Mit Dank an Terje Ringstad und Tor Buxrud
Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Die Übersetzung wurde von NORLA Norwegian Literature Abroad, Oslo, gefördert.
ISBN 978-3-492-98233-7
Juli 2015
© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2015
© 1998 J. W. Cappelens Forlag a. s., Oslo
Titel der norwegischen Originalausgabe: »Djevelen holder lyset«
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2002
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: © Kjell Leknes / Shutterstock.com
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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Wärst du nie entstanden, würdest du das nicht lesen. Und es würde keine Rolle spielen. Und wenn du nicht mehr existierst, wird es so sein, als hättest du das nie gelesen. Es wird keine Rolle spielen. Doch jetzt, während du liest, geschieht etwas:
Es frißt einige Sekunden deiner Zeit, wie ein kleines Tier mit zottigem Buchstabenfell, das kauend zwischen dich und deine nächste Minute getreten ist. Du wirst sie nicht mehr einholen.
Ungerührt knabbert es an den Mikroorganismen der Zeit. Es wird niemals satt. Und du auch nicht.
Tor Ulven
Jacob Skarre schaute auf seine Armbanduhr. Feierabend. Doch dann zog er ein Buch aus der Jackentasche und las das Gedicht auf der ersten Seite. Wie ein Virtual-Reality-Spiel, dachte er. Poff!, und schon steht man in einer anderen Landschaft. Die Tür zum Flur war offen, und plötzlich merkte er, daß jemand ihn ansah. Die Frau stand eindeutig außerhalb seines Blickfeldes. Sie war ganz einfach ein anderes Bewußtsein, das seines berührte. Er klappte das Buch zu.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Sie rührte sich nicht, sie starrte ihn nur an. Skarre schaute in ihr angespanntes Gesicht, und plötzlich kam sie ihm bekannt vor. Sie war nicht mehr jung, vielleicht so um die Sechzig, und sie trug einen Mantel und dunkle Stiefel. Ein gemustertes Halstuch. Unter ihrem Kinn war ein Stück davon zu sehen. Es bildete einen merkwürdigen Kontrast zu ihrem sonstigen Tempo und ihrem Stil. Rennpferde und bunte Jockeys auf blauem Grund. Ihr Gesicht war breit und voll, das vorspringende Kinn schien es nach unten zu ziehen. Die dunklen Augenbrauen waren fast zusammengewachsen. Die Handtasche preßte sie gegen ihren Bauch. Vor allem aber fiel ihm ihr Blick auf. Die Augen leuchteten aus ihrem bleichen Gesicht. Sie hielten ihn fest, er kam nicht von ihnen los. Und dann erinnerte er sich. Was für ein Zufall, dachte er und wartete gespannt. Saß wie angenagelt in der Stille. Jeden Moment würde etwas sehr Wichtiges über ihre Lippen kommen.
»Es geht um eine vermißte Person«, sagte sie endlich.
Ihre Stimme war rauh. Ein rostiges Gerät, das nach langem Liegen knirschte. Skarre sah ein flackerndes Licht über ihre Iris huschen. Er wollte nicht voreingenommen sein, aber die Frau kam ihm vor, als sei sie besessen. In Gedanken ging er die Berichte des Tages durch, wußte aber nicht mehr, ob die psychiatrischen Einrichtungen in seinem Bezirk Vermißtenmeldungen aufgegeben hatten. Sie atmete schwer, das Herkommen schien ihr gewaltige Mühe gemacht zu haben. Aber nun war sie offensichtlich entschlossen. Skarre fragte sich, wie sie an der Rezeption und Frau Brenningens Falkenaugen vorbeigekommen und zu seinem Büro gelangt war, ohne angehalten zu werden.
»Und wen vermissen Sie?« fragte er freundlich.
Sie starrte ihn unverwandt an. Er erwiderte ihren Blick mit der gleichen Kraft, wollte sehen, ob sie auswich. Plötzlich schien sie verwirrt.
»Ich weiß, wo er ist.«
Skarre stutzte. »Das wissen Sie? Dann wird er gar nicht vermißt?«
»Er lebt wohl nicht mehr lange«, sagte sie. Ihre dünnen Lippen fingen an zu zittern.
»Wer denn?« fragte Skarre. Und fügte hinzu, weil ihm eine Ahnung gekommen war: »Reden Sie von Ihrem Mann?«
»Ja. Von meinem Mann.«
Sie nickte energisch. Stand da und drückte die Tasche gegen ihren Bauch. Skarre ließ sich in seinem Sessel zurücksinken.
»Ihr Mann ist krank, und Sie machen sich Sorgen um ihn. Ist er alt?«
Das war eine unangebrachte Frage. Leben ist Leben, solange es währt und jemandem etwas bedeutet. Vielleicht alles. Er bereute die Frage, griff nach einem Kugelschreiber und spielte damit herum.
»Er ist fast wie ein Kind«, sagte die Frau traurig.
Diese Antwort erstaunte ihn. Wovon redete sie eigentlich? Ihr Mann war krank, lag vielleicht im Sterben. Und senil war er noch dazu. In der zweiten Kindheit. Zugleich hatte Skarre das seltsame Gefühl, daß sie ihm etwas anderes erzählen wollte. Ihr Mantel hatte Noppen auf der Brust, und der mittlere Knopf saß nicht ganz an der richtigen Stelle, weshalb der Stoff eine Falte warf. Warum fällt mir das eigentlich auf? fragte er sich.
»Wohnen Sie weit weg von hier?« Wieder warf er einen Blick auf die Uhr. Vielleicht hatte sie kein Geld für ein Taxi. Sie hob den Kopf.
»Prins Oscars gate 17.« Sie sprach die Konsonanten scharf aus. »Ich wollte nicht stören«, fügte sie hinzu.
Skarre erhob sich. »Brauchen Sie Hilfe, um nach Hause zu kommen?«
Sie starrte noch immer in seine blauen Augen. Als wollte sie etwas daraus mitnehmen. Eine Glut, eine Erinnerung an etwas so Lebendiges, wie der junge Polizeibeamte es war. Skarre hatte ein seltsames Gefühl – so, wie es sich ein seltenes Mal einstellt, wenn der Körper einer seiner Launen freien Lauf läßt. Er senkte den Blick und starrte seine Arme an. Die hellen Haare sträubten sich. In diesem Moment drehte die Frau sich langsam um und ging. Skarre folgte ihr bis zur Tür und schaute ihr hinterher. Ihre Schritte waren kurz und eckig, als versuche sie, etwas zu verbergen. Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, die Uhr zeigte 16.03. Aus Spaß kritzelte er etwas auf einen Block.
»Frau von etwa 60 kommt um 16.00 ins Büro. Wirkt verwirrt. Sagt, sie vermißt ihren Mann, der nicht mehr lange leben wird. Trägt einen braunen Mantel und ein blaues Halstuch. Braune Handtasche, dunkle Stiefel. Möglicherweise senil. Verschwindet nach wenigen Minuten. Lehnt Angebot, sie nach Hause zu bringen, ab.«
Er dachte nach. Sie war wohl nur eine verwirrte Seele, davon gab es mehr als genug. Dann riß er den Zettel vom Block, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Hemdentasche. Diese Episode hatte in seinem Tagesbericht nichts zu suchen.
Diese Frage stand in der meistgelesenen Zeitung der Stadt, fett gedruckt. Das ist der Stil der Zeitungen, locker, sie sprechen uns an, als seien wir alte Bekannte und auf du und du. Wir sollen die formellen Barrieren einreißen und einen direkten, jugendlichen Ton anschlagen in dieser frischen, vorwärtsstrebenden Gesellschaft. Obwohl nur wenige ihn wirklich gekannt und beim Vornamen genannt haben, wollen wir den Anfang machen und fragen: Wer hat Andreas gesehen?
Und dann sein Bild. Ein hübscher Junge von achtzehn Jahren, mit schmalem Gesicht und widerspenstiger Mähne. Ich sage hübsch, so großzügig bin ich immerhin. So hübsch, daß er es zu leicht hatte. Er stolzierte mit seinem schönen Gesicht durch die Welt und hielt alles für selbstverständlich. Das ist ein altbekanntes Muster. Es tut keinem Menschen gut, so auszusehen. Zeitlos gewissermaßen, unbestimmbar. Ein betörender Junge. Es fällt mir nicht leicht, dieses Wort zu benutzen, aber sei’s drum. Betörend.
Am 1. September verließ er nachmittags das Haus in der Cappelens gate. Er sagte nicht, was er vorhatte. Wohin willst du? In die Stadt. So antwortet man in dem Alter. Ist sozusagen von grenzenlosem Geiz. Man hält sich für etwas ganz Außergewöhnliches. Und die Mutter war nicht gescheit genug, ihn zu bedrängen. Vielleicht hat sie an seinem Unwillen ihr Martyrium genährt. Der Sohn war im Begriff, sie zu verlassen, und sie fand das grauenhaft. Aber eigentlich geht es um Respekt. Sie hätte den Jungen so erziehen sollen, daß es für ihn undenkbar gewesen wäre, nicht klar und respektvoll zu antworten. Ich werde ausgehen, ja, mit X oder Y. Wir wollen in die Stadt. Bis Mitternacht bin ich wieder zu Hause. Das ist doch wohl nicht zuviel verlangt? Aber sie hat versagt, wie so viele andere. So geht es, wenn man alle Kräfte für sich selbst braucht, für das eigene Leben, die eigene Trauer. Ich weiß, wovon ich rede. Und die Trauer sollte noch größer werden. Er kehrte nie nach Hause zurück.
Ja, ich habe Andreas gesehen. Ich kann ihn sehen, wann immer ich will. Viele werden staunen, wenn er endlich gefunden wird. Und natürlich werden sie spekulieren und rätseln, werden Berichte schreiben, diskutieren und archivieren. Lauter Theorien haben. Und sich irren natürlich. Die Menschen heulen mit vielen Stimmen. In diesem Lärm lebe ich seit fast sechzig Jahren stumm. Ich heiße Irma. Und jetzt rede endlich ich. Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, und ich behaupte nicht, daß ich die Wahrheit sage. Was Sie hier lesen, ist meine Version.
Eine Kindheitserinnerung fällt mir ein. Ich kann sie abrufen, wann immer ich will. Ich stehe in der Diele und habe eine Hand auf die Türklinke gelegt. Es ist still im Haus, aber ich weiß, daß sie da sind. Trotzdem ist kein Laut zu hören. Leise öffne ich die Tür und gehe in die Küche. Mutter steht am Küchentisch und häutet eine gekochte Makrele. Ich habe noch immer den Geruch in der Nase, einen süßlichen, unangenehmen Geruch. Mutters schwerer Körper bewegt sich, sie gibt zu erkennen, daß sie mich bemerkt hat. Vater ist am Fenster beschäftigt. Er schmiert Kitt in die Spalten, um Durchzug zu verhindern. Das Haus ist alt. Der Kitt ist weiß und weich wie Ton, er hat einen trockenen, kalkigen Geruch. Meine Schwestern sitzen am Küchentisch. Beide sind mit Büchern und Papieren beschäftigt. Ich erinnere mich an das blasse, leichte Übelkeit erregende Licht, das entstand, wenn die Sonne gelb in die grüne Küche schien. Ich bin vielleicht sechs. Instinktiv habe ich Angst vor Lärm. Ich bleibe stehen, allein stehe ich da und sehe sie an. Alle sind beschäftigt. Ich komme mir plötzlich ungeheuer unnütz vor, überflüssig, wie zu spät geboren. Ich denke oft, daß ich vielleicht ein Versehen war, das sie nicht rückgängig machen konnten. Meine Schwestern sind zwei Jahre auseinander. Acht Jahre nach der jüngeren kam ich. Wie konnte meine Mutter sich nach so langer Zeit noch ein Kind wünschen? Doch die Vorstellung, möglicherweise eine unangenehme Pflicht zu sein, läßt mich nicht verzweifeln. Der Gedanke ist zu alt, ich denke ihn schon so lange.
So lebendig ist diese Erinnerung, daß ich spüre, wie mein Rocksaum mich über dem Knie kitzelt. Ich stehe im gelbgrünen Licht und merke, wie allein ich bin. Niemand begrüßt mich. Ich bin die Kleinste. Habe keine wichtige Beschäftigung. Ich meine nicht, daß mein Vater alles hätte hinschmeißen und mich vielleicht hochheben und durch die Luft schwenken sollen, ich war zu schwer für ihn. Er hatte Rheuma, und ich war mollig und hatte Knochen wie ein Pferd. Das sagte meine Mutter immer. Wie ein Pferd. Es war eben nur Irma, die da kam. Kein Grund zur Aufregung. Die Köpfe, die unmerklichen Bewegungen für den Fall, daß es etwas Wichtiges sein könnte, und dann die Entdeckung, daß es nur Irma war. Wir waren zuerst hier, sagten sie.
Die Gleichgültigkeit verschlug mir den Atem. Ich hatte dasselbe Gefühl wie damals, als ich Mutter überredete, von meiner Geburt zu erzählen. Sie hatte mit den Schultern gezuckt, aber schließlich zugegeben, daß es mitten in der Nacht gewesen war und daß ein schreckliches Gewitter gewütet hatte. Donner und Sturm. Die Vorstellung, daß ich mit Gepolter und Krach auf die Welt gekommen war, hatte mir gefallen. Aber dann hatte sie mit trockenem Lachen hinzugefügt, daß es nach wenigen Minuten vorbei gewesen sei. Du bist wie ein Kätzchen rausgerutscht, hatte sie gesagt, und das gute Gefühl war verflogen. Ich wartete noch immer, blieb stocksteif stehen. Ich war doch immerhin eine ganze Weile weg gewesen. Alles mögliche hätte passieren können. Wir wohnten schließlich am Meer. In regelmäßigen Abständen legten Schiffe aus fremden Ländern an. Matrosen streunten durch die Straßen und glotzten alles an, was über zehn war. Ja, ich war erst sechs, aber ich war kräftig wie ein Pferd, wie gesagt. Oder ich hätte bei der Gartnerhalle zerschmettert auf dem Asphalt liegen können, wir spielten doch immer auf dem flachen Dach. Später hielten da oben drei Schäferhunde Wache, aber in der ersten Zeit spielten wir dort, und ich hätte herunterfallen können. Oder von den Rädern eines Lkws zerquetscht werden. Manche haben zwanzig Räder, und das hätten nicht einmal meine Pferdeknochen überstanden. Aber sie machten sich keine Sorgen. Nicht deshalb, sondern wegen anderer Dinge. Wenn ich einen Apfel in der Hand hatte – wer hatte mir den geschenkt, denn ich hatte ihn doch wohl nicht gestohlen? Und ich hatte mich doch sicher artig bedankt? Und waren mir vielleicht auch Grüße an meine Eltern aufgetragen worden?
Mein Gehirn arbeitete fieberhaft, suchte nach einer Aufgabe. Um in der Gemeinschaft, die sie meiner Meinung nach bildeten, aufzugehen. Nicht, daß sie mich ausgesperrt hätten, aber sie luden mich auch nicht ein. Eins kann ich Ihnen sagen: Diese vier Menschen hatten eine gemeinsame Aura. Sie war stark und klar und rotbraun, und sie zitterte kaum, anders als bei anderen. Sie umschloß die vier straff wie Faßdauben. Und ich stand außerhalb, umgeben von einem farblosen Nebel. Die Lösung war, etwas zu tun. Wer beschäftigt ist, kann nicht angezweifelt werden. Mir fiel nichts ein, ich hatte keine Hausaufgaben zu machen, denn ich ging noch gar nicht in die Schule. Also blieb ich stehen und starrte. Ich starrte die gekochte Makrele an und die Bücher, die überall herumlagen. Meinen Vater, der still und sorgfältig arbeitete. Wenn ich doch nur ein Stück von dem weißen Kitt hätte haben können. Um ihn zwischen den Fingern hin und her zu drehen!
Für eine lähmende Sekunde überkam mich etwas, das ich für wichtig halte. Wichtig, wenn ich mir selbst und Ihnen erklären will, wie das passieren konnte. Das mit Andreas. Ich ahnte plötzlich das gewaltige Regelwerk, das diesen Raum erfüllte. Das in der Stille lag, in den arbeitenden Händen, den verschlossenen Gesichtern. Ein Regelwerk, dem ich mich anpassen und das ich bis aufs I-Tüpfelchen befolgen mußte. Ich stand reglos in der stillen Küche und spürte, wie sich das Regelwerk von der Decke her wie ein Netz über mich senkte. Und die Erkenntnis überkam mich mit Macht: Innerhalb des Regelwerks war ich unangreifbar! Innerhalb dieses klaren Rahmens von Fleiß und Ziemlichkeit konnte mir niemand etwas tun. »Innerhalb« bedeutete, den Menschen ohne scheele Blicke begegnen zu können, ohne Anstoß zu erregen, und zugleich eine Art Frieden zu empfinden, weil ich wie die anderen war. Weil ich dachte wie die anderen. Vor meinem inneren Auge sah ich eine enge Gasse mit hohen Mauern. So sollte mein Leben aussehen. Und mich überwältigte eine tiefe Traurigkeit. Bis dahin hatte ich vielleicht an die Freiheit geglaubt. Wie Kinder das so tun, sie halten ja alles für möglich. Aber ich hatte eine Wahl getroffen, obwohl ich klein war und vielleicht nicht alles begriff. Um zu überleben, folgte ich einem uralten Instinkt. Ich wollte nicht allein sein, ich wollte lieber wie die anderen sein und die Regeln befolgen. Doch in diesem Moment entglitt mir etwas, es hob ab, flog davon und war für immer verschwunden. Deshalb kann ich mich so gut an diesen Augenblick erinnern. Dort in der Küche, im grünen Licht, im Alter von sechs Jahren verlor ich meine Freiheit.
Ein stummes, wohlerzogenes Kind. Auf Bildern, die zu Weihnachten und an Geburtstagen aufgenommen worden sind, sitze ich auf Mutters Schoß und schaue mit bravem Lächeln in die Kamera. Jetzt habe ich einen eisernen Kiefer, so fest, daß es mir Schmerzen in die Schläfen jagt. Wie konnte es so weit kommen? Sicher gibt es viele und unterschiedliche Gründe, und sicher ist auch der Zufall schuld daran, daß unsere Wege sich gerade an diesem Abend gekreuzt haben. Aber was ist mit dem eigentlichen Verbrechen? Mit diesem Impuls, woher stammt der? Wann ist der Mord entstanden? In dem Moment? Dann kann ich mir die Schuld mit den Umständen teilen. Daß er mir über den Weg gelaufen ist, daß er so war, wie er war. Denn mit ihm war ich nicht mehr Irma, sondern Irma mit Andreas. Und das war etwas anderes als Irma und Ingemar. Oder Irma und Runi. Sie wissen schon, die Chemie. Jedesmal entsteht eine neue Formel. Irma und Andreas haben einander zerstört. Oder stimmt das nicht? Wächst das im Laufe der Jahre heran? Schlummert das Verbrechen irgendwo, im persönlichen Code des Körpers? Ich sehe mein Leben zwangsläufig im Licht des Entsetzlichen, das passiert ist, und dieses Entsetzliche muß ich im Licht dessen sehen, was mein Leben gewesen ist. So werden es auch alle anderen betrachten. Sie werden nach etwas Erklärbarem Ausschau halten, nach dem Teil, der sich erklären läßt. Der Rest wird in einer Grauzone der Mutmaßungen dahintreiben.
Aber zurück zu der Szene. Da stand ich also in der Küche. Meine Anwesenheit brachte die Stille zum Klirren. Sie war schön gewesen, aber nun konnten sie sie nicht mehr ertragen. Mutter drehte sich um und kam auf mich zu. Beugte sich über mich und schnupperte an meinen Haaren.
»Die müssen gewaschen werden«, sagte sie. »Die riechen ja schon.«
Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, meine Zeichensachen zu holen. Den Geruch der fetten Wachskreiden zu schnuppern, mit denen ich so gern malte. Aber ich ging hinaus in den Garten, stieg über den Zaun und lief an der ehemaligen Schmiede vorbei in den Wald. Zwischen den Tannen lag eine angenehme graugrüne Dunkelheit. Ich ging in braunen Sandalen über den trockenen Weg und entdeckte einen Ameisenhaufen. Ich bohrte mit einem Stock darin herum und freute mich über das Chaos, das ich auf diese Weise verursachen konnte. Eine Katastrophe für diese geordnete Gesellschaft, die vielleicht Wochen brauchen würde, um alles wiederherzustellen. Der Wunsch zu zerstören! Das lustvolle Gefühl der Macht, als ich mit dem Stock im Ameisenhaufen herumwühlte. Es tat gut. Ich hielt nach etwas Ausschau, das ich den Tieren zum Fraß hinwerfen könnte. Eine tote Maus oder was auch immer. Gern hätte ich zugesehen, wie sie sie verzehrten. Sie hätten alles stehen- und liegenlassen und die Katastrophe vergessen, etwas Eßbares wäre wichtiger gewesen. Da war ich mir sicher. Aber ich fand nichts und ging weiter. Kam zu einem verlassenen Hof. Setzte mich auf die Türschwelle und dachte an die Geschichten über die früheren Bewohner. Gustav und Inger mit ihren zwölf Kindern. Uno, Sekunda, Trevor, Firmin, Femmer, Sexus, Syver, Otto, Nils, Tidemann, Ellef und Tollef. Es war unfaßbar und die reine Wahrheit. Aber sie leben nicht mehr.
Ja. Bei Gott, an den ich nun wirklich nicht glaube, ich habe Andreas gesehen. Ich denke zurück an den schrecklichen Augenblick, als ich den Wunsch, ihn zu zerstören, kommen spürte. In der Sekunde sah ich mein Gesicht in einer Fensterscheibe. Und ich kann mich an das Gefühl erinnern, an einen süßen Druck, als flösse heißes Öl durch meinen Körper. An die Gewißheit, daß es böse war. Mein Gesicht im bläulichen Glas. Der häßliche, böse Mensch, zu dem wir werden, wenn der Teufel die Kerze hält.
Ein Junge ging allein durch die Straßen. Er trug Jeans und eine schwarze Jacke mit olivgrünem Brustteil und einem rotweißen Nike-Swosh auf dem Rücken. Er wurde um sechs zu Hause erwartet. Und vielleicht wäre er rechtzeitig dort. Über der Stadt hing das trübe Licht eines dunstigen Himmels. Wind kam auf. Septemberwind, möglicherweise ein wenig wehmütig, aber so dachte er nicht. Bisher hatte das Leben ihn gut behandelt.
Der Junge war etwa sieben, er war schlank und hübsch. Er hatte beide Hände in den Hosentaschen. In der einen steckte eine Tüte Gummibärchen. Seit einer Viertelstunde war er unterwegs, und in seiner Jacke kochte es bereits.
Er fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. Seine Haut hatte die Farbe von Kaffee. Er hatte schwarze Kräuselhaare, und seine Augen funkelten in dem dunklen Gesicht.
Dann passierte etwas. Hinter ihm glitt ein Auto heran. Zwei Männer saßen darin und schauten suchend aus dem Fenster. Sie teilten die Auffassung, daß das Leben im Moment tödlich langweilig sei. Diese Stadt hatte einfach keine Überraschungen zu bieten. Da lag sie, von einem grauen Fluß in zwei Teile gerissen, und war in all ihrer Mittelmäßigkeit mit sich zufrieden. Sie saßen in einem grünen Golf. Sein Besitzer trug den Spitznamen Zipp, nach dem Geräusch, das entsteht, wenn jemand bei richtig engen Jeans den Reißverschluß öffnet, genauer gesagt, wenn dieser Reißverschluß mit zitternden Fingern und glühenden Wangen geöffnet wird. Eigentlich hieß er Sivert Skorpe. Zipp hatte blonde, struppige Haare, und auf seinem jungen Gesicht lag ein Ausdruck konstanter Neugier. Ein Ausdruck, der nahe ans Blödsinnige heranreichte, aber in der Regel konnte er bei den Frauen landen. Sein Aussehen reichte allemal, außerdem war er lebhaft, verspielt und schlicht. Nicht ganz ohne Tiefe. Allerdings untersuchte er seine Gedanken nicht weiter und lebte deshalb in Unkenntnis dessen, was sich in seinem Inneren verbarg. Sein Kumpel sah aus wie ein Faun oder eine andere Märchengestalt. Er war keine Konkurrenz. Über die Jagd fühlte er sich wohl erhaben. Die Mädchen hatten zu ihm zu kommen oder so. Zipp hatte das noch nie verstanden. Er fuhr langsam. Stumm hegten sie beide dieselbe Hoffnung: daß etwas passierte.
»Bremsen!« sagte der eine.
»Scheiße. Wieso denn?« Zipp grunzte und griff zum Schalthebel. Er wollte keinen Ärger.
»Will nur ein bißchen quatschen.«
»Scheiß drauf, Andreas. Das ist doch noch ein Kind.«
»Ein kleines Negerlein. Ich langweile mich.« Langsam kurbelte er das Fenster herunter.
»Bei dem Rotzbengel ist keine Kohle zu holen. Und wir brauchen Kohle. Ich hab einen Scheißdurst.«
Langsam glitt der Wagen neben den Jungen. Der warf einen Blick auf die beiden Männer und wandte sich ab. Anderen Leuten und Hunden darf man nicht in die Augen starren. Er konzentrierte sich auf seine Schuhe und behielt sein Tempo bei.
»Hallo, Alter.«
Aus dem Autofenster starrte ihn ein Mann mit rotbraunen Locken an. Sollte er antworten? Der Mann war ja erwachsen, zumindest fast.
»Hallo«, sagte er leise und möglichst gleichgültig, um anzuzeigen, daß er keine Zeit hatte. Sie wollten ihn sicher nur nach dem Weg fragen. Er ging weiter, und der Wagen folgte ihm.
»Du hast ja eine saugute Jacke.« Der Mann nickte bewundernd. »Echt Nike, Mann. Dein Vater schwimmt wohl in Geld, was?«
»Die hab ich von meinem Opa«, murmelte der Junge.
»Wenn du ein paar Nummern größer wärst, würde ich sie dir abnehmen«, lachte der andere. »Aber die ist mir sicher zu eng.«
Statt zu antworten, versenkte der Junge sich in den Anblick seiner Schuhspitzen.
»War ein Witz«, sagte der Mann. »Wir wollten dich nach dem Weg fragen. Zur Bowlinghalle.«
Der Junge blickte auf. »Die ist gleich dahinten. Man sieht von hier aus schon das Schild«, sagte er.
»Ja. Wie gesagt, war bloß ein Witz.« Der Mann lachte leise und steckte den Kopf ganz zum Fenster heraus. »Sollen wir dich nach Hause fahren?«
Der Junge schüttelte heftig den Kopf. Und dann fiel sein Blick auf einen Torweg.
»Ich wohn da vorn«, log er.
»Ach was?« Der Mann lachte heftig. »Wie heißt du?«
Der Junge gab keine Antwort. Er hatte seinen Namen oft genug genannt und kannte die Reaktion.
»Ist das ein Geheimnis?«
»Nein«, murmelte er.
»Dann spuck’s aus, Junge!«
«Matteus«, flüsterte er.
Schweigen. Die beiden im Auto tauschten einen Blick.
»Ja zum Henker«, rief dann der eine, »das ist ja mal ein fetziger Name! Matteus, meine Fresse. Bibel und überhaupt.« Er schnalzte mit der Zunge. »Woher kommst du, Alter?«
Lachend betrachtete er die schwarzen Locken und die braunen Wangen. Aus seinen Augen leuchtete für einen kurzen Moment eine Sehnsucht, die der Junge nicht erkannte.
»Von da vorn«, sagte er und zeigte auf den Torweg.
»Nein, ich meine, aus welchem Teil der Erde. Du bist doch adoptiert, oder?«
»Scheiß drauf, Andreas«, sagte Zipp und stöhnte. »Laß ihn in Ruhe.«
»Somalia«, sagte der Junge.
»Warum hast du dann keinen norwegischen Namen wie andere Adoptivkinder? Aber egal.« Der Mann schüttelte heftig den Kopf. »Es macht mich einfach fertig, wenn mir Neger oder Chinesen über den Weg laufen, die Petter oder Kåre heißen. Scheiße, das ist doch eine Sauerei!«
Wieder lachte er und zeigte dabei eine Reihe spitzer, weißer Zähne. Matteus verzog den Mund. Als die Menschen, die er jetzt Mutter und Vater nannte, ihn gefunden hatten, hatte er bereits Matteus geheißen. Das war in einem Waisenhaus in Mogadischu gewesen. Und die beiden hatten ihm keinen anderen Namen geben wollen. Manchmal wünschte er sich, sie hätten es getan. Jetzt starrte er einfach nur auf den Torweg, umschloß die Gummibärchentüte mit seiner braunen Faust und warf einen kurzen Blick in das Auto. Dann änderte er seine Richtung und ging über einen Kiesweg auf das fremde Haus zu, in dem er ganz und gar nicht wohnte. Er entdeckte einige aufeinandergetürmte Mülltonnen. Verschwand dahinter und ging in die Hocke. Der Abfall stank, und fast wäre ihm schlecht geworden. Das Auto fuhr weiter. Als er davon ausgehen konnte, daß es außer Sichtweite war, schlich er sich aus seinem Versteck und setzte seinen Weg fort. Er ging jetzt schneller. Sein Herz, das wild gehämmert hatte, beruhigte sich allmählich. Der Zwischenfall hatte ihm ein seltsames Gefühl im Bauch gemacht, eine schwache Vorahnung dessen, was ihn im Leben noch erwartete. Ein Auto kam ihm entgegen. Einen schrecklichen Moment lang glaubte er, die beiden hätten vielleicht gewendet und hielten auf ihn zu. Jetzt wußten sie, daß er nicht hier wohnte, und würden ihn fertigmachen. Sein Herz schlug wieder schneller. Der Wagen hielt auf der anderen Straßenseite.
»Sieh an, Matteus! Schon wieder unterwegs? Du hast wohl nie Ruhe im Hintern, Alter!«
Matteus rannte los. Die Männer lachten und ließen den Motor aufheulen, und dann verschwand der Wagen in Richtung Innenstadt. Es war siebzehn Minuten nach sechs, als er zu Hause die Tür aufmachte.
Zipp und Andreas lebten in der Illusion, einander zu kennen. In Wirklichkeit konnte nur von Wissen um belanglose Kleinigkeiten die Rede sein, darum, was ihnen gefiel und was nicht, wie sie standen und gingen. Außerdem waren beide zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um bei dem anderen nach neuen Seiten zu suchen. Zipp wußte, daß Andreas lieber Bier aus Flaschen mit blauen Kronkorken trank. Daß er gern die Doors hörte und Würstchen ohne Senf aß. Und daß ihm kein Mädchen gut genug war. Was Zipp absolut nicht verstehen konnte. Die meisten Mädchen schauten ihm mit großen Augen nach. Andreas ist zu hübsch, dachte Zipp. Das hatte ihm ein gelassenes, laxes Wesen gegeben, das einen schon provozieren konnte. Andreas hatte etwas Unerschütterliches, etwas Unangreifbares, Träges, und manchmal war Zipp danach, zuzuschlagen oder ihm zumindest ein Bein zu stellen, um ihn einmal aus dem Gleichgewicht zu bringen. Falls das überhaupt möglich war. Ansonsten wußte er, wo Andreas arbeitete und wohnte. Er hatte ihn in seinem Zimmer und an seinem Arbeitsplatz bei Cash & Carry besucht. Zwischen Farbeimern und Brotmessern und teflonbeschichteten Bratpfannen. Es war ein Weiberladen. Andreas war der einzige Junge dort.
Andreas wußte, daß Zipps Vater seit vielen Jahren tot war, Namen und Todesursache allerdings hatte er vergessen. Obwohl Zipp arbeitslos war und dauernd versuchte, bei ihm zu schnorren, war er gern mit ihm zusammen, und außerdem hatte Zipp ein Auto. Das stammte natürlich noch von Zipps Vater, die Mutter konnte nicht fahren. Aber sie bezahlte das Benzin. Sie arbeitete im Schichtdienst in irgendeinem Heim und war fast nie da. Entweder arbeitete sie, oder sie schlief. Und im Keller hatten sie ein kleines Zimmer. Wo sie bleiben konnten, wenn sie kein Geld hatten. Es war einfach angenehm, immer dieselbe Gesellschaft zu haben. Zipp war berechenbar, und das gefiel Andreas. Außerdem, und das war wirklich sehr wichtig, fühlte er sich sicher bei Zipp.
Viel hatten sie einander nicht zu geben. Trotzdem steckten sie immer zusammen, denn alles war besser als Einsamkeit. Wollte Zipp jemanden drittes oder viertes dazuholen, konnte Andreas ihm das immer ausreden. Er behauptete, dann werde alles viel komplizierter und im Auto sei kein Platz für Frauen, und das war ja auch ein gutes Argument. Es konnte zu kleinen Meinungsverschiedenheiten kommen, aus denen sich jedoch nie ein Streit entwickelte. In der Regel waren sie einer Meinung; in der Regel konnte Andreas den Konflikt zu seinem Vorteil wenden, und das so geschickt, daß Zipp ihm nicht auf die Schliche kam. Sie hatten einige Grenzen überschritten. Kleinigkeiten. Einmal hatten sie aus einem Kiosk ein paar Stangen Zigaretten und ein wenig Geld mitgehen lassen. Ein andermal hatten sie ein Auto geknackt. Die Batterie von Zipps Golf hatte ihren Geist aufgegeben, und die Vorstellung, wie Schuljungen zu Fuß gehen zu müssen, hatte ihnen gar nicht gefallen. Aber sie waren nicht weit gefahren. Im Grunde waren sie ziemlich feige. Sie waren nicht gewalttätig und hatten nie Waffen besessen, abgesehen von einem Messer, das Andreas zur Konfirmation bekommen hatte. Ab und zu hing es an seinem Gürtel, unter dem Hemd versteckt. Zipp mochte das Messer nicht sehen. Es kam vor, daß sie zuviel tranken. Das Messer hing wie ein Pendel an der schmalen Hüfte und war so jederzeit zugänglich. Nicht, daß Andreas jemanden provozierte oder sich selbst provozieren ließ. Sein Aussehen hatte auf andere die entgegengesetzte Wirkung; sie entspannten sich, blieben ruhig sitzen und schauten in seine hellen Augen. Aber wenn er trank, veränderte er sich. Unruhe stieg in ihm auf, und er, der sonst träge war, entwickelte eine geradezu fieberhafte Nervosität. Seine dünnen Finger konnten nicht stillhalten, sondern jagten umher und spielten an allem herum. Zipp staunte immer wieder darüber. Er selbst wurde schwerfällig und am Ende schläfrig, wenn er zuviel trank. Genaugenommen war Andreas seltsam. Er schien nie wirklich dazusein. Er rülpste nicht, wenn er betrunken war. Er hustete nicht, er bekam keinen Schluckauf. Um ihn her war es still. Er hatte nicht einmal einen besonderen Geruch. Zipp selbst benutzte ein Rasierwasser von Hugo Boss, wenn er es sich leisten konnte, oder er klaute bei Cash & Carry eine Flasche, wenn er sich obenauf fühlte. Andreas benutzte gar nichts. Er sah immer gleich aus, seine Haare waren nie fettig, er war immer sauber, wenn auch nicht zu sauber, er war immer derselbe. Wenn Zipp ihn an einem Sonntagvormittag weckte und er im Bademantel in der Tür stand, sah er nicht müde aus. Seine Augen waren immer offen. Seine Haare waren immer gleich lang. Seine Schuhe waren nie abgetragen. Es war seltsam.
Jetzt wartete Andreas auf seinen Lohn. Zusammen verfügten sie über die schwindelerregende Summe von sechzig Kronen. Das reichte nicht einmal für zwei Bier.
»Woran denkst du?« fragte Andreas.
Zipp schnitt eine Grimasse. »An Anita.«
»Himmel, gibt’s da was zu denken?«
»Wie meinst du das?« Zipp ärgerte sich. »Die Frau ist doch tot.«
»Da sagst du was Wahres.«
Zipp mußte aus dem Fenster blicken, um seine Empfindungen zu verbergen.
»Wie viele Kugeln hat wohl so eine Schrotladung?« fragte er tonlos.
»Kommt sicher drauf an. Wieso?«
»Ich denke an ihr Gesicht. Wie das danach ausgesehen hat. Sie war doch eine tolle Frau.«
Andreas zuckte mit den Schultern. »Wenn du nahe genug dran bist, kommt die Ladung wie eine einzige Riesenkugel. Ich hab kurz mit Roger gesprochen. Er sagt, ihr Nasenbein ragte raus und der ganze Kiefer war offen. Und ein Auge war verschwunden.« Er zog an seiner Zigarette. »Und Anders«, fügte er hinzu. »Der stand ja hinter Anita, als der Schuß losging. Sein Oberdeck war total zerlöchert.«
Zipp schwieg und stellte sich das alles vor. Die Einzelheiten wollten kein Ende nehmen. Sein Gehirn war gespickt mit Bildern aus Filmen, die erst ab achtzehn freigegeben waren, in Breitwand und mit digitalen Klangeffekten.
»O Scheiße.«
Andreas verdrehte die Augen. »Wieso stellst du dich so an? Sie war doch nicht deine Schwester. That’s life, Zipp. All will be lost like tears in rain.«
Andreas zitierte Roy Batty. Zipp dagegen dachte immer noch an Anita. Er erinnerte sich an ihr Lachen, an ihre Stimme und ihren Duft. Er erinnerte sich an das grüne Steinchen in ihrer Nase. Das alles war in Fetzen geschossen worden.
»Ich war immerhin mit Anita in der Falle. Ist ein komischer Gedanke«, sagte er.
»Gibt’s irgendeinen Soßentopf in dieser Stadt, in den du deinen Rüssel noch nicht getaucht hast?«
»Nein, ha ha. Nicht viele.« Er zog die Nase hoch. »Da muß doch der Teufel in Robert gefahren sein«, murmelte er. »Ich kenne Robert schließlich. Irgendwas muß da in ihm übernommen haben.«
»Von mir aus. Er war besessen. Aber nicht vom Teufel.«
»Nein?«
»Herrgott, Mann. Er war besoffen. Jede Menge Promille. Er war zu. Gehirnlahm. Hin und weg, unberechenbar, vollkommen breit. Da hast du deinen Teufel.«
»Ich glaube, ich werde Antialkoholiker«, sagte Zipp düster.
Worauf Andreas losprustete, die Vorstellung war einfach absurd. Und dann war es vorbei. Die Stimmung lockerte sich, und Zipp verscheuchte das blutige Bild. Schweigend fuhren sie weiter.
»Und du warst gestern bei der Frau?« Aus dem Augenwinkel sah er Andreas’ Oberschenkel in der hellen Hose.
»War ich«, lautete die Antwort.
Zipp hörte das Lächeln und die Mitteilung, er solle keine weiteren Fragen stellen. Nicht, daß es ein Geheimnis gewesen wäre. Andreas hatte ganz offen gesagt, daß sie miteinander schliefen. Oder nicht? Vielleicht hatte er das nur aus Jux erzählt. Andreas war geheimnisvoll; eigentlich war es unmöglich, ihn zu durchschauen.
»Ich begreife nicht, wie du das hinkriegst«, sagte Zipp und lachte.
»Bringt ein bißchen Extraknete«, erwiderte Andreas kurz. Er klang nicht vergrätzt, schien aber auf der Hut zu sein. »Du hast doch immer solchen Durst.« Und dann fügte er voller Pathos hinzu: »Ich mach das für uns, Zipp.«
Zipp versuchte, all das zu hören, was Andreas nicht sagte. Andreas stand einer Künstlerin Modell. Sie malte ihn nackt. Zipp versuchte, sich die Stellung auszumalen – lag Andreas auf einem Sofa, saß er in einem Sessel, stand er in irgendeiner unmöglichen Haltung da? Er traute sich nicht zu fragen. Aber er war neugierig. Die Vorstellung, vor einer Frau die Kleider fallen zu lassen und von ihr betrachtet zu werden, während er einfach nur dastand, verursachte ihm nicht nur Unbehagen. Danach hatten die beiden Sex. Sagte Andreas. Aber das Gefühl, überlegte Zipp, unbeweglich dastehen zu müssen, während eine Frau seinen Körper bis ins letzte Detail in sich aufnahm? Nicht, daß er etwas zu verbergen gehabt hätte. Er war nicht fett, nicht zu klein oder was auch immer. Aber so von einer Frau gesehen zu werden…
»Wird dieses Scheißbild denn nie fertig? Du gehst doch schon seit Monaten zu ihr.«
Zipp zog an seiner Zigarette. Ohne zu wissen, wieso, hatte er das Gefühl, sich einer gefährlichen Zone zu nähern. Und doch wurde er weitergetrieben. Ihm wurde bewußt, daß er Andreas noch nie wütend gesehen hatte. Andreas war immer ruhig, leise und auf beruhigende Weise derselbe. Seit elf Jahren war er derselbe.
»Ein gutes Bild braucht ein Jahr«, erklärte Andreas, als habe er einen kleinen Kacker zu belehren. Er spielte mit den Zipfeln seines Halstuches. Das Tuch paßte zu seinem Hemd.
»Scheiße, ein Jahr? Da hast du ja noch was vor dir.« Zipp aschte aus dem Wagenfenster. »Wenn sie nun berühmt wird und sie hängen das Bild irgendwo auf, wo Gott und die Welt es sich ansehen kann. In der Bank zum Beispiel. Oder im Saga-Kino. Verdammt, mich würde das umbringen.«
Er ließ den Wagen anrollen. Andreas starrte geduldig auf die rote Ampel.
»Niemand würde mich erkennen«, sagte er ruhig.
»Nicht? Wird das so eine Picasso-Kiste mit beiden Ohren auf einer Seite vom Kopf oder so?«
Angesichts dieser grenzenlosen Unwissenheit stieß Andreas ein müdes Lachen aus. »Das Bild wird gut«, sagte er einfach.
»Wie alt ist die Tante eigentlich?«
Andreas schloß resigniert die Augen. »Alt genug, um mehr Künste zu kennen als die Schulmädchen, mit denen du dich herumtreibst.«
Das war eine Bemerkung von der Sorte, wie Zipp sie liebte. Er liebte jede Art von Anspielung auf seine Leistungen im Bett, von denen er eine sehr hohe Meinung hatte. O ja.
»Du Hurenbock!« Er kicherte. »Lassen sich da noch ein paar neue Tricks lernen?«
Jetzt wandte Andreas sich ihm zu, genau in dem Moment, als die Ampel auf Gelb umsprang. Er musterte Zipp von Kopf bis Fuß, von den struppigen Haaren, die niemals glatt liegen wollten, der Stupsnase und dem Grübchen im Kinn bis zu den runden Oberschenkeln und den ewigen Jeans. Stretch. Mit seinem kleinen Kopf und dem kräftigen Torso ähnelte Zipp dem, was er im Grunde war. Einem Masthähnchen. Zipp brach der Schweiß aus. Andreas taxierte seinen Körper bis in die letzte Kleinigkeit. Und verwarf alles. Zipp hatte bei der Frau keine Chance. Zipp seinerseits bereute, dieses Gespräch überhaupt begonnen zu haben. So kam es immer. Er machte einen Anlauf, aber dann ging es nicht weiter. Scheiße, wieso hatte er nicht das Geld für eine Runde? Verstohlen betrachtete er seinen Kumpel. Andreas hatte Stil. Er trug weite Hosen und lose Hemden. Nichts anderes, nichts Schrilles. Mokassins, niemals Turnschuhe. Im Sommer krempelte er die Ärmel hoch und ließ ein paar Knöpfe offen. Aber immer trug er solche Klamotten, helle, leichte. Sie umflatterten ihn, ließen ihn schmaler aussehen, noch langgliedriger. Zipp dagegen preßte genau die gleiche Menge Kilos, nämlich dreiundsiebzig, in enge Jeans und T-Shirts, die wie Strümpfe saßen. Darüber trug er eine Lederjacke. Die war kurz und in den Schultern breit, bescherte ihm aber nicht die athletische Form, die er anstrebte. Eher sah er aufgeblasen aus. Das begriff er nicht, denn er war ja nicht fett. Er war ein wenig O-beinig und hatte einen Ponyhintern, sah aber nicht auffällig aus. Er beneidete Andreas um seinen Stil, konnte ihn aber nicht einfach nachahmen. Die Wirkung würde ausbleiben. Nicht, daß es ihm an Frauen gefehlt hätte. Doch selbst in dieser Hinsicht war Andreas ihm überlegen. Er übersah die Frauen einfach. Abgesehen von der einen. Und noch immer wußte Zipp nicht, wie alt die war. Dreißig? Noch älter? Vierzig oder fünfzig? Zipp hatte eine Tante, die fünfzig war, und bei dem Gedanken sträubte sich alles in ihm. Eine Frau von fünfzig. Mit Kindern und allem. Wie sahen Frauen wohl unten aus, wenn sie einen Haufen Kinder aus sich herausgepreßt hatten? Auf jeden Fall anders als junge Mädchen.
»Hat sie Kinder?« entfuhr es ihm.
»Viele«, Andreas nickte, »vier oder fünf.«
»Scheiße, in so einer Alten muß doch viel zuviel Platz sein?«
Andreas öffnete das Fenster und ließ ein säuerliches kleines Lachen hören. »I have seen things you wouldn’t believe.«
»Will heißen?«
»Sie sind viel, viel tiefer, Zipp.«
Hoch oben über der Stadt, mit Blick auf den Fluß, stand ein stattliches, etwa hundert Jahre altes Haus. Es war ein wenig heruntergekommen, aber die grünen Bretter hielten Wind und Wetter noch immer stand. Hier lebte die Künstlerin Anna Fehn.
An einem Frühsommerabend schlenderte sie über den großen Platz und betrachtete die Leute. Sie hatte einen trainierten Blick. Die wenigsten Menschen sind schön, dachte sie. Die meisten sind eine zufällige Mischung aus den beiden, die an ihrem Entstehen beteiligt waren. Lange Arme und Beine vom Vater, winzige Hände und Füße von der Mutter; fast niemand ergibt ein harmonisches Ganzes. Fast niemand machte Eindruck auf sie, aber sie wußte, daß es nicht um schwer oder leicht ging, um grob oder fein, sondern darum, wie die Menschen sich durch den Raum bewegten. Mit dem Bewußtsein ihrer selbst und mit Stolz als tragender Kraft. Oder in eine Form gepreßt, zu der sie nicht stehen mochten. Und dann entdeckte sie Andreas. Er saß mit einem Freund in einem Straßencafé. Ihr erster Gedanke war, daß er sich langweilte. Das Leben genügte ihm nicht. Etwas Wichtiges fehlte ihm, und er konnte es nicht finden. Nicht besonders originell, das galt für die meisten Menschen. Er aber glotzte nicht vor sich hin, schaute den Mädchen weder hinterher, noch posierte er vor ihnen. Vollkommen ruhig saß er da, die langen Beine unter dem Tisch ausgestreckt. Anna sah die Lederstiefel auf den Pflastersteinen und das Baumwollhemd auf der hellen Haut. Die Haare, die sich sacht im Wind bewegten, die dünnen Finger, die das Glas umschlossen. Fast lag er in dem Stuhl, der nur auf den Hinterbeinen ruhte. Allein diese Art zu sitzen, in vollendetem Gleichgewicht, mit dem Risiko, umzukippen und mit dem Kopf gegen die Steine zu schlagen, und trotzdem völlig entspannt. Gleichgültig. Das beeindruckte sie. Dann schaute sie sich den Kumpel an. Die beiden paßten nicht zueinander. Sie hatten ihre Halben fast geleert, waren aber noch nicht angetrunken. Ansonsten sahen sie aus wie die meisten Jugendlichen. Gehörten keiner definierten Szene an, waren keine Rocker, Punks oder Modenarren, sondern ganz normale Jungs von etwa zwanzig. Aber Andreas war von einer trägen Eleganz und hatte eine prachtvolle Mähne, die ihm bis auf die Schultern fiel. Sie versuchte, die Farbe zu definieren. Wenn sie Karminrot mit gebranntem Siena und hellem Ocker mischte und einige elfenbeinweiße Reflexe hinzugab, konnte sie diesem Ton vielleicht nahekommen. Sie ging auf die beiden zu. Jetzt unterteilte sie sein Gesicht in Faktoren – auf Künstlerinnenweise, Stirn, Wangen, Augen, Wangenknochen – und erkannte, daß er nicht auf klassische Weise schön war. Die Augen saßen ein wenig zu tief in den Höhlen, die Nase war zu lang und schmal, und die Spitze reichte ein wenig zu weit in Richtung Mund. Der geringfügig zu klein war, aber gut geformt und ebenmäßig. Das vorspringende Kinn war schmal. Über der linken Augenbraue saß ein Muttermal, das bis in den Haaransatz hineinreichte. Alles zusammen machte einen starken Eindruck. Unmöglich zu übersehen. Er war schlank und langgliedrig und trotz seiner Jugend markant. Sie spielte mit der Vorstellung, wie er wohl nackt aussehen mochte. Jungen hatten etwas Besonderes, das verschwand, sobald sie zu Männern wurden; in dem Moment, in dem der Körper noch zögerte, ehe er den letzten Schritt zur erwachsenen Schwere vollzog. An dieser Schwelle befand er sich jetzt. Seine Haut schimmerte wie Sahne. Er war entweder Student oder hatte seinen ersten, schlecht bezahlten Job. Bestimmt brauchte er Geld. Für einen Moment kehrte sie ihm den Rücken. Starrte in ein beleuchtetes Schaufenster, auf ein Kleid, das sie sich nicht leisten konnte. Nein, sei ehrlich, das ist zu kurz für dich, Anna. Sie lachte über sich selbst und drehte sich wieder um. Wollte nicht mit ihm reden, solange der andere noch da war, aus Angst, ihn in Verlegenheit zu bringen. Also wartete sie geduldig. Früher oder später würde einer von ihnen doch die im Keller gelegene Toilette aufsuchen müssen. Während sie wartete, versetzte sie ihn in die Pose, von der sie glaubte, daß sie ihm angemessen sei. Dieser gleichgültige Gesichtsausdruck war auch eine Pose, ein Schutzmechanismus. Sein Kumpel durchschaute ihn nicht. Der sah jünger aus und vielleicht ein wenig dümmer. Außerdem sprang er jetzt auf und ging weg. Anna Fehn schlug sofort zu. Sie ging zu dem Jungen an den Tisch und beugte sich vor.
»Ich bin Malerin und brauche immer Modelle. Wenn du dir ein paar Kronen verdienen möchtest, dann ruf diese Nummer an. Ich heiße Anna.«
Sie reichte ihm eine Karte mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer. Er war nicht außer sich vor Verblüffung, schaute sie aber mit einer gewissen Neugier an. Und dann nahm er die Karte. Las die Nummer und ließ die Karte in einer Tasche seines weiten Hemdes verschwinden. Das Hemd war offen. Sie sah einen Streifen seiner schmalen Brust.
»Der Ordnung halber«, fügte sie hinzu: »Ich rede von Aktmalerei.«