EINS
New York, November 1891
Als Camille das Lokal betrat, fasste sie sofort den Mann hinter dem Tresen ins Auge.
Ein Blick von Delaney, dem Barchef, und sie wusste gleich, wie die Dinge standen. Wenn er nervös zur Seite und sofort wieder nach vorn schaute, dann hieß dies, dass Polizisten, Detektive der Pinkerton-Agentur oder die Hotelinhaber anwesend waren; schlug er die Augen nieder, dann gingen schon zu viele Mädchen in der Bar ihrem Geschäft nach. Ein Blick nach oben hieß: Selbst wenn du einen Freier aufgabeln solltest, die Zimmer sind alle belegt. Nur wenn er einfach lächelte, wusste sie, dass sie gerne bleiben durfte.
Delaney schenkte ihr ein angespanntes Lächeln und hatte sich bereits abgewandt, um einen Gast zu bedienen, ehe Camille mit einem Nicken antwortete. Die Bar war brechend voll und von lärmendem Stimmengewirr erfüllt – eine Kakophonie, die das Klimpern des Klaviers in der hinteren Ecke fast völlig übertönte: Träger, Bauarbeiter, Hausierer, Schauerleute und Matrosen von den Dampfern, die im nahen Hafen lagen. Camille erkannte mindestens sechs Mädchen, die im selben Gewerbe arbeiteten wie sie, aber vielleicht dachte Delaney, dass der große Andrang an diesem Samstagabend es rechtfertigte. Je mehr rüschenbesetzte Röcke und Unterröcke um sie herumschwirrten, desto länger blieben die Männer und desto mehr tranken sie.
Doch als Camille eines der Mädchen mit einem Freier nach oben gehen sah und Delaney mit einem Achselzucken die Augen zur Decke hob, war sie sich nicht mehr sicher, ob es sich lohnte zu warten. Sie suchte den Raum nach Gästen ab, die aussahen, als ob sie ihr einen Drink spendieren würden, um die Wartezeit zu verkürzen, doch niemand fing ihren Blick auf oder erwiderte ihr Lächeln. Ah, dachte sie, vor zehn Jahren, da hätte ich euch allen die Köpfe verdreht. In letzter Zeit wickelte sie ihre Geschäfte zunehmend auf der Straße ab, wo Dunkelheit und Schatten ihr Alter verbargen.
Die Wärme und die einladende Atmosphäre in der Bar waren eine Wohltat nach der Kälte draußen, und Camille verweilte einen Moment, um sie zu genießen, ehe sie sich aus ihrer Lethargie riss. Sie konnte sich keinen weiteren Tag ohne Freier leisten – schon gar nicht an einem Samstagabend. Ihre zwei Kleinen hatten bereits seit drei Tagen nichts als Mehlgrütze zu essen bekommen.
Sie würde eine Weile auf den Straßen des Viertels ihr Glück versuchen, und sollte sie dann immer noch mit leeren Händen dastehen, würde sie später noch einmal vorbeischauen, wenn die Männer noch betrunkener und nicht mehr so wählerisch wären.
Sie ging hinaus und war noch keine zehn Meter weit gekommen, als sie seine Stimme hörte.
»Hallo … suchen Sie vielleicht jemanden?«
Camille drehte sich um – sie hatte weder gesehen noch gehört, wie er ihr nach draußen gefolgt war, und als sie ihn nun betrachtete – mittelgroß, braune Haare, sorgsam gestutzter Bart und Schnauzer, unscheinbares Äußeres und bescheidenes Auftreten –, musste sie feststellen, dass er ihr auch in der Bar nicht aufgefallen war. Er war einfach in der Menge untergegangen. Aber er sah recht anständig aus, nicht zu grob oder primitiv. Sie würde nicht nein sagen.
»Schon möglich, mein Herr. Und sind Sie heute Abend auf der Suche nach einer Dame?«
»Ja … Ja, in der Tat.«
Er schlug einen Moment die Augen nieder, als schämte er sich, es zuzugeben. Das gefiel ihr. »Möchten Sie wieder hineingehen? Wir müssen vielleicht zehn Minuten auf ein Zimmer warten.«
»Nein … nein. Schon gut. Da drin ist es ein wenig zu laut für meinen Geschmack.«
Das mag sein, dachte sie. Doch es war wohl eher so, dass es ihm peinlich war, gesehen zu werden, wie er mit einem Mädchen nach oben ging. Sie folgte seinem Blick, als er über ihre Schulter zu der Gasse hinter ihr schaute.
»Okay. Ein Dollar.« Sie lächelte und wartete, bis sie das Geld in der Hand hatte, ehe sie hinzufügte: »Beißen ist nicht erlaubt. Und wenn Sie mein Kleid zerreißen, kostet es das Doppelte.«
Sie ging voran in die Gasse, wo sie auf halbem Weg stehen blieb, sich an die Wand lehnte und ihr Kleid hochzog. Ein plötzlicher Tumult ließ ihren Blick zur Seite schnellen – drei Männer platzten lärmend aus der Tür des Lokals.
Ihr Freier trat näher heran, um ihre Scham zu verdecken. Er sah nicht zu den Männern hinüber, schien aber jede ihrer Bewegungen am Rand seines Gesichtsfelds wahrzunehmen – sein Körper war starr und angespannt. Einen Moment lang fürchtete sie, die Störung habe ihn verunsichert, und er würde sein Geld zurückverlangen. Doch als ihre Stimmen endlich verhallten, entspannte er sich wieder. Die einzigen Geräusche in der Nachtluft waren das Hufgeklapper der vorbeifahrenden Droschken auf der Catherine Street und das Nebelhorn eines Dampfers drüben im Hafen.
»Na los, nur zu«, sagte sie und zog Kleid und Unterrock bis zur Taille hoch. Sie trug keinen Schlüpfer, und so musste sie nur auf das übliche Gefummel warten, bis er in ihr drin war.
Nur dass sich das hier irgendwie anders anfühlte – er drang tiefer ein, höher hinauf, als sie es je gekannt hatte. Es raubte ihr den Atem, sie spürte einen scharfen Stich und eine merkwürdige Nässe auf der Haut.
Während sie erschrocken die Luft anhielt, sah er ihr tief in die Augen. »Nicht bewegen«, sagte er. »Du machst es nur noch schlimmer.«
Und als sie spürte, wie er ejakulierte, und merkte, dass es eine Klinge war, die in ihr steckte und nun tief in ihren Eingeweiden bohrte und wütete wie eine Sense, da hatte ihr gurgelnder Schrei kaum ihre Kehle verlassen, ehe die Hand an ihrem Hals ihn auch schon mit festem Griff erstickte.
Als der Rechtsmediziner Jacob Bryce zur dritten Stichwunde kam, wusste er, dass er es nicht mit einem der Raubüberfälle in finsteren Gassen zu tun hatte, die den Großteil der Morde im berüchtigten Fourth Ward, dem vierten Bezirk der Stadt, ausmachten.
Das Blut, das sich zumeist im Brust- und Bauchbereich der Frau gesammelt hatte, war zu einer dicken Schicht eingetrocknet, was darauf hindeutete, dass der Tod bereits vor mehreren Stunden eingetreten war. Bryce hatte das Blut mithilfe von Alkohol gelöst und abgewaschen, um diese ersten Stichwunden untersuchen zu können.
Wenn eine Leiche zur Obduktion ins Bellevue-Krankenhaus eingeliefert wurde, war es üblich, dass jeweils einer der Tatortermittler zugegen war, um auf Nachfrage entscheidende Informationen beisteuern zu können. Bryce drehte sich zu dem anwesenden Detective um, dessen Namen er vergessen hatte und der immer noch ein wenig unter Schock zu stehen schien.
»Um wie viel Uhr haben Sie die Leiche gefunden?«
»Äh, wir sind kurz vor Mitternacht dort eingetroffen, ich und ein Kollege vom Revier in der Mulberry Street.«
»Und die Personen, die die Tat entdeckt haben – wann war das?«
Der Detective konsultierte seine Notizen. »Ein anderes Mädchen vom Riverway Hotel bemerkte ihre Leiche in einer Seitengasse, vierzig Minuten vor unserem Eintreffen.«
»Herrschte um diese späte Stunde noch viel Betrieb dort?«
»Ja. Es war immer noch recht viel los.«
Bryce nickte nachdenklich. Es kam vielleicht noch maximal eine halbe Stunde dazu, bevor die Leiche entdeckt worden war, und dann die zwei Stunden seit Mitternacht, die mit der ersten Spurensicherung am Tatort und dem Transport der Leiche in einem Krankenwagen zum Bellevue verstrichen waren.
Der tiefe Schnitt seitlich am Hals der Frau, der die Halsschlagader durchtrennt hatte, wäre an sich bei einem Straßenraub nicht weiter ungewöhnlich gewesen. Es war die Tatsache, dass er von einer solchen Vielzahl von Stichwunden begleitet war – Bryce hatte bislang acht davon gezählt. Aus der Halswunde war weniger Blut ausgetreten, was darauf schließen ließ, dass die Bauchverletzungen vorausgegangen waren.
Als Bryce die vierzehnte Stichwunde lokalisiert hatte, war ihm klar, dass er sich auf unbekanntem Terrain befand. Dies war anders als alles, was er bisher gesehen hatte. Der Geruch nach Exkrementen, vermischt mit Karbol und Alkohol, hing schwer in der Luft. Der junge Detective war inzwischen ganz grün im Gesicht, er hatte die Augen weit aufgerissen und hielt sich die Hand vor den Mund.
Bryce bemerkte ein kleines X, das in die linke Schulter der Frau geritzt war. Er würde es später noch fotografieren lassen. Als begeisterter Anhänger von Virchows Lehren hatte Bryce eine Anzahl von Glasgefäßen vorbereitet, fein säuberlich aufgereiht und etikettiert, um die inneren Organe aufzunehmen, nachdem sie vorläufig untersucht und gewogen worden waren. Doch bald schon musste er feststellen, dass zwei dieser Gläser leer bleiben würden. Er sah den Detective an.
»Wurden irgendwelche Leichenteile vom Tatort entfernt? Vielleicht gesichert und zur Untersuchung an einen anderen Ort gebracht … oder versehentlich am Tatort zurückgelassen?«
Der Detective räusperte sich nervös, er musste einen Moment überlegen. »Nein. Nicht dass ich wüsste.«
»Der Tatort wurde gründlich abgesucht – es wurde nichts übersehen?«
»Nein … Nein, ganz sicher nicht.«
Bryce fragte sich, ob Ratten oder streunende Hunde die Leber und eine Niere der Frau verschleppt oder aufgefressen haben könnten. Unwahrscheinlich, angesichts des kurzen Zeitraums von einer halben Stunde. Aber unabhängig davon stand fest, dass der Mörder diese Organe zunächst entnommen hatte. Ja, dies war anders als alles, was er bisher gesehen hatte, wenngleich er schon einmal von einem ähnlichen Fall gehört hatte.
Bryce sah zur Uhr an der Wand. Noch fünf Stunden, bis Inspector McCluskey in seinem Büro wäre und er die Information weitergeben könnte.
St James’s Club, London
»Ich bitte Sie. Dieser Darwin war doch eindeutig nicht ganz bei Sinnen.« Viscount Linhurst schwenkte sein Cognacglas. »Vom Affen abstammen? Wir sind eindeutig die weitaus erhabenere Spezies.«
Mit zweien der führenden Chirurgen Londons – Sir Thomas Colby und Andrew Maitland – als aufmerksamen Zuhörern hielt er die Gelegenheit für günstig, solche Ansichten zu äußern.
»Wenn man sich meine Hausangestellten so anschaut, würde man nie auf die Idee kommen«, bemerkte Maitland.
Linhurst lachte kurz auf, doch Colby blieb ernst. »Ich weiß nicht. Ich sehe die Ähnlichkeiten tagtäglich bei meinen Autopsien. Jedes einzelne Organ sitzt am gleichen Platz – Leber, Magen, Milz – und auch Knochen und Gelenke, bis hin zum kleinen Finger.« Colby hielt den seinen hoch. »An Ihrer Stelle würde ich die These nicht vorschnell verwerfen.«
»Das überzeugt mich nicht.« Linhurst tippte sich an die Stirn. »Es ist alles hier drin, verstehen Sie? Und Darwin hat nicht hinreichend erklärt, wie ein Affe in der Lage sein soll …« Linhurst brach ab, als sich ein Clubdiener näherte.
»Bitte verzeihen Sie die Störung, meine Herren, aber Sir Thomas wird dringend am Telefon verlangt.«
Colby entfaltete den Zettel, den der Diener ihm auf einem Silbertablett reichte. »Entschuldigen Sie mich einen Moment.«
Er folgte dem Diener zu dem Wandtelefon im Vestibül. Am anderen Ende meldete sich Polizeipräsident Grayling, der keine Zeit mit Vorgeplänkel vergeudete.
»Es gibt einen neuen Fall.« Schweigen – und Grayling war sich nicht sicher, ob es nur der Schock war oder ob Colby nicht gleich begriffen hatte, worum es ging. Grayling fügte hinzu: »Ganz ähnlich wie die acht anderen.«
»Wo? Wieder in Whitechapel?«
»Nein. Sie werden es kaum glauben, aber es ist in Übersee passiert. In New York.«
Doch Colby war gar nicht so sehr überrascht. Da der letzte Mord inzwischen über ein Jahr zurücklag, mutmaßte man, dass der Ripper, falls er nicht im Gefängnis saß oder tot war, das Land verlassen haben könnte.
»Wer leitet dort drüben die Ermittlungen?«
»McCluskey«, antwortete Grayling mit gesenkter Stimme und spöttischem Unterton. »Aber wie dem auch sei – Sie müssen so schnell wie möglich hinreisen.«
»Verstehe. Ich wage zu vermuten, dass er nicht darum gebeten hat, mich hinzuzuziehen.«
»Nein, das war ich. Ihre Meinung ist von unschätzbarem Wert bei der Beurteilung eines Zusammenhangs zwischen den Verbrechen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelt. Wie Ihnen bekannt ist, wurde über diese Sache weit ausführlicher in der Presse berichtet, als uns lieb sein kann. Aber falls wir eine Verbindung nachweisen können, haben wir hier immer noch bei Weitem die höhere Zahl an Fällen zu bearbeiten. Acht Morde, die nach wie vor nicht aufgeklärt sind.«
Colby musste nicht daran erinnert werden. Drei Jahre, die wie nichts zuvor an seinem Leben gezehrt hatten. Die Zahl der Morde, die dem Ripper zugeschrieben wurden, schwankte zwischen fünf und elf, doch Colby persönlich hatte sich auf acht Fälle festgelegt, zwischen denen es eindeutig Verbindungen gab. Keine Ermittlung in der Vergangenheit hatte solches Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt, und die Sensationsgier der Fleet-Street-Journalisten hatte ihnen die Arbeit nicht gerade erleichtert.
»Auch diese Leiche war mit einem Zeichen versehen«, sagte Grayling. »Ein kleines X auf ihrer linken Schulter.«
»Oh?«
»Es könnte bedeutsam sein oder auch nicht. Oder es könnte heißen, dass wir es mit einem ganz anderen Mann zu tun haben und nicht mit dem Ripper. Das werden wir erst wissen, wenn sämtliche Details vorliegen.«
»Ja, ich verstehe.« Colby seufzte. »Es gibt allerdings ein Problem. Ich muss in zwei Wochen eine wichtige Rede am Royal College of Surgeons halten. Ich werde erst danach abreisen können.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob die Sache einen solchen Aufschub duldet – vom politischen Aspekt einmal abgesehen. McCluskey würde sich zweifellos wieder über unsere Inkompetenz auslassen. Können Sie es nicht verschieben – und Ihre Rede später halten?«
»Nein, es ist eine alljährliche Veranstaltung. Aber das ist nicht das einzige Problem.« Colby dachte mit Schrecken an seinen übervollen Kalender mit gesellschaftlichen Verpflichtungen: die Aufnahmefeier seines Sohnes an der Militärakademie Sandhurst, eine Einladung zu einem Abendessen mit Tanz von Lord und Lady Northbrook, die er nicht verpassen durfte, wenn er nicht ganz großen Ärger mit seiner Frau riskieren wollte. »Ich fürchte, ich werde die Reise nicht antreten können.«
»Es tut mir leid, das zu hören. Dann werde ich wohl oder übel McCluskey die schlechte Nachricht übermitteln müssen – oder vielleicht eher die gute Nachricht, aus seiner Sicht. Er wird zweifellos erleichtert sein, dass wir uns nicht einmischen, und sich im Übrigen vollends bestätigt sehen, was unsere Inkompetenz …«
»Ich habe einen Vorschlag«, unterbrach ihn Colby. Der Gedanke war ihm gekommen, als Grayling angefangen hatte, ihn zu bearbeiten. »Einer meiner besten Studenten ist vor vier Monaten nach New York gegangen. Eine Tante, die ihm sehr nahestand – sie hatte ihn nach dem Tod seiner Mutter großgezogen –, war schwer erkrankt. Er könnte mich vertreten.«
»Aber wäre er kompetent genug?«
»Durchaus. Mein wichtigster Schützling, wenn Sie so wollen. Von all meinen Studenten war er der einzige, der die entscheidenden Verbindungen zwischen den Ripper-Fällen identifizieren konnte, ohne dass ich permanent nachhelfen musste. Geradezu unheimlich – fast so, als kennte er den Mann persönlich.«
»Verstehe.«
Colby nahm immer noch einen Rest von Zweifel wahr. Einen einzigen Fleck gab es auf der weißen Weste seines Protegés, doch Colby neigte zu der Ansicht, dass dies zwar ein schlechtes Licht auf sein Privatleben warf, aber nichts über seine Kompetenz aussagte – und daher kaum erwähnenswert war.
»Und selbstverständlich könnte ich ihn per Telegramm und Brief von London aus zusätzlich beraten.«
»Ja, ich … ich denke, so könnte es gehen«, sagte Grayling schließlich. »Aber falls ihm der Tratsch aus London zu Ohren gekommen sein sollte, schärfen Sie ihm ein, dass er auf keinen Fall unseren Spitznamen für McCluskey – Inspector McClumsy – in den Mund nehmen soll, wenn er sich nicht gleich unbeliebt machen will. Und wie heißt der junge Mann übrigens?«
Colby musste schmunzeln. »Jameson. Finley Jameson.«
New York, November 1891
»Mr Jameson … Mr Jameson!«
Die Stimme hallte ein wenig, als käme sie vom Ende eines Tunnels, und Finley Jameson brauchte einen Moment, um das runzlige Gesicht des Chinesen ins Auge zu fassen, der sich über ihn beugte, und sich zu erinnern, wo er war. Die Luft war schwer vom Geruch nach Opium und Räucherwerk, und Jameson war sich nicht sicher, ob der leichte Dunstschleier echt oder nur hinter seinen Augen war.
»Mr Jameson … Lawrence ist hier. Sagt, er hat eine dringende Nachricht für Sie. Soll ich ihn hereinführen?«
Jetzt war Jameson hellwach. Sein Assistent, Lawrence. Jameson setzte sich auf, massierte sich den Schädel. Vor Jahren, als Student an der Universität, hatte ein blonder Lockenschopf sein Haupt geziert, doch jetzt, da er sein Haar kurz geschoren trug, wirkte es viel dunkler.
»Nein, nein. Sagen Sie ihm, er soll warten. Ich komme in ein paar Minuten heraus.« Er wollte nicht, dass Lawrence ihn so sah. Er würde es nicht verstehen.
»Soll ich Sulee sagen, dass sie Ihnen Tee bringen soll? Damit Sie schneller wach werden?«
»Ja … danke. Eine hervorragende Idee.«
Sulees Gestalt tauchte aus dem Nebel auf. Sie machte eine kleine Verbeugung, ehe sie ging, um ihm Tee zu machen. Die schlichte Bluse mit hohem Kragen und die weite Hose einer einfachen Wäscherin taten ihrer geschmeidigen Schönheit keinen Abbruch.
Lings Angebot fiel ihm wieder ein: Für einen Dollar würde Sulee ihm eine Duftöl-Massage verabreichen, während er rauchte. Für einen weiteren Dollar würde sie das Öl mit ihrem nackten Körper einreiben und es dann Zoll für Zoll ablecken, »wie eine Katze«.
Jameson war eigentlich der Meinung, das Angebot höflich abgelehnt zu haben – »vielleicht nächstes Mal« –, aber als er sich später zu erinnern glaubte, wie Sulees öliger Leib sich an den seinen schmiegte, war er sich nicht mehr so sicher. Irgendwann wurden ihre Augen dann zu senkrechten Ovalen, und ihre Haut verwandelte sich in das gestreifte Fell eines Tigers – falls es nicht das Kerzenlicht war, das den Schatten einer Palme auf sie geworfen hatte –, also war es vielleicht doch ein Traum gewesen.
Das war es, was Jameson an diesen Opiumhöhlen vor allem anzog – diese wundersame Verschmelzung von Träumen und Wirklichkeit. Aber war es nicht immer der Tod, der den Anstoß zu seinen Besuchen gab? Auf jeden Fall war das erste Mal, dass er einen dieser Orte aufgesucht hatte, nicht lange nach dem Ableben seiner Mutter gewesen, und es konnte kein reiner Zufall sein, dass seinen Besuchen oft besonders traumatische Obduktionen an Colbys Seite vorausgegangen waren. Auch dieser Besuch bei Ling kam unmittelbar nach dem Tod seiner Tante, und in der Vergangenheit hatte er sich schon des Öfteren in Opiumhöhlen zurückgezogen, wenn er mit irgendwelchen Problemen zu kämpfen hatte.
Eine Flucht vor seinen persönlichen Dämonen oder lediglich eine harmlose Zerstreuung? Nach einer Weile tat er den Gedanken mit einem Achselzucken ab. Wie so oft war ihm wohler, wenn er die verschlungenen Wege des Lebens anderer studieren konnte, anstatt sich mit seinem eigenen zu befassen.
Er lächelte, als Sulee ihm einen Jasmintee reichte.