cover

Buch

New York 1891. Eine Prostituierte wird brutal ermordet. Ihre Leiche weist dieselben Verletzungen auf wie die Opfer einer berüchtigten Mordserie in England. Hat der Mörder den Atlantik überquert, um seine Spur zu verwischen? Oder handelt es sich um einen Nachahmungstäter? In der amerikanischen Metropole, die ohnehin mit Bandenkriminalität, Korruption und Verbrechen zu kämpfen hat, geht die Angst um. Der aristokratische englische Kriminalanalytiker Finley Jameson soll den Fall für Scotland Yard vor Ort aufklären. Und er ist zunächst skeptisch, als ihm der toughe New Yorker Cop Joseph Argenti zur Seite gestellt wird. Doch trotz aller Bemühungen des ungleichen Ermittlerduos wütet der Mörder weiter – und treibt zudem ein perverses Spiel mit der Polizei …

Informationen zu John Matthews
und weiteren Titeln des Autors
finden Sie am Ende des Buches.

JOHN MATTHEWS

STADT IN ANGST

HISTORISCHER
KRIMINALROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN
VON ANDREAS JÄGER

PAGE & TURNER

Die Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel »Letters from a Murderer«
bei Exhibit A, an imprint of Angry Robot Ltd,
a division of Osprey Publishing Ltd, Oxford.

Page & Turner Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH.


1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2013
by John Matthews
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Eva Wagner
Gesetzt aus der Janson-Antiqua
Satz: DTP Service Apel, Hannover
ISBN: 978-3-641-14342-8
www.pageundturner-verlag.de

Besuchen Sie den Page & Turner Verlag im Netz

Goldmann_Icon_sw.tif Facebook_sw.tif youtube_sw.tif

Gewidmet einer eleganten, längst vergangenen Epoche,
der meine Mutter noch angehörte,
und all jenen unter meinen Verwandten und Freunden,
die meine Mutter und diese Epoche
in liebevoller Erinnerung bewahren.

VORWORT

Mit einer Reihe von Morden an Prostituierten im Londoner East End, begangen in den späten 1880er Jahren, sicherte sich der Täter, der später als »Jack the Ripper« bekannt wurde, seinen Platz als berüchtigtster Serienmörder aller Zeiten in den Annalen der Kriminalgeschichte.

Diejenigen Morde, die unbestritten dem Ripper zugeschrieben werden und daher als die »kanonischen Fünf« bekannt sind – die Morde an Mary Ann Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary Jane Kelly –, wurden alle zwischen August und November 1888 im Londoner Stadtteil Whitechapel begangen. Es gab allerdings im Zeitraum zwischen April 1888 und Februar 1891 insgesamt elf »Whitechapel-Morde«, und die Frage, welche dieser Frauen – Emma Smith, Martha Tabram, Rose Mylett, Frances Coles und Alice McKenzie – den Ripper-Opfern zuzurechnen seien, war und ist unter Ermittlern und Experten nach wie vor heftig umstritten.

Die letzten Morde, die eventuell dem Ripper zugeschrieben werden können, ereigneten sich jedoch nicht in London, sondern in New York; außerdem gab es einen ähnlich gelagerten Fall in New Orleans. Interessanterweise wurden alle diese Taten begangen, nachdem die Mordserie in London geendet hatte, weshalb sie zunehmend das Augenmerk von Forschern auf sich ziehen, die sich dem Rätsel um »Jack the Ripper« von Neuem zu nähern suchen.

EINS

New York, November 1891

Als Camille das Lokal betrat, fasste sie sofort den Mann hinter dem Tresen ins Auge.

Ein Blick von Delaney, dem Barchef, und sie wusste gleich, wie die Dinge standen. Wenn er nervös zur Seite und sofort wieder nach vorn schaute, dann hieß dies, dass Polizisten, Detektive der Pinkerton-Agentur oder die Hotelinhaber anwesend waren; schlug er die Augen nieder, dann gingen schon zu viele Mädchen in der Bar ihrem Geschäft nach. Ein Blick nach oben hieß: Selbst wenn du einen Freier aufgabeln solltest, die Zimmer sind alle belegt. Nur wenn er einfach lächelte, wusste sie, dass sie gerne bleiben durfte.

Delaney schenkte ihr ein angespanntes Lächeln und hatte sich bereits abgewandt, um einen Gast zu bedienen, ehe Camille mit einem Nicken antwortete. Die Bar war brechend voll und von lärmendem Stimmengewirr erfüllt – eine Kakophonie, die das Klimpern des Klaviers in der hinteren Ecke fast völlig übertönte: Träger, Bauarbeiter, Hausierer, Schauerleute und Matrosen von den Dampfern, die im nahen Hafen lagen. Camille erkannte mindestens sechs Mädchen, die im selben Gewerbe arbeiteten wie sie, aber vielleicht dachte Delaney, dass der große Andrang an diesem Samstagabend es rechtfertigte. Je mehr rüschenbesetzte Röcke und Unterröcke um sie herumschwirrten, desto länger blieben die Männer und desto mehr tranken sie.

Doch als Camille eines der Mädchen mit einem Freier nach oben gehen sah und Delaney mit einem Achselzucken die Augen zur Decke hob, war sie sich nicht mehr sicher, ob es sich lohnte zu warten. Sie suchte den Raum nach Gästen ab, die aussahen, als ob sie ihr einen Drink spendieren würden, um die Wartezeit zu verkürzen, doch niemand fing ihren Blick auf oder erwiderte ihr Lächeln. Ah, dachte sie, vor zehn Jahren, da hätte ich euch allen die Köpfe verdreht. In letzter Zeit wickelte sie ihre Geschäfte zunehmend auf der Straße ab, wo Dunkelheit und Schatten ihr Alter verbargen.

Die Wärme und die einladende Atmosphäre in der Bar waren eine Wohltat nach der Kälte draußen, und Camille verweilte einen Moment, um sie zu genießen, ehe sie sich aus ihrer Lethargie riss. Sie konnte sich keinen weiteren Tag ohne Freier leisten – schon gar nicht an einem Samstagabend. Ihre zwei Kleinen hatten bereits seit drei Tagen nichts als Mehlgrütze zu essen bekommen.

Sie würde eine Weile auf den Straßen des Viertels ihr Glück versuchen, und sollte sie dann immer noch mit leeren Händen dastehen, würde sie später noch einmal vorbeischauen, wenn die Männer noch betrunkener und nicht mehr so wählerisch wären.

Sie ging hinaus und war noch keine zehn Meter weit gekommen, als sie seine Stimme hörte.

»Hallo … suchen Sie vielleicht jemanden?«

Camille drehte sich um – sie hatte weder gesehen noch gehört, wie er ihr nach draußen gefolgt war, und als sie ihn nun betrachtete – mittelgroß, braune Haare, sorgsam gestutzter Bart und Schnauzer, unscheinbares Äußeres und bescheidenes Auftreten –, musste sie feststellen, dass er ihr auch in der Bar nicht aufgefallen war. Er war einfach in der Menge untergegangen. Aber er sah recht anständig aus, nicht zu grob oder primitiv. Sie würde nicht nein sagen.

»Schon möglich, mein Herr. Und sind Sie heute Abend auf der Suche nach einer Dame?«

»Ja … Ja, in der Tat.«

Er schlug einen Moment die Augen nieder, als schämte er sich, es zuzugeben. Das gefiel ihr. »Möchten Sie wieder hineingehen? Wir müssen vielleicht zehn Minuten auf ein Zimmer warten.«

»Nein … nein. Schon gut. Da drin ist es ein wenig zu laut für meinen Geschmack.«

Das mag sein, dachte sie. Doch es war wohl eher so, dass es ihm peinlich war, gesehen zu werden, wie er mit einem Mädchen nach oben ging. Sie folgte seinem Blick, als er über ihre Schulter zu der Gasse hinter ihr schaute.

»Okay. Ein Dollar.« Sie lächelte und wartete, bis sie das Geld in der Hand hatte, ehe sie hinzufügte: »Beißen ist nicht erlaubt. Und wenn Sie mein Kleid zerreißen, kostet es das Doppelte.«

Sie ging voran in die Gasse, wo sie auf halbem Weg stehen blieb, sich an die Wand lehnte und ihr Kleid hochzog. Ein plötzlicher Tumult ließ ihren Blick zur Seite schnellen – drei Männer platzten lärmend aus der Tür des Lokals.

Ihr Freier trat näher heran, um ihre Scham zu verdecken. Er sah nicht zu den Männern hinüber, schien aber jede ihrer Bewegungen am Rand seines Gesichtsfelds wahrzunehmen – sein Körper war starr und angespannt. Einen Moment lang fürchtete sie, die Störung habe ihn verunsichert, und er würde sein Geld zurückverlangen. Doch als ihre Stimmen endlich verhallten, entspannte er sich wieder. Die einzigen Geräusche in der Nachtluft waren das Hufgeklapper der vorbeifahrenden Droschken auf der Catherine Street und das Nebelhorn eines Dampfers drüben im Hafen.

»Na los, nur zu«, sagte sie und zog Kleid und Unterrock bis zur Taille hoch. Sie trug keinen Schlüpfer, und so musste sie nur auf das übliche Gefummel warten, bis er in ihr drin war.

Nur dass sich das hier irgendwie anders anfühlte – er drang tiefer ein, höher hinauf, als sie es je gekannt hatte. Es raubte ihr den Atem, sie spürte einen scharfen Stich und eine merkwürdige Nässe auf der Haut.

Während sie erschrocken die Luft anhielt, sah er ihr tief in die Augen. »Nicht bewegen«, sagte er. »Du machst es nur noch schlimmer.«

Und als sie spürte, wie er ejakulierte, und merkte, dass es eine Klinge war, die in ihr steckte und nun tief in ihren Eingeweiden bohrte und wütete wie eine Sense, da hatte ihr gurgelnder Schrei kaum ihre Kehle verlassen, ehe die Hand an ihrem Hals ihn auch schon mit festem Griff erstickte.

Als der Rechtsmediziner Jacob Bryce zur dritten Stichwunde kam, wusste er, dass er es nicht mit einem der Raubüberfälle in finsteren Gassen zu tun hatte, die den Großteil der Morde im berüchtigten Fourth Ward, dem vierten Bezirk der Stadt, ausmachten.

Das Blut, das sich zumeist im Brust- und Bauchbereich der Frau gesammelt hatte, war zu einer dicken Schicht eingetrocknet, was darauf hindeutete, dass der Tod bereits vor mehreren Stunden eingetreten war. Bryce hatte das Blut mithilfe von Alkohol gelöst und abgewaschen, um diese ersten Stichwunden untersuchen zu können.

Wenn eine Leiche zur Obduktion ins Bellevue-Krankenhaus eingeliefert wurde, war es üblich, dass jeweils einer der Tatortermittler zugegen war, um auf Nachfrage entscheidende Informationen beisteuern zu können. Bryce drehte sich zu dem anwesenden Detective um, dessen Namen er vergessen hatte und der immer noch ein wenig unter Schock zu stehen schien.

»Um wie viel Uhr haben Sie die Leiche gefunden?«

»Äh, wir sind kurz vor Mitternacht dort eingetroffen, ich und ein Kollege vom Revier in der Mulberry Street.«

»Und die Personen, die die Tat entdeckt haben – wann war das?«

Der Detective konsultierte seine Notizen. »Ein anderes Mädchen vom Riverway Hotel bemerkte ihre Leiche in einer Seitengasse, vierzig Minuten vor unserem Eintreffen.«

»Herrschte um diese späte Stunde noch viel Betrieb dort?«

»Ja. Es war immer noch recht viel los.«

Bryce nickte nachdenklich. Es kam vielleicht noch maximal eine halbe Stunde dazu, bevor die Leiche entdeckt worden war, und dann die zwei Stunden seit Mitternacht, die mit der ersten Spurensicherung am Tatort und dem Transport der Leiche in einem Krankenwagen zum Bellevue verstrichen waren.

Der tiefe Schnitt seitlich am Hals der Frau, der die Halsschlagader durchtrennt hatte, wäre an sich bei einem Straßenraub nicht weiter ungewöhnlich gewesen. Es war die Tatsache, dass er von einer solchen Vielzahl von Stichwunden begleitet war – Bryce hatte bislang acht davon gezählt. Aus der Halswunde war weniger Blut ausgetreten, was darauf schließen ließ, dass die Bauchverletzungen vorausgegangen waren.

Als Bryce die vierzehnte Stichwunde lokalisiert hatte, war ihm klar, dass er sich auf unbekanntem Terrain befand. Dies war anders als alles, was er bisher gesehen hatte. Der Geruch nach Exkrementen, vermischt mit Karbol und Alkohol, hing schwer in der Luft. Der junge Detective war inzwischen ganz grün im Gesicht, er hatte die Augen weit aufgerissen und hielt sich die Hand vor den Mund.

Bryce bemerkte ein kleines X, das in die linke Schulter der Frau geritzt war. Er würde es später noch fotografieren lassen. Als begeisterter Anhänger von Virchows Lehren hatte Bryce eine Anzahl von Glasgefäßen vorbereitet, fein säuberlich aufgereiht und etikettiert, um die inneren Organe aufzunehmen, nachdem sie vorläufig untersucht und gewogen worden waren. Doch bald schon musste er feststellen, dass zwei dieser Gläser leer bleiben würden. Er sah den Detective an.

»Wurden irgendwelche Leichenteile vom Tatort entfernt? Vielleicht gesichert und zur Untersuchung an einen anderen Ort gebracht … oder versehentlich am Tatort zurückgelassen?«

Der Detective räusperte sich nervös, er musste einen Moment überlegen. »Nein. Nicht dass ich wüsste.«

»Der Tatort wurde gründlich abgesucht – es wurde nichts übersehen?«

»Nein … Nein, ganz sicher nicht.«

Bryce fragte sich, ob Ratten oder streunende Hunde die Leber und eine Niere der Frau verschleppt oder aufgefressen haben könnten. Unwahrscheinlich, angesichts des kurzen Zeitraums von einer halben Stunde. Aber unabhängig davon stand fest, dass der Mörder diese Organe zunächst entnommen hatte. Ja, dies war anders als alles, was er bisher gesehen hatte, wenngleich er schon einmal von einem ähnlichen Fall gehört hatte.

Bryce sah zur Uhr an der Wand. Noch fünf Stunden, bis Inspector McCluskey in seinem Büro wäre und er die Information weitergeben könnte.

St James’s Club, London

»Ich bitte Sie. Dieser Darwin war doch eindeutig nicht ganz bei Sinnen.« Viscount Linhurst schwenkte sein Cognacglas. »Vom Affen abstammen? Wir sind eindeutig die weitaus erhabenere Spezies.«

Mit zweien der führenden Chirurgen Londons – Sir Thomas Colby und Andrew Maitland – als aufmerksamen Zuhörern hielt er die Gelegenheit für günstig, solche Ansichten zu äußern.

»Wenn man sich meine Hausangestellten so anschaut, würde man nie auf die Idee kommen«, bemerkte Maitland.

Linhurst lachte kurz auf, doch Colby blieb ernst. »Ich weiß nicht. Ich sehe die Ähnlichkeiten tagtäglich bei meinen Autopsien. Jedes einzelne Organ sitzt am gleichen Platz – Leber, Magen, Milz – und auch Knochen und Gelenke, bis hin zum kleinen Finger.« Colby hielt den seinen hoch. »An Ihrer Stelle würde ich die These nicht vorschnell verwerfen.«

»Das überzeugt mich nicht.« Linhurst tippte sich an die Stirn. »Es ist alles hier drin, verstehen Sie? Und Darwin hat nicht hinreichend erklärt, wie ein Affe in der Lage sein soll …« Linhurst brach ab, als sich ein Clubdiener näherte.

»Bitte verzeihen Sie die Störung, meine Herren, aber Sir Thomas wird dringend am Telefon verlangt.«

Colby entfaltete den Zettel, den der Diener ihm auf einem Silbertablett reichte. »Entschuldigen Sie mich einen Moment.«

Er folgte dem Diener zu dem Wandtelefon im Vestibül. Am anderen Ende meldete sich Polizeipräsident Grayling, der keine Zeit mit Vorgeplänkel vergeudete.

»Es gibt einen neuen Fall.« Schweigen – und Grayling war sich nicht sicher, ob es nur der Schock war oder ob Colby nicht gleich begriffen hatte, worum es ging. Grayling fügte hinzu: »Ganz ähnlich wie die acht anderen.«

»Wo? Wieder in Whitechapel?«

»Nein. Sie werden es kaum glauben, aber es ist in Übersee passiert. In New York.«

Doch Colby war gar nicht so sehr überrascht. Da der letzte Mord inzwischen über ein Jahr zurücklag, mutmaßte man, dass der Ripper, falls er nicht im Gefängnis saß oder tot war, das Land verlassen haben könnte.

»Wer leitet dort drüben die Ermittlungen?«

»McCluskey«, antwortete Grayling mit gesenkter Stimme und spöttischem Unterton. »Aber wie dem auch sei – Sie müssen so schnell wie möglich hinreisen.«

»Verstehe. Ich wage zu vermuten, dass er nicht darum gebeten hat, mich hinzuzuziehen.«

»Nein, das war ich. Ihre Meinung ist von unschätzbarem Wert bei der Beurteilung eines Zusammenhangs zwischen den Verbrechen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelt. Wie Ihnen bekannt ist, wurde über diese Sache weit ausführlicher in der Presse berichtet, als uns lieb sein kann. Aber falls wir eine Verbindung nachweisen können, haben wir hier immer noch bei Weitem die höhere Zahl an Fällen zu bearbeiten. Acht Morde, die nach wie vor nicht aufgeklärt sind.«

Colby musste nicht daran erinnert werden. Drei Jahre, die wie nichts zuvor an seinem Leben gezehrt hatten. Die Zahl der Morde, die dem Ripper zugeschrieben wurden, schwankte zwischen fünf und elf, doch Colby persönlich hatte sich auf acht Fälle festgelegt, zwischen denen es eindeutig Verbindungen gab. Keine Ermittlung in der Vergangenheit hatte solches Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt, und die Sensationsgier der Fleet-Street-Journalisten hatte ihnen die Arbeit nicht gerade erleichtert.

»Auch diese Leiche war mit einem Zeichen versehen«, sagte Grayling. »Ein kleines X auf ihrer linken Schulter.«

»Oh?«

»Es könnte bedeutsam sein oder auch nicht. Oder es könnte heißen, dass wir es mit einem ganz anderen Mann zu tun haben und nicht mit dem Ripper. Das werden wir erst wissen, wenn sämtliche Details vorliegen.«

»Ja, ich verstehe.« Colby seufzte. »Es gibt allerdings ein Problem. Ich muss in zwei Wochen eine wichtige Rede am Royal College of Surgeons halten. Ich werde erst danach abreisen können.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob die Sache einen solchen Aufschub duldet – vom politischen Aspekt einmal abgesehen. McCluskey würde sich zweifellos wieder über unsere Inkompetenz auslassen. Können Sie es nicht verschieben – und Ihre Rede später halten?«

»Nein, es ist eine alljährliche Veranstaltung. Aber das ist nicht das einzige Problem.« Colby dachte mit Schrecken an seinen übervollen Kalender mit gesellschaftlichen Verpflichtungen: die Aufnahmefeier seines Sohnes an der Militärakademie Sandhurst, eine Einladung zu einem Abendessen mit Tanz von Lord und Lady Northbrook, die er nicht verpassen durfte, wenn er nicht ganz großen Ärger mit seiner Frau riskieren wollte. »Ich fürchte, ich werde die Reise nicht antreten können.«

»Es tut mir leid, das zu hören. Dann werde ich wohl oder übel McCluskey die schlechte Nachricht übermitteln müssen – oder vielleicht eher die gute Nachricht, aus seiner Sicht. Er wird zweifellos erleichtert sein, dass wir uns nicht einmischen, und sich im Übrigen vollends bestätigt sehen, was unsere Inkompetenz …«

»Ich habe einen Vorschlag«, unterbrach ihn Colby. Der Gedanke war ihm gekommen, als Grayling angefangen hatte, ihn zu bearbeiten. »Einer meiner besten Studenten ist vor vier Monaten nach New York gegangen. Eine Tante, die ihm sehr nahestand – sie hatte ihn nach dem Tod seiner Mutter großgezogen –, war schwer erkrankt. Er könnte mich vertreten.«

»Aber wäre er kompetent genug?«

»Durchaus. Mein wichtigster Schützling, wenn Sie so wollen. Von all meinen Studenten war er der einzige, der die entscheidenden Verbindungen zwischen den Ripper-Fällen identifizieren konnte, ohne dass ich permanent nachhelfen musste. Geradezu unheimlich – fast so, als kennte er den Mann persönlich.«

»Verstehe.«

Colby nahm immer noch einen Rest von Zweifel wahr. Einen einzigen Fleck gab es auf der weißen Weste seines Protegés, doch Colby neigte zu der Ansicht, dass dies zwar ein schlechtes Licht auf sein Privatleben warf, aber nichts über seine Kompetenz aussagte – und daher kaum erwähnenswert war.

»Und selbstverständlich könnte ich ihn per Telegramm und Brief von London aus zusätzlich beraten.«

»Ja, ich … ich denke, so könnte es gehen«, sagte Grayling schließlich. »Aber falls ihm der Tratsch aus London zu Ohren gekommen sein sollte, schärfen Sie ihm ein, dass er auf keinen Fall unseren Spitznamen für McCluskey – Inspector McClumsy – in den Mund nehmen soll, wenn er sich nicht gleich unbeliebt machen will. Und wie heißt der junge Mann übrigens?«

Colby musste schmunzeln. »Jameson. Finley Jameson.«

New York, November 1891

»Mr Jameson … Mr Jameson!«

Die Stimme hallte ein wenig, als käme sie vom Ende eines Tunnels, und Finley Jameson brauchte einen Moment, um das runzlige Gesicht des Chinesen ins Auge zu fassen, der sich über ihn beugte, und sich zu erinnern, wo er war. Die Luft war schwer vom Geruch nach Opium und Räucherwerk, und Jameson war sich nicht sicher, ob der leichte Dunstschleier echt oder nur hinter seinen Augen war.

»Mr Jameson … Lawrence ist hier. Sagt, er hat eine dringende Nachricht für Sie. Soll ich ihn hereinführen?«

Jetzt war Jameson hellwach. Sein Assistent, Lawrence. Jameson setzte sich auf, massierte sich den Schädel. Vor Jahren, als Student an der Universität, hatte ein blonder Lockenschopf sein Haupt geziert, doch jetzt, da er sein Haar kurz geschoren trug, wirkte es viel dunkler.

»Nein, nein. Sagen Sie ihm, er soll warten. Ich komme in ein paar Minuten heraus.« Er wollte nicht, dass Lawrence ihn so sah. Er würde es nicht verstehen.

»Soll ich Sulee sagen, dass sie Ihnen Tee bringen soll? Damit Sie schneller wach werden?«

»Ja … danke. Eine hervorragende Idee.«

Sulees Gestalt tauchte aus dem Nebel auf. Sie machte eine kleine Verbeugung, ehe sie ging, um ihm Tee zu machen. Die schlichte Bluse mit hohem Kragen und die weite Hose einer einfachen Wäscherin taten ihrer geschmeidigen Schönheit keinen Abbruch.

Lings Angebot fiel ihm wieder ein: Für einen Dollar würde Sulee ihm eine Duftöl-Massage verabreichen, während er rauchte. Für einen weiteren Dollar würde sie das Öl mit ihrem nackten Körper einreiben und es dann Zoll für Zoll ablecken, »wie eine Katze«.

Jameson war eigentlich der Meinung, das Angebot höflich abgelehnt zu haben – »vielleicht nächstes Mal« –, aber als er sich später zu erinnern glaubte, wie Sulees öliger Leib sich an den seinen schmiegte, war er sich nicht mehr so sicher. Irgendwann wurden ihre Augen dann zu senkrechten Ovalen, und ihre Haut verwandelte sich in das gestreifte Fell eines Tigers – falls es nicht das Kerzenlicht war, das den Schatten einer Palme auf sie geworfen hatte –, also war es vielleicht doch ein Traum gewesen.

Das war es, was Jameson an diesen Opiumhöhlen vor allem anzog – diese wundersame Verschmelzung von Träumen und Wirklichkeit. Aber war es nicht immer der Tod, der den Anstoß zu seinen Besuchen gab? Auf jeden Fall war das erste Mal, dass er einen dieser Orte aufgesucht hatte, nicht lange nach dem Ableben seiner Mutter gewesen, und es konnte kein reiner Zufall sein, dass seinen Besuchen oft besonders traumatische Obduktionen an Colbys Seite vorausgegangen waren. Auch dieser Besuch bei Ling kam unmittelbar nach dem Tod seiner Tante, und in der Vergangenheit hatte er sich schon des Öfteren in Opiumhöhlen zurückgezogen, wenn er mit irgendwelchen Problemen zu kämpfen hatte.

Eine Flucht vor seinen persönlichen Dämonen oder lediglich eine harmlose Zerstreuung? Nach einer Weile tat er den Gedanken mit einem Achselzucken ab. Wie so oft war ihm wohler, wenn er die verschlungenen Wege des Lebens anderer studieren konnte, anstatt sich mit seinem eigenen zu befassen.

Er lächelte, als Sulee ihm einen Jasmintee reichte.

ZWEI

New York, Januar 1892

Ich fand, dass ein paar Zeilen angebracht wären, da ich hörte, dass Sie in New York seien. Und kein Geringerer als Colbys brillantester Schüler! Es wird so sein, als weilte der Geist von Thomas Colby selbst hier, um das Spiel fortzusetzen, das wir in London begonnen haben. Richten Sie ihm doch bitte meine Grüße aus.

Offenbar sind die bisherigen Zeichen nicht identifiziert worden, weshalb ich dieses nun an einer Stelle angebracht habe, wo es nicht zu übersehen ist. Hat Colby Sie eigens meinetwegen hergeschickt? Wenn dem so ist, fühle ich mich geschmeichelt. Ich habe Sie übrigens beobachtet, wie Sie zusammen mit Colby die letzten Momente dieser armen Mädchen zu rekonstruieren versuchten.

Ah, nun rätseln Sie sicher, welcher von denen, die Ihnen zugesehen haben, ich wohl gewesen sein könnte: Bürger, Bauer, Bettelmann? Ein unüberschaubares Gedränge bei Tag und bei Nacht. Und New York ist genauso. Die Massen von Menschen, die aus aller Herren Ländern herbeiströmen. Zuweilen hat es einen belebenden Einfluss, aber oftmals kommt man sich vor wie in einem Irrenhaus. Bedlam, wie man es in London nennt – ein Name mit einem ganz besonderen Klang. Übrigens, wie geht es Ihrem Assistenten Lawrence?

Aber Sie hätten sich wohl keinen besseren Zeitpunkt für Ihren Aufenthalt in New York aussuchen können. All diese neuen Monolithen, die in den Himmel schießen, und seit Neuestem bringen die ersten elektrischen Laternen Leben in die nächtlichen Straßen. Lassen Sie sich von der behaglichen, heiteren Atmosphäre der Bars, Theater und Varietés umfangen, und Sie könnten fast meinen, Sie seien in London.

Fast, mein Freund. Ich war betrübt, vom Tod Ihrer Tante zu erfahren. Wie Sie zweifellos bald feststellen werden, ist es sehr schwer, von Freunden und Angehörigen getrennt zu sein. Welch merkwürdige Fügung, dass die vielleicht engste Beziehung, die Sie und ich in dieser neuen Stadt haben, diejenige sein dürfte, die wir miteinander haben.

Detective Joseph Argenti nippte an seinem starken schwarzen Kaffee, während er den Brief las. Dann blickte er zu George Watkins auf, dem Bürgermeister der Stadt New York, der ihm am Tisch gegenübersaß.

Kerngesund und kräftig, so hätte er Watkins’ Erscheinung am ehesten beschrieben: kräftige rote Wangen, kühn gezwirbelter Schnauzbart, und wenngleich er mit einem Meter siebzig nicht sonderlich groß war, so wirkte er doch fast ebenso breit. Im Gegensatz dazu war Argenti dünn, drahtig und groß gewachsen, seine Gesichtsfarbe war fahler, und er trug seinen Bart kurz geschoren.

Sie saßen an einem Fensterplatz im Tearoom des Vendôme. Draußen auf der 41st Street fuhr mit Hufgeklapper und Geratter ein endloser Strom von Hansom Cabs und Pferdekarren mit Kohle oder Bierfässern vorüber, dann und wann auch eine von Pferden gezogene Straßenbahn.

»Wann hat Jameson den Brief zu Gesicht bekommen?«, fragte Argenti.

»Erst heute Morgen. Er wurde direkt an die Times geschickt. Unser Mann will ihn offenbar vor den Augen der Öffentlichkeit herausfordern – wie schon in seinen früheren Briefen, die zuerst an die Presse geschickt wurden. Er will nicht das Risiko eingehen, dass Jameson die Briefe für sich behält.«

»Wie könnte unser Mann vom Tod von Jamesons Tante erfahren haben? Stand darüber etwas in den Zeitungen?«

»Ich glaube nicht. Wir überprüfen das gerade. Aber es dürfte wohl eine Todesanzeige gegeben haben. Möglich, dass er die Verbindung hergestellt hat.«

»Und hat Jameson tatsächlich einen Assistenten namens Lawrence? Und was soll die Anspielung auf das Irrenhaus von London – hat das irgendetwas zu bedeuten?«

»Ja, sein Assistent heißt Lawrence. Aber wir wissen noch nicht, was es mit der Anspielung auf sich hat. Wie ich schon sagte, es ist noch zu früh. Der Brief ist erst heute Morgen eingetroffen.«

Argenti nickte nachdenklich. »Und Jameson wird gleich bei der Pressekonferenz mit McCluskey zugegen sein?«

»Wie man hört, ja.« Watkins sah auf seine Taschenuhr. »Und wir sollten jetzt allmählich aufbrechen. Ich werde Sie unterwegs weiter unterrichten.«

Sie wählten Plätze in den hinteren Reihen des Varietétheaters in der 23rd Street. Auf der erhöhten Bühne saßen Inspector McCluskey und Finley Jameson und beantworteten die Fragen von Journalisten sowie von führenden Vertretern der Stadt und des Klerus. Eine bunte Mischung von »besorgten Bürgern« füllte den Rest des Saales, von der Heilsarmee bis hin zu Vertretern des bibliophilen Grolier-Clubs.

Vorn nahe dem Podium stellte ein Reporter der New York Post bereits seine dritte Frage zu möglichen Verdächtigen, und McCluskey wurde allmählich nervös.

»Wie ich bereits sagte, scheinen unsere ursprünglichen Informationen bezüglich des Verdächtigen, der als ›Frenchy Nummer eins‹ bekannt ist, falsch zu sein. Er kann an dem betreffenden Abend nicht in der Bar gewesen sein, weil sein Dampfer schon zwei Abende zuvor in See gestochen war.«

»Und der andere Verdächtige – Frenchy Nummer zwei?«

»Wir konnten ihn noch nicht ausfindig machen. Deshalb können wir den Verdacht gegen ihn weder erhärten noch zerstreuen.«

Ein Reporter der New York Times hob seinen Stift. »Und haben Sie noch andere Verdächtige aus anderen Ländern? Vielleicht Italiener oder Russen oder ›Dutchy Nummer eins und zwei‹? Oder, da wir ja schließlich in New York sind – Ire oder Amerikaner Nummer eins oder zwei?«

Gelächter breitete sich im Saal aus. McCluskey hob die Hand, um Ruhe zu gebieten. »Ich möchte noch einmal klarstellen, dass nur ein einziger Mann gesehen wurde, der ungefähr zur gleichen Zeit wie Camille Green das Lokal verließ. Zwei der Mädchen, die wir befragt haben, meinten, es habe sich um einen Mann mit einem starken französischen Akzent gehandelt, den sie einige Wochen zuvor getroffen hatten. Wir bemühen uns derzeit, die Identität dieses Mannes zu ermitteln.«

Watkins flüsterte Argenti ins Ohr: »McCluskey ist ein toter Mann.«

»Wieso? Ist er so krank?«

»Ich meine, was seine Karriere betrifft. Mit seinem Gerede über die Inkompetenz der britischen Polizei – auf deren Informationen zur Vorgeschichte wir jetzt angewiesen sind – hat er sich keine Freunde gemacht. Und dann verschlimmert er alles noch, indem er unsere eigene Truppe als die größten Versager auf Gottes Erdboden hinstellt, mit diesem ganzen Frenchy-Unsinn, der doch zu nichts führt. Deswegen habe ich Ihnen heute Morgen diesen Brief gezeigt – um Sie zur Mitwirkung zu bewegen.«

»Sie wollen, dass ich McCluskey bei der Ermittlung assistiere?«

»Nein. Ich will, dass Sie die Ermittlung von ihm übernehmen. Übrigens habe ich erst vor ein paar Tagen mit Polizeipräsident Latham über dieses Thema gesprochen.«

Argenti verfiel in Schweigen. Er hätte wissen müssen, dass da mehr dahintersteckte. Erst das Gespräch unter vier Augen mit Watkins im Vendôme und nun die Tatsache, dass Watkins mit ihm hinten im Saal saß und nicht an McCluskeys Seite auf dem Podium.

Watkins verzog das Gesicht. »Hören Sie, wir wollen uns doch nichts vormachen. McCluskeys Tage sind gezählt. Nicht nur, weil seine Ermittlungen in diesem Fall bisher ein einziges Fiasko sind, sondern wegen der massiven Korruption, die seine Abteilung unterwandert. Wie Sie wissen, streicht Michael Tierney überall Anteile ein – im Hafen, in den Spelunken und Bordellen und bei jeder zweiten Baustelle in der Stadt. Er hat das halbe Rathaus und die halbe Polizei in der Tasche, darunter möglicherweise McCluskey. Wohingegen Sie sich von dieser Korruption ferngehalten und sich ihr sogar entgegengestellt haben.« Watkins’ Blick ging zu McCluskey. »Und glauben Sie mir, das ist nicht unbemerkt geblieben.«

Argenti nickte nachdenklich. »Haben Sie von dem Gerücht gehört, wonach Tierney ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt hat, weil ich es gewagt habe, ihm die Stirn zu bieten?«

»Ja, allerdings. Ein weiterer Beleg für Ihre Standhaftigkeit.« Watkins betrachtete ihn mit ernster Miene. Er wusste, dass Argenti eine Frau und drei Kinder hatte. »Mir ist klar, dass Ihnen die Entscheidung nicht leichtgefallen sein kann.«

Schwaden von Zigarren- und Pfeifenrauch trieben durch die Luft und leuchteten auf, wenn sie vom Schein des Gaslichts erfasst wurden.

Auf dem Podium führte Finley Jameson seine früheren Bemerkungen zur Obduktion näher aus. »Um es noch einmal klarzustellen: Die Strangulation war nicht die Todesursache, sie führte lediglich zur Bewusstlosigkeit des Opfers. Wahrscheinlich war es die Verstümmelung des Unterleibs und der Bauchhöhle mit dem entsprechenden Blutverlust, die zum Tode führte.«

»Und darin sehen Sie eine Parallele zu den früheren Ripper-Morden in London?«

»Ja. Bei mindestens vier früheren Fällen lag ein nahezu identisches Verletzungsmuster vor.«

»Hat das Zeichen, von dem er sagt, er habe es an Camille Greens Körper hinterlassen, irgendeine Bedeutung?«

»Offenbar handelt es sich um ein X an ihrer linken Schulter. Aber das könnte alles Mögliche sein. Eine Art primitiver Signatur oder vielleicht gar die römische Ziffer zehn.«

»Waren noch andere Leichen mit solchen Markierungen versehen?«

»Nein – jedenfalls hat man nichts dergleichen gefunden. Das wird derzeit in London noch einmal überprüft.«

Es war einen Moment still, während die Reporter sich Notizen machten. Dann hob ein Mitarbeiter des Herald die Hand.

»Und dieses Mädchen, das letzte Woche von einer Straßenbahn überfahren und in zwei Teile gerissen wurde – könnte sie ein weiteres Opfer gewesen sein, das der Mörder nur auf die Schienen gelegt hat, um seine Tat zu verschleiern?«

»Nein, das ist nicht möglich. Ich habe sie nicht lange nach der Leichenschau gesehen, und die Untersuchung der Totenflecke ergab, dass sie noch lebte, als sie von der Bahn erfasst wurde.«

Watkins wandte sich zu Argenti um. »Was ist Ihr Eindruck von Jameson? Ist er jemand, mit dem Sie gut zusammenarbeiten könnten?«

Argenti betrachtete Jameson eingehend: Anfang dreißig, säuberlich gestutzter Vollbart, keine sonderlich auffälligen Züge bis auf die wachen hellgrauen Augen, die unablässig in Bewegung waren und alles genau erfassten. Dazu ein ungezwungenes Lächeln, das ihn sympathisch wirken ließ.

Erstaunlich nur, dass Jameson, nur wenige Stunden nachdem ein so persönlicher Brief veröffentlicht worden war, derart souverän auftreten konnte, scheinbar vollkommen ungerührt. Es schien klar, dass er entweder über einen scharfen Verstand verfügte und in der Lage war, seine Gefühle aus dem Spiel zu lassen, oder aber er war merkwürdig losgelöst von diesen Gefühlen – was die verstörendere Variante war.

»So gut wie mit jedem anderen, würde ich behaupten.« Eine unverbindliche Antwort. Er sah wenig Sinn darin, das Offensichtliche rundheraus auszusprechen: dass ihn und Jameson hinsichtlich ihres kulturellen Hintergrunds und ihres Auftretens Welten trennten. Doch als er sah, wie durchdringend Watkins ihn fixierte, spürte er, dass es keine beiläufige Frage gewesen war.

»Es sieht nämlich so aus, als könnte sich die Gelegenheit für Sie früher ergeben, als ich dachte. Wir haben gerade vorhin einen neuen Hinweis bekommen: Es geht um eine Freundin von Camille Green. Ich möchte, dass Sie und Jameson sie aufsuchen und befragen.«

»Über McCluskeys Abteilung?«

»Nein. Dieser Hinweis kam direkt durch eine meiner Kontaktpersonen bei der Pinkerton-Agentur. Diese Person beobachtet schon eine ganze Weile einige der Freudenmädchen aus derselben Bar.«

»Werden wir damit nicht McCluskey auf die Füße treten?«

»Überlassen Sie McCluskey mir und Polizeipräsident Latham.« Watkins blickte wehmütig zum Podium. »Wie ich bereits sagte, spätestens in einem Monat wird ihm der Boden unter den Füßen wegbrechen – da spielt es dann keine Rolle mehr, wer ihm daraufgetreten ist.«