Zweites Kapitel
SMS von: Olly Chatterley
Süße, hast du dran gedacht, meine Sachen aus der Reinigung abzuholen? Kanns kaum erwarten, dich nachher zu sehen. Kuss
Antwort an: Olly Chatterley
Klar doch. Hab dich lieb. Kuss
Ich bin kein Weichei. Zumindest war ich das früher nicht. Als Kind war ich dreist und vorlaut und habe meine kleine Schwester Dionne ständig herumkommandiert, war in der Schülervertretung (wo wir lebenswichtige Entscheidungen zu treffen hatten, wie beispielsweise das Motto für die Schuldisco festzulegen und gegen das von der Lehrerschaft ausgesprochene Verbot von Freundschaftsbändchen zu protestieren), und mir war schnurzpiepegal, was andere über mich dachten. Aber im Laufe der Jahre änderte sich das peu à peu. Manchmal denke ich, es wäre vielleicht alles nicht so schlimm gewesen, hätten meine Eltern sich irgendwann dazu aufgerafft, sich scheiden zu lassen. Aus ihren kleinen Meinungsverschiedenheiten wurde leicht ein handfester, lautstarker Krach, der bis spät in die Nacht toben konnte. Und während unsere Eltern sich anbrüllten und heulten und sich mit Tellern bewarfen, schlich ich mich klammheimlich in Dionnes Zimmer und sang ihr in den höchsten Tönen, so laut ich konnte, Songs von Westlife vor, nur um den Lärm zu übertönen. Zehn Jahre dauerten diese erbitterten Grabenkämpfe, bis mein Vater letztes Jahr schließlich die Nase voll hatte und sich aufmachte nach Indien – angeblich auf der Suche nach Einsamkeit und sich selbst. Aber diese zehn Jahre haben mich zermürbt und mir jeglichen Kampfgeist geraubt.
Während Dionne im Park Wodka/Cider/Himbeerlimo mit Schnaps trank, durch sämtliche Prüfungen fiel und sich zu einem unverschämten, großmäuligen Gör entwickelte, das immer und überall im Mittelpunkt stehen wollte, zog ich mich mehr und mehr zurück. Ich wurde still und anspruchslos, gab mir allergrößte Mühe, meinen Eltern alles recht zu machen, damit sie sich bloß nicht meinetwegen in die Haare gerieten, und mied angestrengt alles, was zu Auseinandersetzungen führen könnte. Eine Angewohnheit, die man nicht so einfach ablegt. Verstehen Sie mich nicht falsch, meine Eltern haben mich nicht »verkorkst«. Ich habe bloß gelernt, dass es am einfachsten ist, sich still und bescheiden im Hintergrund zu halten. Irgendwie logisch, wenn man so drüber nachdenkt.
Ich habe kaum einen Fuß auf die Veranda vor dem Haus gesetzt, da ruft Mum mich schon aus der Küche. Seit ungefähr einem Jahr wohne ich wieder bei meiner Mutter. Nachdem mein Dad sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht hatte, erlitt sie einen schlimmen Zusammenbruch. Also habe ich meine Ausbildung (für unbestimmte Zeit) auf Eis gelegt und meinen Kochkurs geschmissen und bin aus der Wohnung ausgezogen, die ich mit Meg zusammen in Chorlton bewohnte, und zurückgekehrt in das Zuhause meiner Kindheit, um mich um meine Mum zu kümmern.
So schlimm ist es eigentlich gar nicht – es liegt etwas außerhalb des Stadtzentrums, aber immer noch zentral genug, um mit dem Bus zu Chutneys Feinkost in Piccadilly zu fahren, wo ich als Verkäuferin arbeite. Wobei mir das unbeschwerte Zusammenwohnen mit Meg schon fehlt. Mit ihr herumzualbern und lange aufzubleiben und … na ja … wohl auch dieses Gefühl der Freiheit, denke ich. Aber für die Familie da zu sein ist wichtiger, als mit der besten Freundin das süße Leben zu genießen. Meine Familie braucht mich. Mum braucht mich. Und darum werden Olly und ich nach unserer Hochzeit auch in die Wohnung über dem kleinen Eckladen ziehen, damit wir ganz in der Nähe sind. Die Wohnung ist riesengroß und hat nigelnagelneue Dielenböden, und Mum hat Irene, Inhaberin des Ladens und Vermieterin der Wohnung in Personalunion, beschwatzt, mit der Miete um fünfzig Pfund herunterzugehen. Dann lebt unsere ganze Familie in derselben Straße, denn wir wohnen dann Tür an Tür mit Dionne. Meine kleine Schwester, die nun auch nach mir ruft, genau wie Mum.
»Natalie! Beeil dich. Wir haben eine Überraschung für dich!«
Ich stutze. Eine Überraschung? Ooh. Vielleicht haben sie meine Bügelwäsche gemacht oder Dionnes Fitnessgeräte endlich aus meinem Zimmer geschafft? Aber mal ehrlich, selbst wenn sie mir nur eine Tasse Tee gemacht hätten, ich würde mich vor Schreck auf den Hintern setzen.
Neugierig öffne ich die Tür, und da stehen sie. Meine Familie. Beide strahlen über das ganze Gesicht und halten mir das abscheulichste Kleidungsstück entgegen, das ich je gesehen habe.
In meinem ganzen Leben.
»Überraschung!«, kreischen sie im Chor. »Wir haben dir ein Kleid gekauft!«
Und dann fällt ihr Blick auf meine Haare, und ihre glücklichen Gesichter werden plötzlich lang, und ihre Augen weiten sich vor Entsetzen.
»Was zum Henker ist denn mit deinem Kopf passiert?«, zetert Dionne und rennt auf mich zu, um den Schaden zu begutachten.
Verlegen taste ich nach meiner Suppenschüsselfrisur. Sehen Sie? Ich hatte doch recht. Es ist wirklich schlimm.
Verlegen ziehe ich eine Grimasse und erkläre: »Eigentlich wollte ich karamellfarbene Strähnchen und einen Stufenschnitt. Und dabei ist das herausgekommen.«
»Scheiße …«, flüstert sie, die dick getuschten Augen groß und rund vor Schreck. »Wer macht denn so was? Hast du dich in letzter Zeit mit jemandem angelegt? Mit einem Gangster vielleicht? Ist das, ich weiß nicht, vielleicht so was wie ein Racheakt?«
Daraufhin schnalze ich nur abschätzig mit der Zunge.
Dionnes neuer Freund Bull hat angeblich Verbindungen zur Gangland-Szene von Manchester. Seit sie mit ihm zusammen ist, hat sie ein recht bedenkliches Faible für alles entwickelt, was mit Gangsterkultur zu tun hat. Sie verschlingt sämtliche Bücher über Gangs und die Mafia, die sie in die Finger bekommt, und hat sich mit großer Begeisterung alle Teile von Der Pate angesehen.
Hektisch schaut sie sich um, als könne jeden Augenblick ein Gangster aus Mums brandneuem Kühlschrank springen und ihren langen platinblonden Haarverlängerungen ähnlich Unaussprechliches antun.
Allerdings muss ich ihre Informationsquellen ernsthaft infrage stellen, wenn sie glaubt, bei einem verunglückten Haarschnitt könne es sich um einen Racheakt der Mafia handeln.
»Ich war bei Hair Hackers in der Innenstadt«, antworte ich.
»Hair Hackers?«, wiederholt Dionne ungläubig. »Also quasi den Haarhackern? Ähm, ich glaube, Schwesterchen, der Name sagt doch eigentlich alles, oder?« Und dann versucht sie (vergeblich), sich das Grinsen zu verkneifen, und hebt das Kleid wieder auf, das Mum vor Schreck fallen gelassen hat.
Hastig wuselt Mum herbei, starrt mich mit zusammengekniffenen Augen an und begutachtet meinen Kopf von allen Seiten. Ich werde ganz kribbelig vor Nervosität. Meine Mum ist Mathelehrerin an einer weiterführenden Schule, und oft komme ich mir vor wie einer ihrer Schüler, dem sie ein Mangelhaft aufbrummen oder den sie zwecks Nachsitzen zum Direktor schicken will.
»Tja, wenn ihr mich fragt, mir gefällt’s«, verkündet sie schließlich. »Du siehst aus wie unsere Tracy, Gott hab sie selig.«
Tracy war unsere gescheckte Hauskatze. Als sie das hört, prustet Dionne vor Lachen – und macht sich nicht mal mehr die Mühe, es zu verbergen.
Lieber Gott.
Vielleicht kann ich mir eine Perücke besorgen.
»Wie dem auch sei«, fährt Mum brüsk fort. »Jetzt hast du unsere Überraschung verdorben. Also los. Schau’s dir an.«
Dionne hält sich das Kleid an. Es hat ein über und über mit Pailletten und Strasssteinchen besetztes Korsagenoberteil und einen mit unzähligen Lagen steifen Tülls aufgebauschten gigantisch ausladenden Sissi-Rockteil.
»Ist das für den Junggesellinnenabschied?«, frage ich und streiche mit der Hand über den schimmernden Satin. Besser als das nuttige Moulin-Rouge-Outfit, das Dionne mir zuerst aufschwatzen wollte, ist es allemal. Eigentlich gar nicht so übel. Das würde ich glatt anziehen, dann hätten wir alle was zum Lachen. Die zweitwichtigste Regel beim Heiraten lautet: Beim Junggesellinnenabschied ist es für die Braut Ehrensache, sich zum Affen zu machen.
»Nein, du dummes Kind«, entgegnet meine Mutter pikiert. »Das ist ein Brautkleid. Für deine Hochzeit.« Und dann schaut sie Dionne an und verdreht entnervt die Augen.
Waaaas?
Mit strengem Blick nehme ich Dionne ins Visier und erwarte, dass sie jeden Moment herausplatzt vor Lachen und sich damit verrät.
Aber nichts dergleichen passiert. Nein, stattdessen betrachtet Dionne das Kleid mit zartschmelzendem Blick und legt es mir dann so liebevoll in die Arme wie eine Hebamme das Neugeborene. »Wir dachten, du könntest dazu vielleicht einen cremefarbenen Muff tragen und so. Und einen kleinen federbesetzten Bolero.«
Federbesetzter Bolero? Was redet sie denn da? Und was zum Teufel, ist ein Muff?
»Was ist denn ein Muff?«
»Du weißt schon. So ein plüschiges Puscheldings zum Händewärmen. Die sind der letzte Schrei bei Winterhochzeiten.«
Ein plüschiges Puscheldings? Warum um alles auf der Welt sollte ich bei meiner Hochzeit kalte Hände haben? Plötzlich habe ich das Bild unserer Hochzeitsgesellschaft vor Augen, allesamt in farbenfrohe Schals und Wollmützen gehüllt. Und Olly in einem teuren, maßgeschneiderten Balaklava. In Taubengrau, versteht sich, passend zum Cut.
Angewidert verziehe ich das Gesicht.
»Na los, probier’s an!«, tadelt meine Mum. »Wir müssen es enger machen lassen.« Ihr Blick geht hinunter zu meinem Bauch. »Oder weiter. Jedenfalls ist nicht mehr viel Zeit.«
Träume ich? Sie haben mir doch nicht allen Ernstes ein Brautkleid gekauft, oder?
»Ähm … ist das euer Ernst?«, stammele ich verdattert. Meine Wangen glühen.
Da grinsen sich die beiden hochzufrieden an, weil sie meine Frage wohl als ungläubiges Staunen missverstehen.
»Nein«, versichert Dionne. »Wir haben gesagt, wir bezahlen dir das Kleid. Also … da ist es!«
Ja, das haben sie gesagt. Aber wie hätte ich denn da ahnen sollen, dass die beiden einfach losmarschieren und ohne mich zu fragen ein Kleid kaufen. Ohne einen Ton zu sagen. Einfach so, über meinen Kopf hinweg.
Ich dachte immer, das Brautkleid zu kaufen sei so etwas wie ein Initiationsritus. Gratis-Champagner, Verkäuferinnen, die eifrig herumwuseln und nachher tun, als hätten sie gleich beim Reinkommen gewusst, für welches Kleid man sich am Ende entscheiden wird. Zur Anprobe auf einer Holzkiste zu stehen und zu tun, als sei man viel größer und schlanker, als man wirklich ist. Aber nein, sie kaufen mir einfach ein Kleid, das ich unmöglich – auf gar keinen Fall – zu meiner Hochzeit tragen kann …
»Traumhaft, oder?«, fragt Dionne versonnen und streicht mit ihren metallicpink lackierten Krallen über Haken und Ösen der Korsage. »Und schau dir nur die vielen Strasssteine an! Ich dachte, Strass könnte doch irgendwie das Thema der ganzen Hochzeit sein.«
Strass? Als Motto? Oh Gott. Nein.
Stumm verfluche ich Olly dafür, dass er mir letzte Woche einen Antrag gemacht und darauf bestanden hat, so schnell wie menschenmöglich zu heiraten.
Wobei der Antrag an sich wirklich süß und romantisch war. Er hatte mich zu einem verbilligten Wellness-Wochenende nach Cheshire entführt, und nach einem köstlichen Abendessen im Spa-eigenen veganen Restaurant ist er vor mir auf die Knie gefallen.
Mein Blick geht zu dem Ring, der am Mittelfinger meiner linken Hand prangt. Ein traumschöner herzförmiger Diamant auf einem schlichten Platinband. Er glitzert und funkelt wie aus dem Märchen.
Eigentlich war ich davon ausgegangen, mir blieben ein paar Monate, die ganze Hochzeit zu organisieren. Doch dann kam Olly und erzählte, er habe unerwartet gleich im nächsten Monat einen Termin in der Kirche bekommen.
»Natalie, ein anderes Paar hat die Hochzeit abgesagt. Also entweder Heiligabend oder erst 2015. Ich warte doch nicht bis 2015! Ich will dich jetzt heiraten! Und außerdem bekommen wir einen ordentlichen Rabatt, wenn wir den Ausfalltermin übernehmen.«
Das Ende vom Lied war, dass ich notgedrungen Mum und Dionne einspannen musste, um irgendwie aus dem Stegreif eine Hochzeitsfeier auf die Beine zu stellen. Die beiden haben eine ellenlange Liste zusammengestellt, die sie mir jedes Mal zumailen, wenn es auch nur die geringste Planänderung gibt.
Schnell schlucke ich das tiefe Stöhnen herunter, das mir in die Kehle steigt. Ich bin einfach undankbar und egoistisch. Die beiden haben mir ein Kleid gekauft, weil sie mir helfen wollen, damit alles noch rechtzeitig fertig wird.
Argh. Aber just in dem Moment springen mir die Hunderte kleiner Schleifchen ins Auge, mit denen der Saum des Kleides besetzt ist. Schleifen, ausgerechnet!
Nein. Das ist einfach lächerlich. Man muss sich doch sein Brautkleid selbst aussuchen dürfen. So war das immer schon, und so sollte es auch sein! Denn wenn man so darüber nachdenkt, ist es doch reichlich daneben, für jemand anderen das Hochzeitskleid zu kaufen.
Aber Mum und Dionne scheinen so zufrieden mit sich und dem Kleid und der ganzen Welt zu sein. Sie sind ehrlich und ernsthaft der Überzeugung, sie hätten damit ein gutes Werk getan. Und immerhin müssen sie sich in nur vier Wochen eine ganze Hochzeitsfeier aus dem Ärmel schütteln …
»Jetzt mach schon. Wir wollen doch wissen, wie es aussieht«, drängelt Dionne, und ihre Augen funkeln wie … wie Strasssteinchen.
Na ja … anprobieren kann ich es wohl, oder? Ist schließlich nichts dabei.
»Ich bin sprachlos!«, haucht Mum hingerissen, als ich missmutig in die Küche schlurfe, um ihnen das Kleid vorzuführen. Ihre dunkelbraunen Augen schimmern feucht vor Freudentränen. Wow. Das Monstrum muss mir besser stehen, als ich dachte. Vielleicht kennen die beiden mich ja erschreckenderweise doch besser als ich selbst.
Während ich damit beschäftigt war, mich umzuziehen, haben sie den großen Spiegel aus meinem Schlafzimmer in die Küche geschleppt und gegen den Tisch gelehnt. Dionne schenkt uns allen ein Glas Wein ein und schickt mich dann unter hektischem Winken zum Spiegel.
Umständlich manövriere ich mich in dem sperrigen Kleid um den Tisch und versuche dabei, mit dem ausladenden Rock nicht den Topfständer umzureißen oder das Gemüseregal abzuräumen. Nervös schaue ich auf und mustere mein Spiegelbild.
Wow.
Mum hat recht. Der Anblick verschlägt einem wirklich die Sprache. Wobei grauenhaft, grauenvoll und grauenerregend ebenfalls passende Umschreibungen wären, die mir auf Anhieb in den Sinn kommen.
Wie betäubt starre ich in den Spiegel. Das Funkeln der Strasssteinchen im fluoreszierenden Licht der Küchenlampe hat eine fast hypnotische Wirkung. Die Rettungsringe um meine Taille werden von dem steifen Korsett in Form gepresst und versuchen nun oben, dem glitzernden Mieder zu entkommen. Langsam drehe ich mich um und betrachte mich von hinten. Rückenspeck. Ich sehe definitiv Rückenspeck.
»Wir sind so GUT!«, jubelt Dionne. »Du siehst aus wie Katie Price. Nur ohne Titten. Vielleicht kaufst du dir zur Hochzeit neue, dann wäre es absolut perfekt.« Und damit greift sie zur Demonstration mit beiden Händen nach ihren chirurgisch aufgemotzten Riesenhupen.
Trübsinnig schaue ich auf mein 70B-Körbchen und seufze tief. So schlimm sind meine Brüste nun auch wieder nicht. Und sie wären noch viel besser, trüge ich nicht gerade ein Kleid, das sie bis zur Unkenntlichkeit plattdrückt.
Und wieso bin ich auf einmal so klein? Ich meine, groß bin ich ohnehin nicht mit meinen ein Meter sechzig, aber unter diesen enormen Tüllbergen scheine ich vollkommen zu verschwinden. Ich sehe aus wie ein kurzbeiniger Munchkin auf dem Weg zum Zauberer von Oz.
Och nee. Nee. Wirklich nicht. Auf keinen Fall will ich an meinem Hochzeitstag so aussehen. Ich möchte aussehen wie Audrey Hepburn in Ein süßer Fratz, nicht wie eine misslungene Kreuzung aus Gartenzwerg und Dragqueen in einer Epsiode von Zigeunerhochzeits-Paillettenwahnsinn. Ich hole tief Luft. Ich muss es ihnen sagen. Meg hat gesagt, ich soll den Mund aufmachen und mich durchsetzen, und das tue ich jetzt auch. Ich sage ihnen einfach, dass das nicht mein Kleid ist. Schließlich kann mich keiner dazu zwingen, es zu tragen.
»Mum, Dionne. Ich weiß nicht so recht …« Meine Stimme klingt plötzlich ganz rau und kratzig. Ich räuspere mich und setze noch mal an. »Ich weiß nicht …«
»Genau so wollte ich bei meiner Hochzeit auch aussehen«, unterbricht Mum mich mit Tränen in den Augen. »Und hätte dieser Scheißkerl von deinem Dad nicht all unser Geld für sein bescheuertes Motorrad verpulvert, dann hätte ich auch so ein Kleid getragen.«
Mitfühlend tätschelt Dionne ihr die Schulter.
»Ach Mum«, stammele ich. »Tut mir leid, aber …«
»Stell dir nur mal vor. Überall Pailletten und Strass«, wirft Dionne fröhlich ein und klimpert mit den spinnenbeinigen Wimpern, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
»Ich weiß nicht, ob das zu mir passt«, bringe ich schließlich mühsam heraus, während ich mich unbehaglich vor dem Spiegel drehe und wende.
Das Gesicht meiner Mutter wird unmerklich härter.
»Hör zu, Natalie«, zischt sie. »Dionne und ich versuchen innerhalb von ein paar Wochen eine perfekte Märchenhochzeit zu zaubern. Einfach ist das nicht.« Zittrig holt sie Luft. »Wäre es dir lieber, wir halten uns aus allem raus?«
Sie sieht so traurig aus.
»Nein, natürlich freue ich mich über eure Hilfe«, versichere ich ihr.
Und das tue ich ja auch. Allein kann ich das alles nicht stemmen, und gemeinsam sind Mum und Dionne wie eine unaufhaltsame Naturgewalt, ein wahrer Ausbund an Kreativität und Tatkraft. Wo sie sind, da wird nicht lange gefackelt, da werden Dinge erledigt.
»Deinem Dad hätte das Kleid gefallen«, schnieft Mum und tupft sich vorsichtig die Augen, damit die Wimperntusche nicht verschmiert.
»Ich weiß, Mum, ich weiß.« Wobei ich es mir verkneife, sie daran zu erinnern, dass Dad nicht tot ist, sondern sich bloß nach Indien abgesetzt hat, und es uns eigentlich schnurzpiepegal sein sollte, ob ihm das Kleid gefällt oder nicht. Wir kommen auch ohne ihn zurecht. Und hat sie ihn nicht eben noch einen Scheißkerl genannt?
Mein Blick wandert wieder nach unten zu dem Kleid, und erst da sehe ich, dass die kleinen Perlen alle in Form ineinander verschlungener Herzchen aufgestickt sind. Himmel Herrgott.
»Meint ihr nicht, ein etwas … schlichteres Kleid würde besser zu mir passen? Ich meine, ich will nicht aufgetakelt wie eine Fregatte herumlaufen«, erkläre ich zaghaft.
»Auf keinen Fall«, entgegnet Dionne entschieden und stemmt die Hände in die schmalen Hüften. »Sinn und Zweck eines Brautkleids ist doch, dass man darin aussieht wie eine Märchenprinzessin und nicht wie das stinklangweilige Mädchen von nebenan. Nimm’s mir nicht übel, aber wer will schon die öde, olle Natalie zum Altar schreiten sehen?«
Mum wischt sich die Tränen aus den Augen und reckt trotzig das Kinn.
»Diese Hochzeit ist nicht nur deine Sache, Schätzchen. Sie geht uns alle an. Die ganze Familie. Und wir könnten eine kleine Aufmunterung wirklich gut gebrauchen, nachdem … nachdem …« Und damit vergräbt sie das Gesicht in Dionnes Silikonbusen und schluchzt herzzerreißend. So ein verdammter Mist.
»Es tut mir leid, Mum. Ich wollte dich nicht kränken. Wirklich nicht. Aber …«
»Du trägst dieses Kleid.« Ruckartig hebt sie den Kopf und sieht mich an. »Ein richtiges Brautkleid. Nicht irgendeinen x-beliebigen Lappen, wie du ihn jeden Tag zur Arbeit anziehen könntest.«
Im ersten Moment sage ich gar nichts, sondern starre nur stumm in den Spiegel. Ich sehe aus wie eins dieser gehäkelten Klorollenpüppchen. Ein Klorollenpüppchen mit orangeroten Haaren und kugelrundem Mondgesicht.
»Ich will doch nur dein Bestes, Natalie«, fährt Mum fort. »Wäre es dir lieber, ich würde dir nicht helfen?« Wieder zittert ihre Stimme. »Das wäre dir lieber, nicht? Du meinst, ich sei zu nichts zu gebrauchen! Dein Dad hat immer gesagt, ich sei unfähig, und du denkst das auch!«
Womit sie wieder in Tränen ausbricht und sich mit schmerzlich verzogenem Gesicht schluchzend eine Hand auf die Brust presst.
»Mum, alles okay?«, frage ich besorgt.
»Nur ein bisschen Sodbrennen, weiter nichts«, wiegelt sie schniefend ab. »Schon okay. Ich nehme gleich ein Rennie.«
Mir bleibt keine andere Wahl.
»Also gut. Ich ziehe es an.« Und damit setze ich ein bemühtes Lächeln auf und tätschele Mum den Arm.
»Wunderbar, Liebes! Du wirst aussehen wie eine Prinzessin!«
Und dann schauen Mum und Dionne sich an und prosten sich vergnügt grinsend zu. Ich lächele matt, greife nach dem Weinglas vor mir auf dem Tisch und trinke es in einem Zug leer.
Das Kleid des Verderbens hängt wie eine unausgesprochene Drohung an meiner Schlafzimmertür und scheint mich stumm zu verspotten. Stirnrunzelnd werfe ich ihm finstere Blicke zu. Eine Paillette funkelt und glitzert im Licht; es sieht aus wie ein bösartiges flitterndes Zwinkern.
Seit zwei geschlagenen Stunden plappern Mum und Dionne nun schon ununterbrochen über die Hochzeit: wie traumhaft schön sie wird, wie umwerfend ich aussehen werde (wenn ich es denn schaffe, mich in den nächsten dreißig Tagen um eine Kleidergröße kleiner zu hungern), ob es so etwas wie essbaren Strass gibt für die kleinen Brautgeschenke und ob sie wohl den Vikar überreden können, einen glitzernden Stehkragen anzulegen. Als Braut ein Disco-Barbie-Kleid zu tragen ist also bei genauerer Betrachtung gar kein so großes Opfer. Wenn man bedenkt, wie vernarrt sie in das Kleid sind und was für einen großen Gefallen sie mir tun, weil sie doch die ganze Hochzeit planen und alles, ist es eigentlich das Mindeste, was ich tun kann.
Rasch schaue ich auf den Wecker neben meinem Bett. Schon acht Uhr. Olly müsste jeden Augenblick da sein. Er holt mich fast jeden Abend in der Woche ab, wenn er bei Dino’s Suits and Ties Feierabend macht. Dann fahren wir zusammen zu seiner superschicken riesengroßen Wohnung in Deansgate, essen gemeinsam zu Abend und kuscheln uns anschließend vor dem Fernseher unter die Decke. Es ist so schön mit ihm. Schön und gemütlich und entspannt und … einfach schön.
Während ich noch versuche, meine schreckliche Frisur unter massivem Einsatz von Styling-Gel zu retten, platzt Dionne ohne anzuklopfen in mein Zimmer. Vor dem Brautkleid bleibt sie andächtig stehen und legt eine mit Acrylfingernägeln verzierte Hand auf ihre Brust.
»Ich fasse es nicht, dass du dieses Kleid tatsächlich tragen darfst!«
Ich auch nicht.
»Ich weiß! Ich bin wirklich ein Glückspilz!«
»Das kannst du laut sagen, du kleines Glücksschweinchen. Aber egal, ich wollte dich fragen, ob du deinem kleinen Schwesterherz einen riesengroßen Gefallen tun kannst?«
Einen riesengroßen Gefallen. Unwillkürlich muss ich an all die riesengroßen Gefallen denken, um die Dionne mich im Laufe der Jahre schon gebeten hat. Wie damals, als sie mich bekniet hat, für sie mit ihrem Schulfreund Schluss zu machen. Geschlagene zwei Stunden lang hat der arme Kerl mich vollgerotzt, geschnieft und geheult und dann doch tatsächlich versucht, mich zu begrapschen. Oder letzten Monat, als ihre Küche unter Wasser stand und sie mich anflehte, dort alles aufzuwischen, weil sie einen überlebenswichtigen Termin hatte. Im Kosmetiksalon. Zum Augenbrauenzupfen. Den könne sie unmöglich absagen, wie sie glaubhaft versicherte. Und ich fürchte, wenn wir erst mal Tür an Tür wohnen, wird es wohl bald Riesengefallen hageln.
»Der da wäre?«, erkundige ich mich misstrauisch.
»Bull hat gerade angerufen und gesagt, dass er mich am Samstag ganz romantisch zum Madras-Curry-Essen ausführen will. Und ich wollte dich fragen, ob du auf Jean Paul Gaultier aufpassen könntest. Bitte.«
Was riesengroße Gefallen angeht, ist der wirklich harmlos. Aber am Samstagabend? Eigentlich hatte ich nichts Besonderes vor, außer vielleicht ein paar Rezepte für die perfekte Sauce Hollandaise auszuprobieren, während Olly mit seinen Kumpels aus dem Fitnessstudio um die Häuser zieht.
»Du kriegst auch was dafür«, versucht sie mich zu ködern.
Normalerweise würde ich kein Geld dafür annehmen, wenn ich auf Jean Paul Gaultier aufpasse – er ist wirklich ein ganz entzückender kleiner Pudel –, aber im Moment könnten ein paar zusätzliche Scheinchen im Portemonnaie nicht schaden.
»Klar. Kein Problem.«
»Prima. Danke, Schwesterlein. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich dir das Geld erst nächsten Monat gebe, oder? Bei River Island gibt es ein Kleid, das ich unbedingt haben muss. Das kaufe ich mir für Samstagabend.« Und damit schnappt sie sich einen Lippenstift von meiner Kommode, schaut sich die Farbe an und steckt ihn dann kommentarlos in die Tasche. »Aber du hättest sowieso kein Geld dafür genommen, auf ihn aufzupassen, stimmt’s?«
Doch.
»Aber nein, natürlich nicht.«
»Supi. Dann wäre das ja geklärt. Wann kommt Olly denn?«
Vor zwanzig Minuten.
»Der müsste jeden Moment da sein. Bestimmt ist er schon auf dem Weg. Ich sollte mich schnell fertig machen.«
»Klar«, sagt Dionne und wirft die blonden Haare nach hinten, sodass sie ihr wie drapiert über die Schulter fallen. »Na ja, ich muss sowieso los – Jeans Paul Gaultier muss Gassi, und danach gehen Bull und ich zu ihm nach Hause und sehen uns Scarface an. Sein Onkel war als Berater am Filmset. Damit alles ganz echt und realistisch wirkt, wie im richtigen Leben. Bull steht total auf den Film.«
Ich stelle mir Al Pacino vor, der vor einem gigantischen Berg Kokain an seinem Schreibtisch sitzt, und frage mich, wie realistisch und lebensecht diese Szene wohl war. Und dann frage ich mich, ob dieser Bull und seine zwielichtigen Verbindungen mir schlaflose Nächte bereiten sollten.
»Wann lernen wir ihn denn endlich mal kennen?«
Achselzuckend beißt Dionne sich auf die Lippe.
»Bald. Er ist ein bisschen schüchtern.«
Ein schüchterner Gangster. Was kommt denn als Nächstes? Ein aufregender Buchhalter? Ein entgegenkommender Friseur?
Auf dem Weg nach draußen greift Dionne sich im Vorbeigehen meinen Lieblingsschal in Silber und Türkis – den wollte ich eigentlich morgen Abend zu meiner Verabredung mit Meg tragen – vom Garderobenhaken an der Tür und schlingt ihn sich nonchalant um den Hals.
»Ooh, darf ich mir den ausleihen?«
»Na ja, eigentlich …«
»Bis später, Schwesterlein!« Und damit hopst sie ohne meine Antwort abzuwarten zur Tür hinaus und ist verschwunden.
Aaaargh!
Eine Viertelstunde später tutet draußen eine Hupe. Olly! Schnell werfe ich im Spiegel einen prüfenden Blick auf mein Lipgloss, dann springe ich die Treppe hinunter, laufe mit einem knappen »Bye, Mum« zur Tür hinaus und steige zu Olly in den Wagen.