte: »Ganz einfach: Schicken Sie das alles hier einfach per Paketzustelldienst zu Müllers! Die sind eh nie da! Dann kriegen das die Günthers und die kümmern sich schon drum.«

Günthers scheinen sich auch drum gekümmert zu haben.

Und zwar final.

Wir haben nämlich nie mehr was von unseren Paketen und Päckchen gesehen.

Dafür konnte ich letztens beobachten, wie ein größerer Transporter in einem irren Tempo hinter einem Müllwagen her zur Deponie fuhr.

Am Steuer: Herr Günther, irre lachend wie nicht von dieser Welt.

Das war’s dann wohl mit unseren Paketen und Päckchen.

Schade.

Also, wenn sich Günthers um was kümmern, dann aber richtig.

Der Zahnarzt

Viele Menschen sagen, sie hätten Angst vor dem Zahnarzt. Das kann ich von mir nicht behaupten. Ich geh nämlich gar nicht erst hin.

Früher war ich mal beim Zahnarzt, das war ein ganz alter Hase. Der alte Zahnarzt hat mir damals schon gesagt: »Bei Zähnen ist es wie im Leben: Wichtig ist immer, was man draus macht.«

Und da hat er Recht.

Man muss was draus machen.

Letztens bin ich nach langer Zeit wieder mal zum Zahnarzt. Also nicht, dass ich wollte. Bei weitem nicht, ich bin ja nicht verrückt. Freiwillig würd ich so was nie machen.

Nein, ums Eck hat eine neue Zahnarztpraxis aufgemacht und die hat mir eine Postkarte geschickt. Also nicht die Praxis als solche, sondern der Arzt an sich. Oder vielmehr seine Sprechstundengehilfin. Woher die mich wieder kennt, dass sie meint, ich müsste mal zum Zahnarzt, das weiß ich nicht. Meine Vermutung ist ja, dass die einfach wahllos Leute anschreiben in der Hoffnung, dass schon irgendwer drauf reinfällt und vorbeikommt.

Und bei mir hat’s geklappt.

Bei uns lag also eine Postkarte im Briefkasten vom Zahnarzt, nichts Dolles, blanko. Also eine Postkarte ohne Motiv. Kein Küstenabschnitt, keine Wiese, keine Sandburg. Obwohl das ja originell wär: eine Postkarte vom Zahnarzt, vornedrauf ein Bergmassiv, bei dem schon der ein oder andere Steinschlag abgegangen ist. Würde ja passen.

Oder eine Gletscherspalte. Ich reagier ja auch so empfindlich auf Kälte. Grad oben links.

Aber nein, es war eine Postkarte, blanko, und auf der stand: »Liebe Grüße von Ihrem Zahnarzt.« Stand da wörtlich drauf, und dann noch: »Bitte melden Sie sich doch mal wegen einer Terminabsprache.«

Sofort dachte ich an meinen alten Zahnarzt. Was hat der früher immer gesagt? »Wichtig ist immer, was man draus macht.«

So. Jetzt will ich aber überhaupt keinen Termin mit meinem neuen Zahnarzt, ich wüsste auch gar nicht, wofür. Ich mein, der Neue, das ist ja ganz bestimmt ein sympathischer Mann, ich bezweifle das auch gar nicht, keine Frage, ich hab nichts gegen den Mann, soll ruhig seinen Job machen, also als Zahnarzt, aber dass es so weit kommt, dass ich mich mit dem privat auch noch treffen müsste, also so weit kommt es noch. Und über was sollte ich mich mit dem unterhalten? Und selbst wenn, ich wüsste ja gar nicht, wo.

Dann kriegte ich aber eine zweite Postkarte von meinem Zahnarzt: »Liebe Grüße von Ihrem Zahnarzt. Bitte melden Sie sich doch mal wegen einer Terminabsprache.«

Und ich denk noch: Oh, der hat es aber nötig. Also der hat aber … Der muss Langeweile haben.

Und ich denk noch, ja, was machst du denn jetzt mit diesem Mann? Grad, wo er sich doch so um soziale Kontakte bemüht. Kannst dich ja mal melden. Bist ja auch nur ein Mensch.

Dann ging das aber bei mir unter.

Eine Woche später kam die dritte Postkarte: »Liebe Grüße von Ihrem Zahnarzt«, stand da wieder wörtlich drauf, »Liebe Grüße von Ihrem Zahnarzt, bitte melden Sie sich doch mal wegen einer Terminabsprache.«

Und ich dacht noch so: Mensch, jetzt wird er aber impertinent. Ist doch ein studierter Mann und dann so was. Das hat der doch gar nicht nötig. Ich schaltete auf stur.

Zwei Wochen später wurde es noch bunter: Der Zahnarzt rief mich an. Also, nicht er, sondern seine Sprechstundengehilfin. Und ich denk noch so: Holt der jetzt auch noch eine unschuldige Frau mit ins Boot, na, das kann ja heiter werden, und sie sagt: »Ja, liebe Grüße von Ihrem Zahnarzt« wollte sie mir ausrichten, liebe Grüße also von meinem Zahnarzt, wegen der Terminabsprache würde sie sich jetzt mal bei mir melden. Und ich dachte noch so: Der muss es ja wirklich nötig haben.

Ich sag zu der Sprechstundengehilfin: »Hören Sie mal, was rufen Sie mich denn an, wenn mein Zahnarzt was von mir will?! Außerdem ist das gar nicht mein Zahnarzt, aber er will sich ständig mit mir treffen. Wofür überhaupt? Kegeln? Darts? Ikebana? Und wenn er mit mir ausgehen will, was rufen Sie mich dann an? Was haben Sie denn mit dem Mann am Hut?«

Sagt sie: »Ja, ich mach die Termine.«

Ich sag: »Wenn’s so ist, dann gebe ich Ihnen mal meine ständige Begleiterin, mit der können Sie dann ja mal über meine Termine reden.«

»Wieso?«, wollte sie wissen. »Es geht doch um Ihren Zahnarzttermin.«

»Und was wollen Sie dann mit meiner ständigen Begleiterin reden?! Außerdem habe ich gar keinen Zahnarzttermin.«

»Eben. Den will ich jetzt ja auch mit Ihnen machen. Der Zahnarzt möchte einen Blick auf Ihre Zähne werfen.«

Jetzt verstand ich sie: »Ach so, sagen Sie das doch gleich. Und ich dachte schon, es sei was Privates. Also schön, das lässt sich einrichten. Wenn er dann endlich Ruhe gibt …«

War ich also beim Zahnarzt. Bin in das Haus rein. Auf dem Weg in die dritte Etage (da sind Zahnärzte fast immer, damit man sich das auf dem Weg hoch noch ein paar Mal überlegen kann) kommt mir eine Frau entgegen, die sich ihre dicke Backe hält und nuschelt: »Die Praxis ist eine Neueröffnung. So lang machen die das noch nicht.«

Aha.

Die Praxis sah gut aus. Alles neu und frisch und schön. Das muss ins Geld gegangen sein. Verstand sofort, warum der Zahnarzt so auf meinem Termin bestanden hatte.

In der Praxis strahlte mich die Sprechstundengehilfin an, meinte, wir hätten telefoniert und sagte leicht entschuldigend: »Sie müssen wissen, der Herr Doktor ist noch ein ganz junger. Und die Praxis, das ist eine Neueröffnung. So lang machen wir das noch nicht.«

Zweites Mal aha.

Ich musste nicht lange warten, kam schnell dran, legte mich in den Stuhl, der fuhr nach hinten, von oben kam gleißend helles Licht.

Und dann kam der junge Zahnarzt. Und so ein Zahnarzt findet ja immer was. Auch wenn da nichts ist, absolut gar nichts, auch wenn es einem gut geht, auch dental gesehen. Oder grade wenn es einem dental gesehen großartig geht … gut, bis auf die empfindliche Stelle oben links: Der findet was!

Ich putze mir, da kann man mich für angucken, ich putze mir wirklich einmal in der Woche, manchmal, wenn’s hochkommt, täglich die Zähne. Die Zeit nehm ich mir einfach, wenn sie da ist. Da kenn ich nichts.

Jetzt hing da über mir im Gegenlicht der Zahnarzt, guckte mir in den Mund und sagte nur: »Sie kommen aber spät.«

Ich sagte … Also ich versuchte es eher zu sagen, und zwar an Wattebäuschen, Spiegelchen, Häkchen und sonst noch was vorbei. Das muss ein eigener Kurs während des Studiums sein: Gelingende Kommunikation mit vollem Mund.

Also ich sagte: »Wie, ›spät‹? Es ist Punkt 10!«

Und er: »So mein ich das nicht. Sie müssen erstmal den Mund ausspülen.«

Der Spülautomat funktionierte aber nicht. Ich sagte: »Das Ding hier geht aber nicht.«

»Ach, geht wieder nicht?! Tut mir leid. Aber die Praxis ist eine Neueröffnung. So lang machen wir das noch nicht.«

Er trat mit seinem Fuß gegen den Apparat. »So, jetzt läuft er wieder.«

Wenn er so auch mit meinen Zähnen vorgehen wollte, dann aber gute Nacht.

»Also ich bin keine Neueröffnung«, gab ich zu bedenken. »Und kauen tu ich schon recht lange. Und will’s auch fürderhin. Also geben Sie sich mal Mühe.«

Der Zahnarzt beugte sich wieder über mich: »Jetzt lassen Sie mich noch mal einen Blick werfen. Und dann sehen wir weiter.«

Pause.

Lange Pause.

Eindeutig viel zu lange Pause.

Und dann irgendwann nur: »Oh. Oh. Oho.«

Wieder lange nichts, dann: »Ohohoh. Das wird in Ihrem Fall ja wohl eine Kernsanierung.«

»Wie hab ich das denn zu verstehen?«

»Ja, da müssen wir von Grund auf dran.«

»Wie? ›Von Grund auf‹?«

»Wir machen da erst mal eine Zahnreinigung durch unsere Fachkraft, die Ihnen zeigt, wie man richtig die Zähne putzt.«

»Aha. Kommt da auch wieder der Zahnbär, wie im Kindergarten, und singt das Karieslied?! Hören Sie mal, ich weiß, wie man Zähne putzt. Das muss mir niemand mehr erklären.«

»Anscheinend ja doch. So wie das bei Ihnen hier aussieht … Sandra, notieren Sie mal … Nein, nehmen Sie besser einen Block. DIN-A4.«

Und dann guckte er mir weiter im Mund rum, schüttelte immer wieder den Kopf, rief eine Assistentin dazu und murmelte dann: »Was haben wir denn da auf den ersten Blick? Karies, entzündetes Zahnfleisch …«

Ich sagte: »Ist jetzt mal gut? Jetzt reicht’s aber langsam.«

Und er wieder: »Nö. Ein, zwei Plomben fehlen, dann haben wir da noch eine Parodontose … Und wie ich grad sehen kann: Ihren Blinddarm haben Sie ja auch noch!«

Ich sagte: »Sagen Sie mal, wo sind Sie denn da grade?!«

Und er: »Na ja, auf jeden Fall, da kommt ja ganz schön was zusammen. Aber das kriegen wir schon wieder hin. Ich mein, so lang machen wir das zwar noch nicht …«

»Ich weiß, Sie sind eine Neueröffnung.«

»Richtig. Aber das mit Ihren Zähnen, das kriegen wir schon irgendwie wieder hin. Das ist ein Stück harte Arbeit, aber … Schauen wir mal.«

»Brauchen Sie … Also brauchen Sie … Oder anders: Benötigen Sie einen Bohrer?«, wollte ich wissen.

»Ich denke schon. Die laufen zwar noch nicht richtig rund … Wir sind ja hier eine Neueröffnung, da muss sich das alles erst ein bisschen einspielen.«

»Und so lang machen Sie das ja noch nicht.«

Er nickte nur und sagte: »Aber das kriegen wir schon wieder hin.«

Und dann schaute er mir wieder in den Mund, ließ auch mal seine Assistentin einen Blick reinwerfen, die holte wiederum ihre Assistentin, mit der Begründung, die müsse noch was lernen, und so etwas hätte sie bestimmt noch nicht gesehen, dann holte der Zahnarzt seine Sekretärin noch mit rein, die kannte ich schon, wir hatten mal telefoniert, dann noch den Zahntechniker von nebenan, den Osteopathen von untendrunter, der immer nur sagte: »Das kommt alles vom Beckenschiefstand.«

Dann kam noch der Gynäkologe von drüber, der sagte, so was hätt er auch noch nicht gesehen, was mir bei seinem Fachgebiet auch zwangsläufig scheint, und der Urologe aus dem Souterrain kam auch noch, das ist so ein Praxishaus, und die guckten alle in meinen Mund.

Mit einer winzigen Spezialkamera wurde das Bild meines Mundraums an die weiße Wand des Behandlungszimmers geworfen, damit alle besser sehen konnten und es kein größeres Gedränge vor mir gab.

Es waren nachher knapp über zwanzig Leute in dem Raum, es kamen auch noch Kinder und Frauen von der Straße hoch, und alle guckten in meinen Mund und schüttelten nur den Kopf.

Und ich dachte noch so bei mir: Unangenehmer kann’s nun wirklich nicht mehr werden, aber dann haben die noch meine Eltern angerufen, die hatten grade Zeit, kamen auch, sollten sich, wie der Zahnarzt sagte, auch mal ein Bild davon machen.

Das »Davon« war in dem Fall ich; vielmehr meine Zähne.

Und meine Mutter schaute mir in den Mund, guckte meinen Vater vorwurfsvoll an und sagte fast tonlos: »Das ist alles deine Erziehung.«

Der Zahnarztpraxis gegenüber befindet sich eine Kfz-Werkstatt; mein Zahnarzt rief vom Fenster aus den Mechaniker hoch, er solle mal vorbeikommen, was er dazu sage, vielleicht könne er, der Kfz-Mechaniker, mehr an meinen Zähnen ausrichten als er, der Zahnarzt.

Der Kfz-Mechaniker kam sofort rüber, schaute mir in den Mund und meinte, das könne er auch erledigen, das sei kein Problem, er müsse nur noch eben seinen Werkzeugkasten holen. Handwerker eben.

Von seinem Handy aus rief er ein Fernsehteam an, die auch sofort mit fünf Mann anrückten; der zuständige Redakteur meinte, das sei was für ein Boulevardmagazin am Vorabend, wo sie sonst nur was über Autobahnunfälle bringen würden. Aber das hier wär irgendwie krasser.

Als wäre das alles nicht schon genug, wurde auch noch meine ständige Begleiterin benachrichtigt, die nach einer halben Stunde da war, einen Blick auf meine Zähne warf und nur schweigend den Kopf schüttelte.

Später trudelte noch eine Koryphäe aus der Uniklinik ein, zusammen mit seinen Studenten, der Herr Professor schaute auf meine Zähne, die Medizinstudenten auch, und hielt dann einen dreiviertelstündigen Vortrag, währenddessen ein Hauptseminar Archäologie, das sich sonst nur mit Ausgrabungen beschäftigt – sie hatten von dieser erstaunlichen Entdeckung hier gehört; verrückt, wie schnell sich heutzutage Informationen verbreiten –, vorbeischaute und zwei Frauen flau fielen.

Aus der Ferne hörte ich den Satz: »Übermorgen kommt Familienbesuch aus Freiburg, das würde die mit Sicherheit auch interessieren. Wie lange dauert denn so eine Kernsanierung?«

Und dann meinte mein Zahnarzt, da müsse erstmal Grund rein, ich solle mir mal gut zwei Wochen freinehmen, das wäre ein Kraftakt für beide Seiten, dann wäre er mit mir durch, und danach würd es in die Reha gehen. Also für uns beide.

Keine Ahnung, was er damit meinte.

Aber das würden wir schon wieder hinkriegen.

Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich an nichts mehr erinnern.

Ich weiß nur, dass ich irgendwie von dem Stuhl runter- und irgendwann auch nach Hause gekommen sein muss.

Abends konnte man in einem TV-Boulevardmagazin einen Bericht über einen durchdrehenden Zahnarztpatienten sehen.

Erst soll er ein komplettes Behandlungszimmer auseinandergenommen haben und unter hysterischem Geschrei mit Zahnbohrern Löcher in die Wand gebohrt haben, was um die dreißig Schaulustige, die sich wohl – aus welchen Gründen auch immer – zu diesem Zeitpunkt in dem Raum befunden haben, zur panikartigen Flucht veranlasst hat.

Durch das Geschrei aller Beteiligten wurde das gesamte Praxishaus beunruhigt, und alle flüchteten auf die Straße, die weiträumig abgesperrt werden musste, da besagter Zahnarztpatient diverse Gegenstände wie Zahnbürsten, Zahnseide, Pasta, Bohrer, Spiegel, Pflegesets und später auch ganze Behandlungsstühle aus den Fenstern der Praxis geworfen hat.

Erst durch das beherzte Eingreifen eines Einsatzkommandos der Polizei konnte der Patient eingefangen werden und noch beim Abtransport durch herbeigerufene Sanitäter, die ihn mit Lederriemen auf einer Trage fixiert hatten, sang er: »Ich bin der Zahnbär und sing das Karieslied …«

Ich schaute mir diesen Bericht sehr interessiert an. Seltsamerweise hatte – bei genauerem Hinsehen – dieser Patient eine kolossale Ähnlichkeit mit mir.

Langsam kam dann auch wieder die Erinnerung, wie der Tag für mich weitergegangen ist.

Dass ich in einer Klinik beruhigt wurde und mir erstmal gezeigt wurde, wie man richtig die Zähne putzt. Es haben sich auch schon erste Erfolge eingestellt: Oben links zieht’s jetzt nicht mehr so.

Soll viel spazieren gehen. Lange Gänge, gesunde Suppen und enorm viel Wasser trinken.

Schöne Tipps.

Ich muss jetzt einfach mal gucken, was ich draus mach. Das ist nämlich das Wichtigste. Hat schon mein alter Zahnarzt gesagt.

Der junge Zahnarzt ums Eck hat seine Praxis erstmal schließen müssen. Wegen Renovierung.

Das wird da jetzt erstmal eine Kernsanierung. Aber damit kennen die sich ja aus.

Und dann wird das eine Neueröffnung.

Aber das kriegen die schon wieder hin.

Und so lang machen die das ja auch noch nicht.