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Christian Weichselbraun

THE FIRST CUT

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Love at first sight

Das Mykonos war der angesagteste Schwulentreffpunkt der Stadt. Obwohl ich das nicht verstehen konnte. Die Preise waren astronomisch und das Design grauenvoll klischeehaft. Überall standen Statuen von nackten Adonissen und hingen Bilder von männlichen Topmodels in schwarz-weiss. Unzählige Discokugeln und bunte Lämpchen sorgten dafür, dass es überall glitzerte und funkelte. Man wurde derart geblendet, dass man auf den vorher genannten Aktbildern gar nichts erkennen konnte. Das bewahrte mich zumindest vor weiteren Selbstzweifeln und Minderwertigkeitskomplexen.

Denn obwohl ich den halben Nachmittag damit verbracht hatte, mich in ein möglichst attraktives Exemplar der Gattung „Homo errectus“ zu verwandeln, fühlte ich mich nicht unbedingt wohl in meiner Haut.

Dabei hatte sich meine beste Freundin Linde so viel Mühe mit mir gegeben. Während ich mich im Bad durch Rasur, Ganzkörperpeeling und anschließender Hautpflege in ein Wesen mit zarter Pfirsichhaut zu verwandeln versuchte, hatte sie mir meine Ausgehklamotten bereit gelegt.

Dazu gehörte zuallererst eine sexy Unterhose, denn „Man könne ja nie wissen!“, wie sie augenzwinkernd prophezeite. Dann musste ich mich in meine engste Jeans zwängen. Und während ich verzweifelt nach Luft schnappte, zupfte sie mir die Augenbrauen und behandelte meinen obligatorischen Pickel mit Grundierungscreme.

Dann erst durfte ich in mein T-Shirt schlüpfen. Sie hatte mir eines ausgesucht, das eng genug war, um gut auszusehen, und weit genug, um die kleinen Anzeichen fehlenden Sports um meine Hüften zu kaschieren. Leider konnte sie es sich nicht verkneifen, mich darauf aufmerksam zu machen, dass diese „kleinen Anzeichen“ immer mehr zu ausgewachsenen Hinweisen wurden.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt wollte ich meinen Ausflug in das schwule Nachtleben eigentlich abbrechen. Doch Linde ignorierte meine Selbstzweifel, formte meine kurzen, braunschwarzen Haare mit viel Gel zu einer Strubbelfrisur und schob mich dann aus der Tür.

Natürlich konnte sie mich nicht begleiten, denn alleine hatte ich mehr Chancen, mir jemanden anzulachen, wie sie mir erklärte.

Irgendwie wurde ich den Verdacht nicht los, sie wollte lediglich den Abend alleine mit ihrem Freund verbringen.

Gehorsam hatte ich mich ins Mykonos begeben und stand nun verloren in einer Menge fröhlicher, ausgelassener Kerle. Wie viel lieber wäre ich im Moment mit Linde in unserer Stammkneipe, und würde bei ein paar gepflegten Cocktails mit ihr über die Welt und die Männer philosophieren.

Zum hundertsten Mal musste ich nämlich erkennen, dass es weitaus einfacher war, über sie zu reden, als mit ihnen. Denn kein einziger sprach mich an, obwohl ich versuchte, so auffordernd wie möglich zu wirken, während ich mich krampfhaft an meinem Proseccoglas festklammerte.

So schnell wollte ich nicht aufgeben. Ich war ja nicht auf der Suche nach der großen Liebe. Fürs erste wäre ich mit einem kleinen romantischen Intermezzo zufrieden gewesen. Oder einem geilen One-night-stand. Etwas, dass verhindern würde, dass ich mich weiterhin fühlte wie eine alte Jungfer, eingesperrt im höchsten Turm einer abgelegenen Burg. Ich nannte das den „Rapunzel mit Haarausfall“ Effekt.

Bisher hatte ich erst wenig sexuelle Erfahrungen gesammelt. Ein paar Experimente auf der Schulwoche, gemeinsames Wichsen mit einem Freund in der Pubertät. In den letzten drei Jahren hatte ich fünfmal richtigen Sex gehabt! Keiner von den Fünf schien Interesse an einer Wiederholung gehabt zu haben!

Und nun war ich Anfang zwanzig und bekam bereits die Torschlusspanik. Das mochte zwar übertrieben klingen, aber wenn ich nachts alleine in meinem Bett lag, hörte ich meine innere Uhr ticken. Mit einundzwanzig nie einen richtigen Freund gehabt zu haben, ist auch wirklich Besorgnis erregend.

Es wäre schön, wenn nachts jemand neben mir liegen würde. Ich bin sicher, dann fiele mir sofort Besseres ein, als auf das imaginäre Ticken einer blöden Uhr zu achten.

Dabei war ich nicht einmal besonders hässlich. Behauptet Linde. Ich selbst fand nur meine nussbraunen Augen okay. Der Rest meines Gesichts war mir zu markant, zu männlich. Die Nase könnte für meinen Geschmack kleiner sein, der Mund geschwungener und zierlicher. Ausserdem zeigte sich kein einziges süßes Grübchen, auf meinen Wangen. Da konnte ich Grimassen schneiden, so viel ich wollte.

Um es auf den Punkt zu bringen: Ich würde mich selbst nicht ansprechen, und sicher nicht mit nach Hause nehmen. Und bei meinen seltenen Ausflügen in diese Disco schienen bis jetzt alle anderen ebenfalls meiner Meinung gewesen zu sein.

Eines musste ich dem Mykonos allerdings lassen. Trotz der kitschigen Einrichtung und dem grauenvollen Technosound hatten sich verdammt viele Typen eingefunden. Das konnte auch damit zusammenhängen, dass es die einzige Schwulendisco im Umkreis von mehreren hundert Kilometern war.

Auf der Tanzfläche steppte der Bär und zu meinem Glück dazwischen auch viele weniger stämmige und behaarte Exemplare. Während ich die Tänzer beobachtete, nippte ich fleissig an meinem Prosecco. Alkohol hatte mir immer schon mehr Selbstvertrauen verliehen.

Seit einigen Minuten beobachtete ich einen hübschen blonden Jungen, der seinen durchtrainierten Körper mit geschmeidigen Tanzbewegungen zur Schau stellte. Gerade hatte er die Tanzfläche verlassen, um an einem der Tische etwas zu trinken. Plötzlich schien es, als würde er mir zulächeln.

Ich blickte mich unauffällig um, ob er etwa jemanden neben oder hinter mir meinen konnte. Er schien wirklich mich anzulächeln! Reflexartig lächelte ich zurück. Ich hoffte, dass mein Grinsen reichen würde, um den Anderen zu mir zu locken. Doch dieser blieb wo er war, blickte aber dauernd zu mir herüber.

Leider hatte ich Linde versprochen, die Initiative zu ergreifen. Und nun war wohl die beste Gelegenheit dazu. Immerhin hatte dieser Mann mich angelächelt!

Ich nippte noch einmal an meinem Selbstvertrauen und schlängelte mich dann durch die Leute auf den Kerl zu.

Der DJ bewies gerade Verständnis für meine Techno gequälten Ohren und legte zur Abwechslung Kylie Minogue auf. Ich ließ meine Hüften ein wenig im Takt schwingen, während ich mich zu meinem Traummann gesellte und ihm zunickte. Beinahe wäre ich vor Aufregung über meine eignen Füße gestolpert.

„Hallo, ich bin Karl!“, schrie er mir ins Ohr und gewährte mir einen Blick auf seine makellosen Zahnreihen.

Nun kam der schwierigste Teil des Ganzen. Der Grund, warum mich trotz passablem Aussehen und perfektem Styling spätestens an dieser Stelle immer das Selbstvertrauen verließ.

„Ich heiße Jonar!“, antwortete ich halblaut, und hoffte, dass ihn mein Name ungefähr soviel interessieren würde, wie der Verdauungstrakt der adriatischen Seegurke.

Umsonst gehofft. „Wie? Entschuldige, das hab ich nicht verstanden!“ Karl untermauerte seine Worte mit einem verzweifelten Schulterzucken und deutete mit dem Kopf zum DJ-Pult, um dann mit beiden Händen auf seine Ohren zu deuten. Als ob ich dämlich wäre und nicht mitbekommen würde, dass die Musik sehr laut war.

Innerlich seufzte ich leicht genervt und betrachtete mein Gegenüber genauer. Schließlich wollte ich sicher gehen, dass er das ganze Theater wert war. Bevor ich in Gefahr lief, mir die Stimmbänder zu ruinieren!

Kurzes, blondes Haar, seidige Wimpern, blaue Augen, einen fein geschwungenen Mund. Dazu einen Körper, der nach jedem Dauerlauf sicherlich nicht mehr als eine Salatplatte erhielt. Eigentlich wurde die Wichtigkeit von Stimmbändern von jeher überschätzt!

„Jonar!“, brüllte ich. „Ich heiße Jonar!“

Und da war er, dieser Blick, der zu fragen schien, ob ich ihn verarschen wollte. Wieso konnte er nicht lächelnd darüber hinweggehen, und sich mit mir in eine der Nischen in der Nähe setzen? Ich wollte ja nur Sex und nicht gleich heiraten!

„Ist ein keltischer Name!“, versuchte ich zu retten, was zu retten war. „War, glaube ich, der Donnergott! Derjenige, mit dem mächtigen Hammer!“ In den letzten Satz legte ich einen Hauch von jenem Unterton, der meinem Gegenüber verdeutlichen sollte, dass die Geschichte mit dem Hammer nicht umsonst zweideutig klang.

Der Adonis setzte eine Miene auf, die wohl Verstehen signalisieren sollte. Dahinter sah ich, wie er überlegte, wie er sich am Besten vom Acker machen konnte. Schließlich nahm er seinen Schluck von seinem Wasser, blickte kurz in die tanzende Menge und setzte dann zum Abschied an. „Ich versteh nichts von diesem Keltenzeug. Da drüben ist einer meiner Trainingspartner. Den muss ich kurz mal sprechen! Wir sehen uns!“ Ein höfliches Nicken, ein entschuldigendes Lächeln, dann war er verschwunden.

Was soll’s, ich stand sowieso nicht auf diese durchtrainierten Gesundheitsfanatiker. Wer trinkt Wasser, und das am Samstagabend, in der schrillsten und flippigsten Schwulendisco der Stadt? Die hatten sowieso alle einen an der Waffel, diese Sportler. Müssen wohl die Hormone sein, die sie sich spritzen.

„Der germanische Donnergott mit dem Hammer hieß Thor, und nicht Jonar!“, hörte ich aus der Nische neben mir. Ich seufzte genervt, dann wandte ich mich dem Genie zu.

Wer immer die Frechheit besaß, mich einfach so anzuquatschen, saß ganz an der Wand, abgeschirmt von den kleinen Holzflügeln, die jeder Sitznische Abgeschiedenheit für was auch immer geben sollten. Im Halbdunkel konnte man nur seine Umrisse erkennen.

Bei mir klingelten sämtliche Alarmglocken: Sicher einer von diesen Intellektuellen. Eine Leseratte, in fade, schwarzgraue Kleider gehüllt, mit dicker Brille und einem Bauch, gegen den auch das beharrlichste Bücherschleppen nichts mehr ausrichten konnte.

Aber in diesen Nischen war die Musik soweit gedämpft, dass man sich unterhalten konnte. Und eine geistreiche Unterhaltung konnte nach dem hirnlosen Gebaggere nicht schaden. Immerhin griff ich selbst ganz gerne zu einem guten Buch.

Also unterdrückte ich meinen inneren Fluchtreflex und lächelte höflich in die Dunkelheit. „Ich weiß, dass der Typ Thor heißt, aber was soll ich machen? Mit so einem Namen muss man Geschichten erfinden. In Wahrheit stammt er aus dem Lieblingsfantasyroman meiner Mutter. Das klingt dämlicher, als alles andere.“

Ein zustimmendes Brummen aus der Finsternis zeigte mir, dass der andere verstanden hatte.

„Siehst du!“, fuhr ich fort, froh jemanden getroffen zu haben, der mein Dilemma nachvollziehen konnte. „Wie soll man da einen guten Typen aufreißen? Die meinen alle, ich verarsche sie oder bin einer von diesen Verklemmten, die mit falschem Namen in der Szene unterwegs sind. Deswegen erfinde ich eben Geschichten, mit denen ich den Namen zu erklären versuche.“

„Und da machen sich manche Menschen glatt Gedanken über die Klimaerwärmung. Wo Tragödien wie die deine tagtäglich in unserer Mitte geschehen!“, kam die Antwort aus dem Dunkeln.

Mir blieb kurz die Luft weg. Was erlaubte sich dieser hässliche Fettsack? Natürlich war die Klimaerwärmung eine ernste Sache, aber ich würde nie Kinder haben, die dürstend über die sandigen Reste der Wälder kriechen würden. Und dass ich seit Monaten keinen Sex mehr hatte, war sehr wohl ebenfalls ein Problem, das weit reichende Folgen hatte. Zumindest für mich.

„Ich heiße übrigens Tobias!“, wurde ich in versöhnlichem Ton in meiner Empörung unterbrochen, und mein Gesprächspartner lehnte sich vor, um mir seine Hand entgegen zu strecken. Endlich konnte ich ihn betrachten, und das veränderte alles.

Nun gut, das mit der Brille stimmte, obwohl sie zu den strubbeligen schwarzen Haaren und den belustigt blinzelnden grünen Augen gut passte. Und auch sonst war Tobias verdammt gut aussehend! Die Stupsnase und der frech grinsende Mund waren genau nach meinem Geschmack, und unter dem witzigen „Biene Maja“ T-Shirt zeichnete sich kein einziges Gramm Fett ab.

Man mag mich als oberflächlich bezeichnen, aber ich nahm ihm seine Frotzeleien auf den Schlag nicht mehr übel. Von mir aus konnte er mich im Halbstundenrhythmus beleidigen!

„Äh, ich heiße Jonar!“, stammelte ich, aus der Fassung gebracht von diesem Schwan, der aus dem vermeintlich hässlichen Fettsack geworden war.

„Was du nicht sagst!“ Da war erneut dieses freche Grinsen, dass mein Herz hüpfen ließ.

Ich setzte mein strahlenstes Lächeln auf. „Darf ich mich zu dir setzen?“

Tobias nickte und rutschte zurück in die Dunkelheit. „Natürlich! Dann erzähle ich dir etwas über Thors Hammer, damit du das nächste Mal besser gerüstet bist.“

Ich würde mein bestes Stück darauf verwetten, dass da ein gewisser Unterton mitschwang!

Das Läuten des Handys bewies mir, dass ich am Vorabend eindeutig zu viel getrunken hatte. Normalerweise würde ich niemals vergessen, es auf lautlos zu stellen. Nicht mit einer Großmutter wie der meinen, die jeden Sonntag vor dem Kirchenbesuch versuchte, mich zum Mitkommen zu überreden.

Nonna hatte nämlich Angst um mein Seelenheil, und weder die Tatsache, dass ich von der Kirche ausgetreten war, noch dass ich am Sonntagvormittag nie im Leben einen ihrer Anrufe entgegengenommen hatte, ließ sie in ihrem Bestreben nachlassen.

Ich drehte mich zur Wand und schob meinen Kopf unter das Polster. Hoffentlich gab sie ihre Bemühungen bald auf. Jeder Ton ließ die Kopfschmerzen in meinem Gehirn doppelte Saltos schlagen. Erst vor zwei Wochen hatte ich einen meiner neuen Lieblingshits als Klingelton herunter geladen. Seit zehn Tagen ging er mir auf die Nerven, und seit spätestens jetzt konnte ich ihn wohl nie wieder mit gutem Gefühl anhören.

Ich musste gestern wirklich ordentlich einen drauf gemacht haben!

Ein Erinnerungsbruchstück raste durch meinen Kopf und schlagartig war ich hellwach. Natürlich hatte ich gestern einen drauf gemacht, und nun wusste ich auch mit wem und warum! Und wenn mich die Nebelschwaden in meinem Kopf nicht täuschten, durfte ich eigentlich nicht alleine im Bett liegen!

Vorsichtig ließ ich meine linke Hand in Richtung Bettrand wandern. Einen Zentimeter, langsam immer weiter, darauf hoffend, auf einen warmen Körper zu treffen. Die Hand erreicht ihr Ziel, ohne auf irgendwelche Hindernisse zu stoßen.

Ich zog mir den Polster vom Kopf – Nonna hatte inzwischen aufgegeben – und meine Augen bestätigten mir, was meine Hand mir schon lange anzudeuten versuchte: Der Platz neben mir war leer!

Das konnte eigentlich gar nicht sein! Ich hatte gestern… und da war doch dieser hübsche Junge gewesen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, was nicht gerade einfach war.

Genau! Tobias. So hatte er geheißen!

Stolz über diese phänomenale Gedächtnisleistung setzte ich mich auf, woraufhin eine Welle der Übelkeit durch meinen Magen schwappte. Zum Glück blieb sie vorerst auch dort, denn im Moment hatte ich keine Zeit, um mich zu übergeben.

Ich erinnerte mich an eine Flasche Wodka. Tobias und ich hatten uns sehr gut unterhalten und einige Gemeinsamkeiten entdeckt. Unter anderem unsere Vorliebe für das russische Nationalgetränk. Eigentlich hatte ich niemals zuvor Wodka getrunken, aber als Tobias dessen Vorzüge pries, stimmte ich ihm zu. Das führte dann eben zu jener besagten Bestellung.

Ich muss gestehen, dass Zeug ist wirklich nicht schlecht. Und wenn Prosecco bezüglich meiner Hemmschwelle sehr hilfreich war, so konnte Wodka wahre Wunder wirken. Nach nur einem Glas, gemischt mit Orangenjuice, fiel es mir plötzlich leicht, hemmungslos zu flirten. Also ein guter Grundstock für eine lange und solide Vorliebe.

Jedenfalls streifte ich bald zufällig Tobias’ Hand oder seinen Oberschenkel, was jedes Mal dazu führte, dass ein wohliges Schauern durch meinen Körper lief. Beim zweiten Glas kam mir die glorreiche Idee, einen Bruderschaftskuss auszutauschen. Als sich meine Lippen seiner Wange näherten, drehte er plötzlich den Kopf und küsste mich auf den Mund.

Zuerst glaubte ich unschuldig, dass er nicht genau wusste, wie ein Bruderschaftskuss funktionierte, dann spürte ich seine Zunge, die sich sanft zwischen meine Lippen drängte.

Die drauffolgenden Stunden hatten wir knutschend und uns streichelnd verbracht. Wir unterbrachen nur, um einen Schluck aus unseren Gläsern zu nehmen. Leider bin ich nicht gerade sehr trinkfest, und dass ich am Abend nichts gegessen hatte, um möglichst dünn zu wirken, trug dazu bei, dass ich bald ziemlich betrunken war.

Und deswegen endete hier auch meine Erinnerung. Der weitere Verlauf des Abends lag im Dunkeln.

Ich war doch nicht etwa alleine nach Hause gegangen? So geil, wie wir gewesen waren, erschien mir das eher unrealistisch. Oder war ich wirklich zu besoffen gewesen, um einen süßen Jungen mitzunehmen, da ich endlich einen gefunden hatte? So dämlich konnte wirklich nur ich sein!

Ich schob meinen Ärger zur Seite. Vielleicht war es besser so. Tobias war eindeutig zu hübsch und zu nett für einen billigen One-night-stand. Wir hatten viel gemeinsam, hatten auch viel gelacht und fanden uns gegenseitig attraktiv. Ich für meinen Teil fand ihn sogar sehr attraktiv. Da war es sicher besser, die Sache langsam anzugehen.

Die Welle in meinem Magen machte Anstalten, den Weg nach oben anzutreten. Es war höchste Zeit, mich auf den Weg zur Toilette zu machen!

Ich schlug die Decke zur Seite und erstarrte. Was ich sah, oder besser gesagt nicht sah, ließ sämtliche Gedanken ans Kotzen schlagartig verschwinden: Ich war nackt!

Ich schlafe nie nackt!

Fassungslos sank ich zurück ins Bett und schloss die Augen. Es gab nur eine logische Erklärung: Tobias und ich hatten miteinander geschlafen. Stundenlanger, hemmungsloser Sex, an den ich mich nicht erinnern konnte.

Obwohl, wenn der Sex wirklich gut gewesen wäre, dann wäre Tobias sicherlich geblieben. Also war es schneller, fantasieloser Sex gewesen. Derart schlecht, dass sich Tobias fluchtartig aus dem Staub gemacht hatte.

Wie hatte das nur passieren können! Ich stöhnte und schlug mir mit dem Polster auf den Kopf, was zu schmerzhaften Stichen in der Schläfe führte. Endlich hatte ich meinen Märchenprinz gefunden, und dann das! Ich fühlte mich wie Aschenputtel, die auf dem Ball des Prinzen zu viel gesoffen hatte und dann dessen Mutter auf das teure Kleid kotzte.

Und ich hatte seine Nummer nicht, ja nicht einmal einen Schuh von ihm!

Die Stiche in der Schläfe wurden zu ausgewachsenen Hammerschlägen, und auch mein Magen fragte vorsichtig an, ob es möglich wäre, den Gang zur Toilette nun endlich durchzuführen, weil es langsam wirklich dringend wurde. Ich schaffte es rechtzeitig ins Bad.

Als ich ins Bett fiel, hatte ich mich bereits etwas beruhigt. Aschenputtel hatte schließlich auch nicht so schnell aufgegeben, und der Prinz ebenfalls nicht! Die Schwulenszene der Stadt war so klein, dass ich Tobias früher oder später über den Weg laufen würde. Und dann würde ich alles daran setzen, um ihn von meinen Qualitäten im Bett zu überzeugen. Und auch von all meinen anderen Vorzügen.

Aber das alles konnte ich später mit Linde besprechen, wofür hatte man schließlich eine beste Freundin?

Ich war gerade dabei, einzuschlafen, als mir siedendheiss mein Handy einfiel. Doch so schnell würde mich nichts mehr aus dem Bett bringen. Auch wenn mich dann in cirka zwei Stunden Nonnas nächster Anruf wecken würde. Sie wird sicher wissen wollen, warum ich nicht in der Kirche gewesen bin.

I’d do anything for love

„Und du hast nicht einmal eine Telefonnummer?“ Linde klang geradezu verzweifelt über soviel Unglück.

„Hmmpf.“

„Und du kannst dich an gar nichts erinnern?“ Dieses Mal klang Linde regelrecht entsetzt über soviel Dummheit.

„Hmmpf.“

„Was machst du denn da eigentlich. Könntest du mich vielleicht ansehen, wenn ich mit dir spreche?!“ Gereizt, ganz eindeutig.

Ich tauchte unter dem Handtuch hervor, das ich mir über den Kopf gelegt hatte.

„Wasserdampftherapie!“, erklärte ich ihr. „Was glaubst du, wie meine Pickel nach soviel Alkohol zu sprießen beginnen?! Deswegen mache ich eine Dampftherapie. Zwanzig Minuten über einen Kessel mit kochendem Wasser, und mein Gesicht fühlt sich an wie samtene Babyhaut! Alter Nonnatrick.“

Linde blickte mich verständnislos an, dann schüttelte sie den Kopf. Sie hatte ja leicht reden, Tricks für ein besseres Aussehen hatte sie nicht nötig. Ihre Haut war makellos und ihr Gesicht erinnerte an die junge Julia Roberts. Die anbetungswürdigen braunroten Locken, die schönen Mandelaugen und ungefähr dasselbe Lächeln, nur nicht ganz so breit. Über die schlanke Figur und die schier endlos langen Beine möchte ich gar nicht sprechen.

Ihre Ahnungslosigkeit bezüglich Beautyanwendungen lag nicht daran, dass sie wusste, wie gut sie aussah, nein, ihr Aussehen interessierte sie überhaupt nicht. Einerseits war das natürlich schade, weil ich mich meist alleine durch die neuesten Angebote von Bioterm und Body Shop kämpfen musste, andererseits war dadurch zu erklären, wie sie es geschafft hatte, ihre natürliche und offene Art beizubehalten. Sie war weder arrogant, noch besonders zickig oder abgehoben, was bei solch schönen Wesen eigentlich eher selten war.

Auf jeden Fall war ich es meistens alleine, der mit Kieselerde bedeckt, oder, wie im Moment, über einem dampfenden Wasserkessel prustend, sich lächerlich machte. Linde beobachtete mich dann meistens mit einem belustigten Grinsen, während sie selbstzufrieden eine ihrer Locken um den Zeigefinger wickelte.

Danach bestätigte sie mir immer, um wie viel besser ich plötzlich aussah. Das bewies auch, wie tief unsere Freundschaft war, denn nur Linde durfte mich so schamlos anlügen, ohne dass ich es ihr übel nahm.

Auch sonst hätte ich ihr beinahe alles verziehen, schließlich waren wir seit den frühesten Kindheitstagen an dicke Freunde. Während sich unsere Eltern zusammen um die Rettung unseres Planeten bemühten, bemühten wir uns, gemeinsam die Hölle der Schule zu überstehen. Ich tröstete sie, wenn der gemeine Junge vom Tisch hinter ihr, der heimlich in sie verknallt war, ihr eine Haarlocke abschnitt. Und sie tröstete mich, wenn ich von dem netten Jungen vor mir eine gescheuert bekam, weil ich versucht hatte, ihm eine Haarsträhne abzuscheiden.

Im Gegensatz zu mir hatte sie ihren Lebenspartner gefunden. Sie lebte seit einiger Zeit mit Jörg, einem Mechaniker, zusammen. Und obwohl Jörg in seiner blauen Montur wirklich verdammt heiß aussah, hatte ich immer das Gefühl, dass sie sich unter ihrem Wert verkaufte. Jörg war so… nennen wir es schlicht. Eigentlich hätte Linde jemanden verdient, der ihr die Welt zu Füßen legte, sie nach Paris und Rom entführte oder ihr vor knisterndem Kaminfeuer Gedichte vortrug. Doch sie war glücklich mit Jörg, der unter einem romantischen Abend den neuesten Bruce Willis Film auf DVD und eine Schüssel voller Chillichips verstand. Solange die Beiden nicht vom Heiraten sprachen, sollte es mir recht sein.

Wenigstens konnte sie so ihre ganze Energie meinem Liebeskummer widmen, was sie auch immer mit Hingabe tat. Deswegen war sie auch dieses Mal sofort herbeigeeilt, nachdem ich ihr von meinem Missgeschick erzählt hatte.

„Und du hast diesen Tobias wirklich nie zuvor gesehen?“

Ich schüttelte vehement den Kopf, worauf das Handtuch verrutschte und in den Topf fiel. Das war eindeutig nicht mein Tag. Zumindest fiel mir rechtzeitig ein, dass Wasserdampf von verdammt heißem Wasser stammte, nämlich bevor ich instinktiv nach dem inzwischen nassen Tuch griff. Ich war ziemlich unkonzentriert. Nun gut, dann war eben Schluss für heute mit der Hautpflege.

Ich trug den Topf in die Küche, während ich Linde weiterhin berichtete. „Er ist mir bis jetzt nie aufgefallen und ich hätte ihn sicher nicht übersehen. Er ist wirklich total süß, zum anknabbern! Ich bin bis jetzt viel zu wenig in der Szene unterwegs gewesen!“ stellte ich fest.

Linde machte ein undefinierbares Geräusch, aber als ich aus der Küche kam, konnte ich ihrer unschuldigen Miene nicht mehr entnehmen, ob es ein genervtes Geräusch war, wegen der zahlreichen schwärmerischen Adjektive bezüglich Tobias, oder ein vorwurfsvolles. Sie riet mir des Öfteren, dass ich mehr ausgehen sollte. Und damit meinte sie schwules Ausgehen, nicht die gemeinsamen Cocktailabende in der Kneipe am Eck.

„Ich weiß, das sagst du mir schon lange. Und das wird sich jetzt auch ändern!“, versprach ich ihr. Doch sie schien etwas anderes auf dem Herzen zu haben, denn statt mich mit einem „Na endlich!“ oder einem „Super!“ zu bestärken, blickte sie mich weiterhin vorwurfsvoll an.

Ich kannte diesen Blick nur zu gut. Bereits als Kind hatte sie mich so angesehen, wenn ich mit blutendem Knie zu ihr gelaufen kam, weil unsere Eltern gerade damit beschäftigt waren, Protestplakate zu malen. Der Blick war eine Mischung aus Vorwurf, Bedauern und leichter Genervtheit, weil ich wieder einmal Blödsinn gemacht hatte.

„Okay, was ist los?“, seufzte ich Schicksals ergeben.

„Kannst du dir das nicht selbst denken? Da lernst du endlich jemanden kennen, der hübsch ist und nicht ganz hohl im Kopf ist, und dann vermasselst du es derart! Und warum? Weil du dir viel zu viel Wodka in die Figur geschüttet hast, um deine angebliche Schüchternheit zu überwinden. Und dann bist du so besoffen und wuschig, dass du gleich den ganzen Typen mit nach Hause nimmst, statt nur nach seiner Nummer zu fragen. Wie willst du jemals eine Beziehung aufbauen, wenn du sofort mit jedem ins Bett hüpfst?! Mit One-night-stands kann man keine richtige Beziehung aufbauen!“

Genau dieselben Gedankengänge hatten mich zwar auch den ganzen Nachmittag gequält, aber Linde war hier, um mich zu unterstützen, nicht um mich noch mehr runter zu ziehen! „Das ist ein kompletter Blödsinn! Das geht vielleicht bei euch Heteros nicht, aber unsereins ist da nicht so verklemmt!“, giftete ich zurück.

„Ihr seid da nicht so verklemmt!“, ätzte Linde und ihre dunklen Augen funkelten. „Aber dafür verdammt oberflächlich. Wenn der erste Sex nicht gleich megageil war, dann wird der Typ gleich abgeschoben, ohne sich die Mühe zu machen, denjenigen richtig kennen zu lernen.“

Da war natürlich etwas Wahres dran. Und ich befürchtete, dass ich in meinem Vollrausch nicht gerade die Sexbestie schlechthin gewesen war. Vielleicht hatte ich wirklich die Chance auf den Mann meines Lebens verspielt!

Sie musste mir meine Verzweiflung angesehen haben, denn plötzlich wurden ihre Züge weicher. „Mach dir nichts draus, es ist ja nicht alles verloren! Ihr werdet euch sicher über den Weg laufen, und dann könnt ihr ja von vorne beginnen. Möglicherweise kann er sich ja ebenfalls nicht mehr an diese Nacht erinnern.“

Oder an mich fügte ich im Inneren hinzu.

„Aber nicht, dass du jetzt jeden Abend in der Szene unterwegs bist!“, ergänzte sie streng. „Das Leben ist kein Film!“

Sie spielte auf einen höchst romantischen Film an, in dem der Mann bei der Hochzeit erzählte, dass er seine Frau kennen gelernt hatte, als er verspätet aus der Haustür stürmte und mit ihr zusammen stieß. Und dass ihm seitdem bewusst war, dass er, wenn er nur wenige Sekunden früher oder später dran gewesen wäre, er die Liebe seines Lebens niemals kennen gelernt hätte.

Nun konnte man an das Schicksal glauben, oder wie ich an Zufall. Die Schicksalsgläubigen lehnten sich gemütlich zurück, und sagen „Der Richtige wird kommen“, während Zufallsgläubige wie ich genau wissen, dass in jeder Sekunde das Leben eine andere Richtung einschlagen konnte. Deswegen hatte ich oft das Gefühl, dass ich gerade an einer Kreuzung stand und die falsche Richtung wählte.

So wie ich auch dieses Mal alles vermasselt hatte. Ich hätte Tobias nicht mit nach Hause bringen dürfen. Ich hätte nie so viel trinken dürfen, dass ich die Kontrolle verlor. Mir war nach wenigen Minuten klar gewesen, dass ich nicht nur mit ihm schlafen wollte. Ich hatte eine Vertrautheit zwischen uns gespürt, wie nie zuvor bei einem Mann. Ohne Bedenken hätte ich ihm meine geheimsten Gedanken mitgeteilt.

Wenn ich wenigstens aufgewacht wäre, als er ging. Dann hätte ich ihn gebeten, zu bleiben. Den ganzen Sonntag über. Oder die ganze Woche.

Vielleicht war es an der Zeit, an das Schicksal zu glauben. Ich würde ihn suchen, und wenn ich ihn gefunden hatte, würde es ein wunderschönes Wiedersehen geben und wir würden uns nie mehr trennen!

Ich erzählte Linde von meinen Träumen, doch sie wirkte skeptisch. Scheinbar hatte sie gerade ihre Meinung über Tobias geändert. „Ich weiß nicht. Muss ja eigentlich ein ziemlicher Arsch sein, wenn er keine Nachricht hinterlassen hat!“

Frauen, wankelmütige Wesen!

Ich schüttelte vehement den Kopf. „Ist er sicher nicht! Er hat nicht einmal über meinen Namen gelästert!“

Dass schien sie zu überzeugen. Als Kind von zwei Hippieeltern, die ihre Liebe zum Wald in ihre Kinder einpflanzen wollten, konnte auch sie ein Lied über komische Namen singen. Dabei hatte sie Glück gehabt, denn ihre Schwester hatte es weitaus schlimmer erwischt. Sie hieß Erle.

Am Abend erfasste mich eine Unruhe, die mich sogar dazu trieb, meine Wohnung zu putzen.

Mein Großvater war ein recht vermögender Mann gewesen, was meinen Eltern ihren Kampf gegen Umweltterroristen ermöglichte und mir zu meinem 18. Geburtstag eine nette kleine Dreizimmerwohnung im Zentrum der Stadt bescherte. Ich habe meinen Großvater nie persönlich kennen gelernt, er starb ein Jahr nach meiner Geburt. Zuvor hatte er alles in die Wege geleitet, damit sein Enkel immer ein Dach über den Kopf hatte.

Dafür bin ich ihm sehr dankbar, denn ich liebe meine Wohnung. Da sie direkt unter dem Dach liegt, wird jeder Raum von den Stützbalken und Dachschrägen bestimmt. Praktische Menschen würden über den verlorenen Platz jammern, aber ich liebte diese Nischen. Alles wirkte wie in einem Märchen, verwinkelt und verwunschen. Ich konnte stundenlang unter einem der Fenster liegen und den Regentropfen zusehen, wie sie auf das Glas prasselten. Oder auf der Couch im Eck bei Kerzenschein ein gutes Buch lesen und mich so richtig geborgen fühlen.

Heute wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen. Während ich die Fliesen im Bad schrubbte und den Kalkflecken mit Zitronensaft zu Leibe rückte, wie Nonna mir geraten hatte, beschlich mich das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Was, wenn genau in diesem Moment meine Zukunft irgendwo dort draußen saß und auf mich wartete?

Wenn Tobias, von Reue getrieben, weil er in der Früh so sang- und klanglos abgehauen war, sich ins Mykonos begeben hatte, in der Hoffnung mich zu treffen?

Ich kämpfte gegen dieses Gefühl an. Ich konnte nicht jeden Abend in die Disco rennen. Ausserdem war dort am Sonntag nicht gerade viel los. Und zu allem Übel hatte sich trotz der Dampfkur ein riesiger Pickel auf meiner Nase breit gemacht, bei dem auch keine Grundierungscreme mehr etwas ausrichten konnte.

Nachdem das Bad glänzte, die Küche überarbeitet und sämtliche Regale abgestaubt waren, war es erst halb zehn. Kurz überlegte ich, ob ich meinen Wohnungskater Mike duschen und shampoonieren sollte. Als hätte er es geahnt, war er hinter dem Bett verschwunden. Gut, wenn er kein glänzendes Fell wollte, seine Schuld. Andererseits war er kastriert, wen sollte er also damit beeindrucken?

Ich beschloss, mir selbst etwas Gutes zu tun. Ich gab dem Abend das Motto „Romantik für die eigene Seele“ und zündete alle Kerzen an, die ich finden konnte. In meine Duftlampe kamen ein paar Tropfen „Frühlingsduft“, dann machte ich es mir mit einer Schachtel Herzpralinen und der Fernbedienung auf der Couch gemütlich.

Genau zehn Minuten lang. Nicht dass ich besonders anspruchsvoll gewesen wäre, aber das TV-Programm des Abends konnte jegliche Romantik im Keim ersticken. Auf mindestens drei Sendern mussten eine Handvoll verrückter Promis irgendwelche Aufgaben meistern, die entweder bescheuert oder ekelig waren. Oder beides.

Auf vier weiteren Sendern liefen Filme, deren Aktualität zu meinen Kindergartentagen abgelaufen war, und der einzige neuere Streifen war ein Actionkracher, dessen Handlung nach einer Minute klar war. Der Held würde alle retten, die Frau abkriegen und zum Schluss ohne jeglichen Kratzer und mit einem dämlichen Spruch auf den Lippen im Sonnenuntergang verschwinden. Jörg hatte sicher seine Freude mit diesem Blödsinn.

Die restlichen Sender waren mit mehr oder weniger interessanten Dokumentation belegt.

Themen wie „Die Krätze, ein moderner Parasit“, passten mir irgendwie nicht so recht ins Motto des Abends, und so blieb mir nicht anderes übrig, als den Fernseher abzuschalten.

Kurz war ich versucht nach einem Buch zu greifen, doch Kerzenlicht sollte zum Lesen ja nicht gerade förderlich sein. Meine Mutter hatte mich immer ermahnt, dass schlechtes Licht beim Lesen zu Blindheit führen konnte. Ganz leuchtete mir das zwar nicht ein, denn dann wären ja sämtliche mittelalterlichen Klöster mit blinden Mönchen belegt gewesen, oder? Aber ich hatte sowieso keine Lust auf Lesen.

Also blieben nur mehr der Computer und damit die unendlichen Weiten des „worl-wide-web“.

Eigentlich war ich nicht gerade der begeisterte Internetsurfer. Ich hatte den Kasten nur, weil wir damals unsere Abschlussarbeit für die Matura mit dem Computer schreiben mussten. Als sie das hörte, hatte Nonna mir sofort einen gekauft.

Während ich mich ins Internet einloggte, fiel mir ein, dass unsere Stadt ja ein eigenes Schwulenportal hatte! Und dass dort jeder Anzeigen frei schalten konnte. Zum Beispiel, wenn man jemanden treffen wollte, dessen Nummer man verloren hatte. Oder, wenn man sie nie gehabt hatte.

Der einzige viel versprechende Eintrag in der Rubrik Gesucht - gefunden hatte die Überschrift Gestern. Und der stammte von einem Typen, der einem Anderen in der Straßenbahn zugelächelt hatte. Der glaubte wohl tatsächlich, dieser andere würde sich per Internet bei ihm melden?! So ein Träumer! Ich meine, ich hatte weitaus mehr getan, als nur gelächelt und hatte keine Nachricht bekommen!!!

Ich versuchte mich abzulenken, indem ich durch die Angebote meines Lieblings Internetshops surfte. Man stelle sich vor, seit neuestem gibt es Gleitmittel mit Kaffeegeschmack! Ich meine, wofür soll das gut sein? Kaffe hinterließ so schon einen schlechten Geschmack im Mund, wie würde das erst bei einem Gleitmittel sein?

Kurz schaute ich erneut auf der Seite Gesucht – Gefunden vorbei. Nichts.

Ich war von Haus aus nicht gerade ein sehr geduldiger Mensch. Wenn ich etwas unbedingt wollte und keine Chance sah, es zu bekommen, wurde ich manchmal geradezu unausstehlich. Auch jetzt spürte ich langsam Ärger in mir hochsteigen.

Wie schlecht musste der Sex gewesen sein, dass Tobias sich überhaupt nicht mehr meldete? Hatte nur ich diese Stimmung zwischen uns wahrgenommen, diese Vibrationen die von Liebe und Erfüllung sprachen?

Zum dritten Mal überprüfte ich die Seite der Stadt. Es waren keine neuen Einträge eingelangt.

Ich beschloss, mich in den regionalen Gay-Chatroom einzuklinken. Eigentlich finde ich es ein wenig unnatürlich, sich über Computer und Internetverbindungen zu unterhalten. Aber vielleicht sah Tobias das ja ganz anders?

Zuerst musste ich ein Profil erstellen. Nun gut, dass konnte wohl nicht so schwer sein. Ich machte mich an die Antworten.

Profilname: Ich entschied mich für Kleiner Prinz. Das war süß, knuddelig und dank Saint-Exupery auch Intellektuell.

Alter: Das war einfach, da konnte ich es mir leisten, ehrlich zu sein. 21.

Was suchst du: Ich konnte nicht gut „Tobias“ hinschreiben. Das würde leicht verzweifelt wirken. Also entschied ich mich für Spaß und Unterhaltung.

Dann arbeitete ich mich durch die Fragen nach meinen sexuellen Vorlieben, wobei ich versuchte, möglichst flexibel und fantasievoll zu wirken. Bei der Längenangabe zu meinem besten Stück schummelte ich lediglich drei Zentimeter dazu, und das nur deswegen, weil sowieso jeder automatisch ein paar Zentimeter abzog. Mann weiß nämlich, dass hinsichtlich dieser Angabe sowieso jeder log. Dafür entfernte ich drei Kilo bei meinem Gewicht, als Ausgleich sozusagen.

Nach nur zwanzig Minuten hatte ich mein Profil soweit fertig gestellt, dass ich den chatroom betreten konnte. Es waren 56 Personen im Chat, und sofort begann ich die Namen durchzugehen. Kein Tobias, und auch sonst nichts, das auf Tobias hindeutete.

Dafür war sonst alles vertreten, vom jungfräulichen Erstversuch18 bis zu Bärenpapa63.

Wer weiss, vielleicht würde Tobias vor dem Schlafengehen vorbeischauen? Ich beschloss, eine zeitlang im Chat zu bleiben.

Um mir die Zeit zu vertreiben, versuchte ich ins Gespräch zu kommen.

Ich tippte ein fröhliches Einen schönen Abend an alle!

Hallo kleiner Prinz! antwortet der Chatmaster. Meine Freude über sie prompte Antwort währte nur kurz, denn schnell bemerkte ich, dass dieser alle Neuankömmlinge begrüßte.

Und ansonsten antwortete… niemand.

Ich wartete und wartete. Schließlich beschloss ich auf Angriff zu gehen. Tolle Stimmung hier!

Keine Antwort.

Hallo?

Da meldete sich der Chatmaster zu Wort: Willst du mit jemandem privat chatten, so doppelklicke auf sein Profil.

Das sollte wohl internetdeutsch sein für: Alle anderen haben längst ihren Spaß, also geh uns nicht auf den Keks!

Nun gut, dann würde ich eben mit jemandem privat chatten. Erneut ging ich die Profilnamen durch.

Elias22, das klang ja gut. Er war in meinem Alter.

Doppelklick auf den Profilnamen, es öffnete sich ein eigenes kleines Dialogfenster und ich begann mit etwas Geistreichem: Hi!

Die Antwort kam prompt: Bin beschäftigt! Dann erklärte mir der Chatmaster: Ihre Verbindung wurde getrennt, Elias hat den privaten Chatroom verlassen!

Nun gut, anscheinend hatte Elias wirklich seinen Spaß, auch ohne mich. Das würde wohl auch auf alle anderen zutreffen.

Blieben die Neueinsteiger. Die würden noch keinen Chatpartner haben.

Erwartungsvoll beobachtete ich das Kommen und Gehen.

Hengst45 betritt den Chat. Nun gut, dass war nicht gerade meine Altersklasse.

DWT26 betritt den Chat. Das klang interessanter. Auch wenn ich kein Freund von Doppelnamen war, so konnte ich doch über ein Dieter-Werner T. großzügig hinwegsehen. Wie kam schließlich ausgerechnet ich dazu, über Namen zu lästern! Vielleicht war das sogar eine nette kleine Gemeinsamkeit?

Kaum hatte ich diesen Gedanken fertig gedacht, klickte ich DWT26 doppelt an. Dieses Mal würde ich ihn gleich in einen Dialog verstricken, vielleicht konnte ich ihn mit Anzüglichkeiten bei der Stange halten! Ich lachte leise über mein geniales Wortspiel und begann zu tippen.

Hi! Steht DWT für Dieter-Werner oder für Die’s Wild Treiben?

Als keine Antwort kam, schickte ich ein smiley hinterher, um dem Ganzen den scherzhaften Unterton zu verleihen, den ich im Kopf hatte und den DWT26, wie mir bewusst wurde, per Internet natürlich nicht wahrnehmen konnte.

Endlich kam eine Antwort: Willst du mich verarschen?

Der wirkte sauer. War wohl auch sehr empfindlich wegen seines Namens. Oder er hatte mich falsch verstanden. Ich versuchte ihn zu besänftigen. Ich hab ja auch so einen witzigen, seltenen Namen!

Dieses Mal fiel die Antwort deutlicher aus: DWT ist kein Name du Anfänger! Das steht für Damenwäscheträger!

Bevor ich es verhindern konnte, hatte ich das Bild von haarigen Männerbeinen in seidigen Strumpfhosen vor Augen. Eine Sekunde später erhielt DWT26 wohl die Nachricht des Chatmasters, dass ich den privaten Chatroom verlassen hatte. Ich will ja nicht intolerant erscheinen, aber rein sexuell interessierte mich DWT wirklich nicht besonders.

Die nächsten Neueinsteiger waren nicht viel besser. Pissnelke33 und Sklavenausbildner29 überzeugten mich davon, dass meine Abneigung gegen Internetchats nicht unbegründet bleiben würde. Da war ein gutes Buch die eindeutig bessere Alternative, sogar bei Kerzenlicht. Besser mit Blindheit geschlagen, als von Peitschendomino31.

Gerade als ich den Chatroom verlassen wollte, meldete dieser: Jonar24 betritt den Chat.

Im ersten Augenblick stutzte ich, dann spürte ich, wie mein Puls sich beschleunigte und mir heiß wurde. In meinem Bauch tanzten tausende Schmetterlinge Polonaise. Tobias! Wer sonst sollte sich mit meinem Namen hier einloggen?

Ein schneller Doppelklick sollte mir Gewissheit verschaffen: Heißt du etwa wirklich Jonar?

Jonar24 antwortete sofort: Nee, den Namen hab ich unlängst wo gehört und find ihn gut. In Wahrheit habe ich einen ganz normalen Namen!

Meine Aufregung wuchs, sogar über die blöde Meldung von wegen „normaler Name“ konnte ich hinweg sehen. Und hast du etwa ein Biene Maja T-Shirt?

Dieses Mal dauerte die Antwort länger, ich musste ihn wohl erstaunt haben. Ja, woher weißt du das?

Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich mich vor Anspannung so weit vorgebeugt hatte, dass ich mit der Nase beinahe den Bildschirm eindrückte. Nun ließ ich mich vor Erleichterung zurück sinken.

Es war tatsächlich Tobias! Und das Schicksal oder der Zufall gaben mir eine zweite Chance. Dieses Mal würde ich ihn von mir überzeugen und nie wieder gehen lassen! Was machst du heute noch?

Jonar24 antwortete: Muss heute ins Mykonos, spätestens um 23 Uhr will ich dort sein.

Das Mykonos! An einem Sonntag! Und 23 Uhr war ungefähr die Zeit, zu der wir uns kennen gelernt hatten! Tobias war auf der Suche nach mir! Ich hatte ihn also doch beeindruckt! Meine Güte, es waren nur mehr eine halbe Stunde bis 23 Uhr! Und ich musste den riesigen Pickel auf meiner Nase überdecken!

Gut, ich werde auch da sein! Bis bald Tobias, ich freu mich!, schrieb ich schnell, dann stieg ich aus dem Chatroom aus. Die Zeit drängte und ich musste möglichst gut aussehen!

Während ich die Hose aus dem Schrank kramte, die laut Linde meinen Arsch am besten zur Geltung brachte, dachte ich kurz daran, was Nonna wohl dazu sagen würde, dass ich an einem Sonntag ausging. Ich unterdrückte jegliches schlechte Gewissen sofort.

Schließlich wartete dort draußen die große Liebe auf mich! Ich konnte es spüren!